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Full text of "Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik"

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Neue  Jahrbücher  für  das 
klassische  Altertum,  Geschichte ... 

Johannes  llberg,  Paul  Cauer 


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mUK  JAHßBÜCHJlE. 

pOb   " 

J)A&  KLASSISCHE  ALTERTUM 
GESCHICHTE  UND  DEUTSCHE  LITTERATUR 

UND  FÜR 

PÄDAGOGIK 

HEBAU80BOEBBN  VON 
JOHANNES  ILBERO  und  RICHARD  BICHTER 

ERSTER  BAND 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VEKLAG  VON  B.  Ü.  TEüBNEil 

18d8 


NEUE  JAHRBÜCHER 

DAS  KLASSISCHE  ALTERTUM 
GESCHICHTE  UND  DEUTSCHE  LITTERATUE 

HEBADSOEQJSBEN 

VON 

JOHANNES  IIiBEBG 

» 

EBSTEB  JAHRGANG  1898 


MIT  1'6  TAIi'ELN  UND  19  ABBILDUNGEN  IM  T£XT 


LEIPZIG 

DKUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER 

im 


^  .d  by  Google 


VEKZEICHNIS  DEB  MlTAltBEITm 


Omibold  BoBmcnKR  in  Berlin  (SSI  48S  568). 

EwAi.D  Brithw  in  Kiel    248 \ 

CiKOBa  BucuwALu  iu  Lei])2ig  (o65). 

Lbomia  Cob>  in  BrMbra  (614). 

EsxsT  Dbvrikm  in  .Tt'im  i3GT 

Gustav  Diestkl  in  Dresden  lö41). 

HuBEBT  Eujiiscu  iu  Dresden  (69ü). 

Aoev«T  FwoK  in  M«ru  (501). 

MiKTiN  FirKKi.sruEUEu  in  rhemnitk  (480). 

Kau.  Fkom»  in  Berlin  (351  418). 

Auu»  Oucn  in  Chw^nrald  (ö8(j). 

H&m  Gbabtsx  in  Koni  (828). 

Alb  IN  Häbler  in  Lt'ijizif,'  +  (365) 

AuausT  Uausratu  iu  Karisnibe  (305). 

Hm  F.  HujtotT  in  Leipzig  (818). 

Gaoa«  MmaauAss  in  Königsberg  L  Fr.  (87S). 

HxtacAi»  Hnr  in  Leipzig  (485 

AxtoLjr  Houi  in  Freiburg  i.  £r.  (12i>). 

Onow»  Ibm  in  Ifoins  (480). 

JoBAaxea  iLBiao  in  Leipzig  (223  375  484). 

Rudolf  KfVTzscnKK  in  Leipzig  (808). 

Gsoaa  Lobbe  in  Magdeburg  (149). 

Jomn  BmaMAMM  latuat  in  Leipog  ^16). 

Paul  Loukxtz  in  Sorau  (675). 

£aicB  Mämcb»  in  Leipug  (818). 


RmDUCH  Uabx  in  Wien  (105). 

EroKN  MooK  in  Leipzifj  (68). 

AuiKKT  MuLLiER  iu  Uauuov'er  (224). 

Faunun  Koack  in  Daimatedt  (560  686). 

Hhuiamn  Pktkb  in  Meifsen  (M  637 

Hkrman  V.  Pktessoomv  in  Pfaffendorf  b. 

Koblenz  (459). 
TasoDOB  Flow  in  Bm«1  (476  476). 
RniiKRT  Pnm.wAN.s-  in  Erlangen  (28  88  186). 
Walthxr  Ruos  in  Leipsig  (470). 
Otto  EooAkn  SemnoT  in  lCei(b«n  (174  686). 
Ebhat  Schouk  in  Homburg  v.  d.  H.  (868), 
Otto  Sekck  in  Oreifswald  (628). 
ÜKOBO  STsnoAusni  in  Jena  (448). 
FmAinE  SnnnnozKA  in  Leipzig  (377). 
Vkit  Valkxti.n  in  Frankfurt  a.  M.  (286  611). 
TuKODou  V.HiKi.  in  Dresden  (81  284  869). 
UoimT  Wkub  iu  Leipxig  (370). 
Rooo  WiLunOennt  in  Hains  (800). 
Oboko  Wissowa  in  Halle  a.  S.  (161). 
Ori-inn  Witkowsri  in  Leip/if?  f375V 
Hehmajoi  WrHDKRUGH  iu  Heideiberg  (54). 
BoBKKT  Wurm  in  Drwden  (841). 
Jdui!b  Ziehen  in  Frankfurt  a.  M.  (404/ 
TuAoolv»  ZiBumu  in  St  Feiwtbuig  (1). 


INHALT. 


SaiU 


AntikR  Humanitilt.    Von  ThaddauB  Zielinski   1 

Di<-  soxinle  Dicbtiinif  der  CTrifchcu.    Von  Robert  POhlmann                          23  88  186 

PrDHOpogntphia  IiiH'trii  Ktmiani.    Von  Hcrmimn  Pctcr   38 

Virgil»  Werte  Ekloge.    Von  F  r  i  c  d  r  i  c  h  M  a  r  x  105 

Aus  dem  klagainchen  Süden     Von  Adolf  Holm      .          .   ,    ,    1*29 

Rüminchc'  (lotterbildf  r.    Von  G  e  o  rg  W  i  a  b  o  w  it   161 

CicHro  und  Teri'iitia.  Vou  (Uto  Eduard  Schmidt   174 

Die  neuentdeckten  Oedichte  de»  Bakchylideg.    Von  Justus  Hermann  Lipgiug   .  .  226 

Eino  neue  Auffassninp  der  Antipone.    Von  Ewald  Hruhn    248 

Die  Anlage  dea  oberKCrmaLLiachcn  Limea  und  da«  Rünierkastell  Saalburg.   Von  Ernst 

Schulze   263 

Daa  Problem  der  asopigchcn  Fabel.    Von  AugustHausrath   806 

Italienische  Fundbmchto    Von  Hans  Oraeven   823 

Die  iSie^fsgöttin.    Kntwurf  der  Gettcbichte  einer  antiken  Idealgestalt.    Von  Franz 

Studniczka   377 

Zur  GeBchichte  der  Lohrdichtun^^  in  der  s{iiitrr>nn.'ichcn  Litterntur.  Von  Julius  Ziehen  404 

Zur  ionischen  Mundart,  und  Dicbterspracbe.    Von  August  Fick   501 

Philo  von  Alexandria.    Von  Leopold  Cohn   514 

Zur  Entwickelung  griechischer  Baukunst.    Von  Ferdinand  Noack                      669  655 

Sokrates  hei  Piaton.    Von  Alfred  Gercke   585 

Rhetorik  und  Poesie  im  klassischen  Altertum.    Von  Hermann  Peter   6S7 

Die  Wallfahrten  des  Mittelalter.-^  und  ihr  KinfluFs  auf  die  Kultur.  Von  Georg  Liebe  149 

Das  Hoheny-ollernjahrhucb     Von  Erich  Mareks   212 

Die  HüHiedelung  Sacbsenn     Von  Robert  Wuttke   341 

Freytag,  Burckbardt,  Hiehl  und  ihre  Auffassung  der  Kulturgetjcbicbte.    Von  Georg 

Steinhau-<cn   448 

Heinrich  v  Treit-achke  und  seine  Vorlesungen  über  Politik.  Von  Herman  v.  Petersdorff  459 

SprachwiHaenschaft  und  Geschichte.    Von  Hermann  Hirt   485 

Der  Grofse  Kurfilrst.    Von  Gustav  Diestel   541 

Herzog  Moritz  von  Sachsen     Von  Hubert  Ermisch   595 


Die  deutsche  Philologie  und  das  deutsche  Volkstum.  Von  Hermann  Wunderlich  54 
Die  germaniBche  Heldendichtung  mit  besonderer  Rflcksicht  auf  die  Sage  von  Siegfried 

und  Brunhild.    Von  Eugen  Mogk   68 

Goethe  und  da»  klassische  A1t<?rt«m    Von  Theodor  Vogel  81  (224) 

Zur  Äi^thetik  des  Tragischen.    Von  Veit  Valentin       .   .    .   .   .  286 

Schiller  und  Plutarch.    Von  Karl  Fries   .  .  .  .    351  418 

Neue  deutsche  Littcraturge.'ichifbten     Von  Gotthold  Boettichcr  432 

Mepbii^t<)pllele^<  und  Erdgeist.   Eine  methodologiache  Studie  zu  Goethes  Faustdichtung. 

Von  Veit  Valentin  611 

Über  daa  Vorspiel  auf  dem  Theater  zu  Goethes  Faust.  Von  Theodor  Vogel  .  .  .  669 
Emanucl  Qeibel  als  politischer  Dichter.    Von  Paul  Loren tz  675 


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Inhalt.  VII 

AK7K[(;K\  T\I)  MITTKIl.I  NtiK.N 

Ovida  Verwapdliingen.    In  Stanzen  flberaetzt  v.  C.  Bulle   223 

Zorn  HarpaliitchcD  Prozefa  (H.  WiHenbflcher)   800 

Zur  Geschichte  der  Astronomif'  f.\.  H&blcr  f)    .  .{pr» 

Burei<ch,  Aua  Lydien  (W.  Uuge)  ...       ...                                     .   .    470 

Goethe  und  Autigone  (Th.  FIüFb)    .......    476 

Cora»en,  Die  Antigone  de«  Sophoklea  (dere.)   478 

Die  KSuigs^tanJarte  bei  den  Persem  'M.  FirkelHclierer'   480 

Die  <;r8tc  Kkloge  des  Vcrgil  iG.  Ibai)   480 

Die  Lex  Mauciaaa  (0.  Seeck)   628 

Brune,  Die  Persönlichkeit  in  der  GeschicbtsBchreibung  der  Alten  (0.  E.  Schmidt)  .  .  635 

Davidsohn,  Gesch.  v.  Florenz.  —  Der«.,  Forschungen  zur  älteren  Geach.  v.  Florenz 

(H.  F.  Hebnolt)  ,   218 

Zwei  historische  Sammelwerke  (R.  EOtzschke)   303 

Jastrow  und  Winter,  Deutsche  Gesch.  im  Zeitalter  der  Hohenstaufen  (E.  Dcvrient).  .  367 

Gerdes,  Gesch.  des  deutscheu  Volkes  und  aeiner  Kultur  im  Mittelalter  (deni.)  ....  3C8 

Richter,  Annalen  der  deutschen  Gesch.  im  Mittelalter  (ders.)   370 

Wackemfll.  Altdfptjtrhe  PanaionRspiele  in  Tirol  (G.  Boetticher)   221 

Goethe  und  das  kla^'HiHL■he  Altertum    Nachtrag).    (Th    Vogel)   224 

Kine  Frage  au  die  Goethef'or'ieher        Müllerj   'i24 

Fomchnngen  zur  neueren  Litteraturgesch.    Herauay.  von  F.  Munckcr  (R.  Weber)   .  .  870 

Zu  Goethe;.  Gfittnr,  Helden  und  Wicland  (G.  Witkowaki)   375 

Goethes^  Tandura   484 

Die  Weimarer  LiitherauHi^'abe  i'G,  Buchwald)   66f> 

Koepper,  Littcraturgesch.  des  rhein.-wcstfäl.  Lande«  (G.  Boctticber)    -"»GH 


Klette,  Die  Selbsta-ndigkeit  des  bibliothekarischen  Berufs  in  Deutschland  iG.  Herrniann)  373 

Wis.senHchaft  und  Unterricht  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  lilü 

Verzeichnis  der  .\V>lnlcIungen    VI 

Berichtigungen   VII 

Kegii<t«;r  der  im  Jahrgang  1898  besprochenen  Schriften   701 

Sacbregi.st«r   702 


V£BZ£ICfiNIS  DER  ABBILDUNGEN. 


8. 1S8  Sflien  mit  dem  IKoDjBosknaben  voa.  d«r  Stota«  im  Loarre,  uMh  OriginalplMitograpiiii. 

S.  ICl  .Tixnus  aTif  einem  r«m.  Libralae. 

S.  167  Tanzender  Lar,  Brooze«Utuette  im  KonaervatorenpalMt. 

8. 168  Dias  Fidiw,  Hannontatae  im  Vfttikkii. 

S.  169  Sog.  Gfloimi  Aagastä,  Marmonitatue  im  Vatikan 

S.  170  Silvamis,  von  «»iiipm  Relief  des  Mubpo  arrh»»«!.  in  Floreos. 

S.  170  Venus  Pompeiana,  von  einem  pompejan.  Wandbilde. 

8.  M6  Hügelgruppe  am  Weibenatein,  nach  Jaoobi,       BSmerikaatell  Saallmig. 

S.  272  Grundriffl  der  Saalbiir^',  uach  Jacobi  a.  a.  0. 

S.  27B  Pfeilerhypokanstum  dttr  Villa  bei  d.  Saalbnxg,  nacb  Jacobi  a.  a.  0. 

Taicl  zu  S.  370  a.  274: 

Abb.  4  Limes  v.  ausgeiteintes  ChAbehen  nOrdl.  wa  d.  Saalbnrg,  nach  Jaoobi  a.  a.  O. 

Abb.  6  RekoiiHtruktioa  der  Zinnen  a.  d.  SW-Ecke  des  Kastells flaalbiii|f,  nach  Jacobi  a.  a.  0. 
Zu  F.  Studniczka,  Die  Siegesgöttin  S.  377  ff.  (Taf.  I— XU): 

Fig.  1  Asajrigcher  Dämon  (S.  380,  1). 

Fig.  t  Igyptiicbe  Gm»  (8.  S80,  t). 

Fig.  3  Artemis,  von  einem  Bronzerelief  in  Olympia  (S.  381,  1) 
Fip    4  Momentphoiographien  eines  Springenden  (S.  .S81,  6). 
Fig.  5  Gorgo,  von  der  Fran^oisvaac  in  Florenz      382,  1). 
Fig.  9  Petaeiu,  von  altaUieeber  Vase  in  Berlin  (ß.  882, 1). 

Fig.  7  M;irmor»<talut'  aus  Delos,  wiilirnrlieinlicb  von  ArcheraMM.  Sr^nater  GHpMjbgofii 

im  Antikenmu«eum  d.  Univ.  Leipzig  (S.  386,  2). 
Fig.  6  Mannoftono  der  Akropolis  (S.  386,  1). 
Fig.  9  BKMisefigftniien  der  Akropolis  (8.  MC,  9). 
FifT.  10  Marruorstatue  der  Akropolis  (S.  386,  3). 
Fig.  11  Bronzener  Spiegel  im  Berliner  Museum  (8.  S87, 1), 
Fig.  13  WbM  von  Hallos  (S.  388,  l). 
Fig.  18  MllBM  von  Elis  (ebd.) 
Fig.  14  Münze  von  SyrakuH  (t'lid  ). 
Fig.  16  Münze  von  Himera  (ebd.). 
Fig.  16  Vasenbild  des  Andolddes  im  Lonvre  (8.  888,  8). 
Fig.  17  Von  einer  kyrenäificlien  Sehale  im  Louvre  (S.  388,  4). 
Fig  18  Von  pjnem  klazonu'nischeu  Sarkophag  im  British  Museum  (S.  889|  1). 
Fig.  19  Von  einer  Schale  des  Uieron  im  Berliner  Museom  (S.  380,  3). 
Fig  20  Vasenbfld  im  Brftisb  Mnseom  (S.  3&o,  i). 
Fig.  21  Vasenbild  einst  bei  Pourtal^a  (ebd.). 
Fig.  22  Marmorstatue  im  Konservatorcniialasto  (S.  390,  3). 
Fig.  23  Bronzefigor  aus  Herculaneum  in  Neapel  (S.  391,  1). 
Fig.  84  AUiena  Paifbenoe,  Harmontatnette  in  Athen  (S.  391,  8). 
Fig.  25  Nike  auf  der  Hund  der  Statuette  Fjg.  S4  (ebd.). 
Fif,'  26  Bronzefigur  in  Kassel  (S.  391,  2). 
i'ig.  27  Brouzefigiir  in  Kassel  (ebd.). 

Fig.  18  Nik«  den  Paionioe,  ergänzter  Oipsabgufs  im  Albertinimi  an  Dresden  (8,  898,  1). 


Veneidniii  der  AbVfldnngeiD. 


—  fieriehtiguiigeii. 


IX 


Fiff.  29  u.  31  Die  erhaltenen  Teile  (ebd.). 

Fig.  30  ErgänzuD);(«modell  dea  ganzen  WeihgMehenlu  (ebd.). 

Fig.  82  Q.  33  MarmorRtutue  in  Faros  (S.  M4,  1). 

Fig.  34  n  .'!')  Nert-iili  ii,  Marmontatuen  von  Xanthoa  im  Britiah  Moieom  (S.  8M|  S). 

Fig.  36  bronzeiigur  aus  Pompeji  in  Neapel  (S.  3do,  &). 

Fig.  S7  Atu  dem  pezgsmeniacben  Oigantenkampf  in  Berlin  (8,  895, 4). 

Fig.  38  Marniorrelief  in  Berlin  (S.  396,  2). 

Fig.  .H9  Nike  vom  P:irtliorionfrie8  {ß.  89«.  8). 

Fig.  40  Kopf  von  Fig.  au  (ebd.). 

Fig.  41  M finie  tob  Terina  (S.  897,  S). 

Fi'ff  4i'  Müuzc  von  I'üi»  'cliilV 

Kig  43  Vaaenbild  in  Oxford  (S.  307,  1), 

Flg.  44  Ya«enbild  im  British  Miueum  (S.  397,  3). 

Fig.  46  YasenbUd  (ebd.). 

Fir'  16  Vasenbild  in  München  (ebd  V 

Flg.  47  Poljcliromes  Vaseabiid  ia  Oxford  (ebd.). 

Fig.  48—81  Mannorreli^  von  der  Balustrade  der  AtheiM  Nike  iß.  898, 8>. 
Fig.  52  Marmorrelief  in  Manchen  (S.  39»,  1). 
Fig       Mannorstütue  au»  •''amnthrake  im  Louvre  (S.  899,  2). 
Fig.  ö4  Dieselbe  auf  Schiffsvorderteil  (ebd.). 
Fig.  55  Ergaazungaremich  von  Fig.  53  (S.  401). 
Fig.  56  MOuen  des  Demetrio«  Foliorkete«  (S.  400,  3). 
Fig.  67  Venns  von  Tapua,  Marmorstatue  in  NcajMl  (S.  408, 1). 
Fig.  5»  Victoria  von  der  Tnyoossilule  (ebd.). 
Fig.  69  BronzeaUtne  in  Breeeia  (ebd.). 
8. 403  SrhlnTs^ngnette,  nach  dem  Brouenkatakg  der  Fkrieer  NatwnalbibliotJiek  ▼on  Babelw 
u.  Blanchet. 

S.  888  Altgrieckiache  Tempelcellen  u.  Megara,  nach  Originalzeichnung. 
8.  688  Sbrlobate  (deigl.). 

S.  658  P<-'fkli:ilVfnlapfp,  nacli  v.  Rebor 

S.  657  Lagerung  des  Gebälkes,  nach  v.  Hebers  Aoffaasung. 

8.  868  Belencbtung  durch  die  Metopen  (?),  nach  Beber. 

S.  659  Hauptmcgaroi)  \ori  Tirvns,  nach  Originalzeichnung. 

S.  6G0  Enlstfhung  des  Trig! yiihf nf'rii'ses  am  Geliilutlo  in  iintis  itlt'dg]  ) 

S.  664  EntwickeloDgsstttfen  des  Trigljrpbenfriesee  über  den  Architraven  (desgl.). 


Beriebtignngen. 


s  :i  jo  Z.  6  r.  n.  1.  80  statt  17. 
Ebd.  Z.  ö  V.  u.  1.  21  statt  18. 
S.  892  Z.  1  V.  u.  1.  28  statt  26. 
Weiteree  8.  884  484  886. 


JAHRGAKG  1898.    EBSTE  ABTEILUNG.    ERSTES  UEFT. 


ANTIKE  HUMANITÄT. 
Von  Tb.  Zibumbki. 

Sobald  ein  Volk  zum  Bewurstsein  seiner  seliwi  gelangt,  wagt  es  den  Ver- 
Blieb,  daa  mtselhafle  Gebot,  das  wir  alle  in  unserm  Busen  tragen,  in  die  Form 
eines  klaren  nnd  bestimmten  Sittengesetzes  zu  giefsen.  Was  auf  diese  Weise 
entsteht,  -  -  so  mangelhaft  der  Versuch  auch  ausfallen  mag  —  als  ein  System 
reiner  Etluk  aufzufassen.  Da  es  von  den  Besten  ausgearbeitet  wird,  sind  seine 
Forderungen  Terhältnismalsig  hoch  gespannt;  da  es  der  Mehrzahl  und  den  Nach 
geborenen  an^^dni^  wird,  laateo  me  atarr  und  unbeugBam:  du  aoBsit  du 
aoßtt  nidU.  Ergeben  sich  diese  nun  drain  —  und  das  Icann  geschehen,  —  so 
fiJlt  die  reine  EÜiik  mit  der  praktischen  msanunen;  das  Sittengesets  tritt  direkt 
ins  Leben,  sei  es  durch  die  Vollkommenheit  der  Gerechten,  sei  es  durch  das  Sünden- 
bewulstsein  der  Fehlenden.  Es  braucht  aber  nicht  zu  geschehen.  Es  ist  recht 
wohl  der  Fall  möglich,  dafs  in  einem  Volke  starke  und  selbsthewufste  Indivi- 
(luiilitat^n  in  ausreichender  Zuhl  vorlmnden  sind,  die  das  Btilurftus  empfinden, 
das  nllir«'uu'ine  Sittengesetz  zu  ihrer  l^ersönlicbkeit  in  Bezioluing  v.u  setzen,  und 
erst  die  iü.^ulUute  dieser  beiden  Kräfte  als  verbindlich  auerkeuueu.  So  ent- 
»teht  im  (iegeuaats  zur  reinen  die  praktische  Ethik;  da  sie  der  Natur  des 
Ausftbenden  mit  entsprungen  ist,  ist  ihre  Redeweise  ihm  gegenflber  an  ruhig 
belehrendes:  dia  nmf^,  du  nmßt  mdd. 

Sie  ist  die  psychologisch  interessantere,  und  ein  moderner  S4ArateB,  der 
ihr  nachtrachten  wollte,  könnte  für  seine  Mühe  reichen  Lohn  erwarten  —  die 
Laterne  des  Dior^enes  müfste  er  freilich  mit  auf  den  Weg;  nehmen.  Immerhin 
würden,  bei  der  Mannigfaltigkeit  der  mafsgebcnden  Individualitäten,  die  ver- 
schiedenen Systeme  euien  chaotischen  Eindruck  marhen,  wenn  diese  Individuali- 
täten Wirklich  regellos  durcheinandersprÖHsen  und  nicht  vielmehr  selber  in  ihrer 
Entstehung  und  Entwickelung  einem  geheimnisvollen  Gesetz  —  es  ist  das,  was 
man  wohl  den  'Zeitgeist'  nennt  —  unterworfen  waren.  Das  sind  sie  aber, 
und  so  wird  die  praktische  Ethik  auch  mm  interessantesten  Gegenstand  der 
Kulturgeschichte.  Denn  eben  diesem,  Ton  den  IndiTidualitaten  unbewuist  auf- 
genommenen Zeitgeist  ist  es  zu  verdanken,  dafs  die  gleichzeitigen  Systeme  — 
das  Wort  im  allgemeinsten  Sinne  gefafst  —  bei  all  ihrer  Verschiedenheit  doch 
im  wesentlichen  auf  einen  Gnmdtnn  gestimmt  erscheinen. 

Dreimal  nun  im  Lauf  der  Weitgesobichte  war  der  Begriff  ' M  e  n  s o  Ir  dies^er 
Grundtou,  auf  den  die  praktische  Ethik  des  Zeitalters  gestlniiui  wur,  —  im 
Altertum,  in  der  Renaissance  und  im  XVIII.  Jahrhundert;  alle  drei  Mal  war 
es  die  reine  Menschlichkeit,  die  von  der  geistigen  Elite  anm  obersten  Prinsip 

KnmfMMb».  UM.  I.  1 


2 


Th.  Zielnuki;  Antik«  Humanität. 


erhoben  \v(  irden  war.  £s  lietit  i'twas  iincrempin  Tröstlichps  in  dieser  Wieder- 
kehr;  sie  beweist,  dafs  die  Hunmiutät  deu  ilauptäatz  im  weltgeschichtlichen 
Rondo  bildet,  dessen  Wiedererseheinen  mit  Sicherheit  zu  erwarten  ist  fftr  den 
wohl  nicht  aUzufemen  Zeiipaukt,  wo  die  hentigeii  Götzen  ihr  schmetterades 
Fanfittmthenui  ausgespielt  haben  werden.  Es  liegt  aber  noeh  mehr  darin:  so- 
wohl die  Benaissaneehumanität,  wie  die  des  XVTIL  Jahrhunderts  war  der  Ein- 
wirkung der  Antike  auf  die  zeitgenössische  Gesellschaft  zu  verdanken.  So 
lillst  sich  denn  sagen,  dafs  die  antike  Humanität  das  Thema  darstellt,  ihre 
Wiederholungen  —  aJJc  Renaissancen,  dif  rjewesen  situi  und  die  noch  hovmmt 
trordm,  nm  ein  Wort  Henim.s  in  Erinnerung  zu  bringen  —  als  die  immerliiu 
kuustvoUeii  uud  mauuigfaltigeu  Variationen  dieses  Themas  aufzufasaeu  sind. 
Erst  wer  das  Thema  kennt,  darf  hoflfen,  die  Vaiiationen  zu  verstehen;  Ehre 
dmm  dem  l^n,  dem  es  gelingt,  uns  das  Wesen  der  aatilmt  Humaiiittt  au 
entwickeln  I  die  gesamte  Altertomawissenschaft  kennt  keine  wichtigere,  keine 
lohnendere  Aufgabe. 

Im  folgenden  werde  ich  über  einen  bedeutenden  Versuch,  diese  Aufj^riw 
zu  losen,  zu  berichten  haben;  ich  meine  das  Buch  Max  Schneidewins,  dessen 
Titel  ich  zur  Überschrift  des  gegenwärtigen  Aufsatz^'s  {remacht  habe.')  Es  ist 
ein  ^relchrtes,  «^eiistvoiieB,  in  Anla<re  und  Ausführung  gleich  oriti;irienes  Werk, 
woiil  wei  t,  dieäü  junge  Zeitüchrift  auf  ihrem  ersten  Gange  als  glückverhcilsendes 
Omen  zu  geleiten. 

1. 

Wo  wäre  sie  aber  m  fassen,  diese  antike  Humanität?  Die  Frage  hefiremdet; 
wo  i^re  sie  nicht  an  fräsen,  wo  nur  ein  aus  dem  Hezaen  d^  Antike  ge- 
schöpftes Werk  vorliegt?  Sie  offenbart  sich  uns  {^eich  in  dem  ältesten  (Ge- 
dichte de«  Hellenentums,  sobsld  wir  nur  die  Phantasmen  der  ÜberUi^i^  weg- 
blasen —  das  ist  eben  das  Gute  an  ihnen,  dafs  sie  sich  ohne  weiteres  wegblasen 
lassen  —  in  ihrem  doppolten  Triumph  über  die  Eris  im  18.  und  im  24.  Gesang, 
in  der  grofsartigen  Lehre  von  der  Nichtigkeit  jedes  Hiihmes,  der  das  Unglück 
anderer  zur  Grundlage  hat,  von  der  Nichtigkeit  jeder  glanzenden  That,  die 
durch  ein  uiittrlassenes  Liebes  werk  erkauft  wird.  Sie  leuchtet  uns  aus  den 
Zeilen  der  jüngeren  uud  anmutigeren  Sehwesterdichtung  entgegen  in  der  ent- 
attckendsten  Versolmungsmoia],  die  der  menschliehe  Geist  geschaffen  hat:  darum 
heM  ihr  unmäUdt^  MUksail  erAdddt  dafs  Qestmg  unter  den  Menedim  sei.  Sie 
hat  einen  Äschylus  die  fipeie  WiUensbestimmnng  ratgegen  dem  earschlaffenden 
Dogma  TOn  der  Allgewalt  des  Schicksals  verfechten  lassen,  die  Vergebung  der 
Schuld  entgegen  der  starren  Verg*  Uim^^lehre,  und  zwar  in  der  höchsten  Potenz  — 
dem  geschlagenen  und  gedemütigten  Landesfeind  gegenüber  in  einer  einzigartigen 
Tragödie  .  .  .  das  liat  sie  freilich  niclit  liinch'rn  können,  daCs  unter  dem  modernen 
Götzenregiment  geistig  Gelh.siiehti^e  aiuli  diesen  Honig  bitter  fanden.  Sie  bat 
einem  Sophokles  in  dem  Zwiespalt  zwischen  Gesetz  und  Recht  unter  liebevoller 


*)  ms  aatike  Himamtftt.  Toa  Mai  Sebaeidewin.  Berlin  m7,  WetdmMin.  XX, 
668  8.  gr.  8. 


Th.  Kfalinild:  Antike  Hoimuiit&t. 


8 


Teilnahme  für  jonps  dio  flanimonil<  n  Vr-rtt  iditningaworte  für  dieses  eingegeben, 
in  dem  Zwiespalt  zwisc  hon  Götterwillcii  uii<l  Meuschenstreben  unt*>r  Ehrfurcht 
vor  jenem  die  orgieifeiulc  Hechtfertigung  dieses.  Sie  hat  einen  Euripides  unsere 
sichtbaren  HaudluDgen  als  die  nichtssagenden  'aufgegebenen  R^^ime'  unserer 
LebeDsdichtung  betrachten  gelaihit,  denen  eni  nnser  inneres  Empfinden  Sinn 
and  Inludt  Terleilii  Sie  bat  in  der  grieebiBehen  Eomddie  die  satte  PbAteter- 
moral  in  jeder  Gestalt  geaflcbtigt  und  vor  ihren  beiden  Erbfeinden,  GMst  und 
Li»^l)o,  in  den  Staub  geworfen.  Sie  hat  über  die  Darstellung  der  griechisrhen 
Bt^t'n-iungskämpfe  jenen  unnachahmlichen  Duft  gebreitet,  SO  lart  und  keusch, 
dais  der  mndeme,  durch  modoruf  Kriegabeschrf'ibnnjjen  korrumpierte  Mensch 
sie  jedes   'Schwunges'   bar   finden   mul's  sehr   mit   Keeht,   da    für  diesen 

'i><;liwung'  der  grieehiselie  Ausdruck  'Tfyhris'  lautet.  Sie  hat  dem  zweiten 
grulsen  Historiker  der  Griechen  jenes  Idealbild  eines  humanen  Staates  aufgehen 
iaasMi,  das  llreilidt  dem,  der  als  sein  lebendes  Symbol  galt,  La  sein  frOhes  Grab 
folgte.  Sie  hat  . . .  doch  nun  versagt  das  Wort:  wir  sind  bei  dem  Namen 
Flat4ms  angelangt 

Auch  unser  Verfasser  aahlt  diese  Quellen  alle  auf,  aber  —  nur  um  sie 
alle,  die  eine  nach  der  anderen  elituitiieren  i'S.  13  ff.);  die  ganze  griechische 
Litterattir  ist  seiner  Meinunp  natli  als  Fund<rrulte  fHr  die  antike  numanltrit  y.n 
streichen,  kh  kan?i  nieht  snu'en.  dals  seine  Aiisführun<^en  mir  überzeugend  vor 
gekommen  wären.  Aus  praktischen  Gründen  niati  (.'s  ja  geboten  erscheinen,  das 
Feld  der  Untersuchung  einzuschränken;  und  mit  seinen  positiven  Vorschlägen 
ist  der  VerfieMser  jeden&lls  im  Recht  Als  das  rSiniselw  Volk  seine  politische 
Beife  erlangte,  gieng  ihm  die  Überl^anheit  der  griechischen  Weltansdurann^ 
wie  sie  im  Geiste  der  besten  ans  dem  hellenisehen  Volke  ausgereift  war,  all> 
mShlich  auf;  ihr  snehie  nun  die  EUte  der  römischen  Gesellschaft  bewufst  naeh- 
Btttrachten;  so  entstand,  als  bewofstes  Prinzip,  die  HnmanitSt,  das  Wnri  und 
die  Sache.  Von  den  Scipionen  ging  die  Bewegung  aus;  ihren  HoIk  punkt  er- 
reichte sif  in  Cicero.  Um  as-  nn.<:Hsprrrhm,  Ciwros  Sdiriffm  sind  für  uns  <hr 
%ccsenÜi€iw.  Sjnegel  der  anflbu  HumanUiU  (S.  IH).  Das  ist  gewifs  ein  ebcnnti 
origineller,  wie  berechtigter  Gesichtspunkt.  Aber  Horaz,  Seneca,  Plinius  d.  J.V 
Die  gehören  doch  unzweifelhaft  auch  zu  den  'Humanen',  wie  der  Verl  Iran 
und  trefiend  unsere  Elite  nennt  Hin  und  wieder  ist  auch  von  ihnen  die  B4Mle; 
im  gannen  aber  schlielst  der  Yerf.  die  ganxe  nachangnsteische  Zeit  prinsipiell 
aus,  dem  die  Aufgäbet  euk  in  einem  freie»  SteuOe  am  offenUii^  LSben  wiusk 
fterim  Kräften  su  heie&iffenj  werden  itir  ah  einen  noescntliehen  Bestandteil  des 
humanen  Bewufstscins  erkennen  (S,  17)  Recht  wohl,  aber  doch  nur  als  einen 
wesentlichen;  deshalb  kann  doch  z.  B  für  die  antike  Hiimanifäf  im  Verhältnis 
VijH  Mensrh  fit  Mtvsrli  (S.  71  ff.)  Plinius  d.  J.  als  eine  wi(  htii^e  Quelle  dienen. 
Auch  hier  kann  ich  mir  für  die  Exklusivität  des  Verf  nur  subjektive  Gründe 
denken:  er  hat  sein  Forschungsgebiet  deswegen  enger  abgesteckt,  lun  dalÜr 
dieses  Terbftltnismafeig  engere  Feld  desto  voUatandiger  m  erschöpfen.  Letiteres 
hat  er  denn  auch  geleistet;  ebendeshalb  ist  sein  Yeranch  in  seiner  gewollten 
Beschxftnknng  gelungen  m  nennen. 


4 


Tk.  Zieliaildt  Antike  HanMnitit. 


Verflöhnen  wir  nnn  nUo  damit,  dafs  xim  die  mitike  llumauitüt  hier  nur 
insoweit  geboten  wird,  als  sie  sich  in  Ciceros  Geiste  wiederspiegelt  Es  ist 
dennoch  im  woaentlidien  die  «ntika  Humanität;  und  dafa  es  so  ist,  beweiai 
hmrftifthcnd  die  GenialitSt  jenes  vielverleomdeten  Geistee.  Indirekt  wird  somit 
das  Werk  Sebneidewins  m  einer  gelehrten  und  beredten  Apologie  Oiceroa  — 
und  das  ist  ein  Gmnd  mdir,  ihm  einen  möglichst  nm&ssenden  Leserkreis  su 
wQnsehen. 

2 

erTiHt|ffmointcr  aber  dieser  Wunsch  ist,  um  so  mehr  sind  die  Hinder- 
riihs»-  /AI  bt'diiiieni,  die  »ich  seiner  Erfülluiii;  in  den  Wejr  stallen  —  7.uni!il  die- 
jeuigeu,  die  iu  dem  Werke  selber  hegen  und  nicht  uIlzuHchwer  hätten  vermieden 

werden  kOnuen.  Von  ihnen  ist  hier  snnfichst  m  redeo;  bei  der  Gelegenheit  soll 
aueh  der  sonstige  kritische  SehnU^  der  einmal  au  einer  honetten  Besaision  gehSr^ 
abgeladen  werden,  damit  wir  nna  weiterhin  um  so  rfiekhaltloaer  dem  vielBn  Guten 

und  Trefflichen,  das  die  Sclirift  des  Verfassers  bietet,  hingeben  können. 

Also  die  Hindemisse  —  zu  ihnen  gehört  an  erster  Stelle  der  Umfang 
des  Buches.  Es  sind  nämlich  537  Seiten  Text,  dazu  ein  Anhang  von  weitoron 
20  Seiten,  der  eine  vielfach  polemische  Auseinandorsetzun^^  des  Verfussers  mit 
der  'Litteratnr'  zur  antiken  üumanität  enthält  —  eine  xöÄog  (täxt),  nebenbei 
bemerkt,  da  tmr  10  Nummern  behandelt  werden,  die  ührigeu  47  vieUeiclU  auf 
anderem  Wege  dem  wisaenadnafUidim  FubUkum  dargebotm  werden  sollen.  Nun 
sind  ja  freilieh  seehsthalbhundert  Seiten  ftr  eine  gaoae  Weltanschauung  nidit 
zu  Tid;  gana  gewila,  aber  —  ich  ftrchte,  ahsolnt  genommen  werden  sie  unserer 
vielbeschäftigten  Menschheit  doch  zu  viel  sein.  Denn  ein  Nachschlagebuch  »oll 
CS  und  kann  es  nieht  sein  —  daau  fehlt  ihm  ein  entscheidendes  äuiseres  Merk- 
mal, der  Index  — ,  es  will  gnnz  gelesen  werden,  von  Anfang  bis  zu  Ende 
Das  soll  es  auch;  es  wäre  schade,  wenn  es  nicht  geschähe.  Ntin  aber  die  F'nii^e: 
wie  viel  Zeit  niurs  der  intelligente  Leser  opfern,  um  ein  Buch  von  seehsthalb- 
hundert Seiten  zu  lesen? 

Nun,  je  nachdem;  das  hingt  doch  ganz  daTon  ab,  wie  das  Buch  geschrieben 
ist  Gans  recht;  damit  haben  wir  das  zweite,  wesentlichere  Hindernis  berfihrt: 
den  Stil,  im  weitesten  Sinne  dee  Wortes. 

Der  ist  nun  freilich  in  mehr  als  einer  Hinsicht  zu  loben.  Der  Verfasser 
hat  viel  gelesen  und  viel  gedacht,  besonders  auf  philosophischem  Uebiete; 
Seliojienhauer  und  Hartmami  sind  ihm  gute  Bekannte,  nnd  mancher  andere 
dazu.  Kine  «^rolse  Umständliehlieit  des  Denkens  ist  ihm  ilie  Frucht  dieser  reichen 
geistigen  Thätigkeit  gewesen;  da  wird  nicht  munter  von  Gipfel  zu  Gipfel  fort- 
geschritten, —  alle  Unebenheiten  des  Wegca  werden  mitgenouiiuen,  nichts  wird 

dem  Leser  geschenkt.  Daau  kommt  ein  reicher  Erinnerungssehats  iron  eigenen 
und  fremden  £r&hrung^  nebst  dem  Bedflrfiiis,  mit  freigiebiger  l^d  daraus 
au  adiopfen;  daau  der  Trieb,  an  allen  m^lichen  Zeitfrageu  selhstKndig  St^nng 

an  nehmen  und  seine  —  natürlich  motivierte  —  Entscheidung  dem  Leser  au 
unterbreiten.  So  hat  denn  der  letatere  die  Empfindung,  dafis  er  mit  einem 
GOteraug  reist,  und  die  ist  nicht  immer  angenehm. 


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Tb.  Zidinskl:  Antike  Huin«aittt. 


6 


8elir  liüljsih  entwickelt  uus  der  Verfasser  S.  108  am  dem  VVeseu  der 
antiken  Iluiunnität  den  Satz,  dafs  es  ^inept'  sei,  in  gesttclUer,  einen  wisscnschafl- 
Uekm  Jargon  ohne  Not  ethändMeir  Weiae,  MuttM  einfach  'gtU  detUaA*  (mon 
Bomattö)  m  spn^en.  Wie  werdm  wir  nmi,  von  diesem  Stendpuakte  ana,  eben 
Seb(  wie  den  folgenden  beurteilen  (S.  57):  die  antike  HmHuUtöt  aeltt  in  ihre 
LebenmuffattsKUff  den  Factor  des  Gcdankims  der  Vustnhlirhh  ii  <hr  ScAc  ein? 
Das  heilst  doch  wohl  'gut  deutsch*:  die  a.  H.  erkennt  die  Unsterblichkeit  der 
Seele  an?  *Es  lirlfsl;  mehr',  wird  der  Verf.  saj^cn.  Das  erapfindp  ich  wolil  — 
inhaltsleer  sind  senu'  Worte  nie  und  nirgends.  Ahvr  dieses  Melir  hätte  der 
Leser  Ton  sich  aus  geleistet;  mit  dem  unausstehlichen  genetivischen  Schachtel- 
halm war  es  zu  teuer  erkauft.  Oder  auch  folgenden,  bctnichtlich  längeren 
(8.  4S)i  Et  ffiiibt  ein  enbekeidendes  Kriteritm,  ob  dn  LSam^  vnd  Losungmort 
Sur  WeUersAeimng  und  mar  GestaUmg  des  Lebens  ab  ein  abaekdet  oder  nur 
rdedio»  Wert  empftmdm  wird:  Wmn  man  ^mddt  dafs  der  Inhalt  dee  WoHee 
MKsfc  euureiehe,  die  BxieUna  V€münfli{ß  zu  IcgHinden,  so  ist  das  Lostoigsicort 
ein  absolutes,  tcenn  man  aher  glaubt,  dafs  nur  das  Dafs  des  Was,  das  Dasein 
dtr  Wdi,  als  dunhle  Urthatsachr,  einmal  rorniK'frsrfzt,  dm  Wort  ausreiche, 
um  dem  fpcschrmiktett  menschlichen  UrkenninisvcniuMim  ;irnuff  -n  fltun  und  das 
in  gerade  dici>vr  Ihsütuffenheit  als  zu  gestaUenilts  Material  gcgeimie  menschlicfte 
Wesen  in  seiner  Bctltätigung  m  regdn,  so  ist  es  nur  ein  rdaUves.  Ist  es  nun 
lu«i]iaft,  wenn  idi  mir  einbilde,  mit  einer  Fassung  wie  diese:  *es  ist  absein^ 
wenn  es  die  Weltexistenx  erUiri^  ee  ist  aber  relatir,  wenn  es  dieser  Thatsache 
ab  einer  YoraiUMetanng  aar  ErkBfanmg  der  fibrigen  bedarf  dem  besehriuikten 
menschlichen  Erkenntnisvermögen  ToUaof  genug  zu  thun?  Und  das  ist  nnr 
V4  Seite;  ihrer  sind  aber  sechsthalbhundert.  Die  sind  freilich  nicht  alle  so 
schwer;  aber  oft,  sehr  oft  war  ich  darüber  fndi,  dafs  ich  die  Fertigkeit, 
schwierige  algebraische  Klammeraufgaben  zu  löst-n,  von  der  Schulbiink  herüber- 
gerettet hatte.  Und  auch  die  half  nicht  immer;  ratlos  stehe  ich  der  historisdten 
Kurzsichtigkeit  S.  201  gegenüber,  uid  was  sich  aus  der  Negationenschlacht 
8.  507:  Bei  dem  vidiamendhSj^iffen  Stande  des  deutstAen  Lthrertmne  eher  md 
bei  den  änfserUAen  JfoMom  umd  JVS^,  dmA  die  eiefe  Am  migef^9iH  werden, 
bestdd  wne  der  iVMI  ^^xSA  m  addende  UnteahrscheiidiMeU,  dafs  nicht  vide  seiner 
Mitglieder  der  Fähigkeit  entbehren  soIZfaM,  die  heilsame  strenge  Zucht  uesemdidh 
schon  durch  die  Würde  ihrer  Fersen  tm  vSben  —  ab  schlieübiiche  Position  er- 
giebt,  weif?  ich  auch  nicht. 

Wii.s  nun  den  Eriuuerungsschatz  anbelangt  .  .  .  ich  will  nicht  undankbar 
sein  und  gern  bekennen,  dal's  ich  die  vielen  Digressiunen  des  Verfassers,  die 
auf  persönliche  Erlebnisse  n.  dg^.  aarflc^(eben,  mit  Interesw  gelesen  habe. 
Digreasionen  Bind  es  aber  darom  doch,  nnd  die  Art  nnd  Weise,  wie  der  Verf. 
sie  anbringt,  «eigt  deutlich,  dafs  wir  es  bei  ihm  mit  einer  Ueinen  SchwSche 
an  thun  haben.  Ich  weise  auf  S.  356  hin.  Die  befremdende  Thatsache  des 
prosaisfdien  Rhythmus  erinnert  den  Verf  an  die  dramatische  Verszahlentheorie, 
diese  an  eine  Seminarsitzung  bei  A.  Boekh,  die  wir  jedoch  sofort  verlassen,  um 
den  Keferenten  in  den  deutsch-frauzosiacheu  Krieg  zu  begleiten;  erst  nachdem 


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6  Th.  ZielimAi:  Antike  Hnauuiitat. 

wir  den  za  früh  Q^nenen  betnmer^  kehren  wir  in  die  SenmumitBimg  mrQck^ 
hören  BSekhe  Resolution  Ober  die  Vemiüilentiieorie  und  hahea.  nnn  erat  den 
Standpiinkl  sur  Beurteilung  des  prosaiachen  Rhyfhmns  gewonnen.  Die  idne 

Ljde  des  Anttmachos,  würde  Plutarcli  sagen. 

Doch  haben  diese  Digressionen  immerhin  das  Interesse,  das  Erinnenini^en 
an  bedeutt  ii(k'  Persönlichkeiten  natnrgemafs  anhaftet;  der  Verf.  ergeht  sich  aber 
auch  sonst  gern  in  behaglichem  Spazierschritt  auf  allen  möglichen  Beitenpfaden, 
die  gar  nichts  einbrini/en.  und  da  ist  es  kein  Wnnder,  wenn  dem  pressierten 
Begleiter  die  Geduld  manchmai  reifst.    Wozu  der  (obeueiii  unberechtigte )  Aus- 

fiül  gegen  die  Mikroben  S.  381?  Oder  der  (gleieh&llB  unberechtigte)  gegen 
die  Hiddigcigerei  S.  441?  Oder  die  immerhin  gesinnungstttehtige  AoBeinander- 
setsung  aber  die  Berechtigung  der  Eheedteidong  S.  180  f.?  Entacheideai  I&bt 
sich  ja  eine  Frage  Ton  dem  Kaliber  auf  so  engem  Räume  doch  nicht.  Auch 
war  es  gewifs  nicht  nötig  für  die  Beurteilung  des  Briefwesens  der  hiunanen 
Gesellschaft,  dafs  der  Verfasser  S.  150  f.  auf  die  Erfindung  der  Buchstaben- 
selirift  zurfickgicng  und  den  Homer  mit  seineu  tffjfiora  Xvyga  hereinzog.  Eine 
grüisere  btraüheit  wäre  dem  Buche  von  ganz  unermelalichem  Vorteil  gewesen. 

8. 

Uock  das  muls  man  schon  mit  in  Kxaf  nehmen:  es  darf  uns  die  Freude 
nicht  Terkfimmem,  die  uns  die  Leitung  eines  so  belesenen,  auf  den  ver- 
sduedensten  Wissensgebieten  unterriditeten  Mannes  geiriLbri  Denn  das  bleibt 

M.  Schneidewin,  und  dio  kleinen  AnstöCsc,  die  ich  im  folgenden  notieren  will, 
thun  dieser  Thatsache  im  Ganzen  keinen  Abbruch. 

S.  70  lesen  wir  nicht  ohne  Staunen  die  Behauptung:  die  antike  Humanität 
scheint  hisici  ilcn  roramrjr^rfst  zu  Imbeti,  äafa  sie  in  ihrem  praktiscJieti  Gmmdr 
verhalten  zum  Leben  die  Erbin  der  Weislieit  der  eleitsini selten  Mysterien  sei. 
In  der  bekannten  Aufserung  Ciceroe  Ober  die  letzteren  konunt  allerdin^  das 
Wort  hmmmiiaa  vor,  und  um  seinetwillen  mag  der  Zettel  in  Aea  Sammd- 
kästen  gekommen  sein,  in  den  er  nidii  hineingehSrte;  leider  ist  er  fSr  den 
VerC  zur  Veranlassung  geworden,  fiber  die  eleusinischen  Hysterien  mit  grober 
Bestimmtheit  Sachen  vorzutrsgen,  die  den  Meinungen  der  besten  heutigen 
Kenner  schnurstracks  entgegengesetzt  sind.  Den  Grund  begreifen  wir  leicht^ 
wenn  wir  das  angehängte  (etwas  überflössige')  Verzeichnis  der  Haupfsrhriftm 
iiber  die  t  lnmnischen  Mysterien  lesen,  in  dem  die  Namen  Uohde,  Anrieh  und 
Foucart  fehlen. 

Ein  gnomisches  Monostichon  ist  mit  den  Worten  wenn  idi  nidU  irre, 
memauHtA  (S.  29)  gewifii  etwas  seltsam  gekenozmefanet,  und  wenn  das  darin 
Torkommende  Ds^i  (Sv^gauats  «oW  ftfd»)  im  Original  ein  LnperatiT  von 
olda  ist,  woran  nicht  an  aweifeln,  so  ist  es  auch  fär  die  Üben^gmg  einer. 
Seltsam  berührt  au(  h.  wenn  man  es  gedruckt  sieht,  das  Zitat  (S.  26)  am  «HMNI 
»Mir  nicht  weiter  bekannten  Epiplianes  ('vol.  II p.  137  B^),  wo  doch  eine  genauere 
Anfrage  lei<  hf  ergeben  hatt<»^  dafs  es  sich  um  den  bekannten  Aiitiorigenist^n 
Epiphanias  iiaudclt.   Für  eine  Thatsache,  die  Thukjdides  bezeugt,  hätte  nicht 


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Th.  Zielindd:  Antike  flanuuiitfttw  7 

S.  362  Nepos  zitiert  werden  wllen.  Und  wm  S.  459  Ober  Tbemietokles  stehi^ 
dafon  ut  gerade  das  Qegenteil  fiberliefert 

Die  kurze  Übersicht  Uber  die  antike  Rhetorik  S.  361  ff.  ist  för  den  Senner 

Oberflfissig,  dem  Laim  aber  müfste  sie  unter  ganz  anderer  Beleuchtung  dar- 
fft  Koten  \v(  rdcTi,  um  irgendwie  zu  wirken.  Insonderheit  wäre  die  trockene  Auf- 
ziihJmi«»  der  Figuren  S.  BtlO  oiiifacli  \vf«rzulassen  und  die  Lehre  von  don  statu» 
cau^ae  mehr  xu  durchgeistigtu  —  so  wie  der  Verl.  sie  S.  3G7  darstüUt,  ist  sie 
unlogisch  und  unverständlich  (am  besten  eignen  sich  die  modernen  Kunst- 
anadr&dce  *Tb»tlh(ge*  —  et.  oonjeetorati^  'Beditefrage'  «-  ei  definitionis  oder 
kgitimns  und  *Str8fi&age'  =  et  qnalitatis  dazu,  diese  wunderbare  und  nnOber- 
Iroffene  Lehre  au  Teransehanlieh«!).  Übrigens  bedeutet  etatiMi  «rdgt^  mit 
uichten  FccJUermtshye;  das  griechisclfe  Bild  bewegt  sich,  wie  die  Quellen  lehren 
(et  VoUanann  Bhd.  38),  auf  einem  gams  andt-n  n  Gt  hii  f 

Eine  orpnHuere  Kenntnis  des  römischen  Staatsri-chts  uärc  dem  Verf.  S.  230 
zu  wütiHclH  Ti  irfwosen:  f^ie  hiitfe  ihn  vor  dem  Irrtum  buwahrt,  die  censorische 
Lectio  scnatus  auch  in  der  Zeit  Ciccros  als  bestellend  imzunehmen,  und  damit 
wäre  da8  ganze  Aporem,  das  dort  entwickelt  wird,  samt  seiner  unmöglichen 
LSonug  gefalleaL  8. 189  irt  Cieeros  Mnttnr  mit  swter  Schwägerin  verwediaeli 
Was  S.  228  die  der  rSmiachen  Religion  aar  Seite  geetdlte  Chiade  anbelangt 
ist  nidit  Uar;  dem  Zmammenhang  nadi  moehte  man  annehmen,  dale  der  Verf. 
damit  den  lateiniachoi  Anedmck  anspicia  wiedergtebt,  wae  aber  doeh  sn 
Terwunderlich  wäre. 

Die  Übersetzungen  des  Verf.  wird  mancher  zu  frei,  zu  randcrnisiert  finden; 
mir  haben  sie  im  idlt/emeinen  sehr  g^ut  üfefallen.  Nicht  iranz  korrekt  ist 
377  die  Stelle  aus  der  Mureniana  wie<i ergegeben;  auch  Atiakllifikrif  S.  317 
i!«t  doch  kein  Ausdruck  für  dati  lat.  quid  deceat  Doch  das  sind  ganz  ver- 
einaell»  AiistSliie;  Sfler  erseheint  dee  Verf.  Twttritik  bedenUioL  %e  irt  au 
einaeiüg  Sathetiach  nnd  drilngt  die  diplomatisdie  Seite  der  Frage  an  sehr  in 
den  Hintergrund.  Einmal  passierte  es  ihm  sogar  (8. 819),  dab  er  eine  sehleehte 
moderne  Konjektur  ffir  die  Überlieferung  hielt  und  auf  Grund  ihrer  Cicero 
eine  ROge  erteilte.  Es  ist  die  bekannte  Stelle  Ober  Lucrez;  der  liandschrifk- 
Uchen  Fassunpf  multts  himinihu,^  infjmii,  multae  fnmm  nrfh  2;lauhe  ieli  E<is  TIT  1 
endgültig  zum  Siege  verholfen  xu  haben  sie  ist  für  beide,  Cieero  wie  Lucrez, 
«rleich  ehrenvoll.  Aus  derselben  Eos  möchtts  ich  dem  Verf.  noeh  die  Miszellc 
i  1:^9  empfehlen;  dort  wird  er  die  neuentdeckte  griechische  Quelle  zur  ciceroniani- 
fldmi  "Klim^-g  »  dormi»  eto.  (8. 134)  nachgewiesen  find^. 

Ändere  werden  anderes  angemerkt  haben;  ich  sehliefiie  mein  Register  mit  dem 
Wonsche^  dafii  diese  kleinen  Beriehtigungen  dem  Verf.  nidit  ungelegen  kommen. 

4. 

Wir  eilen  7uni  Pogitlven.   Was  ist  die  antike  Humanität,  und  was  will  sie? 

Sie  will  vor  allen  Dini^en  zu  einer  freuditjen  Tifbensbejahun}^  fjelanrfcn;  sie 
will  es,  weil  sie  durch  und  dureli  i^esund,  liell:ui!rig  und  krafiüirotzend  ist. 
Cm  es  aber  thun  zu  können,  bedarf  sie  gewisser,  teilweise  metaphysischer 


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8 


Th.  ZieliBild:  Antike  UumaniUlt 


YorausBefasungen,  die  sie  indeiseii  nieht  poBtuIieri^  Bondern  mit  den  Mitteln,  die 
ihr  Bu  Gebote  stdieii,  la  beweiwn  anchi  Gebotm  werden  ihr  aber  diese  Mittel 

▼on  der  griechischen  Pliilosophie:  was  die  Stoa  verheilst  und  dio  Akademie 
geetiitti-i ,  wird  zur  theoretischen  Grundlage  der  antiken  Humanität. 

Dahin  gehört  zunächst  ein  leMi  ifttH  Diirehdrungensein  von  der  Einheit 
und  Iliirnionie  des  Weltalls,  ein  bewunderndes  Aufschauen  zu  der  Herrlichkeit 
des  Miikrokfisiniis,  um  in  dessen  ewiger  Ordnung  den  Geist  und  Willen  des 
Ordner»  zu  akueu.  Von  der  gleichen  Bewunderung  ist  sie  aber  für  das  Wesen 
des  Menschen  erflUlt,  den  Adel  und  die  Beinheit  seiner  nreprfln^chen  Natur. 
So  gelangt  sie  dasn,  ana  dieser  Natur  das  Sittengeaela  herzuleiten,  ohne  Zu- 
hilfenahme einer  tnaunendenten  Kraft  in  anderem  Sinne,  ab  insofern  sie  sieh 
etwa  eben  in  der  menschlichen  Natur  offenbart.  Dabei  ist  sie  sich  jedoch  des 
eingangs  von  mir  entwickelten  Unterschiedes  vollauf  bewufst:  gebührt  audi 
unsoro  ganze  Ehrfurcht  dem  allgemeinen  Sittengesotz,  insofern  es  der  univcrsa 
tuUuni  entstammt,  so  kann  dorli  nur  diejenige  Sittlichkeit,  die  unter  Mitwirkung 
unserer  Individualität,  unserer  jnoima  natura,  ^ust•ande  inn  t.  7ur  Richtschnur 
unseres  Handelns  werden  —  mit  Recht  hebt  der  Vert.  die  goldenen  Worte 
Ciceros  de  off,  I  110,  dieses  Fundameoi  der  antiken  Humanität,  in  seiner  Dar- 
stellung S.  S6  hervor.  Und  sind  wir  einmal  au  ein«*  sokhen  Betonung  unserer 
bdividualilftt  und  ihrer  Redite  gelangt,  so  werden  wir  dm  Gbuiben  an  eine 
schlielsliche  Yemiehtnng  dieser  IndividualitSt  entschieden  zurfiokweisen:  die 
antike  Humanität  erkennt  die  Unsiirblichkeit  der  Seele  an. 

Wie  reimt  sich  nun  mit  dieser  Weltanschauung,  dafs  die  antike  Hutnanität 
den  GlücksgeliaU  des  mcnschlkhm  Lehms  eher  in  pessmisfiseltem  Lichte  ansieht 
(S.  56)V  Sie  reimt  sich  eben  gar  nicht;  hier,  wie  sonst  einigemal,  ist  für  den 
Verf.  das  Bestreben,  dio  gesamte  antike  Humanität  aus  der  Individuaiit<it  des 
einen  Cicero  herzuleiten,  verhängnisvoll  gewesen.  So  ist  er  dahin  gekommen, 
lediglieh  funktionelle  Störungen  des  humanen  Bewulstseina  för  organische 
Affektionen  desselben  anansdien.  ThateSchlich  ist  der  *eudamonologische  Opti- 
mismus' die  einzige  denUbare  Konsequenz  der  humanen  Weltanschauung;  wo 
nur  der  Same  der  Iluuuinitat  aufgegangen  ist,  hat  sieh  diese  Blüte  aus  ihm 
entwickelt  —  für  die  Beschaffenheit  der  Keintanlage  ein  deutlich  redendes 
Kennzeichen. 

Das  sind  im  allgemeinen  die  LiMinfis-Amchauunijm  und  -Vommscf::unffmi 
flftr  atdikm  Humanität.  Wie  sie  sich  auf  dies(  r  Grundlage  im  Verhältuis  von 
Mensch  zu  Mensch,  zu  Staat  und  Vaterland,  üu  WisBeuschaft  und  Kunst,  end- 
lich ZU  der  Natur  darstellt  —  das  untersucht  der  Verf.  in  den  vier  weiteren 
Abschnitten,  die  zosammengenommen  den  Kern  des  vortreiFUchen  Werkes  bilden. 

5. 

'Von  Mensch  zu  Mensch' . . .  Wir  werden  dabei  sehr  ins  Einzelne  geftthrt; 
die  grofse  humane  Ethik  /.ersplittert  sich  in  eine  Unzahl  praktischer  Maximen, 
dafs  man  zuletzt  vor  lauter  Bäumen  den  Wald  nicht  sieht.  So  hübsch  versteht 
es  der  Verf.  jede  einzelne  dieser  Maximen  mit  einer  oder  ein  paar  Cicerostellen 


Th.  ZieliniU:  Antik»  Hauuiitit 


9 


m  belügvu,  d&b  man  am  Bnde  auch  dag  Bedflrfiiis,  den  Wald  zu  sehen,  nicht 
mehr  empfinde!,  ünd  doeh  ist  dieees  Bedflrfiiia  bttreehtigt-,  ich  will  Beben,  ob 
Ith  die  fleifUgen  firnntnlmigen  des  Verf.  nach  dieser  Seite  hin  er^buten  hum. 

Bilden  die  Hnnumai  dw  Elile  Abb  Volkee,  eo  haben  nie  nkdi  gegenüber 
ein  grofiies  Sfcfick  Menschheit,  das  der  Hnmanit&t  nicht  teilhallag  ist  —  die 
Masse,  die  Vielzuvielen,  die  Philister,  oder  wie  man  eie  nennen  will.  Die 
Roirf'ln  für  den  Verkehr  von  Mensch  zu  Mensch  ?ini1  daher  wesentUeh  davon 
abhängig,  nh  (!»>r  betreffende  Mensch  znr  Elite  oder  zur  Masse  gehört.  Von 
diesem  Stiindputikt  aus  wfirde  ich  versuchen,  den  etwas  äuüserlichen  Schema- 
tismus des  Verf.  zu  dorchgeistigen. 

ÜTehmen  vir  morst  die  Maate;  habe  idi  die  Pflicht,  sie  snr  Hnnmailit 
sa  bekehren?  Hit  anderen  Worten:  empfindet  die  antike  Hmnaniiät  den  Trieb 
der  IHropaganda?  Theoretiadi  wäre  ein  ^a'  m  erwarten,  als  die  logiicihe  Kon- 
eeqnenz  des  Glaubens  an  den  Adel  der  Menschennatur;  praktisch  jedoch  ist  die 
Frage  für  die  antike  wie  fQr  die  Henaissancehiunanitat  zu  verneinen  und  erst 
fSr  die  TTumanität  des  XVTTT.  Jahrhunderts  zu  bejahen.  Der  üntersehied  ist 
ein  ungelieuerer;  aber  wir  müssen  annehmen,  dal's  es  nur  in  f1t  r  IVtixis  einer 
i»t.  Es  lag  an  den  äufscrtm  Verhältnissen,  an  der  Schwit'rigk<nt  und  an- 
scheinenden Hoffiiungslosigkeit  der  Aufgabe,  dafs  sich  die  Keimanlage  der 
antiken  Hnmanität  im  Altertum  nicht  entwickeln  konnte. 

AIbo  nicht  bekehren;  was  denn?  Anskommen:  das  ist  Torlanfig  der 
Weisheit  letiter  Sehlnfs.  Da  ergeben  sidi  die  Regeln  der  LebensUu^eit 
S.  73  ff.  von  selbst  Sei  klag  und  rechne  damii^  dafs  die  anderen,  nämlich  die 
Masse,  dich  lieher  schlecht  als  gut  sehen  wollen,  dafs  sie  ndi  mehr  lieben  ab 
dich,  dafs  sie  sich  dir  aber  andererseits  willig  hingeben,  wenn  du  sie  zu  ge- 
bnuutien  verstphnt.  Die  höchste  Klugheit  kann  aber  oft  in  der  Gfite  enthalten 
sein:  am  besten  kommt  man  mit  den  Menschen  aus,  die  uns  lieb  gewinnen. 
Von  diesem  Qcsichtspunkte  aus  folgen  wir  den  Humanen  leicht  in  allem,  wjui 
sie  Aber  das  Verhältnis  zu  den  Nachbarn  wie  zu  den  Sklaven  vorschreiben; 
wobei  wieder  der  letatere  Pnnkt  nnswe  Anfinrnksamkeit  in  erhShtem  Mafoe 
fesselt.  Der  YerC  scheint  swar  nicht  ftbel  Lust  an  haben,  die  Behaadinng  der 
SMaven  von  seiner  Darsteilnng  dar  antiken  Hmnanittt  ansaaschlielsen,  weil  er 
darüher  in  seinen  Sammlm^en  JtHn  Material  mar  Verfügung  JuU  (S.  206)  —  hier 
wäre  eben  ein  Punkt  gewesen,  wo  der  jüngere  Plinius  den  Cicero  erganzen 
konnte.  Er  will  uns  mit  einem  knappen  Auszug  aus  dem  Marquardt-Mommsen- 
seben  Handbuch  tiitschadigen,  was  wir  höflichst  ablehnen  werden.  Allerdings 
gebt  auch  daraus  hervor,  dafs  sich  im  romischen  Rechtsbewuiätsein  im  Laufe 
der  ersten  Jahrhunderte  der  Kaiserzeit  ein  bedeutsamer  Wandel  zu  gunsten  der 
msren  ToUneht  —  aber  diesen  ümsehwnng  soll  mdbf  sowoM  die  äUe  humane 
GeatßeduMß,  ab  das  jurigfiedie  Denken  der  großen  BeditagdMen  der  ersten 
laden  Jährhmderie  n.  C9br.  kerheiffeßhrt  haben.  Ja»  standen  denn  diese  Rechts- 
gelehrten  aufserhalb  des  Rannkreises  der  alten  homaren  Oesellschafk?  Wir 
berühren  hiermit  eine  kUffende  Lücke  in  dem  sonst  so  durchdachten  System 
des  Verl   Ich  werde  mir  unten  (§  8)  erlauben,  sie  nach  Kräften  aussuMien; 


10 


Th.  ZioHnKki:  Antike  HiimanitSlt. 


«•iiiHtwoilni  will  ich  diirauf  hinweisen,  dal's  der  erste  dieser  Rechtsgelehrten,  der 
f^rofne  Luheo,  ein  EnkolschQler  Ciceros  gewesen  ist.  Thatsächlich  haben  die 
llunmnen  an  der  Aufbesserung  des  Sklavcnloses  ein  grofses  Verdienst,  das  ihnen 
der  Verf.  am  allerwenigsten  hätte  verkürzen  sollen. 

Soweit  die  Masse  —  denn  die  Frauen  als  solche  gehören  nicht  dahin, 
noch  wenigiM-  die  Kinder.  Was  zuniU-hst  jene  anbelangt,  so  ist  Piaton  freilich 
mit  seiner  Forderung,  dafs  den  Frauen  qualitativ  dieselbe  Erziehung,  wie  den 
Männern,  zu  teil  werde,  nicht  nur  seiner,  sondern  auch  unserer  Zeit  weit  vor- 
ausgivilt;  «lafs  aber  die  Humanen  Korns,  soweit  es  der  Zeitgeist  gestattete,  der 
Krfilllung  dieser  Forderung  mächtig  vorgearbeitet  haben,  hätte  doch  entschiedener 
betont  werden  sollen,  als  es  S.  175  flf.  geschehen  ist.  Liebesheirat  und  Ehe- 
scheidung gehören  gar  nicht  ins  Kapitel  von  der  Stellung  der  Frauen  in  der 
antiken  Humanität:  letzten'  ist  ein  überkommenes  Rechtsinstitut,  erstere  gilt 
in  gleicher  Weise  für  Männer  wie  für  Frauen.  Wohl  war  aber  die  Frage,  ob 
im  humanen  Kreise  die  Frau  als  ebenbürtiger  Kamerad  des  Mannes  galt,  unter 
Zuziehung  eines  umfassendert^n  Materials  zu  behandeln  und  zu  bejahen.  Nicht 
umsonst  steht  neben  dem  Namen  Scipio  der  Name  Cornelia  an  der  Spitze  der 
römischen  Humanität;  über  Laelia.  Mucia,  Licinia  gelangen  wir  leicht  in  die 
Zeit  Oict^ros,  wo  der  Kranz  hervorragender  Fniuen  —  von  einer  Porcia  bis  zu 
einer  CUxlia  —  ein  sehr  reicher  ist  In  der  Hinsicht  vermissen  wir  gar  vieles 
in  des  Verf.  Darstellung;  am  meisten  vielleicht  folgende,  ganz  beiläufige,  aber 
eben  darum  unbezahlbare  Stelle  aus  einem  diplomatischen  Briefe  Ciceros  an 
Metollus  Celer:  fam.  V  2,  6:  q^tcm  cgo  mm  coffijirri«rm  (sc.  Metelli  fratrem) 
.  otnnrm  .swt  trihttnatHS  cottatum  in  rnrani  ;>rrw>VfV*»»  fiararr  aUpte  mcdiiari,  cgi  mm 
Chiudia.  t<.rr>»r  tua.  et  mm  fratra  sorftn-  Murin,  mitis  rrpa  nu-  sttulium  jiro 
Cn,  Pornjirii  ttco\'i!iitMiiinr  muUi<  in  trhis  />r»>7ir.rmiiH .  ut  rum  ah  iUa  ininria 
ti/irrrrrmt  Auch  ist  nicht  zu  verg»^ssen,  dafs  die  Wiedergeburt  der  Humanität 
in  der  Renaissance  sowohl  wie  im  XVIH.  Jahrhimdert  den  Anschluls  der  Frau 
an  die  humane  IVwegung  brachte.  Darüber  sollte  man  sich  nur  ganz  klar 
(»ein:  wenn  heutzutAgt^  ein  PhiloU^gt^  in  puncto  'Hörigkeit  der  Frau'  auf  einem 
]>atriarchalischen  StÄudpunkte  steht,  so  thut  er  e«  nicht  als  Philologe,  sondern 
als  ganz  was  anderes. 

N*vh  wenign-'r  gchönMi  die  Kinder,  der  Nachwuchs  der  Humanität,  zur 
Masse.  Das  ist  vielmehr  ein  Feld  für  die  lV>paganda  der  humanen  Welt- 
anschauung; diese  Pn'i^viganda  leist<^te  die  Erziehung.  Das  Verhalten  der 
anliken  Humanität  7.ur  Kinden'r7.iehung  hat  der  Verf.  an  dem  BtMspicl  der 
Widon  Knaben,  Marcus  und  Quintus  Cicer«\  nx-ht  gut  darge>;t«'llL 

Soweit  das  (^n^nzg^^biet..  Indem  wir  uns  nun  ent«»chiedeu  zur  Elite 
wenden,  ändert  sich  das  UUd.  War  der  Mastse  gi^nüber  LeWnsklugheit  die 
oberste  Maxime,  so  hejfst  os  hier;  intrr  }KTmif:  ftrfH^  (uiior  opnrM.  Mit  diesen 
Wort*>n.  die  Heim  Verf  S.  79  nicht  an  der  richtigen  St<>lle  st<^hein.  war  reicht 
eigentlich  das  neue  Kapital  zu  eroflFnen:  von  dem  Verhältnis  der  Humanen 
zu  einander. 

Hier  entwicVeln  sirh  vomehinlich  die  Lichtseiten  der  antfkei)  Hnmanitit 


DigitizGL.   ,  v^  .oogle 


Th.  Zieliiiiki:  Aniilte  Hnnttnitftt. 


11 


M.i)^  ü'u-U  der  Humanp  flpr  Masse  gegenüber,  aus  Libenskluglieit,  in  jenes  ge 
heimuii^vollc  Dunkel  der  ßadvtt^s  kUllcn  —  ilt-ii  Seinen  gegenüber  ist  er  'otfen* 
und  'liebens würdig';  mag  er  dort  auf  Walirung  seiner  persönlichen  Würde  be- 
dacht Bein  —  liier  ist  er  'beedieiden*.  Und  so  edir  er,  dem  fandamentaleii 
Gedanken  der  HonisnitiLt  entsprechend,  auf  die  MÖ^chlEeit  freier  Entfidtung 
der  ^gmen  IndiTidnsUi&t  dringen  mnfii,  so  sehr  wird  er  diese  selbe  Freiheit 
auch  den  anderen  zugestehen.  Eine  grofse  'Riicksii  htnahme*  auf  den  anderen 
wird  die  Folge  sein.  Dafs  diese  bei  dem  lebhaften,  überschwanglichen  süd- 
lichen Nattircll  leicht  Formen  annehmen  kann,  die  einem  grümlichen  Kritiker 
Drumannscher  ÜbHervanz  als  'Scbmeicbelei'  erschpinen  können,  ist  nicht  ver- 
wunderlich; der  Kenner  wird  sich  durch  den  überall  gebreiteten  Duft  der 
'Urbanität'  gern  eines  besseren  belehren  lassen.  —  Ich  habe  hier  einige  der 
Schlagwörter  herrorgehoben,  denen  Solineidewin  gelehrte  und  lehrreiche  Errarte- 
rungen  sa  teil  werden  iSfet;  hier  sei  nur  noch  der  Brennpunkt  genannt^  in  dem 
sUe  Ton  dar  antiken  Hunumitfit  geworümeo  Strehlen  vereint  wglänxen  —  die 
Froiindschafi  Ein  genaueres  Eingehen  ist  nicht  nötig;  Laditts  de  amicitia 
kennt  ja  jeder.  Daneben  erscheint  jedoch  auch  die  eingehende  Charakteristik 
dm  Verf.  S.  126  ff.  als  in  hohem  Grade  verdienstlich.  Besonders  pf\tt  ist 
S.  136  ff.  ausjjefnhrt,  wie  sehr  die  Praxis  der  antiken  Hiuuanität  mit  dem 
xoiva  T«  töv  (pUsov  in  Gtldnachen  ernst  gcmackt  hat,  so  dafs  wo  Ui  uim  an- 
geblidi  die  GcmüUichkeU  aufhört,  sie  dort  in  der  antiken  humanen  Gesellschaft 
erst  redU  anfing. 

Hehr  iufberlich  IfingMi  mit  den  hier  berifhrten  Fragen  die  J&pitel  Aber 
das  Brief-,  Empfehlnngs-  nnd  Widmnngswesen  snsanunen,  die  vom  Verf.  mit 
gewohnter  Akribie  ausgearbeitet  worden  sind;  doch  wSre  namentlich  fOr  das 

letz^enanntc,  wie  auch  sonst  einigemal,  die  Berücksichtigung  von  Hinsels  aus- 
sirzeichnetem  'Dialog'  wünschenswert  gewesen.  Wir  können  ans  bei  diesen 
untergeordneten  Fragen  nicht  länger  aufhalten. 

6. 

*Zn  Staat  nnd  Talerland'  . . .  ffier  habe  ich  nichts  su  ordnen,  sondern 
nur  fibw  das  Wohlgeordnete  in  aller  Kflrse  zu  berichtm.  Vortrefflich  leitet 
der  Verf.  aus  der  2<entralidee  der  Humanitü  die  Pflicht  des  StaatsbUrgers  her, 

sich  am  Staatsleben  zu  beteiligen;  dem  einleitenden  Kapit«!,  welch  es  da«  Htaats- 
und  Vaterlandsbcwufstsein  der  antiken  Humanität  im  allgemeinen  charakterisiert, 
fnl^  ein  analytisches,  das  die  Staatsidee  in  ihre  Elemente  zerlegt  nnd  das 
Verhalten  der  Humanen  zu  jedem  einzelnen  von  ihm'n  beschreibt,  hieriinf  ein 
drittes,  das  die  praktischen  Maximen  enthält.  An  der  Anordnung  ist  nichts 
auszusetzen. 

Der  Stsat  ist  dem  Humanen  diejenige  Sphäre,  in  der  er  seine  hSdiste 
Kraft  bettifttigen  kann;  so  leitet  die  Natur  selber  den  Menschen  an,  am  Staats- 
leben  teüstmeiimcm.  Zu  diesem  Naturtrieb  gesellt  sich  indessen  noch  die  Dank- 
barkeitspflicht hinzu,  insofern  der  Staat  der  Erzieher  und  Beschützer  des 
Bürgers  ist   So  kann  denn  der  von  gewissen  Philosophen  Terhingte  politische 


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12 


Tb.  Ziolinski:  Antike  Humanität. 


Indifferentismus  vom  Standpunkte  der  Humanität  nur  abgelehnt  werden;  der 
materialistische  Indifferentismus  der  Genufsmenschen  natürlich  erst  recht. 
Soweit  der  'Staat';  wie  gelangen  wir  nun  zum  'Vaterland'?  Hier  fehlt  doch 
beim  Verf.  der  Übergang;  so  ist  denn  der  Patriotismus  S.  217  ff.  mehr  postu- 
liert als  entwickelt.  Mit  Vergnügen  erfahren  wir  S.  221  f.,  dafs  jene  natio- 
nalistische Borniertheit,  die  einen  jüngst  geplatzten  Bovist  an  Jherings  treffen- 
dem Wort  die  Entwifkeluwj  von  innen  heraus  beginnt  erst  hei  der  Leiche  so 
schweren  Anstofs  nehmen  liefs,  dem  Patriotismus  der  antiken  Humanität  fremd 
gewesen  ist;  mit  um  so  gröfserer  Spannung  begrüfsen  wir  S.  223  ff.  die 
Beurteilung  des  Patriotismus  der  antiken  Humanität.  Da  erleben  wir  freilich 
eine  kleine  Enttäuschung.  Es  wird  uns  dort  sehr  verständig  auseinandergesetzt, 
dafs  Patriotismus  und  Kosmopolitismus  sich  nicht  ausschliefsen ,  sondern  er- 
j^nzen;  was  wir  aber  erwarten  durften,  eine  Charakteristik  des  antik  humanen 
Patriotismus  im  Vergleich  mit  dem  modernen,  das  hat  uns  der  Verf.  vorent- 
halten und  damit  die  Gelegenheit  zu  einer  schönen  Götzendämmerung  verpafst. 
Und  doch  war  die  Frage  wohlberechtigt,  ob  beispielsweise  jene  Hottentotten- 
moral, welche  die  Quintessenz  des  modernen  Zeitungspatriotismus  bildet  und 
dem  Philister  täglich  bis  zur  völligen  Abtötung  des  Gerechtigkeitsnerves  zum 
Morgenkaffee  kredenzt  wird,  auch  antik  sei.  Dafs  sie  es  nämlich  sei,  behauptet 
Leo  Tolstoi;  denn  christlich  wäre  sie  nicht.  Cranz  gewifs;  aber  antik  —  hat 
der  Philologe  zu  entgegnen  —  ist  sie  darum  doch  nicht,  sondern  eben  hotten- 
tottisch. Ich  scheue  die  stärkste  Probe  nicht:  da  ist  z.  B.  jene  bekannte  Rede 
Ciceros,  in  der  das  römische  Volk  angefeuert  wird  z\mi  Kriege  gegen  die  .  .  . 
gegen  die  .  .  .  ja,  gegen  wen  denn  eigentlich?  Das  ist  eben  das  eigentümliche, 
dafs  wir  aus  ihr  nicht  einmal  den  Namen  des  Volkes  erfahren,  mit  dem  Krieg 
geführt  werden  sollte. 

Es  folgt  das  analytische  Kapitel.  Zum  Glück  hat  bereits  Cicero  den  Be- 
griff" 'Staatsidee'  Sest.  9H  in  seine  Elemente  zerlegt,  und  es  war  ein  hübscher 
Gedanke  des  Verf.,  diese  Einteilung  seiner  Darstellung  zu  gründe  zu  legen. 
Wir  hätten  somit:  Religion,  Amtsgewalt,  Senatsautorität,  Gesetze  (d.  h.  Volks- 
wille), Sitte,  Rechtswesen,  Kredit  und  Finanzwesen,  auswärtige  Beziehungen. 
Das  Verhalten  der  Humanität  zu  jedem  dieser  Elemente  wird  der  Reihe  nach 
untersucht  —  nicht  ohne  dafs  hin  und  wieder  die  Rede  auch  auf  Verwandtes 
kommt  —  stets  mit  grofsem  Fleifs  und  grofser  Umsicht,  oft  mit  Glück.  Am 
wenigsten  konnte  ich  mich  mit  der  Erörterung  über  das  Rechtswesen  be- 
freunden —  der  Verf.  selber  gesteht  freimütig,  dafs  ihm  die  entsprechenden 
Kenntnisse  fehlen;  nur  ist  die  Lücke  gröfser,  als  er  denkt.  So  wird  man  auch 
•  in  dem  §  über  Frciiieit  und  GleichJtcit  den  'Geist',  der  hier  ganz  allein  stimm- 

berechtigt wäre  —  ich  meine  den  Jheringschen  —  schmerzlich  vermissen. 
Auch  der  §  über  die  Religion  wäre  präziser  ausgefallen,  wenn  der  Verf.  die 
von  der  humanen  Gesellschaft  acceptierte  stoische  Scheidung  der  drei  Religionen 
zu  gründe  gelegt  hätte;  damit  wäre  auch  der  Vorwurf  gefallen,  den  er  S.  231 
den  Humanen  macht,  als  ob  sie  durch  ihre  Forderung  von  der  Einheit  der 
bürgerlichen  Religion  die  Masse  grundsätzlich  ein  für  dUenuxl  von  dem  rdi- 


TL  liämAi:  AntOc»  Hninftiiitit. 


13 


ffiösifti  Fortschritt  arnffeschlossni  und  .w  rmf  <hni  ndlmialen  Toluiinm^nnd  fcM- 
^enagtlt  hatte.  Der  Zugang  zur  philosophisclH-ii  Hfli'i^ion  stund  jedermann 
frei;  dalt^  aher  Kotytto  und  Ma  der  Juno  Kegiuü  gegenüber  einen  religiösen 
Fortachritt  beiieute,  wird  der  Verf.  selber  nicht  behaupten. 

Indem  wir  noeh  im  Vorbeigelieii  die  adiöneii  Worte  des  Yerf  Ober  ad 
^.  /r.  I  1  notiorai  (8.  851),  idireiten  wir  vom.  dritten,  HynthetiKhen  Kapitel, 
das  die  GfmäaSiat  fUr  da»  jioUeudbe  LAm  enthält  (8.  262  ft). 

Hier  hatte  ich  doch  dem  dritten  §  den  Vorgang  gegeben;  denn  offenbar 
•  Tithalten  diejenigen  politischen  Grtmdsätze,  die  oiine  mmlrikklidte  Reflexion  auf 
ihre  Durrhfiihrharlrit  o</rr  Zhidimhführharlr'd  aufgostfllt  werden,  die  lluiiianitiits 
idee  in  ihn'r  t(  it'.cri  ri ,  u nwtrfihtt'rcn  Krschcinniigsforin.  Da  In'ircn  wir  nun 
i^pm,  ilaf-  H  is  rectum  und  ianustuni  i\\r  den  Politiker  die  Iliclitschaur  abgiebt, 
mit  dereu  Kiuiialtung  er  seinem  persönlichen  Ziel,  der  digtütas  zustreben 
•oU  . . .  und  welchem  «taatUehen  Ziel?  Nnn,  dem  oHtmx  dae  wei&  ja  jeder 
Cioerokenner;  es  ist  nicht  recht  ereichtlidiy  warum  dar  Verf.  diesM  S.  246  nur 
obenhin  gestaraiAe  Losungswort  hier  (S.  286)  nieht  mit  gebührender  Anafttbr^ 
liebkeit  behandeli 

Geaetat  nun,  das  politische  Schiff  segele  vor  dem  Wind,  was  weiter?  Das 
weitere  giebt  §  1  (S.  263)  an;  doch  find  die  Vorhaltunpfmufsregpln  so  all- 
gemein, dafs  Uli  ihnen  nicht  viel  Hegt.  Auch  hat  ja  die  Humanität  zumeist 
gegen  den  Wind  gesegelt;  gehen  wir  also  7m  t?  2  über,  zu  den  poHtistJum 
Grundsäteen  für  den  Foü,  tluß  UHüberwmdlkhe  JUarhlvcriutihnsse  eur  Vtrzicht- 
leistmig  au/'  den  eigmsten  WiSe»  mokigm  —  8.  267  ff.  Es  sind  mit  die  beetra 
Seiten  des  Bndies. 

Da  bietet  sich  BunScfast  ein  Anaweg  dur,  der  alles  rettet  —  Gsfams  nßbSe 
Uktm.  Auch  gehört  ein  total  vecschiankt^  moralischer  Organismus  dasn, 
diesem  Ausweg  seine  Bewunderung  zu  versagen;  aber  bei  dieser  Bewunderung 
lafst  es  die  Humanität  bewenden.  Wanim  sie  es  thnt,  hat  der  Verf.  S.  2<>H 
vortrefTlieh  auseinandergesetzt:  ilrrtf  horlisten  Interesse,  ucirlus  dir  Humanität 
am  J^iiiii(.J*brn  natim,  wurtk  deunoch  der  ganse  Mensch,  auf  drssni  Vrncirk- 
lichuny  sie  zudte,  nicht  durch  den  Untkrtis  des  i>olilischcti  ausgefüllt,  sutuiertt  Ite- 
kkU  die  wichtiy.stm  tmd  teeriuoUstm  8eUm  seines  Wesens  übrig,  in  die  er  sich 
einsiweäen  fHAkt^  md  m  denen  er  «dk  omdAen  homUe.  Das  sind  tiefe  und 
wahre  Worte;  mSditen  sie  nicht  Qberselien  nnd  ancb  nieht  rergessen  werden. 

» 

7. 

*Zn  Wissenschaft  und  Kunnt*  .  .  .  natürlich  zur  freien  Wissenschaft  und 
/ur  freien  Kunst;  ersteres  wenigstens  ganz,  entschieden.  War  die  Humanitiit 
damit  auf  <lem  recht*-!!  W'egeV  Mau  Hollte  doch  eniilich  aufboren,  es  bX»  Racons 
gewaltiges  Verdienst  zu  preisen,  daTs  er  der  freien  Wissenschaftlichkeit  das 
Joch  der  NUtiliehkeii  aufgeladen  hat;  diese  banausische  Anffessung  stimmt 
freilieh  sdur  gut  sn  dem  sonstigen  Charakter  dea  Hannes,  den  man  meist  nidit 
sn  kennen  pflegt,  aber  die  Pmxis  hat  ihr  nicht  recht  gegeben.  Die  Wissen- 
schaft ist  stols  und  hochhenig;  sie  will  um  ihrer  aelbat,  nicht  um  ihrer  Mit- 


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u 


Tb.  Zieliittki:  Antike  HanMidttt. 


^ift  wegeu  ji^eliebt  werdeu,  uiid  versagt  »icli  deui,  dvr  erateres  nicht  kann.  Mit 
anderen  Worten:  die  für  das  praktisclie  lyimi  tcichtigsten  Entdcchingm  simi 
tefcaimtficfc  0»  emm  grofsen  lUZe  emem  ursprüngliek  ftm  Iheongtüt^m  BewUihe» 
wie  gam  Me&mfte»  tu  äm  Sdicfs  grf<älm  (8.  287).  Wir  hftbeii  daher  aUen 
Grandy  roa.  der  WisBentdiaftliclikeit  der  ftittikeii  Honunittt  hoeh  m  denken; 
ihr  Vorbild  hat,  mbh  den  ablernenden  Ten<ltnzoi\  des  strLiigen  Christen- 
tums, dasa  beigetragen,  auch  den  modernen  M^aschen  der  Wiaeenacbaft  si- 
xnführen. 

Den  Trieb  der  Erkenntnis  hat  die  Niitur  seihst  dorn  Menschen  eingepflanzt 
—  so  urteilt  Cieerd,  so  ^eliintrt  er  dazu,  die  sopimtia  als  eine  der  ^"ier  Kardinal- 
tugenden aufzustelleu,  als  welche  sie  auch,  nach  deinem  Vorbild,  zu  grofser 
gegenseitiger  Verwimderong  dem  System  der  chrietlidien  Etiiiik  eingeigt 
worden  iat.  Damit  ist  der  Erkenntniatrieb  yod  der  Zentralidee  der  HmuanitBt 
al^lettet.  Er  bildet  einen  michtigen  Aat,  dem  der  Bavm  aeine  Sifte  zn- 
wendet,  wenn  ihm  die  übrigen  abgesägt  sind  —  so  erscheinen  die  Wissen^ 
schaffen  als  Trösterinnen  dem  Unglücklichen,  der  als  Mensch  wie  als  Bflrger 
todlich  verletzt  ist  (S.  201  ff.)  Dem  Glücklieben  aber  bringen  sie  jene  Ver- 
edelung und  Versittlich  Uli  g  seines  Wesens,  die  ihre  kostlichste  Frucht  ist. 

Letzteres  ist  freilich  an  eine  Bedingunir  «geknüpft,  deren  Verw  n  klu  hung 
immer  »chwieriger  wird:  dem  wiasenschaftlichen  Streben  muik  eine  gewisse 
Univeraalitat  innewohnen.  In  jener  Zeit  war  ihre  Vwwirkiiehnng  eben 
leiditer;  imd  inwiefern  darin  ein  utiTerganglieher  Wert  der  Antike  f&r  nna 
Hodeme  lieg^  das  hat  der  Yerf.  S.  304  IL  in  einer  anageiMeluieten  Betrachtung 
auseinandergesetzt.  Der  moderne  wissmsäuxfä/itka  Geist  trägt  eigenüich  den  Speer 
des  Widersprtichs  im  Leibe^  indem  er  im  Gegensatee  m  der  antiken  Idee  der  ge- 
scMo9<i!f>Tfen  Unlirrs'ditäf  drs  Wissens  ins  Unendliche  und  damit  Zhlla^f  sfnll. 
jFTv  dfshaVt  gut,  wenn  er  mit  dem  antüen  mssensehaftliehen  Geiste  eim  Art 

von  K'.»tipro)Ki/'s  eingienge.  Durch  die  VielseiitgktU  uml  Akribie  der  Einzel- 
forschmg  bleibt  er  diesem  ,  .  .  überl^eHf  das  Strdten  naüi  Einlmi  umi  die  ünier- 
adieidimff  des  iimerlMA  Großen  im  Wissen  von  dem  o»  Bedetämig  geringerm 
Maieriat  soOie  er  dem  omtiken  aUemen  (a  306). 

Indem  nun  die  Wiseenflchaftliehkeit  der  antiken  Hnmanitat  dieser  üniyer- 
aaUtit  ak  ihres  Endzieles  hewuTst  blieb,  mufste  sie  sieh  anch  Ober  die  Mittel 
klar  werden,  die  zu  ihr  führen  konnten.  Ein  solches  war  sanachst  die  strafft 
Systematik,  die  aber  nicht  in  einen  an^prlichen  Schematismus  ausarten  durfte, 
sondern  den  leitenden  Ideen  den  irel>nhrenden  Vorrang  lass«-n  mufste.  Sodann 
war  das  Zurückgehen  auf  die  Arbeiten  der  Vorj^ngt^r  unerlafslich:  idme 
Bibliotheken  kein  Studium.  Doch  das  sind  Binsenwahrheiten:  interessanter 
nnd  chanikteristtBeber  filr  die  geistige  Freiheit  und  Beeonnenbeit  der  antiken 
Hnmanitat  sind  die  meOiodetegisdien  Gfundsätse,  die  der  Yerf.  S.  313—317 
(wieder  ein  paar  trellUdie  Seiten)  so  knrs  behandelt,  dalb  «in  Ananig  nicht 
mo^ch  ist  Und  schliefslich  wird  man  seine  Schatze  nicht  Ar  eich  behalten 
WoUw:  das  Studium  treibt  zur  Produktion.  Wer  aber  schreibt,  der  will  ge- 
lesen werden;  wer  gelesen  werden  will,  hat  sich  einer  ffirien,  dl  k  KeMgemt" 


Th.  ZieUntki:  Antike  HtunanitiU. 


15 


neün.  Idar  anagrführt$n  und  reizvollen  Darsteüui^  (S.  318)  zu  befleifsigen.  Ja» 

das  war  etiiinal. 

Trotz  aliedüin  war  en  kein  ebener  Weg,  den  die  Humpen  ssu  gehen 
btten:  ea  ^nireii  gar  numeiie  BtSrendeii  MomMite  n  ÜbenniideD:  4er  hmumsUdte 
8mn  —  Uttte  uns  doch  der  Yerf.  S.  326  die  sdireekliclie  Etymologie  des 
Wortes  erlesien!  die  Banausen  kennen  wir  audi  so  nur  au  gut  — ,  ferner  die 
mÜentU  r&$msche  genierte  Zurückhaliuntj  vor  <lan  Bekenntnis  rein  gehlif/ir  Liter' 
tttot,  sodann  das  Advokatentum  .  .  .  Das  ist  eine  Überrssehnnf;;  aber  dit-  Ent- 
tSnwhTinf:^  folf^.  Es  kam  ebon  dem  Verf.  darauf  an.  ein  paar  kräfti«^*'  Wörk- 
lein  ^^oge^  diesen  ihm  unsympathischen  Gcif?t  zu  suf:f('n;  drim  schlier^^licli  innfa 
er  selbst  gestehen,  dal's  in  das  wissensr/iafti ichc  Strclit:)i  itrr  autikcn  llumaniUit 
dßr  G&st  des  Bechtbelialtemvoüens  mit  einer  wryefaßliti  Meinutu^  atui  der  advo- 
haHtAm  JBwtif  mdU  ek^eirm^en  isL  Bs  ist  Oberhaupt  ein  heiUM  Gehiel^ 
4an  es  schwer  ist,  gerecht  au  werden,  selbst  wenn  man  Jurist  ist;  der  Begriff 
'Ästhetik  des  Beehts'  ist  uns  eben  abbanden  gekommen. 

Da^  vierte  hemmende  Moment  ist  die  Last  der  Geschäfte.  Und  da  tiiut 
der  Verf.  wohl  daran,  uns  zu  erinnarn^  dafs  die  antike  Humanität  nie  soweit 
gegangen  ist,  die  völlige  Befreiung  von  dieser  Last  als  etwas  WünsclieiiHwertoa 
zu  empfinden.  Vielmehr  war,  der  eminenten  Gesundheit  ihrer  Anluve  ent- 
sprechend, das  Glcichgeicicht  der  thnirrti-ichin  und  prnkfisehen  Interessen  ihr 
ideal  Hier  war  der  eigentliche  Ort,  das  schöne  dum  cMweüw,  mifescunt  an- 
injßduen. 

Soweit  der  allgemeine  Teil  der  Untersnehung  Aber  die  Wiasenschaftlieh- 
keit  der  antiken  Humanität;  es  folgt  der  ^»aielle,  ihr  Verhältnis  an  den  ein- 
leben Wissensgebieten.  Hier  mufs  eine  flttditige  Durchsicht  genügen.  An 
erster  SteUe  erscheint  naturgemäß  die  Sprache;  es  schliefst  sich  an  die  Bered- 

.«amkeit,  die  indessen  eine  Kunst  ist  nnd  daher  ins  t'-irlwte  Kajiitel  gehört 
hätte;  weiterhin  folgt  die  Geschichte,  dann  die  Philosophie,  die  merkwürdiger- 
weise zwar  nicht  die  Königin  der  Wissensehaften,  aber  docli  die  Königin 
der  Wissenschaften  (S.  379)  sein  soll.  Im  übrigen  ist  dieser  §  aehr  gut,  und 
WM  S.  383  T(m  den  philosophisohen  Werken  Cieeros  gesagt  ist,  diesen  gedaidce»' 
mek»  und  nac^  den  kSduten  Ziäe»  dee  stCAicften  Xe&m«  nngfenden  Stiur^kn, 
■oUie  von  all^,  die  es  angdi^  aufs  angelegentlidiste  berflcksichtigt  werden  — 
wie  wir  denn  auch  dem  Verf.  das  Recht,  seine  redlich  erarbeitete  Überseugung 
gegen  das  Verdikt  der  Spafspliilosophen  in  die  Wagschale  zu  werfen,  von 
Hmen  gern  zugestehen.  —  Sodann:  Phi!o!of/ira.  Da  mufs  ich  aber  als  Philnlofje 
protestieren;  was  der  Verf.  unter  dieser  Hubrik  zusaninieufarst,  sind  meist 
i-ippalien,  die  kaum  der  Ilede  wert  waren.  Zum  Sc-lihil's  kommen  Mathematik 
end  Astronomie,  wobei  die  allgemeine  Kenntnis  der  ErtkJieinunyen  der  Elementar- 
eOromme  itnd  das  WiafU  Intereeee  /wr  ^  mit  Beeht  fitr  eme  QhiimeUe  «m 
t^miffm  LAen  der  mil^3ten  Humamtäi  «rUart  wird. 

Magerer  ist  das  Kapitd  fibw  die  Kunst  aufgefallen,  hauptsiefalieh  des- 
halb, weil  die  be<b  utendste  Kunst  der  Cioenmianischcn  Epoche,  die  Beredsam^ 
kät,  lieh  —  wie  wir  gesdien  haben  ^  unter  die  Wiseeinschaften  verirrt  hat» 


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16 


Th.  Zielinski:  Antike  riumaniükt. 


Wenn  man  beherzigt,  wie  die  Horazische  Kontroverse  natura  fieret  luudabilc 
Carmen  an  arte  {qtist.  II  3,  4<)8)  an  dem  Streit  der  beiden  Ciceronen  quod  ego 
enulüissimorutn  /tominum  artibus  cloqttettiiam  contineri  statuam,  tu  autein  iliam 
alt  clegantia  dodrinae  srtjreyendam  putes  et  in  quodam  ingenit  atque  exercitationis 
generc  ponendam  {de  or.  I  5)  einen  Vorläufer  findet,  so  überzeugt  man  sich  erst 
recht,  tlals  Beredsamkeit  und  Poesie  gerade  für  die  antike  Humanität  zusammen- 
gehören. Eben  dieser  Streit  wäre  hier  zu  behandeln  gewesen;  denn  für  die 
Poesie  ist  nicht  Cicero,  sondern  Horaz  in  seiner  Mittelstellung  zwischen  den 
beiden  extremen  Parteien  der  Archaisten  und  der  Manieristen  (xtocd^t^/lot) 
Stimn;fiihrer  der  antiken  Humanität.  Die  anderen  Künste  aber  werfen  nichts 
Erhebliches  ab. 

8. 

Das  Kapitel  vom  Rechtswesen  und  dem  Einflufs  der  humanen  Gesell- 
schaft auf  seine  Entwickelung  ist  hier  einzuschalten  —  wir  haben  gesehen, 
dafs  Schneidewin  diese  PVage  gar  zu  unfreundlich  behandelt  hat.  Und  doch 
ist  sie  der  wichtigsten  eine;  das  Kechtswesen  hängt  unmittelbar  mit  dem  Sitten- 
gesetz und  dadurch  mit  der  Zentralidee  der  Humanität  zusammen. 

Die  unhistorische  Annahme  eines  am  Beginne  der  Rechtsentwickelung 
stehenden  Sozialvertrags  ist  längst  aufgegeben;  wir  wissen  gegenwärtig,  dafs 
es  die  Religion  war,  aus  der  die  ersten  Rechtsbücher  entstanden  sind:  das 
Fas  ist  die  Quelle  des  Jus.  So  war  es  denn  jene  gewaltigste  aller  Mächte, 
quae  caput  a  codi  regionibus  ostentabat,  die  auch  dem  kindlichen  Lallen  des 
erwachenden  Rechtsbewul'stseins  ihre  Weihe  verlieh;  was  ein  Greis  der  grauen 
Vorzeit  unvollkommen  gedacht  und  ungefüge  ausgedrückt  hatte,  das  sollte  für 
alle  Zeiten  bindende  Kraft  haben.  So  war  es  im  Anfang.  Die  weitere  Ent- 
wickelung konnte  eine  doppelte  sein;  wir  fassen  den  Unterschied  leicht,  wenn 
wir  etwa  Israel  mit  Hellas  vergleichen.  Dort  beugte  sich  der  Gedanke  der 
Nachgeborenen  vor  dem  geoffenbarten  Fas;  die  Rechtslehrer  sahen  ihre  Auf- 
gabe darin,  den  bekannten  'Zaun  um  das  Gesetz*  zu  ziehen  —  eine  gar 
stachlige  Hecke,  wie  man  weifs.  Anders  Hellas.  Hier  fand  der  freie,  selbst- 
bewufste  Gedanke  bald  am  Gesetzeswort,  am  (^ijtov,  kein  Genüge  mehr;  dem, 
was  gesagt  war,  wurde  das,  was  eigentlich  hätte  gesagt  werden  sollen,  dem 
^rjtöv  die  didvotu  entgegengestellt  —  wir  kennen  ja  jetzt  den  köstlichen  Streit 
darüber,  ob  Solon  aus  demokratischer  Niedertracht  sich  unklar  ausgedrückt 
hat  oder  aus  anderen  Gründen.  Nur  eins  fehlte  den  Hellenen  —  ein  Rechts- 
institut, das  der  Öiävoiu  die  Möglichkeit  gegeben  hätte,  das  ^ijrdr  zeitgemäfs 
umzugestalten,  jene  viva  vox  juris ,  die  das  gestörte  Gleichgewicht  des  Rechts- 
lebens jederzeit  hättc>  wiederherstellen  können;  trotz  allen  l*rotesten  des  Ver- 
standes gegen  die  B<>stimmungen  artpl  xh]Q(ov  xal  iscixXtjgav  ist  es  beim  ab 
surden  (^rdi/  geblieben;  aus  der  Gesetzgebung  vertrieben,  zog  sich  die  didvoia 
in  die  Rhetorik  zurück. 

Diese  wurde  somit  zu  einer  wahren  Rechtswissenschaft  in  partibus.  Wir 
kennen  ja  alle  den  ersten  Prozefs  nach  dem  status  ^rixbv  xal  didvoia,  den 
Fall  Paaiu  contra  Strepsiades,  wo  dem  sonnenklaren  ^rftöv  gegenüber  der 


DigitizGL.  _ ,  .o 


Th.  Zidiniki:  Antike  Humuitlt. 


17 


Advocat  des  Beklagten,  Phcidippidcs,  die  schlaue  diävoiu  zur  Geltung  bringt: 
was  das  Oesetz  eigentlich  vott,  das  wUTstcn  die  Gegner  nicht,  6  £6kG>v  6 
MtÄtubs  ijv  tpilödtjjios  tijv  (pvdtv,  er  habe  unter  der  ^mj  xtd  vitt  ganz  was 
anderes  gemebi  Und  wenn  wir  nun  behersigen,  dab  dieser  Pheidippides  eine 
neue  Anflags  des  »auaaSyuv  ans  den  ^mttdtts  ist  und  dieser  uemlidi  aus- 
drücklich als  der  Schiller  des  Thrasyinaohos  eingefQhrt  wurde,  so  können 
wir  auch  den  unruhigen  Geist  namhaft  niachen,  der  auch  diesen  Sauerteig  in 
die  nttisrh«  Gesellschaft  hineingeworfen  hat.  Aber  Segen  briichto  er  ihr  nicht: 
da  der  Gesetzgebung  an  einem  asniiTiilierMnden  Organ  ft  hlt<\  wuchs  aus  dem 
Samen  der  Öiaima  nur  eine  üppig  wuchernde  Schlingpflanze,  die  von  imn  an 
am  Mark  des  kranken  attischen  Rechtöhaumes  zehrte:  die  Sykophantie. 

Zur  rechten  Zeit  kam  die  Rhetorik,  diese  verkappte  Jurisprudens,  audi 
nach  Rom.  Dort  hatte  sie  ganz  andere  Aussichten;  denn  eben  jenes  assimi- 
tierende  Organ,  das  der  attischen  LegisbÜTO  fehlte,  besals  Rom  wenigstens 
für  das  bUrgerlidie  Recht  in  der  Gestalt  der  Prätur,  jener  viva  vox  jttris  civilis. 
Nattirgemals  war  es  die  humane  Gesellschaft,  deren  Boden  sie  zuerst  betrat. 
Mit  offenen  Armen  wurde  sie  dennoch  nicht  empfangen:  es  war  doch  etwas 
Unhcunliches  \m\  jenen  Schemen  der  Öidvoia,  der  sich,  mit  allen  Reizen  dor 
Redekunst  ausgestattet,  der  greifbaren  Wirklichkeit  de»  ^t^rov  entgegenstellte 
und  sich  für  die  wahre  Wirklichkeit  erklärte.  Wie  lange  die  geheimen  Feind- 
seligkeiten gedauert  habra  mögen,  wissen  wir  nicht;  aber  den  Fall,  in  dem  die 
O^ensUse  auünnandeipIatEten,  kennen  wir  gans  gat:  es  war  die  klassische 
cauta  Cmiana. 

Ein  Barger  stirbt  in  der  Überzeugung^  dafii  seine  Frau  ein  Kind  erwarte; 

für  den  Fall  seines  frühen  Todes  ernennt  er  einen  gewissen  Curius  zum 
zwettcTi  Erben.  Es  kommt  aber  gar  kein  Kind  r.nr  Welt;  darauf  hin  fechten 
die  niiehsten  Verwandten  das  Testament  an  und  verlangen,  dulia  dw  Bedingungen 
der  Intestaterbfolge  in  Kraft  treten.  Kein  Gedanke,  dafs  der  Erblasser  einen 
anderen  als  Cnrius  zum  Erben  gewünscht  hütte;  andrerseits  aber  ist  das  formale 
Recht  unbedingt  zu  gunsten  der  Verwandten.  Also:  hie  ^irdv,  hie  didpoue\ 
was  tfamn?  ScsieToIa,  auch  ein  Humaner,  aber  als  Jurist  unbeugsam,  tritt  für 
daa  ^ijrtfv  in  die  Schranken;  Crsssns,  der  Redner,  das  Haupt  der  humanen 
Gesellschaft,  für  die  diuvoia  —  er  siegt,  und  sie  mit  ihm. 

Ist  nun  die  Rolle  der  Humanen  in  der  Keilitsentwickelnntr  klar?  Denn 
da«!  mfissen  wir  bedenken:  das  1.  -Th.  v.  Chr.  i^^t  für  das  Kechtüleben  die  Zeit 
<l<  r  (lühruriir.  wo  sich  aus  dem  verknöcherten,  m  wüstem  Formelkram  erstarrten 
alten  Recht  das  neue,  klassische,  entwickelt;  dort  der  Buchstabe,  hier  der 
Geist,  dort  rein  empirische  Kasuistik,  hier  die  Imtenden  Ideen.  In  die  Fab- 
stapfen  des  Crassus  tritt  mit  Entsehiedsoheit  Cioero,  der  gerade  hierin  eine 
gswisse  Animosittt  gegen  seinen  Lehrer  Scaerola  nidit  bemeistsm  kann.  Man 
lese  doch  seine  zivilistischen  Reden,  um  sich  zu  Überzelten,  dafs  er  in  ihnen 
der  nnermüdiiehe  VorlÄmpfer  der  dita'ota  dem  q^töv  gegenüber  ist  —  be 
sonders  lehrreich  ist  hierin  die  Rede  für  ('aecina,  die  an<  h  die  allerbedeut 
samste,  die  für  die  Arreiiuerin,  in  nuce  enthalt  (uuscro  Juristen  weiden 

KflOA  JkhrbadMr.   im.  1,  8 


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18 


Th,  Zidiluld:  Antik«  BiuniiitBi. 


ihnen  uieist  nicht  gerecht,  weil  sie  sich  in  die  Zeit  des  werdenden  Rechts 
nicht  zurQckrersetzen  können).  Man  wird  vielleicht^  wenn  man  im  Corpus  juris 
nicht  ganz  unbewandert  ist^  mit  Vergnügen  beneiden,  wie  es  eine  gw«de  Linie 
ist,  die  TOn  Cioeno  Über  Trebstins  anf  seinen  Enkdsehfiler  Labeo  fahrt  nnd 
Ton  diesem  fiber  viele  Kopfe  hinweg  auf  den  Heros  U^ian;  idi  wenigstens 
könnte  Fälle  anfuhren,  wo  Interpretationen,  die  schon  Cicero  vorgeschlagen 
hatte,  erst  durch  Ulpian  Rechtskraft  erhielten.  Natflrlidi  werden  wir  nicht 
behaupten,  daf«?  Cicero  hierin  schöpferisch  anfja^eirretfii  sei;  pr  wird  sich  bei 
rechtskundigen  Freunden  —  einem  Aquilius  z.  B.  -  Haies  rrbolt  hal»en.  Aber 
sein  Verdienst  ist  es,  dafe  er  die  seinem  gemiiulen.  liuinaiH  ii  Rechtsbewufstsein 
entsprechende  Auffassung  ausgewählt  und  ihr  für  Mit-  und  Nachwelt  die  Weihe 
setner  Beredsamkeit  v^liehMi  hat 

Von  diesem  Standpunkt  ans  begreift  sich  sndi  leidit  das  seltsame  Doppel- 
antüta,  das  die  Jurispmdena  bei  Cicero  aeigi  Hat  er  sie  eigentlich  geehrt 
dtar  Tsrachtet?  Fflr  beide  AufGuMungen  lassen  sieh  ja  'Beistellen'  anfilhren. 
Da  sidit  man  nun,  was  solche  eUation»  perßdes  (ein  piftchtiges  Wort  Boissiers 
Dnmiann  gegenüber)  nutzen,  wenn  man  vom  historischen  Geist  verlassen  ist. 
Venichtot  hat  Ciccio  die  Larvf  des  absterbenden,  im  Formelwust  erstickriidon 
Rechts;  wie  konnte  man  nur  übersehen,  dafs  er  in  der  Mureniana  den  zurikk- 
trctenden  lächerlichen  alten  Le^isaktionenprozefs,  nicht  den  sieghaft  vor- 
dringenden neuen  Formularprozefs  mit  seinem  Spulte  verfolgt!  Die  i't*vclie 
aber  des  nenen,  ewigen  Beditsy  das  seiner  Nation  zum  unvergänglichen  Ruhme 
gereichen  sollte^  hat  er  geehrt,  wie  nnr  irgend  einer. 

Ich  mnls  es  bei  dieser  Sldsse  bewendm  lassen»  so  nngenfigend  sie  anch 
ist;  möge  sie  wenigstens  *anreg^nd'  wirken.  Die  'Entwickeiung^sdiidite  des 
römischen  Bedits*  ist  freilich  ein  ungeschriebenes  Buch,  nnd  so  bald  dürfte 
sidi  kaum  jemand  finden,  der  da«  ungeheuere  Jheringsche  Erbe  antritt;  dafs 
aber  Cicero  und  der  humanen  Gesellschaft  darin  ein  Ehrenplatz  gesichert  ist^ 
das  glaube  ich  nach  allem,  was  ich  weÜs,  behaupten  zu  dOrfeu. 

9. 

Nach  diesem  Exkurs  kehren  wir  zu  drn  AuffTihningen  unseres  Verfassers 
zurück;  der  letzte  der  vier  Zentralabschnitte  stand  noeli  ans.  Er  führt  leider 
den  etwas  pretiösen  Titel  die  UumanukTUiui  ilir  si)t)ilir/iai  MtNstJfen.  und 
dafs  uns  gleich  an  der  Schwelle  der  unheimliche  seliolastische  Jauuskupf 
tiatura  naiurans  und  natura  naturata  empfangt,  ist  auch  nicht  beruhigend. 
Lieblicher  sind  uehan  die  Zitate  ans  Ida  Hahn-Hshn,  aber  Allotria  sinds  doch. 
Allmihlich  liest  man  sich  indessen  hinein  nnd  bringt  dann  herans,  dafs  es  dem 
Verf.  anf  das  Veihiltnis  des  humanen  Mensehen  rar  infteren  wie  snr  inneren 
Natur  ankommt. 

Ein  interessantes  Thema,  gewils;  nur  darf  man  hier  eigentlich  von  antiker 
Humanität  nicht  mehr  re<|en.  Hier  ist  der  Subjektivismus  in  seinem  Recht;  wir 
Ionen  Cicero  lediglich  als  Indiriduaiität  kennen,  nicht  als  den  Vertreter  einer 


Th.  Zialiiukit  Antike  Hmnaiiii&L 


19 


kultniliktoiisch  wichtige  WeUanediairang.  Zum  miiMlwiten  Bind  ii»  ^ilerien 
jf&r  dM  AUgemeine  und  BeMmdere  hier  wwi  «dtwuikfiBd«-,  als  je  suvor. 

Immerhin  leeen  wir  die  Gedanken  des  Y&et  Aber  Gioeros  Verhältnis  /.u 
Natur  und  Landleben  mit  Vergnügen;  wenn  man  an  Oatos  Landwirtschaft 
denkt,  spurt  man  wohl,  dafs  in  dieser  schon  halb  träumerischen  Hingabc  an 
die  landschaftlichen  Keizt*  etwas  Neues  liegt,  das  einer  weiteren  Entwickehinj^ 
fähig  ist  —  wie  es  dena  auch  wahr  ist,  dafs  hei  Horas  und  TibuU  die  LicU 
sum  Landleben  schoti  so  empfindsam  geworden  ist,  wie  es  sicJi  mit  dem  Jteroisc/im 
ZeüdUer  der  HumcmUäi  ffot  «idU  vermmgm  würde.  Die  steUenweiee  herror- 
tretende  Neigung  zur  Einsamkeit  hingt  wohl  damit  auMunmen,  widerapridit 
aber  der  Zentralidee  der  Hnmanit&t  und  ist  anch,  wie  der  Verf.  S.  425  bemerk^ 
nicht  organisch  —  so  sehr  wir  nna  aneh  an  gewiaae  verwandte  Symptome  der 
itenaissance  erinnert  fühlen. 

Noch  snbjektivpr  ist  das  Verhältnis  zur  eigenen  sinnlichen  Na/ur  Gern 
konstatiertn  wir,  dafs  Cicero  kein  Schlemmer  war,  aber  andrerseits  deu  un- 
schuldigen udtdg>OQU  der  Malüzeiteu  keinen  asketischen  Uurror  entgcgen- 
biaehte  —  beides  wäre  gleich  unfrei  gewesen.  Dais  er  den  Gteiat  nicht  dem 
Alkohol  gefangen  gab,  begreift  aiflh  leiisht  —  er  konnte  ihn  eben  zu  was 
Beaaerem  brancbNif  dafii  ihm  aber  der  Maaaiker  nicht  beeaer  geachmeckl 
habe  ala  der  Yatikaaer,  steht  nirgends  geschrieben  und  braucht  daher  auch 
nicht  geglaubt  zu  werden.  In  eroticis  war  er,  wie  bekannt,  dorchans  solide; 
doch  lilfst  y<ich  diese  Solidität  aus  der  Zentralidee  der  Humanität  nicht  her- 
leiten, die  vielmehr  eine  sieghafte  Geltendmachung  der  eigenen  Persönliclikeit 
auch  im  Verkehre  mit  dem  anderen  Geschlechte  befiirworten  würde,  wiv  wir 
sie  m  allen  drei  Humanitätsperioden  zur  Genüge  konstatieren  können.  Wir 
haboi  es  also  mit  einem  subjektiTen  Ghankterzug  an  thon;  und  da  w8re  doch 
an  betonen  gewesen,  dab  wir  bei  Cicero  wenigstens  (von  den  Beden  abgesehen, 
wo  die  eauia  spridiit)  niehts  Ton  jenear  giimlichen  I^derie  erbliekm,  wie  sie 
die  Philistennoral  nach  aufsen  hin  so  gern  zur  Schau  zu  tragen  liebt.  Ja 
sein  intimer  Verkehr  mit  den  vielen  'liederlichen  Genies'  jener  Epoche,  einem 
Cnrio,  einem  Oaeliun,  beweist  seine  fvxoUu  auch  in  die.scr  Hinsicht  ausreicliend. 

Von  dem  sonstigen  Bereiche  der  'sinnlichen  Natur'  des  Menschen  wird 
noch  die  Schanlnsit  behandelt,  und  zwar  die  niedere  -  die  höhere  ist  mit 
liecht  oben  unter  der  Rubrik  'Kunst'  erledigt  worden.  Wie  zu  erwarten  war, 
verhielt  sieh  die  Hnmanit&t  gegen  die  oft  giuusameu,  meist  unsinnigen  Spiele 
ablehnend;  nnd  zwar  ist  daa  Verhalten  Cioeros  in  dieser  Beaiehung  typisch, 
wie  n.  a.  der  jüngere  Plinina  beweiai 

10. 

Damit  ist  die  Unterauchnng  zu  Ende;  es  folgt  der  'Schlula*,  der  ans  Wer 
etwas  launisch  ausgewählten  Kapiteln  besteht. 

Der  (Temmteindruek  der  nntikm  Htmamtät  wird  —  wenn  Ref.  auf  die 
Gefahr  hin,  sich  zu  blamieren,  von  seiner  i'ersou  aus  schliefsen  darf  —  dem 
ohnehin  ermfldeten  Leser  viel  au  transa^ent  ersdieinen.   Es  wird  die  Fruge 


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20 


Th.  Zidiniki:  Antike  HamanitiU. 


anfjgBworfea,  ob  das  Prinup  der  HtDunanitSI  ein  hSdisfees  ist,  oder  aber  ein 

Hinausgehen  über  sich  {;restattet;  die  Antwort  fallt  im  letateren  Sinne  ans. 
Und  zwar  giebt  ee  nach  des  Verl  Meinnr^  drei  dem  Humanitatsprinzip  Qber- 
lem'n«'  GtHliinken:  erstens  den  (wenn  wir  den  falt<nreiclifn  spekulativen  Mantel 
ab.-itreit'en)  ehris<tlichen ,  zweitens  den  buildlustischen,  drittens  ilas  tjanz  imif 
tüfstr  prtiktischr  Prinrip  in  Hartmaum  thoititischrr  Zeirhtnoitf  einer  ' Reliiiinu 
(iea  Cieistei\  welch  letzteres  jedoch,  wie  sofort  zugestanden  wird,  die  Probe  der 

Praxia  erat  abwarten  mafik  Und  da  die  bnddhiatiBdie  Leg^de  l&r  dm,  der 
etwa  aaa  Oldenberg  dem  eehtm  Boddhiamoa  kenn^  endgBltig  vemiditet  üi,  ao 
bleibt  nur  daa  Chriatentom  xmAy  oimlidi  daa  edite,  beroiaehe.  Dagegen  iat 
nidiia  an  tagen:  Heroentum  ist  freilich  mehr  als  Menschentum. 

Und  nun  fiberrascht  ans  der  Verl  mit  einem  K^itel  über  die  Frage,  oh 
das  Altertum  humanitäre  Einrichtungen  im  modernen  Sinne  kannte.  Das  fällt 
doch  ganz  aus  dem  Kähmen  h»i-aus;  wir  haben  es  lediglich  mit  einem  Wort- 
spiel zu  thun.  Allerdings  bedeutet  Hinnanität  auch  Menschenlieb»';  des  Verf.s 
Wtike  Humanität'  meinte  aber  doch  gauz  was  anderes,  die  Verwirklichung 
der  Mwaachenidee,  den  Anthropiamaa,  nidit  die  Fhilantiirqne.  ünd  da  aa- 
dem  seine  Daratellnng  weder  eelbetindig  noch  qnelle&rein  iat  —  er  achSpft 
aaa  Ubihoma  lendensiSaau  Aoftals  n.  d.  T.  *£ine  Welt  ohne  Liebe'  —  ao 
dfirfim  wir  ther  dieses  Kapitel  zur  Tagesordnung  Qhergehen.  ünd  Aber  daa 
nächste  erst  recht:  es  betitelt  sich  die  antike  HumanHäi  und  der  Hmmamitmnt 
und  fufst,  da  der  Verf.  zu  f>n<rinalsiudien  anf  diesem  Gthirt  nicht  pel-ommeyi  ist, 
auf  Burckhanit  und  ....  Nt  rrlich.  Nichts  für  ungut,  at>er  die  Wahrheit  mufa 
heraus:  eine  Studie,  du  einen  Nerriich  ernst  nimmt,  verwirkt  eben  damit  das 
Kecht,  selber  von  erusteu  Leuten  ernst  genommen  zu  werden.  Wenn  der  Verf. 
eine  laadi  orientierende  Daratdhing  dea  dentaehen  Hnmaaiamna  benOtigte, 
wanun  griff  er  nidit  an  Oeigera  brannten  Bach?  Daa  iat  ein  gdehrtea^ 
reicbbaltigea  and  liebenawllrd^ea  Werk,  in  jeder  Hinadit  daaa  angctiian,  nm 
Handweikaaeag  des  Hiatorikers  zu  gehören,  während  Nenrlieh  in  jene  Gesell- 
schaft rn  verweisen  ist,  wo  die  Menschen  nach  Mondweite  und  Stimm bänder- 
spannknift  i^-s<-lirit/t  werden.  Wer  stkopß  ifam,  wem  er  Ikmuiuk  kai,  mit 
Wafff'M^2>tiren  und  Ltuiten? 

Doch  nun  des  Schhisses  Schlul's:  die  outikr  HHtmwr.  t  nivi  die  (ienentrart. 
Uier,  wo  der  Verf.  auf  eigenes  Denken  angewiesen  war,  zeigt  er  sich  uns 
wieder  von  aeiner  beaten  Seite;  ao  sei  denn  dieaea  Kapitel,  daa  a^  aktuelle 
Fragra  berikr^  der  Anfinetkaamkeit  dea  Leaera  anb  winaate  eaapfoMen.  Ick 
begnüge  aüdi  damit,  statt  eine  unxulängUdie  InbaltaQbeiaidbt  in  geben,  die 
folgmdeii  scliöiK  n  und  tiefen  Worte  des  Verf.  auszuschreiben  S.  4i>2  f  \  Etwtis 
R'ssrrrs  als  Menschen  h"'Ht>''t*  •l>»h  nie  snkti$tfti^  OttcUeekter  sem,  mmi  soilten 
sie  mx'h  rnttmihnte  E!'-rHente  m  ihr  Lff^n  axifWhmeyt,  so  iror  (S  ehm  die  Anlage 
d'S  ^fttt.M  ii*  utC'Sf-yk>  stlk<t,  liie  ntn'h  L  tnjnihittes  in  sieh  f-mj.  Anhuje  des 

Mensckenureaens  aber  icar  ts  eben,  am/'  die  dtts  h"<h^e  InUresst  AittrfHms 
tkk  fiekkttf  mm  eme  Seem  fmr  dba  Mmsd^enlelen  zu  geummen:  und  to  i/etcifs 
JIMMV  mtd  mommlmf  immer  die  wiai^Mann  IMfty^  a  det  kdUekm 


Th.  ZicUnaki:  Autiko  Uuauuutilt. 


21 


LAms  der  Mensd^m  hkSbm  werden,  so  ffewifs  wird  akh  auch  ihr  geistiges  Lsbm 
immer  m  den  GrmdbahMm  betctyen,  über  die  sith  idm  di»  Mim  «m  ihrer  Jstf- 
merksamkeU  auf  diesß  Satmtsache  klar  leurdetk 

•        ♦  • 

Wie  aus  dem  Gesagten  ^'^^^iL•lltlioll  ist,  st^jllt  sich  tiaa  Buch^  von  dvm  wir 
gehandelt  haben,  unter  einem  doppelten  Aspekte  dar:  ea  hat  die  antike  üunmui^t, 
M  kai  die  Cbaamatnäaet»  WeltanBchftnimg  mm  Oegenafaiiid.  Inwiefern  iliin  die 
Löflnng  der  enl»n  Aufgabe  gegladct  isl^  darftbw  wird  man  erst  dann  ins  Beine 
kommeni  wMm  man  die  Frage^  ob  sie  mit  der  aweiten  identifiiiert  werden  dari^ 
so  oder  anders  entschieden  hat.  Unmittelbar  bpruclirc-if  ist  dagegen  die  Frage 
oseh  dieser  zweiten  Seite  der  Sehneidewinschen  Leistung}  darüber  snm  Seliiuls 
noch  einige  Worte, 

Etwa«  absolut  Neues  ist,  von  dieser  Seite  betrachtet,  der  Versuch  des 
Verfassers  nicht;  man  kennt  ja  die  DruuiaiDisehen  tj^j,  wo  unter  den  Rubriken 
'Eitelkeit',  'Feigheit'  etc.  aus  dem  Zusammenhang  gerissene  Fetten  Ciceroniuui- 
scher  Auisenmgen  in  sdneddidMn  Übersetsungoi  anigefittirt  werden,  damit  auf 
dieson  donUm  Hintergrund  die  eigene  Gesinnung  des  Verfaflaers,  wie  sie  sich 
bereits  in  der  bjsantiniseliea  Yoirede  so  herrlidi  offntburt,  um  so  blendender 
leuchte.  Die  Sache  hat  imponiert  und  imponiert  immer  noch;  denn  unter  allen 
Eigenschaften,  die  den  Gelehrtsn  ausmachen,  ist  das  Sitzfleisch  dieijenige,  die 
der  allgemeinen  Anerkennung  am  sichersten  ist.    Es  ist  aucli  gut  fo. 

Wie  dem  auch  sei  —  bestreiten  läfst  es  ««ich  niclit,  diils  in  der  letzten 
Zeit  ein  bedeutsamer  Unischwujig  der  ötJentlicheu  Meinung  ( wenn  wir  in  pbilo- 
iogicis  von  dergleichen  reden  dürfen)  zu  gunsten  Cicero»  üiugetreteu  ist.  üm 
nur  Yon  Deutschland  zu  reden,  das  auch  allein  in  Betracht  Icommf^  so  ist  der 
Kathederspott  so  gut  wie  vmstommt;  immer  häufiger  lassen  die  EorTphaeen 
der  WisseiMchaft  durdi  gelegenÜiehe  Äußerungen  ihre  Cieero-freundlidie  Stim- 
mung erkennen;  immer  erfolgreicher  arbeitet  eine  wackere  Schar  mutiger 
Streiter  daran,  das  Bild  des  grofsen  Mannes  von  dem  Schmutz,  mit  dem  es 
der  Undank  der  Nachwelt  beworfen  hat,  zu  säubern.  Aus  den  intimstpn 
ürkimden  seines  Wes^'iis.  den  Briefen,  lafst  O.  E.  Scliniidt,  mit  dem  solidesten 
pliilolügischen  Rüstzeug  bewatliiet,  die  echte  Motivierung  seiner  Handlungs- 
weise erstehen;  an  seine  jibilosophischcn  Schriften  anknüpfend  legt  Weissen- 
fels  siegreich  seinen  unTergünglichen  endeberiaehen  Wert  dar;  weiteren  Kreisen 
sucht  Aly  sein  gereinigtes  Lebensbild  zugänglich  zu  madien,  indem  er  su|^eh 
vor  dem  Gerieht  der  Faehgenossen  den  HauptanU^ier  flberfthrt.  Die  Reden 
und  im  Zusammenhang  mit  ihnen  die  rhetorischen  Schriften  des  Mannes  sind 
noch  nicht  gebührend  in  Arbeit  genommen,  aber  auch  ihre  Zeit  kommt  gewiTs. 

Wils  l)edeutet  dieser  Umschwung?  Mit  dem  Schlagwort  'lleaktion*  kommt 
man  nicht  aus.  Ocwifs  ist  auch  sie,  als  dem  Gloichgewiclitatrieb  der  mensch- 
Uchen  Natur  entspi  uigend,  von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung,  aber  den 
Ausschlag  hat  sie  nicht  gegeben.  Wir  haben  philosophischer,  wir  haben  vor 
allem  histoiisdier  zu  denken  gelernt;  b«des  hat  an  einon  tie&ren  Yerstfaidnis 


82 


Tb.  Zielinski:  Antike  Hunianitllt. 


clor  friigUehcn  Dciikmiiler  j^efiilirt.  Dürfen  wir  auch  sagen:  wir  sind  infolge 
grofsortT  Lobonskeniitnis  weniger  wohl  weise  geworden?  Vom  sicJiern  Port  läfst 
sich'»  jinmdilich  rateti  —  um  so  gemächlicher,  je  weniger  man  von  der  SchifFerei 
vorsteht. 

Es  ist  somit  ein  gutes,  echt  fortschrittliches  Banner,  dem  auch  Schneidewin 
mit  seiner  bedeutenden  Leistung  gefolgt  ist,  und  der  Dank  aller  Gesinnungs- 
genossen ist  ihm  gewifs.  Wir  sind  nun  nicht  mehr  auf  die  Drumannsche 
Itumpelkammer  angewiesen;  wie  in  einem  wohlgeordneten  modernen  Museum 
stellen  sich  die  Elemente  der  Ciceronianischen  Weltanschauung  bei  bester 
TugT^sboloui'htung  dem  Auge  des  Beschauers  dar. 

Und  nun  noch  eins.  Gestehen  wir  es  nur:  es  gieng  xms  zu  wohl  in  dem 
schonen  driMstöckigen  Haus  der  Hiunanitat,  das  wir  bewohnten;  gar  sorglos 
haben  wir  an  einer  der  Hauptsaulen  des  unteren  Stockwerkes  gerüttelt,  über- 
mütig in  unserem  Kraft  und  Sicherheitsbewufstsein  —  mag  sie  nur  zusammen- 
knu'hon.  wjw  thutsV  wir  wohnen  zwei  Treppen  hoch.  Nun:  die  Säule  gab 
nach,  aber  —  manches  andere  dazu;  und  nun  sehen  wir  es  klar:  das  ganze 
Haus  der  Hiuuanität  ist  gefährdet  Nur  gefährdet;  schlimmer  steht  es  zum 
Glück  niH*h  nicht.  Aber  die  Lehre  sollten  sich  seine  Bewohner  doch  merken: 
Achtung  vor  den  Säulen,  auf  denen  es  ruht! 

Mag  denn  Schneidewins  Cicerobuch  auch  weiterhin  die  'antike  Humanität* 
als  Aufschrift  fiihren;  wir  werden  es  ihm  nicht  verwehren. 


DigitizGL. ,  , 


oogle 


DIE  SOZIALE  DICHTUNG  DEK  UIÜEUHEN. 


Ton  BOTOIIT  PÖaUKAMM. 

Wenn  die  Soeialphilusuphio  der  Griechen  mit  ihrer  ideaUstiechen  Abstraktion 
von  dem  geechiditlich  Gewordenen  den  Boden  des  geechiehtUdi  HS^dien  T$llig 
onter  den  FfifiMo  verlor,  wenn  .sie  der  lebendigra  Wirklichkeit  eine  selbst- 

geBt'lmffiMU',  iti  der  volligen  Abwendung  von  der  wirklichen  Welt  wurzelnde 
Idealwelt  gegenüberstellte  und  so  die  Zauberformel  zur  Auflösung  der  Dis- 
harmonien des  menschlichen  Daseins  gefunder  zw  haben  wühnte,  so  folgte  sie 
damit  nur  einem  Zuj^e,  der  im  Gemüts-  und  Geistesiel )eii  der  Menschheit  seit 
uralter  Zeit  mit  übermächtiger  Gewalt  sich  wirksam  gezeigt  hat.  beit*lem  der 
menschliche  Geeist  sur  Reflexi<»i  erwacht  ist,  hat  er  immer  wieder  von  neuem 
das  Bedttrfois  anpfnnden,  inmitten  all  d«r  lUitsd,  der  WidersprQche  und  Nöte 
des  Lel^ns  ein  hamumiaches  Weltbild  in  sidi  an  eraengen,  in  dem  alle  diese 
B&tsel  and  Schwieri^eiten  gelost  erseheinen.  Das  ewige  Sehnen  des  mensdi- 
lichen  Herzens  verlangt  nach  einer  Er^nzung  der  harten  und  vt-niunftwidrigen 
Wirklichkeit  durch  eine  freigeschaffene  Idealwelt;  und  auch  die  Vernunft  — 
von  der  'Unruhe  des  Warumfragens'  gequält  —  kann  nicht  ruhen,  bis  sie  die 
leitenden  Grundsätze  für  citTP  solche  liiinnoniache  Gestaltimg  des  menschlichen 
Daseins  und  diese  Gestaltung  selbst,  das  soziale  Ideal  —  ersonnen  hat.  In 
ihm  sucht  und  findet  der  Mensch  Erholung  Ton  irdischem  Kampf  und  Leid. 
Er  Budit  —  nm  mit  Schiller  an  reden  —  HiUb  bei  der  Inu^^ation  gegen 
die  ESmpirie^  indem  er  im  kflhnen  Flug  der  Phantasie  die  Sehnmken  der  End- 
lichkeit dnrchbricht  und  sich  zu  einer  Welt  aller  Vollkommenheit  erhebi 

Ebenso  ist  es  psycholc^sch  leicht  begreiflich,  dafs  nnf  dickem  Wege  für 
eine  naive  Vorstellunof«! weise,  ff!r  'Seelen  von  mehr  Wärme  als  Helle'  die 
(irenzen  zwinclien  Traum,  \\'irkliehkeit  und  Mnijlichkcit  völlifi  vcrseli winden. 
Gab  und  giebt  ch  für  die  Menschheit  wirklich  kein  änderet»  Los.  als  immer  und 
ewig  denselben  holfnungslosen  Kreislauf  des  gegenwärtigen  Lebens  mit  all 
seiner  Hfihsal  und  Arbeitsqual,  seinem  leiblichMi  und  sittUdien  Elend?  Die 
Frage  stdien  hie&  sie  vemeinen!  Das  Ideal,  das  eben  dem  innersten  Wider- 
streben des  Gemfites  gegen  die  tiiatsScbltdie  Gestaltung  des  mensehUehen 
Daseins  entsprang,  erschien  ja  zugleich  als  das  eigentlich  Seinsollende,  von 
Vernunft  und  Gerechtigkeit  Geforderte,  dem  gegenüber  das  Bestehrade  eine 
innere  Daseinsberechtigung  im  Grunde  nicht  mehr  hat. 

Die  Vorstellung,  dafs  das  Menschenleben  nicht  immer  au  solchen  Wider- 
sprüchen gekrankt  haben  könne,  drängt  sich  einem  kindlichen  Denken,  wenn 


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24 


R.  Pöhlmaiin:  Dio  soüaie  Dichtung  cier  UriechetL 


es  einmal  in  dieser  Weise  m  reflektieren  begonnen,  ganz  von  selber  auf.  Der 
jetzige  Zustand  der  Dinge  scheint  ihm  erst  infolge  besonderer  verhängnisvoller 
UmHtande  in  dif  Welt  gekommen.  Dieser  Zuntanil  ist  «Ins  Er^'cbnis  stufen- 
weiser Verschlechterung  von  Natur  und  Menscbeiiwelt,  des  lierabsinkena  von 
t'iacr  ursprünglichen  Höhe  aittiicher  Reinheit  und  äufserer  Glückseligkeit.  Er 
ist  daher  auch,  —  so  spinnt  die  nimmer  rastende  Phantasie  ihren  Faden 
weit«  — ,  einer  Wandlung  fähig.  Die  goldene  eelige  Zeit  kann  wiederkehren, 
aUer  Kampf  und  alle  Not  ihren  Frieden  und  ihre  Yersölurang  finden.  So  ver- 
flduedene  Formen  diese  Anschanungsweise  annimmt  —  man  denke  an  die 
indisL-bi'  Lehre  von  den  Weltaltem,  an  den  eranischen  Mythus  von  Jima  im 
Zendavesta,  an  das  verlorene  Paradies  der  Semiten,  das  goldene  Zeitalter  der 
Griechen,  das  Goldalter  der  Gntfjr  in  der  Edda  und  ähnliche  Vorstellungen 
anderer  Völker')  ~  immer  sind  es  die  gleichen  Triebkräfte  des  menscblicheu 
Seelenlebens,  denen  sie  ihreu  Ursprung  verdanken*). 

In  dem  Roman  des  allgemeinen  Wohlbefindens  erscheinen  natflrlich  die 
Lebensbedingungen  der  adigen  üneit  so  gestaltet^  dab  vor  allem  die  Ursaehen 
des  Übe&i  in  W^[fall  kommen.  Die  am  hftrtesten  empfundene  dieser  Ursadien 
ist  die  &r^eit  der  Natur.  Der  Kampf  um  das  Brot  und  die  immer  nur  in 
beschränkter  Zahl  vorhandenen  Gfiter  der  Erde  vergiftet  den  friedlichen,  kultur- 
fBrdernden  Wettstreit.  Xelien  dieser  'Eris,  die  gut  für  die  Menschen"),  waltet 
die  andere,  den  Sterblichen  vcrhai'öte,  die  'Unheil  bringend  verderblichen  Krieg 
und  Hader  entzündet'*),  die  den  Schwachen,  der  es  wagt,  jnit  dem  Starken 
sich  zu  messen,  in  Schmach  und  Unglück  stürzt'}.  Für  sie  war  keine  Stätte 
in  jener  seligen  Zeit,  weil  hier  jeder  bei  dem  grofsen  Gastmahl  der  Natur 
seinen  Flata  üad').  Die  mXrchenhafte  Steigerung  der  produktimen  Kräfte  der  . 
Natur  und  der  Teehnü^  Ton  denen  der  moderne  Soiiatismus  in  seinen  Zuknnfta- 
Phantasien  träumt,  ist  nidits  im  Vergleich  zu  dem,  was  sich  der  griediisehe 
Volksglaube  von  dem  goldenen  Geschlechte  erzählte,  das  dereinst  unter  der 
Herrschaft  des  Kronos  in  der  Fülle  ailei-  Gfiter,  frei  von  Sorge')  und  Ungemach, 
von  Krnnklieit  und  Alter,  ein  göttergleicbes  Dasein  geführt  hat,  einer  Zeit,  wo 
jeder  si m  Wcvli  trieb  nach  freiem  l^eüeben,  in  ungetrübter  Ruhe  und  Zufrieden 
heit^  hiä  iliu  IUI  Vollgenusse  der  jhaait  ein  sanfter  Schlummer  schmerzlos  Inu- 
w^rief.  Hier  spendete  die  Erde  ihren  Kindern  den  unerschdpfUchen  Beiehtnm 

1)  Eine  nmfasaendc  Übersicht  über  diese  Vorstelluni^en,  die  er  als  Leggendn  dü  tütHaHaM 
beeetebtift.  -ri^^l^t  Oofrnptti  (1a  ^furtÜH,  Snci'ab'f'Tno  aiiticu  S.  8  flF.  Von  besonderem  Intere«<e 
iii  für  uns  die  heiienische  Auifassung  von  dum  goldenen  Zeitalter  der  Inder  (bei  Strabo 
XY  1,  <4  nach  OnesikritOB). 

')  DieseR  rein  psychologiRchc  Entstehungnnoti?  des  Hythofl  vom  goldenen  Zeitalter 
kann  pfK^'^nfibor  den  in  meiner  Gesch.  d  ant  Kommim.  o.  Sozial.  I  146  angedeuteten  Ver- 
stellungen von  Lttvcleje,  L.  v.  Stein  u.  a.  nicht  entschieden  genug  betont  werden. 

•)  Heaiod,  Werke  u.  Tage  V,  M.      *)  Ebd.  14  ff.      •)  Ebd.  S05  ff. 

•)  Sttnvov  ixoifiov  hüatta  ig  nogov,  wie  Lucian,  Kronosbriefe  I  *20  die«  Ideal  bezeichnet. 

^)  Man  «ieht,  es  sind  die  ältesten  sozialen  Träume  der  f'uropüisrh«m  Menschheit,  die 
wir  B.  bä  Bebel  wiederfinden,  wenn  er  die  'Sorglosigkeit'  rühmt,  die  im  soziaUstischeu 
ZukonftMiMi  unier  Los  sein  loU.  (Die  IVm,  9.  U«.) 


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R.  PBUxDMni:  IKe  «onale  Diditaiig  der  Oriedien. 


25 


ihrer  Gaben  froiwtllijr,  'imgt'pHüjrt  und  iiiibeKat'').  ITier  fehlte  daher  vor  vorne- 
herein jeder  Anlafs  au  jenem  Kiiinpf  der  Interessen  und  Lcideuscluiften,  in  dem 
'der  Töpfer  grollend  auf  den  Töpfer  sehaut,  der  Schmied  auf  den  Schmied, 
Xeid  sofort  den  Bettler  vom  Bettler  trennt  und  Sänger  von  Sänger'*).  Es  ist 
ein  Zeitalier  der  allgememen  Braderliebe  nnd  einer  Qleichlieit^  die  weder  Herr 
noch  Knedifty  iradar  am  noch  reich  gekannt  hai*).  Daher  erweckt  auch  daa 
Fest,  in  welchem  daa  Andenken  an  die  Zeiten  dea  guten  Herrachera  Kronoa 
fiirflebt,  die  Feier  der  Kronien,  alle  edlen  Gefühle  in  der  Henachenhmat 
Während  ihrer  Daner  soll  allgemeines  Wohlwollen  herrschen,  jedermann  es 
venneiden,  dem  Nächsten  wehe  zu  tluin^Y  Selbst  dem  Sklayen  iat  ea  vergönnt^ 
sich  mit  den  Frühlichen  als  Mensch  m  fUlden^V 

Es  ist  wohl  kein  Zufall,  dafs  diese  schöne  volkstümliche  Sage  von  dem 
goldenen  Zeitalter  allem  Anscheine  nach  nicht  schon  in  der  ältesten  Ent- 
wiekelung»epodie  der  erzählenden  Poesie  ihre  dichterische  Ausgestaltung  er- 
hielt^. Daa  Homerieehe  Epoa  iat  ein  Eneugnia  diex  ariatokratiadien  Welt  dea 
heUeniacfaen  IGttokltera.  Der  Homerische  SSnger  singt  Ar  die  Fttraten  nnd 
Sdlen,  aus  deren  Leben  nnd  Sinnesart  der  Heldengesang  seine  Nahrung  sog; 
und  so  iat  denn  auch  die  Art  nnd  Weise,  wie  diese  Aöden  der  Masse  der 
Volksgenossen  gedenken,  ganz  und  gar  der  GefQhls-  und  Sprechweise  der 
flerren  abgelauscht.  Thun  und  Leiden  der  Menpp,  die  'weder  im  Kriep;p  7m 
rechnen,  noch  im  Rate',  tritt  völlig  zurück  und  daher  auch  naturgcrnüfs  das 
Ideal,  in  dem  eben  das  Sehnen  des  Volkes  seinen  Ausdruck  fand.  Für  dm 
GenuJjnnoment  in  diesem  Ideal  fehlte  ja  der  Sinn  nicht,  gewifa  aber  für  seine 
sonal-etiiiache  ond  aorial-demokratiaehe  Tendens.  Daa  GeseHaehaftsideal  einea 
Gmndadela^  dem  reicher  Gutttarbcaita  die  freieate  ritterliche  Mnae  nnd  hetteraten 
Lsbenagennlh  «nnSglichte^  war  natnrgem&Ia  ein  ariatokratiadieS)  nnd  ea  hat  seine 
poetische  Verkörperung  gelbnden  in  dem  adeligen  Mustorstaat  von  Scheri^  der 
Phaakenstadt^  in  der  eine  gennbliebende  Ariatokratie  horlich  und  in  Frenden  ldl>t^. 

•)  Hesiod  a.  ».  0.  10«  ff.      »)  Ebd  267. 

Xprdtto»  naXiv  &vdQte,  3t'  (irrtipüjjtf'  6  qpt2»j0^f»V    Theokrit  XII  16. 

*i  DfiTio^itheneB  XXIV  29  |t»Jr'  IdUt  fiijr*  *otv^  firjd^r  liilT'Joes:  üdi-Kflr  fr  rovrm  rm  ^Qftinp. 
Macrob.  Satumal.  I  10,  22.  Daher  lAfst  Lucian  i^ra  ^r^ö;  Xqovov  c.  1)  dtm  Kmoua 
lagen,  dab  an  sehiem  Feite  UnnfUa  tHx  att«  bortehe,  do4ioi9  mkI  ilmt(Mf9i9'  fiip 
I«'  ifiov  do^Xos  ^v.  Unrichtig  urteilt  aber  dioso  Dinge  E.  Graf,  Ad  aureae  aetatis  fabulam 
«Tm1">Ia  Leipziger  Studien  ATIT  61)  und  v.  Wilamowitz,  Ariplott  U  i^  u.  Athen  1  119.  Nach 
letzt«rem  ist  Kronos  als  Vertreter  ciaer  seligen  Urzeit  eine  -junge  Konzeption',  weil  das 
ünprflaffliehere  die  vedlAtUijlie  Beuxteflung  des  'gnraen  Altertnait',  der  Zeit  vor  der 
ZinÜRation  sei.  Die  AufTaasung  der  Vergangenheit  al«  eine»  verlcrnun  Puradit-Hox  hi  I  orst 
ein  Produkt  der  Sophiotenzeit,  'wo  die  Komfldie  solche  Bilder  oft  bot'.  Diese  Behaup- 
tung steht  schon  mit  der  Thatsache  im  Widerspruch,  daTs  wenigntena  ein  Anklang  an  die 
Sage  vom  goManflu  Zatalter  rieh  beruts  bei  Houer  findet  OdjM.  XV  408  ff.  Damit 
flSllf  aurh  <lic  .\iinalitne  von  Wilamowitz,  daf«  nur  rin  Zup  df»r  kyklnjiiMt'hpn  Zeit  oims 
Ueeellscbattfiordjiung  gewesen  sei,  wenn  die  Sklaven  an  den  Kronien  frei  hatten. 

*)  Vgl.  meia  Buch  Ans  Altertant  und  Oegenwut  8.  66  ff.  (Zur  goadüditlidien  Bear- 
teUimg  Honeia). 


26 


B.  PMilmum:  Die  aorial«  Diehtanff  d«r  Orieehen. 


Die  Schar  der  Mühlsklavinnen  und  unfreien  Spinnerinnen  im  Paläste  des 
Herrschf'18,  die  bescheidene  Stellung  des  Volkes  gegenüber  den  Edlen  zeigen 
deutlieh,  wie  es  eben  die  Vorstelluugswelt  der  herrächendcn  Klasse  ist^  die  sich 
in  dJeMm  IdMblHt  widarapiegelfe. 

Dagegen  kommt  nim  in  der  Bichfamg^  in  der  aidi  der  Hjtinu  Tom  goUenen 
Zeitalter  snm  ereton  Male  dargestellt  findet^  in  den  *Werken  und  Tagen'  Heeioda, 
eben  jene  Masse  des  arbeitenden  Volkes  aum  Wort,  die  auf  der  Bttbne  dw 
epischen  Welt  so  sehr  in  den  Hintergrund  getreten  war.  In  einem  Liede  TOn 
der  Arbeit,  von  einem  Manne  der  Arbeit,  dem  bauerlichen  Poeten  ans  dem 
sirmlichon  Dorfe  Askra  wird  die  hehre  Botschaft  von  der  seligen  InLn-ndzeit 
des  Meuschtn Geschlechtes  verkündet*):  nicht  der  herrschenden  Klasse  —  denn 
zu  der  hat  ihn  das  Leid,  das  ihm  von  den  urigeretLten  und  bestechlichen 
'Königen*  (d.  K  den  regierenden  Edelleuten)  widerfahren,  in  scharfen  Oegensatz 
gebradit  —  sfmdem  dem  ganzen  Volke,  daa  mit  ihm  nntw  dem  gleichen  Dmek 
der  Addsherrsehaft  litt.  Wenn  man  gesagt  hat,  dafii  ea  die  befrei«ule  Ijitik 
ist,  in  der  aller  Sosialismua  wnnelt,  so  trifft  di^  hier  redkt  augenfällig  zu. 
Denn  das  Ideal  ist  bei  Hesiod  zugleich  der  Ausdruck  einer  rücksichtslosen 
Kritik  der  herrschenden  Zustünde.  Sein  Lied  ist  ein  'Rugelied'  nicht  blofs 
(regen  den  ßnidcr.  sondern  ztiglcich  auch  gegen  die  ausbeuterische  Klassenhenv 
Schaft,  bei  dur  jener  seinen  Ilückhait  fand*). 

Daher  die  Popularität  der  Dichtung  Hesiodä  in  den  nächsten  Jahrhunderten, 
in  denen  eben  diejenigen  Klassen  des  Volkes,  an  die  sich  Hesiod  wendet,  in 
siegreichem  Ansturm  daa  Jook  dieser  Kkaaenherrschaft  brachen,  und  die  wirt- 
sehalüiche  Arbeit  an  ungeahnter  Ifaeht  und  Ehre  emporstieg.  Wahrend  da^ 
wo  die  ritterliehe  Aristokratie  fortbestand  und  der  Bauer  em  armer  HOnger 
blieb,  wie  z.  B.  in  Sparta,  Hesiod  keinen  Eingang  &nd,  gewann  sein  Lied 
weiteste  Verbreitung  bei  den  emporstrebenden  Bauer-  und  Bürgerschaften  der 
fortgcschrittneren  Kantone  der  helUMiiürhcii  Welt.  Die  Tniinno  von  Glfick, 
Gereehtifi;keit  und  Brüderli<-likeit,  zu  denen  sieh  dereinst  der  Dichter  aus  dem 
sozialen  Elend  der  alten  Zeit  geflüchtet,  sie  sind  recht  eigentlich  das  Ideal 
dieser  neuen  Zeit. 

Daa  ffild  Ton  der  seligm  Urzeit,  fiber  die  nidit  Ares  und  sein  Genosse, 
der  Gott  des  KunpfgetOmmels,  sondmi  Kypris,  die  g5tUiehe  Mutter  des  Eros 
waltete  und  mit  den  Banden  des  Wohlwollens  selbst  Menschen  und  Tierwelt 

verband'),  das  läfst  in  begeisterten  Versen  Empedoklee,  der  Fflhrcr  und  Prophet 
der  siegreichen  Demokratie  von  Akragas,  vor  dem  inneren  Auge  der  Tausende 

erstehen,  die  er  durch  den  Zauber  seines  Wortes  um  sieh  sammelte.  Der 
Mythus  })ietet  dem  Weitweisen  und  Volksmnnn  die  Form  dar,  in  der  er  seine 
ideale  dem  Empfinden  der  Massen  nahezubringen  sucht.  Und  fast  um  dieselbe 

')  Für  die  Ansicht  Kirchhoffs,  6ah  das  Gedicht  von  den  Weltalton  aidit  von  den 
Dichter  des  Mahnliedt^s  an  Perses  pei,  ist  der  Beweis  nicht  erbracht. 

*)  Vgl.  meinen  Aufsatz:  Die  AntUnge  des  Soualismus  in  Europa.  Uist.  Zeitachr. 
8ept  im. 

•)  MuUaeh,  Fragm.  phil.  gr.  I  417. 


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R.  Pahhnann;  Die  loiiale  Oicbtuag  der  Grieehen. 


Zeit  !iält  die  holde  Dichhinj;  ihren  Einzug  an  der  Stätte,  wo  die  glänzendste 
Demokratie  der  Welt  ihre  geistige  Erholung  und  Erhobung  über  die  Sorgen 
des  Allt^lebens  suchte:  im  öÖentUchen  Festraum  des  Dionysos,  auf  der  Bühne 
Theaters  von  Athen! 

Die  dvaotttiMdift  Diditimg  des  PeriUmselieii  Athen,  —  das  Lustspiel,  ja 
gelegentlich  anch  die  TragOdie  — ,  war  nnerschSpflieh  in  immer  neaea  Xbr- 
findnngnt,  die  Herrlichkeit  des  paradiesischen  Wnnaehlandee  den  entzfiekten 

Hörem  vorzuführen.  Die  Freiheit  und  Gleichheit,  an  der  sich  die  junge 
Demokratie  berauschte,  die  Betoilif^ng  aller  an  den  Gütern  und  Genüssen  der 
Welt,  nach  denen  in  der  neuen  Freiheit  auch  die  Massen  immer  dringender 
begehrten,  kurx  whh  nur  immer  einem  von  den  Ideen  ungemessenen  Fort- 
schrittes erfüllten  Geschlecht  uls  das  glückliche,  goldene  Ziel  vor  Augen 
sdiweben  modite,  all  das  war  ja  in  dem  Reiche  dea  Knmoa  Tolle  Wirklich- 
keit gewesen.  Was  bitte  es  YolkstttmlichereB  geben  kOnnen,  als  die  poetische 
Veiansdbaoliehmig  dieser  entschwundenen  Weit,  dnieb  welche  die  popalSrsten 
Ideale  der  Zeit  selbst  Gestalt  und  Leben  gewannt? 

Auch  enthielten  die  alten  Träume  von  einem  seligen  Wunschland  noch 
ein  anderes  Moment,  das  sieh  zur  Steifrerung  der  dramatischen  Wirkung  vor- 
trefFlich  verwerte^n  iiels.  Jene  sentimentale  Idylle  trat  um  ja  von  Anfanij  an 
in  einer  doppelten  Gestalt  entgegen:  als  die  Vorstellun«^  von  einem  verlorenen 
Jugendparadics  in  der  Vergangenheit  und  als  Glaube  au  die  Möglichkeit  eines 
gleich  Tdlkommenen  Ott^es  in  der  Znkmift  fldion  bei  Hesiod  xeilit  sieb  an 
die  Idee  rom  goldmen  SSeMaltnr  die  Vorstellimg  von  dem  Lande  ewigen,  nn- 
getrQbten  Glückes,  das  ferne  am  Ende  der  Wdt  liegt;  die  'djeiHche  Flnr' 
Homers,  die  Inseln  der  Seligen,  wie  Hesiod  es  nennt.  Die  Metate  Ziiflnchts- 
sütte  menschlicher  Hoffcung'*),  wo  der  alte  Götterkonig,  unter  dessen  Herr- 
schaft einst  das  goldene  Zeitalter  des  Friedens  und  Glückes  auf  Erden  bestand, 
völlig  abgeschieden  von  der  ihm  dnreh  Zeus  entrissenen  Welt  wie  in  einem 
neuen  goldenen  Zeitalter  über  die  Seligen  waltet").  Ahnlich  hat  aueh  die 
Komödie  das  goldene  Freudenreich  nicht  nur  als  eine  Erscheinung  der  grauen 
Vergangenheit  dsigestellt;  aneh  sie  bat  es  sontsagen  in  die  Znknnft  binein- 
projiadert,  tndrai  sie  die  selben  Wonne^^brten  i.  R  in  die  Unterwelt  verlegt*), 
oder  sie  Hfst  es  nodi  lubhaftig  anf  Erden  selbst  bestehen,  woon  auch  in 
fernen  sagenbaften  I«nden^);  eine  Anschauungsweise,  die  den  Beia  des  ntopi- 
scben  Oesellschaftshildea  wesentlich  erhöhen  mufste. 

Für  uns  freilich  ist  diese  ganze  Dichtung  bis  anf  dürftige  Bmchstücko 
verloren,  ans  dencTi  sich  nur  eine  höchst  unvollkommene  Vorstelhing  von  dein 
gewiimen  lälst,  was  Kratinos  und  seine  Kunstgenüssen  oder  gar  die  Tragiker 

>)  8.  Bohd»,  Pqrehe  8.  «4  ff 

^  V(jl.  auch  Pindar  Ol  IT  7R  f.  Eine  Yorstdlunp,  fli(^  nebenbei  bemefkt  aooh  gegW 
die  obengenannte  Ansicht  von  Wilamowitz  über  KroQos  spricht. 

■)  Pherekrate«  in  der  Kcmittdie  MttaUiis.   8.  Kock,  Com.  Att.  fr.  I  174  ff.  fr.  108. 
Fbenkxatee  bi  dea  lUfwa  a.  0. 1  18S  fr.  ISO  and  NikopliOB  in  den  Ai^ijmv  ebd. 
I  m  fr.  IS. 


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28 


K.  Pöhlmonn:  Die  soziale  Dichtung  der  Oriechen. 


aus  dem  alten  Mythus  gemacht  haben.  Wie  z.  B.  das  gepriesene  'Gemeinsehafts- 
Ipben  im  Kroriosreich")  zur  Darstellung  kam,  erfahren  wir  nirtrpuds.  Wir 
kchineu  liöchBtens  vermuten,  dafs  die  Konsequenzen,  die  die  jugendliche  sozio- 
logiächt;  Spekulation  des  fünften  Jahrhunderts  aus  dem  Qemeinschafiäpriazip 
und  der  Idee  der  Brüderlichkeit  zog,  in  einer  Dichtung,  worin  die  die  Zeit 
bewegenden  Fragen  einen  so  lebluft»  Wjdnrludl  bnden,  ebenblls  sum  Av»- 
drnek  gekommen  sein  werden.  Die  Idee  der  Fraaeng^dneehalt  s.      die  uns 
•dion  dunalfl  (z.  B.  bei  Herodoi)  in  den  idealiiienmdkm  VorateUungen  fiber  die 
NfttorrGlker  entgegentritt')  und  von  Euripides  auf  der  BtUme  sbi  Problem  vor^ 
getragen  wird*),  dürfte  auch  in  den  dramatischen  Schilderungen  des  goldenen 
Zeitaltere  nicht  ganz  gefehlt  haben.    Die  blühenden,  mit  allen  Reizen  gc 
schmückten  Jungfrauen,  die  in  dem  von  Pherekrates  geschilderten  Paradies  die 
Zecher  bedienen*),  weisen  deutlich  genug  in  diese  Richtung.    Auch  die  Welt- 
beglückungsplane, die  Aristophanes  in  seiner  Kommunistenkomödie  verkünden 
IftCit^),  haben  gewlA  manche  Zflge  mit  dem  Wunadilande  gemein,  wie  ea  das 
ültere  Lustspiel  sohüdnie.   Es  ist  Biefaerlich  niehi  nun  erstm  Ifale  gesagt 
was  hier  Tom  ZukunflBslaat  gnrflhflii  wird,  dals  in  ihm  nlmMA  kein  Frevel 
am  Gemeinwesen  möglich  sei,  keine  falschen  Zeugen  oder  Sykophantwi, 
'Kein  Beutelschneiden,  kein  Mißgönnen  fremden  Glücks, 
Kein  Nackt-  und  Blofsgehen,  kein  Verarmen,  keine  Not, 
Kein  Zank  der  Parteien,  kein  Verhaft  für  fällige  Schuldl'*) 
In  der  That  das  goldene  Zeitalter  iu  leibhaftiger  Gestalt! 

Jedenfalls  zeigt  sich  nach  einer  anderen  Seite  hin  eine  enge  Verwaudt- 
sdhafl  flwischen  den  ZukanHaerwartongen  der  konrnranistischen  Sdiwarmer  bei 
Aristophanes  nnd  der  DarsteUnng  des  goldenen  Zeitalters  bei  den  nnderen 
Dichtem  der  EomSdie.  Hier  wie  dtnt  kann  sich  die  poetische  Phantasie  nicht 
genug  thun  in  der  Schilderung  der  sinnlichen  Freuden,  die  das  ideale  Wunsch- 
land in  sich  birgt.  Einerseits  wurde  damit  ja  eine  der  empfänglichsten  Seiten 
im  Volksgemüte  herflhrt,  andererseits  entsprach  die  realistische  Ausmalung 
dieser  Herrlichkeiten  so  recht  dem  Geiste,  der  unter  der  Herrschaft  der 
kumtschen  Muse  im  Festrauui  des  Dionysos  waltete.  Wie  es  Bacchus  Gabe 
ist,  die  den  Sterblichen  hoch  über  Sorge  und  Leid  hinaushebt,  die  Arm  und 
Reich  gleidi  macht  und  in  einem  Heere  gold»ien  Überflusses  nach  einem 
holden  Tranmland  entführt^  so  will  auch  die  Komödie  *die  Festgemeinde  des 
Gfottes  in  einen  Bansdi  des  lachenden  Optimismus  nnd  der  Terwegensten 


^  M  X«4*ov  MivtwdK.        moiiie  Qewh.  d.  ut.  Komm.  1 8.  M.      *)  8.  ebd.  I  ISl. 
*)  %oiv6v  yuQ  tlvai  xQ^i*  /vvaix«liov  Hgog  fr.  66S  dfli  ProtMilsM.   Dssn  Dflmmler, 

FroleKonicn»  zu  l'latons  Staat,  S.  65. 

*)  I  176  fr.  108  Kock.  *;  S.  u.  S.  31  ff.  •)  Amtophanee,  EUdcssiazuseu  V.  56  ff. 
<)  Pindsr  fr.  S18: 

eni^iav  f|o>,  neläyti  ^  iv  nolvxfvnoio  «io^ov 

9«pxts  lau  viofuv  -^tvö^  ifQ^tS  intav 

tg       d|9iffMMr,  d)n«is  titt,  ««i  d*  liXnvti^wttt, 


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ft.  PMiliDaDii:  Di«  «oriftle  Dichtung  der  Orieehw. 


29 


PbaniMtik  Teraefaen'*).  Eine  Wnrkuiig^  die  durdi  nichts  beaaer  erreicht  werden 
konnte,  ab  durch  die  TorflOuning  des  goldenen  Eronoereiches,  da»  ao  gaoa 
und  ^r  dem  Znoberlande  ^ch,  in  dem  Dionyaiache  Lnat  ihre  Jfinger  ent- 
rückt. So  wird  in  himmelstfinmiuler  Laune  aus  den  abenteuerlichsten  Vor- 
stellungen ein  phantajitiHch-drolligefl  Gebäude  aufgebaut.  Die  kühnHten  Tiüume 
einer  ausschwf^ifendrn  sinnlichen  Phantasie  gewinnen  Leben  und  Gestnit. 

Mit  immer  neuem  Beilagen  wird  anstiemalt,  wie  in  jener  seligen  Z<  it  <lie 
Natur  e.s  fertig  brachte,  da&  allen  Erdt^nkindem  ohne  Unterschied  und  ohne 
eigene  Mühe  aUes  zu  Teil  ward,  wessen  sie  nur  immer  bedurften  and  be- 
gduien.  Daa  Brot  wuchs  bereite  gebacken  bus  der  £rde  hervor  oder  hing, 
wie  die  Früchte,  an  den  Biumen*).  Die  StriSme  waren  mit  Wein  oder  —  wie 
es  in  einer  anderem  Veraion  hiels  —  mit  Mildh  und  Honig,  die  KamUe  mit 
pikanten  Saucen  geDUli  Weisen-  und  Geratenbrote  stritten  sich  vor  dem 
Hund  der  Leute  xua  die  Gunst,  verzehrt  zu  werden,  gebratene  Vögel  und 
allerlei  feines  Backwerk  flog  ihnen  von  «selbst  in  den  Mund,  die  Fiscln^  Vanien 
in  die  Hiiustr,  um  si('h  dort  Halbst  zu  hrat^-n  und  selbst  au&utrageu.  Supj)en 
ströme  führten  warme  Fleischstüeke  in  ibreu  Wogen  heran.  Selbst  das  Spiel- 
zeug der  Kinder  bestand  aus  den  erlesensten  Leckerbissen');  und  was  dergl. 
Fhaataaterwen  mehr  sind.  In  den  ftmeii  Wunachlftndcm,  die  sich  noch  dieser 
goMenen  Zeit  erfreoen,  regnet  es  Wein,  die  Dachrinnen  spenden  Tranben,  Kase- 
knchen  und  Brei,  ^n^hrend  auf  dsn  Bftnmen  im  Gebirge  Bratwflrsie  wachsen*), 
oder  es  schneit  Mehl,  tröpfelt  Brote  und  regnet  Brei').  Es  sind  Verhältnisse, 
durch  die  zum  Teil  auch  das  schwierige  ökonomische  Problem  gelöst  erscheint, 
das  die  Komödie  mit  Vorliebe  aufwirft,  wie  es  namb'cb  möglich  gewesen  sei, 
dafs?  die  Gesellsciiaft  ohne  eine  dienende  Klasse  bestehen  konnte  und 
doch  der  Einzelne  sich  nicht  selbst  zu  bedienen  brauchte').  Noch  gründlicher 
aber  erledigte  diese  Frage  eine  andere  Schilderung:  sie  fifirt  nämlich  alle 
Dienste  ein&eh  durch  die  beseelt  gedachten  GebrauchsgegensiSnde  selbst  leisten! 
Dsr  Automat  ersetst  alle  dienenden  Hinde^.  Hau  braucht  nur  xn  rufen,  so 
stehen  sie  m  Diensten.  Zum  Tische  sagt  man:  *Komm  und  decke  didi'  — 


■)  Nach  der  tzeleaden  Bemeikaiig  F.  A.  Totgta  in  Bincheri  mjtlM»!.  Lex.  I  1081, 

Aztilci']  'IHonysos'. 

»)  Kratinofl  in  den  IRo^oi  bei  Kock  I  6*  fr.  165. 
'f  Teleklidea  in  den  'An(f>i*fUtPts  I  20»  fr.  1  K. 

*)  Bei  PherekiBtw  in  den  JUptuu      *)  Bei  Kikepboii  in  den  Huvens. 
*>  Krates  9iifUt  I  133  fr.  i  K. : 

H. 

Vgl.  PberekraUM  'Ayiftm  i  147  fr  10  K.  Dazu  Athenaeus  VI  267e:  ol  di  ti^  ÄQxaias 
iMfuatdlai  notrixai  »t^l  tof)  itqiuiov  ßiov  dutiifdufvoi ,  8rt  «4«  ^9  T6tt  0o4lm9  {^e/a, 
ttuUlt  inri&ivrai, 

^!  Hl-;  Kraii^n  :i  n  0  :  öiUiitoonf^vr«  yAf  «i&  ifA  «otifMi,  die  denkbar  zadikalite 
Krfullung  de«  „uMnax'  ijy  rü  diovttc**. 


30 


Pohlnuuiii:  Die  aoiialie  Diohtaiig  d«r  Qriech«ii. 


xum  Baddan^:  *Knete  den  Teig',  —  nun  Kroge:  *Scheiik  ein',  —  nun  Beeher: 
*Geh  nnd  spül  dich*  u.  a.  w.*). 

Man  sieht:  der  alte  Mythus  ist  hier  ganz  und  gur  snin  MErehen  rom 

Schlniafrcnlaiul  i^ewoidcn.  Und  die  phantastische  Ausgestaltung  dieses  zanber- 
haften  Märchenlandes  ist  gewifs  wesentlich  das  Werk  der  Komödie.  Aher  wie 
die  heitere  Muse  überall  dem  wirklichen  Leben  und  EnipfiinhMi  des  Volkes 
nachgeht,  mit  dessen  Sehwiiehen  ihr  Humor  »ein  freies  Spiel  treibt,  so  liat  sit; 
gewük  auch  hier  nur  die  Fäden  weitergesponnen,  welche  bereits  die  Phantasie 
des  VoUeab  geknflpft.  Die  SchlawfG»  der  Komödie  ist  nor  die  groteske  Aus- 
gestaltung Mner  Tolkstninlichen  Soiiftlphiloflophie  und  mgleicfa  die  geistvollste 
Satire,  die  ihr  n  Teil  werden  kannte.  Dm  Volk  hat  sieherlieh  zu  aUen  Zeiten 
das  Bedürfnis  empfunden  die  allgemeine  Vorstellung  vom  Kronosreich  dnrch 
eine  realistische  Ausmalung  seinem  Empfinden  naher  au  bringen-),  ein  Be- 
mühen, das  natiirgemäls  nur  zu  leicht  ins  Burleske  umschlat^en  konnte.  Ehenfo 
ist  es  psychologisch  leicht  begreiflich,  dafs  bei  dieser  ainnliehen  Ausmalung 
des  Ideals  die  ideelle  Seite  des  Mythus  mehr  und  mehr  in  den  Hinterii;rund 
trat.  Ungleich  tiefer  als  die  Idee  der  äemeinschaft  und  die  Bruderschafts- 
schwarmerei  wonelt  der  Gedanke  an  das  eigene  ^Ibstt  Im  Kommnniami» 
der  Manen  ttberwiegt  daher  immer  das  individnaUstiBche  Interesse^  der  Gedanke 
an  die  Frnheit  yma  dem  Zwang  des  Dienens  und  der  Arbeit  nnd  an  eme  mög- 
lichst schrankenlose  Befriedigung  aller  Bedürfnisse  und  Begierden.  Das  grofste 
Glfick  der  grÖfsten  Zahl  d.  h.  das  Glück  in  der  derb  sinnlichen  Gestalt,  wie 
es  die  groCse  Mehrheit  versteht:  das  ist  der  Grondton,  auf  den  dieeer  plebejische 
ütopismus  gestimmt  ist 

N'nrtretriich  hat  die  Anschauungsweise,  aus  der  diese  Vnrm  der  sozialen 
Utopie  erwachsen  ist,  der  lachende  Philosoph  \on  Samo^ata  ebamkterisiert  und 
swar  in  unmittelbarer  Anknüpfung  an  die  Legende  vom  goldenen  Zeitalter, 
indem  er  sidi  in  dm  *Briefeii  an  Kronos'  als  ein«i  der  armen  Verdirer  des 
Qottee  einflilir^  der  oatOrlich  kein  dringenderes  Anliegen  hat,  sls  dab  Kronos 
das  verhabte  Voneehi  dar  Reichen  anf  all  diese  *giiten  Dinge'  aufheben  und 
dieselben  allen  zuganglich  machen  möge,  weil  sonst  die  Feier  seines  Festes 
eigentlich  keinen  Sinn  hätte').  'Das  ist  es,  lieber  Kronos,  was  mich  am  aller- 
meisten verdriefst.  ja  wir  finden  es  ganz  nnertrUglich,  dafs  der  eine  niehti'  7,u 
thuu  haben  soll,  als  auf  iWpurbetteu  ausgestreckt  die  langsame  Verdauung 


'l  Krateä  I  133  fr.  14,  4  ff  K  :  s^dat(«ir  tt»9'  ixanor  |  rür  tiuvagimv,  öxc.i   xt.Ijj  rt. 

Ii  *vhii  ÖMvii^  loiea  aaw^r.   IV^I.  CnudiM,  Verb.  d.  CUrlitser  PhilologeaTen.  S.  37  f.J 
t  MSB  vgft  nur,  wie  aanlich  der  sp&tere  griedusche  Volkiglaiibe  «ich  die  Hoflidi* 

koit  Ues  Paradiesf^  aus)j:«malt  hnt  Battilios  d.  Gr,  |t  "T'-M  rrrp!  Ti-pfr(??icor  U  .■?t*^  nnd 
nocli  heatigun  Tage«  auiuualt,  wofür  ein  kjprischee  Volkslied  und  eüi  naxisclie«  Märchea 
cbusktemtbche  Beleg«  dacbielea.  S.  Petachel,  Das  lOreliea  vom  Sehlaniffenlaad.  Beitr. 
t.  Geach.  d.  deatachen  Sprache  u.  Litteratur  V  403. 

Kr^no-hriffo  SO  f.:  iiff/v  yÜQ  fn,  w  iTf-t^rf  Koi,rf,  ri  £nser  veSf*  i^iiwtn  mul  VK 
ifo^ü  ii  Ttf  |i««ov  «not*  tunu^ivra  Ixttta  utltvur  lofro^*. 


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B>.  Pahlmanns  Die  aouale  IHchtong  der  Oriechen. 


31 


einer  alkn  reiehliehen  IbUzeit  absawarten,  steh  Komplimente  flbor  sein  Oifick 
machim  sn  Janen  nnd  alle  Tage  im  Jahr  Feiertag  va  haben,  ^rahrend  uns  andere 
ngKt  Im  Traume  die  Frage  beschäftigt,  wo  wir  die  vier  Oboleii  herbekommen 
sollen,  um  uns  am  nächsten  Tag  mit  einem  Magen  voll  trockenen  Brotes  oder 
Gerst*'ii1>r»'ies  und  einer  Hand  voll  Kresse  oder  Aschlaneh  oder  ein  Paar  /.wieboln 
zum  Bcijft  rioht  wieder  schlafen  zu  legen.  —  Erst  dann,  o  Kronos,  wenn  du 
hier  reformiert  und  Waudel  geschafft  hast,  wird  man  sagen  können,  uu  iiubcst 
das  Leben  wie^  snm  Leben  ntid  dein  Fest  wieder  smn  Feste  gemacht*. 

Anf  dem  Boden  dieser  Weltanachanung,  für  welche  das  physische  Wohl- 
sein das  allbeherrsebende  Prinaip  nnd  die  soaiaU  Frage  nur  als  Hagenfrage 
TQO  Interesse  ist,  mufstc  die  soziale  Utopie  naturgemäTs  immer  wieder  sur 
Poesetf  zum  Fastnachtsspiel  werden.  Und  als  solche  erscheint  sie  denn  auch  in 
der  einzigen  Diclituiig,  die  Tins  ans  der  langen  Reihe  komischer  Idealstaaten 
vollständig  erhalten  ist:  in  der  k'ih'tliehen  poetischen  Satire  der  'Ekklesiaxnaen* 
(um  iJyü  aufgeführt),  in  der  Aristupliaues  mit  dem  rüeksichtslos  derben  llunior 
eines  Shakespeare  und  der  überlegenen  Heiterkeit  eines  Moliere  dem  proletari- 
schen Utopismns  noch  einmal  sein  Spiegelbild  vor  Angen  halt,  wahrend  sa- 
gleicb  mit  genialer  Kühnheit  die  letzte  noch  mSgliche  Steigerung  erfolgt  and 
die  Sfthlaraffia  ans  weltentrftckter  Feme  unmittelbar  anf  den  Boden  der  atti- 
schen Wirklichkeit  selbst  verpflanzt  wird. 

Es  ist,  wie  gesagt,  ein  Zerrbild,  das  in  ÄufsLrliclikeiten  grotesk  übertreibt 
um  den  pleb<*jis(:hen  KommnnismuH  dem  Fluch  der  I jiieherlichkeit  preiszugeben; 
und  der  Dichter  erreicht  diesen  Zweck,  indem  er  eben  flberall  die  letzten  und 
äufsersten  Konsequenzen  zieht,  die  kühnsten  Proletarierphantaäien  womöglich 
noch  übertrumplt^).  Allein  sieht  man  von  der  bizarren  Maske  ab,  so  kommen 
doch  Tiel&eh  echte  Zflge  anm  Vorschein.  Von  dmn  innersten  Wesen  nnd  den 
eigwtlichen  TriebkrSfteii  diese«  yxdfpxm  Utopismus  erUUi  man  ein  Bild  von 
padkender  Natortrene. 

Ein  harmloser  Spuk  ist  natürlich  die  Weiberherrschaft,  mit  deren  Be- 
gründung das  Stück  beginnt,  Ton  der  aber  im  weiteren  Verlauf  wenig  mehr 
die  Rede  ist*).  Sie  dient  nur  zur  Steigerung  der  Komik  und  zugleich  als 
wahrhaft  genial  erdachtes  Mittel,  um  den  Übergang  von  der  alten  Gesellschaft 
zum  Zukunftsstaat  völlig  unblutig  und  in  heiterster  Weise  sieh  vollziehen  zu 
lassen').    'Durch  Weiberiist  bei  Nacht  und  Nebel  kühn  und  fein  gesponnen'. 


*)  Vgl   V  .'■i78:  ftijrf  SfdQcqitva  (ii'jt  tl^yiiva  «ä)  ^QÖrtifOv. 

*)  Dan  bat  schon  Dietx«!  mit  tiecht  hcrvorgcbobeu  in  seineu  Beiträgen  zur  Qesch.  dt» 
Sorialiannw  and  Kommmiismttt  (Ztschr.  f.  Litt  o.  Gesch.  d.  Staatsw.  I  88S),  der  errten 

wahrhaft  geochichtlichen  Würdigung  der  EkkletiiazuHen,  deren  Ergebnissen  ich  in  allem 
WeBenllichon  zustimme.  Hier  iHt  uueli  diü  Frage,  ob  Arislophancs  eine  Satire  auf  Platd« 
'Staat'  beab«*iciitigte,  —  natürlich  tu  negativem  Sinne  —  endgültig  erledigt,  weshalb  ich 
la  dieser  Stelle  auf  «iae  Erdfieraiig  vemehten  kann. 

')  Der  antike  Dichter  hatte  es  nicht  so  leicht,  wie  der  Verfaa«er  des  modemou  Ilomans 
'Im  Reiche  der  Frauen.  Jedem  daa  Gleiche*,  der  eine  ähnliche  Revolution  durch  die 
Agitation  der  Frauen  bei  den  Wahlen  herbeigefithrt  werden  lä&t.  —  Nebenbei  bemerkt 


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32 


IL  Föhlmann:  Die  soiiale  Dichtung  d«r  GriedMii. 


kommt  ein  Be0chlii&  der  Yolksversammlong  sustand^  der  *Sfaidt  und  Volk  den 
Frauen  übergiebt*  und  jene  Eüuriebtungen  ins  Daeein  rull^  auf  welehe  sich  das 
eigentUehe  Interesse  des  Stflckea  und  die  Satire  des  Diehters  Icnnzpntriert:  die 
Frauen-  \ind  die  Gütergemeinschaft.  Auf  den  Kommunismus  des  Oeniefsens,  den 
drpse  Gemeinschaft  ermöglichen  soll,  ist  alles  Sinnen  nnd  Tmchtin  in  »Itiii 
irdi.sflicii  l'ar.KÜt's  i^onchtet,  das  die  zur  Präsidentin  der  koninuunstisthen 
Republik  tikorent!  emanxipationslustige  Dame,  die  Bürgerin  Praxugora,  'klugen 
und  freien  Sinnes'')  verkündet.  Dae  ist  es,  was  allem  Volk  eine  Zukunft  voll 
nie  gesehenen  'Qlanses  und  ungezählten  lehmerhohenden  Gewinnes'')  verbürgen, 
die  Stadt  f^flddieh  machen  aoU  Itlr  alle  Zeiten! 

So  wird  denn  in  den  Terloekenden  Bildern^  in  denen  die  Pnsidentin  die 
Herrlichkeiten  dee  neuen  Gemeinwesens  vor  ihrem  Ehemann  entrollt,  dem 
echten  Typus  des  proletarischen  Kleinbürgers  Athens,  —  die  Verstaatlichung 
aller  Produktion»-  und  KoTiHUTiitionsmittel  in  Aussieht  gestellt,  damit 
'Alles  Gemeingut  sei,  teilnehme  ein  Jeder  an  Allem,  und  vom  Gemeingui  Jeg- 
licher lebe"). 

*So  aehaff*  ich  denn  erstens  den  Acker 
Zu  Gemeingut  um  und  das  sämtliche  Geld  und  was  sonst  noch  Jeder  6e- 

stta  hatw 

Aus  diesMn  Gemeinsduts  werden  wir  dann  euch  Hanner  ernähren  und 

kleiden*), 

Ihn  rerwaltMid  mit  Fleüs  und  mit  Sparsamkeit  und  Rechnung  l^nd  Ton 

Allem. 

Au«  Ariiiut  thut  kein  Mensch  melir  was,  denn  Alle  nie  Imljen  ju  Alles, 
Brot,  Kuchen,  Gemüse,  Fleisch,  Fische,  Gewand,  Wein,  Kränze,  Rosinen  und 

Mandeln"*). 

Wie  das  alles  auf  die  Daner  ta  besehafien  sei,  wenn  Jeder  nur  dem  Genufs, 
Niemand  mehr  der  Arbnt  leben  will,  das  braucht  den  BOrger  des  Znkunfts- 
staates  nicht  zu  bekOmmem.  Zwar  stehen  ihm  nicht  die  beseelten  Automaten 
des  Fabellandes  SdüarSffiA  au  Gebote;  aber  hatte  nicht  schon  die  bestehende 

Gesellschaft  ihre  vernunftbegabten  Werkzeuge,  die  ihm  bis  zu  einem  gewissen 
Gradr'  Ahnliches  leisten  konnten?  Den  Sklaven,  auf  den  er  di*'  v«>rlinfHte 
Arbeit  abwälzen  kann,  nimmt  er  mit  Vertrnü^en  in  das  neiip  (iememwesen 
hinüber,  so  radikal  er  sonst  mit  allem  Bestehejultsn  gebrochen  Imt.  Die  Frei- 
heit und  Gleichheit,  die  er  für  sich  beansprucht,  wird  von  ihm  —  darin  denkt 

iHt  »lies  flbrigenB  nicht  die  einzige  Wiederholung  des  AriBtophaniachen  Motiv«.  Pchnn 
unter  den  StaatHromanen  dee  17.  Jahrhundert«  befindet  Rieh  einer,  der  einen  Weiberstaat 
schildert:  Yiragmia  vel  Gynia  ttova.   S.  Kleinwüchter,  Staatsromane  S.  50. 
*}  «Mi^«r  99hm  sal  9«Uao9«r  V.  671. 
^  V.  674  ff.  .  .  .  «oX/njv 

Hjiiov  ivayla'Coiaa 
HVfUtmv  ÜKftUattit  ßlov. 
y.  689  f.  9iH9mvttv  r«kf  lünntv  ^ifMi  Xf^f"^  wArtmp  iwr^wtof 
nix  Ttt^a©  fjjv. 
*)  V.  6»7  ff.  V.  6Ü4  f. 


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B.  POhlmaaiit  Die  «wiale  Dieliteiig  der  Chneehen.  SS 

er  bei  all  seinem  Fortschrittsdrang  so  konservativ  und  imlividimlistisch,  wie  der 
engherzigste  Plutokrat  —  der  ganzen  unglücklichen  Mensclienklasse  versagt, 
der  gchon  die  bestebende  Gesellschaft  du  Übennab  rtm  ArbeitslsBl  anfgebfirdet 
hatte  und  die  nun,  wo  auch  der  niedngBte  freie  Proletarier  eich  von  der 
Arbeit  emanupiert  bal^  alle  Mflbe  und  Plage  allein  ttbemehmen  mub. 

Das  Feld'  —  erUirt  Praxagora  dem  freien  Bürger  Athene  —  *beetellen 
dm  SUaTOnl  FQr  dich  bleibt  nur  das  Eine  Geschäft,  wenn  der  Schatten  steh 
streckt,  dich  geschmückt  zum  Gelag  zu  begeben'^).  Diese  proletarischen  Ver- 
treter dos  Freihoib  und  Glciclilu'itHprinxips  'denken  niclit  danin,  dufs  die 
^klaven  gewiäsermafsen  auch  Menschen  siad,  sondern  fressen  behaglich  auf  der 
von  fremder  Arbeit  gedüngk'u  Weide'-). 

Es  ist,  als  ob  der  yr&me  Staat  für  sie  einzig  und  allein  zur  wügiicheit 
glänzenden  Losung  der  Magenfrage  da  wäre. 

*Die  Gericbtahdf '  ers^  dann  die  Hallen  zumal,  Elasale  werden  sie  sSrntlieh**). 
Anf  die  Tribüne  kommen  Kannen,  Krflge  and  Wwahb  an  stehen.  Anf  dem 
Markte  aber  wird  die  Urne  aa%e8tellt,  nieht  mehr,  wie  bisher,  aar  Erlosnng 
von  Ämtern  oder  Richtersitzen  —  die  braucht  man  nicht  mehr  — ,  sondern  zur 
Verlosung  der  Couverfcs  für  das  grolse  Qastmahl,  das  der  Staat  allti^ch  allen 
Bürgern  bereik't*). 

'Ein  jeder  vergnügt  zu  dem  Gerichtshof  eilt,  wo  <lie  Nummer  zum  Essen 

ihn  hinweist, 

Wenn  der  Herold  ruft:  Die  von  Nummer  A,  die  werden  sich  alle  gefälligst 
In  die  K5ni|pihalle  begeben  an  Tiecli;  die  von  B  in  die  Halle  daneben. 
Die  ron  Nnmmer  C  sind  nnter  der  Stadt,  in  der  Halle  der  Mehlmagawne*. 
Und  was  «ie  hier  finden  ist  nieht  ein  *Eiaen',  sondern  ein  *8chwelgeik',  von  dem 

die  das  Mahl  ansagende  Bürgerin  Heroldin  eine  verführerische  Schüdemng  giebt*). 
'Ihr  Bürgerinnensöhne  —  denn  so  heifst  ihr  jetet  — 
Auf  eilet  zur  Regentin,  die  wir  eingesetzt. 
Damit  das  Glück  des  Loses  Allen.  Mann  für  Mann 
Verkünden  möge,  wo  er  heute  speisen  kann! 
Es  sind  die  Tafeln  allzumal  bereitet  schon. 
Die  Kfleh'  und  Seiler  weidlich  ansgabenlet  schon. 
Mit  VUeb  nnd  Teppich  aller  Sita  bebreitet  schon; 
Man  mischt  die  Becher,  reihentlang  stehn  hinterm  Tisch 
Die  Salbenmädchen,  schon  am  Fener  ist  der  Fisch, 
Der  Hfise  Ijratet,  und  der  Kuchen  im  Ofen  biiekt ! 
Man  wickelt  Kränz<\  und  die  Aschkasbmie  knackt. 
Von  jungen  Mädchen  wird  ein  Sclmepfenkleiu  gehackt... 
Au^  auf!  geschwind;  man  bringt  das  £ssen  schon  hinein! 
Ihr  braodbt  den  Mond  nar  an&mnachen,  so  fliegte  hinein'. 


»)  V.  «61  f. 

*)  Nach  dem  treffenden  AuRdnirk  von  Dietzel  a.  a.  0.  8.  S88. 
')  V.  676.       ♦)  V.  681  ff.       •)  V.  834  ff. 
MCMjdrtSAn.  IMS.  Z  8 


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34 


B.  PSUiMiiiii  Die  todale  IKefatan^  d«r  OrieeheB. 


Es  ist  fast  wie  im  Lande  Schlaraffia,  und  uuch  die  kulinarischen  Genüsse, 
die  des  Bürgers  gleich  beim  grofaen  Freudennialil  des  ersten  Tages  harren, 
können  sich  wohl  mit  denen  messen,  in  deren  Preis  sich  diu  poetischen 
Schüderungen  des  Eroiuwraichefl  Qberboten  kitten.  Es  naht  ein  Frikassee  •von 
Sprotten,  HurSaen,  Lampreten,  Trfllfebiy  Scluepfen,  Faeanen,  Ijerehoi,  Tauben, 
Baam  o.  e.  w.  AJao  Terkttndei  der  Schlnbchor  in  aeinem  ^Essenaho^ijeBaog* 
^ftiloe  fullodemvatdvy). 

Ja  es  winken  noch  süfsere  Freuden!  Das  Freiheits-  und  Gleichheitsprinzip 
warp  nnr  nnvnllkommcn  verwirklicht,  wenn  nicht  auch  alle  Schranken  gefallen 
wären,  welche  die  alte  Öesel Isohaft  dem  Liebesgenufs  gesteckt  hatte.  Eigene 
Häuslichkeit,  Ehe,  Familie  giebt  es  nicht  mehr.  Die  Stadt  wird  ein  grofses 
flaus  bilden,  hinweg  wird  alles  gebrochen,  damit  Jeder  zu  Jedem  stets  freien 
Zugang  habe,  oder  —  wie  wir  hinsufügen  dflrfm  —  Jeder  an  Jeder").  Denn 
neben  der  GKitergemetnacliall  besteht  die  allgemeine  WnbergemeinBchdt  Ana- 
gesehlomai  iat  Ton  der  allganeinen  loebeekmiknrrena  andi  hier  nnr  die 
SUaTin. 

Ganz  frei  allerdings  ist  auch  für  den  Bürger  und  die  Bürgerin  die  Liebe 
nicht.  Denn  die  Natur  iat  leider  auf  diesem  Gebiete  Aristokrat  in!  Sie  hat 
körperliche  Kraft  und  Schönheit  allxu  ungleich  vertt-ilt,  als  dalk  man  hoffen 
dürfte,  die  Einzelnen  würden  sich  bei  freier  Liehe  auch  auf  diesem  Gebiete 
zur  praktischen  Anerkennung  des  Oleichheitsprinzips  verstehen.  Alle  würden 
*naeh  der  Sehönaten  im  Land,  wie  natürlich,  gehn  nnd  sich  ihrer  au  freuen 

Tttlangen'^. 

Und  umgekehrt  würden  alle  Weiber  den  hfibedbeaten  Mann  unmrmen  wollen. 

—  Um  daher  auch  hier  die  Gleichheitsidee  zur  Wahrheit  zu  machen,  mula 
die  Freiheit  beschrankt  werden.  Es  wird  ein  Reihedienst  der  Minne  an- 
geordnet, bei  dem  auch  die  Hnfslichen  nicht  zu  kurz  kommen.  Freilich  eine 
Kiippt",  an  der  die  ^tnze  Herrlichkeit  des  Zukunftsstaates  zu  scheitern  droht! 

Hier  entsteht  ein  Konflikt  zwischen  liberte  und  egalit^,  der  dem  Dichter 
Stoff  an  Soenen  von  wahrhaft  verblüffender  Komik  liefert;  —  dem  köstlichen, 
wenn  auch  ftber  die  Hafisen  derb-natoraliatischMi  Finale  des  StQckea,  dar- 
atellend  den  Streit  der  ilteren  und  ältesten  Wdbldn  um  den  sehmuchen 
Bursehen,  den  sein  Liebchen  so  gerne  fSr  sich  allein  haben  möchte^  aber  nicht 
haben  kann,  weil  dies  dwa  Gleichheitsprinzip  widersprechen  würde.  —  Man 
hat  mit  Recht  l)enierkt,  dals  das  sexuelle  Utopien  gewisser  Kommunisten  nie- 
mals eine  so  dnrch.Hchlagende,  niederschmetternde  Kritik  erfahren  hnt,  wie  hier. 

Für  die  Prophetin  des  Zukunftsstaati' h  freilich  sind  derartige  Widersprüche 
und  Konflikte  nicht  vorhanden.  Nach  ihrer  Ansicht  wird  das  unzweifelhafte 
Ergebnis  des  Kommunismus  eine  yöllig  ungetrflbte  Harmonie  und  Eintracht 

')  V.  1152  ff. 

*j  V.  672  E.  TO  fu^f  aarv 

•)  V.  «1«. 


R.  i'üüluuiuu;  Die  aozialc  iJichtunf;  der  Griechen. 


35 


sein.  In  siegesgewissem  Optimismus')  verkündet  sie:  Bei  uns  ist  Neid  und 
Mi'fsjnmst.  Zank  tiiid  Str«'it,  FrevelBirin  und  Frfvelthnt  nnmöfjlich.  Denn  die 
Ursache  von  :ill(<l»  ni,  Not  und  Armut,  iät  ja  für  iinnR-r  beseitigt.  Wo  'Allon 
gemein  ist  daMf^t^lbt'  Geschick' und  Alle  Überreichlich  ^att  werden  an  Braten^ 
Wein  und  Liebe,  da  ist  auch  Diebstahl,  liaub,  Betrug  u.  s.  w.  aus  der  Welt 
trendiwimdeii. 

Mit  dieser  Argumentatioii  eehlSgfc  Pnungora  alle  EinwSnde  ihree  dumm- 
schlauen  Ehemannes  Blepjros  nieder,  der  an  die  WirUiehkeit  dieses  koiumunisti- 

sehen  Paradieses  nicht  recht  glauben  will,  so  gerne  er  sich  auch  die  Genüsse 
des^ellton  m'falli'n  Üofso.  Sein  Rfdenken,  die  lirlicn  Mitbiirwr  mörlittii  hei 
der  Ablieferunji  ihres  Eij^t'ntiuns  an  den  Staifv-rhatz  <^ar  manches  nntvr- 
achlagen'),  weist  sie  mit  der  Bemerktin^  znriuk,  dal's  ji't/.t,  wo  'Alle  Alh»8 
haben',  dcqenige,  der  nicht  ublieft-ri,  von  seinem  Betrug  keint^n  Nutzen  liat. 
Wae  BoU  er  mit  dem  <Mde  anliuigen,  da  ans  Annat  Niemand  melir  um  Geld 
etwae  su  timn  braackt*)?  Weaa  twaeat  noeh  stehlen,  wenn  AUea  gemeinsam '^j; 
wesn  rauben,  wo  Alle  baben,  was  not  tbnt*)? 
*Wes  Mantel  man  will,  der  giebt  ihn  ec^ich  freiwillig.  Wem  denn  eich 

naken? 

Denn  er  geht  gleich  drauf  cum  Zentralmagazin  und  holt  sich  da  einen  noch 

bessern 

Man  sieht:  Frau  Praxagora  stimmt  ganz  mit  Herrn  Bebel  öberein,  der  mit 
der  gleichen  Emphase  und  der  gleichen  kategorischen  Sicherheit,  wie  die  Präsi- 
dentin dee  lustigen  Weiberataatee,  in  aeini»'  *Fma'  das  prophetiBclie  Wort 
spricht:  'Die  Diebe  sind  Tersehwnnden,  weil  daa  PriTftteigentom  Tereehwnnden 
ist'*).  —  Es  ist  derselbe  Gedankengang^  den  wir  bei  diesem  modernen  Utopismns 
wiederfinden,  wenn  auf  den  weiteren  Einwand,  dafs  in  der  heutigen  Welt  gerade 
die,  welche  in  der  Fülle  materieller  Güter  schwelgen,  die  grSberen  Schurken 
seien"),  von  seitcn  Praxagoras  die  Antwort  erfolf^t: 

*Ja  vordem,  Freund,  solange  wir  noch  die  Gesetze  befolgten  von  vordem; 

Doch  jetzt,  wo  das  Leben  gemeinsam  ist"*),  was  bringt  Nichtzahlen  für  Vorteil?* 
Modem  gesprochen  *Ja  vordem  —  solange  wir  noch  unter  dem  alten  verrotteten 
Boorgeoisregiment  lebten  und  dnrch  dies  Milien  korrumpiert  warenl  Jetat 
aber  aind  alle  efhrlidh,  weil  alle  satt  smd'^*).  Oder,  wie  Bellamy  erUirt^ 
wanun  im  Jahre  8000  Alles  anders  nnd  nen  ist:  *Die  menseblicben  Lebens- 


')  'So  klar  bew«w'  ichs'  —  sagt  Pnuogora  von  den  Vorzügen  der  Gütergcmeinscbofl,  — 
'dab  Mlbsi  Hunnen  Maime  uiehts  tu  erwidern  mlSglicb  ist.* 

*)  V.  503  iiX  ivu  notä  noivbv  itäaiv  fiiorov  %al  roixw  Bf/OiOv. 

*,  Vj^l,  flie  kr»»tlich«  Szcnf  /wischrii  den  zwei  Bürgern,  von  denen  «Ifr  l  im-  ilu-ii  l^e- 
Mrhättigt  ist,  neine  Uabe  —  dem  (iebotc  der  n«uen  H^ierung  geiniirti  —  uut  den  Markt 
n  tchaifliBii,  wUinsd  d«r  andere  rieh  die  Sache  erst  noch  bedenken  will  (V.  7S8  C),  dne 
Scene,  die  den  von  BlepjiOR  auRgesprochenen  Verdacht  nur  zu  sehr  recbtfinrtigL 
V.  004.        *i  V  ßß?  na>i  yaQ  xlf'ij-fi  tiitav  ai-rä;  V  C69. 

V.  &71  irtifop  ^*        xoifov  %Qtittov  f*iivov  KO|t««trai. 

*)  8.  SIT.      ■)  V.  $08.      *«)  ioTM       ftbe  la  »M9o9. 
Naeh  der  täeffendea  Foraialiemng  von  Dielnel  (3.  SM). 


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36  R.  PöblmaQD:  Die  «ozialc  Dichtung  der  Qriechen. 

bedingungen  haben  sich  geändert  und  mit  ihnen  die  Motive  des  menschlichen 
Uandehis'. 

Aber  Blepyros  kann  sich  ans  dem  Rahmen  des  Bestehenden  nicht  so 
leicht  hcrauadcnken.  Er  forscht  weiter:  'Wenn  man  ein  Strafgeld  zu  erlegen 
hat,  wo  nimmt  man  es  her?  Denn  es  geht  doch  nicht  an,  vom  Gemeingut 
das  zu  bestreiten'.  Worauf  Praxagora  erwidert,  der  FaU  könne  überhaupt 
nicht  eintreten;  denn  es  gebe  ja  keine  Prozesse  mehr.  —  'Wenn  man  aber 'mit 
Niemand  mehr  prozessieren  kann,  wenn  es  keine  Schuldhaft  mehr  giebt,  werden 
da  nicht'  —  fragt  Blepyros  —  'Viele  bankrott  gehn?'  —  'Auch  das'  —  belehrt 
ihn  die  Gattin  —  'kommt  in  unserem  Staat  nicht  vor.  Bei  uns  kann  es  weder 
Gläubiger  noch  Schuldner  geben,  da  es  ja  kein  Privatkapital  mehr  giebt"). 

Aber  der  hartnäckige  Ehemann  ist  noch  nicht  überzeugt,  er  will  noch 
Eines  erklärt  haben: 

'Wenn  einer  mich  schlägt,  der  berauscht  vom  Gelag  heimkommt  und  wegen 

Mjfshandlung 

Mich  entj)chädigen  soll,  wo  nimmt  er  es  her?    Ja,  da  stehen  die  Weibsen 

am  Berge'*). 

Praxagora  wagt  es  nicht  zu  bestreiten,  dafs  im  Zukunfbsstaat  derartige  Mensch- 
lichkeiten vorkommen  könnten.  Aber  sie  ist  deshalb  um  eine  Auskunft  nicht 
verlegen;  sie  giebt  ein  sehr  einfaches  Rezept,  um  mit  solch  unbequemen  Ge- 
nossen fertig  zu  werden: 

*Das  büfst  er  ab  an  der  täglichen  Kost.    Wenn  wir  die  ihm  gehörig  be- 
schneiden, 

So  wird  ihm  die  Lust  an  den  Prügeln  vergehn,  die  er  so  mit  dem  Magen 

gebüfst  hat'. 

Ja,  das  Magenmotiv  soll  noch  ganz  andere  Wunder  wirken!  Es  macht 
nicht  nur  die  Genossen  fein  sittsam,  sondern  hält  sogar  jene  edleren  Regungen 
der  Menschenseele  wach,  auf  die  der  Staat  nun  einmal,  wenn  er  Bestand  haben 
soll,  bei  seinen  Bürgern  notwendig  rechnen  muTs.  Damit  den  Genossen  in 
dem  allgemeinen  Bauch-  und  Phallusdienst  nicht  alle  Wehrhaftigkeit  und 
Tapferkeit  abhanden  komme,  wird  dem  Feigen  —  ein  echt  aristophanischer 
Zug!  —  die  Aussicht  eröffnet,  von  der  Table  d'höte  weggespottet  zu  werden'). 

'Zum  Muhle  singen  die  Knaben,  von  jedem  der  Männer, 

Den  preisend,  der  kühn  in  der  Schlacht  sich  bewährt,  des  spottend,  der 

feige  davonlief, 

Dafs  er  schamrot  nicht  sich  geselle  ziun  Mahl'*). 

So  wie  die  Menschen  gesihildert  werden,  mit  denen  es  der  Zukunftsstaat 
zu  thun  hat,  scheint  ja  allerdings  mit  diesem  Motiv  alles  von  ihnen  erreichbar. 
Man  denke  nur  an  die  letzte  Scene  vor  dem  Schlufschor.  Die  Heroldin  sieht 
Blepyros  dalierkommen,  der  auf  dem  Wege  zum  gemeinsamen  Mahle  sich  ver- 
HpütA't  hat.  Sie  ruft  ihm  zu:  '0  Herr,  du  glOckgepriesener,  dreimalseliger!' 
'Ich?  wie  so?'  fragt.  Blepyros.    Darauf  die  Heroldin: 

')  V  660        •)  V  662  ff       *)  DictieJ  S.  S87.       «i  V.  669  ff. 


B.  PdUmann:  Die  wniaie  Diditaiig  der  Griechen. 


37 


*Ja  du,  bei  den  GSttern,  wie  keiner  der  Menwshen  sonst! 
Wer  kSnnte  hochbeglückter  je  zu  preisen  sein, 
Als  Amr  von  mehr  als  dreiTsigtaiumid  and  einigen 

Athonpm  e{n?ig  nicht  bereit'^  pfpgpsspn  hnt!'*) 
Man  denkt  unwillkürlich  an  die  ifroteske  Satire  von  Habelais,   wilclu-  die 
Allmacht  des  Messer  Uaster  schildert.    Und  mit  einer  Satire  haben  wir  es  ja 
auch  hier  zu  tliuni 

AUeiit,  wenn  wir  nun  von  den  Anlmrliehkeiten  abseliett  nnd  nne  die 
Grundgedanken  der  Dielitang  noch  einmal  vergegenvilrtig^  beelitigfc  sich  ans 
nicht  znr  Qenfige  das,  was  sehon  oben  gesagt  wurde,  dals  die  Eurikator  des 

Dichters  —  wie  jede  wirklich  gute  Karikatur  —  gewisse  für  das  Original 
ebarakterietische  Züge  deutlich  erkennen  lafstV  Denkt  man  sich,  es  wäre  uns 
eine  Utopie  nm  jener  Zeit  erhalten,  ili-'  wirküeh  aus  dem  verwirrten,  erhitzten 
Gohini  ciiR'.s  hungrigen  und  verlumpten  l'<»bels  etitfprnnf^en  w»re,  eines  Pöbels, 
dtr  nichtö  hat,  aber  alles  begehrt,  vor  allem  üenul'sj  und  wieder  Geniifs  — • 
würde  diese  Utopie  in  dem,  was  wesentlich  ist,  nicht  die  gröEste  Verwandt- 
wbsft  mit  dem  Zokunftsgemalde  des  Aristophanes  zeigen?  Kann  eun  extiemer 
XsteriaUamoB  und  IndiTidnalismus,  dem  niehis  heilig  ist,  als  der  Einzige  und 
seine  Last,  dn  anderes  Ideal  ersengen,  als  den  kommnnistisdien  Himmel  des 
P5bels,  die  'Satumalien  der  KanuiUe?**) 

Ein  Fortschritt  der  Auffassung  war  auf  diesem  Boden  nicht  möglich« 
Dazu  bedurfte  es  einer  (binbitns  uTuleren  geistigen  Atmospliäre,  einer  grund« 
sä^ch  verschiedenen  W  elt-  und  Lebeusanschauuug. 

*)  y.  iiso  ff. 

*)  Wie  Mesamsoi  das  Znkonflabild  dw  EkUesiaxoMm  treffend  beaeiehnei  hat.  • 

(Fortsetmog  folgt) 


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FICOäÜPOGlLAPlliA  IMTEIUl  1U)MANL 


Von  Hermakm  Pbtke. 

Das  gewaltige  Unternehmen  des  Corpus  inscriptionum  Latinarum  nähert 
sich  jetst  seinem  AbschiiuBe,  so  mü  roa  einem  solchen  bei  den  täglich  er- 
folgenden oder  m  erwartendem  Entdeckungen  fiberhanpt  gesprodioD  werden 
kann.  Darum  ^nbt  aber  die  preolsische  Akadcaiie  nicht  mhen  zu  können. 
Nachdem  die  Ernte  in  di  >  lutiem  gebugen  worden  i-t.  will  sie  die  Frflchtc 
auch  verwerten  oder  andere  dazu  anregen.  Als  die  nächsten  Aufgaben  be- 
r.cirliiu  t  die  Akademie  beispielsweise  Onomatologika,  Verzoichnis^e  der  vor- 
nfluuen  Männer,  Sammlung  der  iiottt'silit'n<ätHehen  Altertümer,  Darstellung  der 
Verfassung  in  den  verschitUtuen  ticmcinwKsen  aufser  Rom  (und  Athen;  und 
der  militärischen  Organisation  des  römischen  Reichs,  kulturgeschichtliche  und 
sprachliche  Stadien.  Sin  soeben  erschienenes  Werk*)  ist  bestimm^  Probe  nnd 
Köster  l&r  soldie  Arbmten  m  sein,  und,  nm  dies  gleidi  Toravssaschicken,  es 
ist  dies  auch  sowohl  nach  der  Gewusenhaftigkeit  nnd  Gründlichkeit  in  der 
Ausantauig  dss  Materials  als  nach  seiner  Anordnung  und  kritischen  Sichtong. 
Depn  es  sollten  nicht  etwa  nur  die  Indices  der  einzelnen  Bände  des  Corpus  zu 
einer  bequemeren  I%er?icht  zusaminensrofiifst  werdort:  die  Aufgabe  ging  tipI- 
mehr  dahin  tl  p.  \'  s-n  \  aus  den  «iiiulti  hen  N  t  rörtV  iulu  hungen  von  Inschriften 
die  Namen  aller  Senatoren  und  alier  kaiserlichen  Beamten  aus  dem  Kitterstand 
nebst  ihrer  ganzen  Verwandtschaft^  sowie  der  bei  Geschichtechreibem  and  auch 
bei  anderen  Sdbriftstelleni  genannten  PersAilidikeiten,  jedoch  mit  Anssdieidni^ 
der  kirchlichen  nnd  jarisÜschen  Littentor,  sasammenmsn^en,  aodi  die  der 
Ansftnder,  soweit  m»  mit  dem  Staate  Rom  oder  mit  Rdmem  in  Berühmi^ 
getreten  sind,  und  «^ie  mit  den  JBrwihnnngen  auf  Münzen  und  auf  Paprrus- 
oAuttden'^  und  allen  sonstigen  msammensaaiheiten;  bei  den  Kaisern  sollte  die 


Pro»opojrr»phia  Imiserii  Komani  sa«c.  L  IL  III.  edita  cosniio  «t  auctorilat« 
aeademiae  aci«iiti«nuD  rffria«  Bonurieae.  BenUai  apvd  G«orpriiim  BeiBcram  18S7.  Fan  I 
edidit  Elimaru»  Klt<l>»        l\.  4'»     Pan  U  tniiilit  Uenujumu^  r>09tan  i^.  IT.  44i. 

'  IH  sich  dt?T  Druck  üIkt  tunf  J*hr\>  er«ti>vkt  hit.  hat  ä->  Litteratur  *<'it  l!*t>2 
sucht  mehr  lierücki^icbtigung  boUen  köiueo  and  vüxi  im  SviiluiVl'^U«'  tuKh^iioU  verdeo. 
Kiaca  tatwctMoten  Nachtiafr  a«t  «««ni  P»p3rni»  babe  ich  nir  ni  A  IWl,  I  p.  ItS 
HeaMricl.  Den  Soka  lies  dort  i^^nunntt-n  Atiliu«  TiTiAnu«  b^ucimt  CeW  BOch  aiAt:  er 
cicbt  nur  nich  CapiTv>litiu<  Vit»  Pü  T.  $  an ,  dai«  der  Vater  al>  Thrv^nprätendont  ^äcbt^t 
«orvii'u  «vi,  d^i»  <ftWr  der  Kaü^  Auu>aiiiu«  l^a»  sciuca  MaiYi*r$ch««>oeaea  aicht  ojk!^ 
gifluncbt  vad  a«iaca  $oba  in  allm  aat«nt»tit  habe.  Pi<«<  Nachricht  wird  aSailich  darch 


II.  Peter:  Prosopo^raphia  Imperii  Rotnani. 


39 


eigentliche  ftegteningsthütigkoit  unberücksichtigt  bleiben^  bei  den  fremden 
Fürfifcn  nnr  Has  wichtigste  berichtet  weiden,  bei  Autoren  sollten  die  Be- 
zieliuiij^eu  auf  die  iVrson  j^nflpen.  Als  zeitliche  Greusien  waren  die  Schlackt 
bei  Actium  und  der  Hej;ieruni^antritt  des  Dioi-letiiin  ungesetzt  worden. 

Enjchieneu  »iud  zwei  Bande,  welche  die  Buchstaben  A — C  und  D — 0  uiu- 
£u8«ii,  dar  erste  bearbeitet  7011  Eliniar  Eleba^  der  nreite  Ton  Hernuum  Dessau; 
der  dritte,  der  eigentlich  mit  ihnen  saaainmen  TerfiffiBaflicbt  werden  sollte,  ist 
durdi  Krankheit  des  mit  ihm  beauftragten  P.  von  Rohden  aufgehalten  worden 
und  wird  nun  von  Dcssaa  ZU  Ende  geführt  werden.  Ein  vierter  Band  wird 
die  Listen  der  Konsuln  und  der  übrigen  höheren  Beamten  bringen.  Die  Gfe- 
&bren  der  Teilung  der  Arbeit  sind  frint  durchwej^  vermieden;  das  Werk  wrist 
einen  im  wesentlichen  gleichartigen  Cliunikter  auf;  nur  selten  l)einerkt  man 
die  verschiedenen  Hände');  das  Auseinandergehen  der  Ansiciiten  über  die  Ab- 
iassungszeit  der  sog.  Scriptores  historiae  Augustae  stört  nicht  weiter.  Ich 
werde  daher  in  meiner  Beriditeistattung  die  beiden  lOmner  nicht  grondioitiliGh 
trennen. 

Lücken  abid  bei  einer  derartigen  Arbeit  erklärlich*).  Hier  und  da  wQrde 


einen  von  .T  Nirolo  in  der  Rovnn  arrh  IHfi:?  'XXT  j>  227—233'  heratisjfCfjcbenen  und  bc- 
sprocbeoeo  Brief  auf  Pap/ru«  bestätigt  und  ergänzt,  in  dem  am  .hmi  de»  Jahres  168 
AweUiifl  Theocriti»  'üb.  Antonini  et  minnter  pnefecti  Aeg.*  (sonot  lücbt  bekannt,  daher 
auch  noch  nicht  hei  Klcbfl)  dem  Stratef^en  im  Qeu  Aramoitei  verbietet,  tidi  an  dem  V«r^ 
möf^n  und  der  Dlt-nerschaft  '[Ati]lii  Titaniani'  7»  vcrjn"r'if>'n ,  (^a  fr  von  Antoninus  (geehrt 
werde.  Der  Sohn  hieTs  also  auch  Atiliiia  Tiüanus  wie  der  Vater  (wohl  uoKweifeUiafl  der 
Eonsal  dee  JalirM  iS7  n.  1086,  wie  auch  Klebt  vermatct),  dessen  Empönmt^  nach  Kieole 
wahrscheinlich  die  in  igTpten  »t,  welche  die  Vita  5,  5  erwähnt.  Die  Angabe  über  den 
Aufstand  nnd  ?einn  Bestrafung  wird  demnach  künftig  unter  n  1085  unterzubringen  sein, 
während  der  Sohn  n.  1091  erhält.  —  Mehrere  Nachträge  der  Heraii«ig(;t>er  der  Proeopo- 
grapbie  haben  flbr^emi  bereite  die  neneftea  LieCBrongen  der  Realencykloifldie  von  Fioly- 
'WiaK)wa  geliefert,  die  also  bis  auf  weiteres  neben  ihr  noch  einsoeehen  sind. 

')  Z.  B  darin,  daf»;  Klfdis  die  neuere  Litteratur  Bparpatner  zitiert  a!a  DoRsan,  dnfr  dor 
Stanunbaum  des  Julius  Bassianus  sowohl  im  erslen  Baad  \p.  iM)  als  im  zweiten  tji.  iil) 
Bii(e«teilt  wird. 

*)  n  ]i  öl  wird  anpe/jelicn,  f\iih  der  Bio^aph  in  der  Vita  Pii  8,  8  wahrHchiMnlicb  },'e- 
schrieben  habe  'Cornelius  Hepeutinus  et  Furius  Victorinas  —  praefecti  praetorio  facti  a 
Pio'  (statt  'Fabius  Kep.  et  Com.  Victorinus')  mit  dem  Zusatz:  'cf.  Borghesi  mem.  dell' 
luL  S  p.  188  (in  epistola  non  reeepta  in  opera  eins)' ;  der  Brief,  in  dem  jene  Änderung 
vorgeschlagen  wird,  steht  aber  unter  seinen  Briefen  in  den  Wer1<eu  VI  p.  190.  —  Dp.  418 
wird  allein  die  Vermutung  deeseiben  Gelehrten  erwähnt,  dafa  in  der  Vita  Clod.  Alb.  8,  8 
<H.)  Koma*  Ha«tfa»M  gemehit  sei  (anstatt  dee  Noaiui  Kura»  der  Überlieferung);  ete  liammi 
jedoch  auf  einem  Brief  des  Jahres  I817  (Oeuiv.  TI 95),  86  Jahre  RplUer  in  den  Annali  von 
1H53,  Oenvr.  V  p.  407)  hat  er  Noniiin  Maeer  v'  fu'ozogen.  In  der  Liste  der  von  dem  Kaiser 
Septimins  Severus  getöteten  41  vornehmen  iUianät  Vit.  Seu.  13  sind  mit  dem  Nomen  gentile 
und  dem  (üofifnomen  88  benannt  worden «  eine  Annahme  maeben  nor  Antominiu  Balbns, 
wofiir  Kleb«  T  p  '.M,  A  n.  i>\x\  Antonius  Balbus  einsetzt  (wie  flbrigens  schon  De  Vit  im 
Onoma«t.  I  p.  347),  MarcuK  .\sellio,  richtiger  Marcius  Asellio  nach  O  Hirsphfeld  in  den 
Wiener  Stud.  VI  S.  124  und  KJebs  I  p.  158,  A  n.  997  (von  Dessau  im  zweiten  Bande  aus- 
gelaieeD)  und  L.  Stilo,  wae  HincbMd  a.  0.  hi  Ael.  8tao  verändert  bat  und  Kleb«  bfttte 
erwihnea  «ollen. 


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40 


H.  Peter:  Ftoflopographia  Imperii  Romani. 


teil  mich  AQCsh  «odtrs  entschieden  haben').   Sehr  dankenewnt  mre  ee  endlieh 

gf'wespTi,  den  bÄrbarischen  Namen,  uachdem  sie  einmal  Eingang  erhalten  haben, 
eine  Erklärung  oder  den  Versuch  einer  f>olchen  beizufügen,  z.  B.  1  p.  10  dem 
Adgandestrius  bei  Tacitus  (n.  dem  Adiatorix,  dem  Sohne  des  galatischen 
Vierfilrsten  Domnecleus,  bei  Strabo  (n.  84),  dem  Adminius,  dem  Sohne  de» 
biitanuischcn  Königs  CunobelUnuH,  bei  Sueton  (n.  85);  der  Verweis  auf  die 
betretende  litftwatnr,  wie  bei  Arminini  (n.  874,  I  p.  135)  nnd  eomii,  giebi 
denen,  die  nicht  Ober  eine  greise  Bibliofliek  verfügen,  einen  Stein  statt  Brot 
Der  Lidez  zu  MemmeeDs  JoKhuusamgabe  hat  durch  MflUenhoffo  Beiträge  einen 
ganz  heeonderen  Wert  erhalten. 

Doch  genug  der  Kleinigkeiten.  Im  allgemeinen  wird  unzweifelhaft  l)ei 
jedem,  der  das  Buch  in  die  Hand  nimmt  and  benuiat,  das  Gefühl  groJben 
Dankes  das  herrschende  sein. 

Denn  wer  sich  je  mit  Feststellung  von  Persönlichkeiten  der  römischen 
Kaiserzeit  zu  beschäftigen  gehabt  hat,  der  kennt  die  Mühe,  die  es  kostete,  um 
die  von  Sehriftet^em  genannten  anf  Steinen  wiederaofinden;  es  genügte  nicht 
einmal  das  V^hMm  der  Bande  dea  Cor|nu  nnd  setninr  Supplemente,  nm  die 
Sache  in  eraehöpfen  oder  Tersichem  an  kSnnen,  dala  der  Name  anf  Insdbnilen 
nicht  vorkomme.  De  Vits  Onomaaticon  ist  wenig  vollständig  und  kritiklos 
aus  oft  veralteten  Texten  zusammengestoppelt.  Vielfach  hatte  der  Wunsch 
der  Identifizierung  und  des  Nachweises  von  Verwandtschaft  auch  in  das  Reich 
von  nicht  hinlänglich  begründeten  Vermutungen  hineiugefüliit,  die  gleichwohl 
teils  wegen  der  Autorität  deü  Urhebers  teils  wegen  der  Schwierigkeit  der  Nach- 
prüfung der  weit  lentrenten  epigraphischen  Litteratur  fOr  einen  Niditspezialisten 
als  Thatsachen  llbememmen  nnd  weiter  getragen  worden.  Zwar  hatte  Nipperdej 
doreh  Anmutsimg  d«r  Foraehnngen  Borghesia  die  Namen  in  den  Annalen  des 
TacitOB  anderweitig  nacihgewieeen;  für  den  jüngeren  Plinius  ist  Monmisens 
Lidez  in  Keils  gröfserer  Ausgabe  von  hoher  Bedeatnng,  Henzen  hat  in  dem 
zu  seiner  Veröffentlichung  der  Arvalakten  alles,  was  er  Ober  die  in  ihnen  ge- 
nannten Persönlichkeiten  gesanomelt  hatte,  vorgelegt;  ich  will  auch  trotz  ihrer 
Unvüllkümmeuheit  Joseph  Kleins  Fabti  consularos  erwähnen.  Sonat  aber 
mulste  man  sich  auf  diesem  Gebiet  den  Weg  seibat  suchen,  verlor  viel  Zeit 
nnd  ging  immer  aoeh  oft  in  der  Lrre.  Jetat  stehen  wir  endlich  anf  einem 
festen  nnd  sicheren  Boden  für  weitere  Unteranchnngen,  nnd  zn^eidi  hat  die 
Beherrachnng  des  voUsündigen  Materials  nnd  eine  rein  aachliche  PHlfnng  nna 
▼on  zahlreichen  Irrtfimem  befreit  und  manches  Kartenhaus  umgeworfen,  das 
man  schon  als  zuverlässigen  Unterbau  ftir  weitere  Kombinationen  angeschen 
hatte.    Ich  verweise  beiapielaweiae  auf  das  für  die  Gesdiiohte  der  ChriBien- 

')  Warain  Dmud  den  HSrder  de»  Commodi»  Ef^eeius  genannt  bat  (II  S8  n.  7),  sehe 
ich  nicht  recht;  auf  Stdneo  8t«ht  einmal  (CIL  VI  1608)  so,  auch  auf  einem  griechiiehen 
(CIG  III  1105  'Eyi.,  daf^c^en  a>ii  r  L'si  n  wir  auf  andern  f^echischen  'Exlfutoff  (ITT  6224) 
und  '£icJUxri]  (III  667d),  ehenso  dorcbweg  in  den  griechiachen  SebrifteteUera  und  bei  dea 
LatesBem  in  des  Hendichziflen  Bleetut,  Eieetua,  Edeetns  (aadi  Bdoge  bei  Sueton  K«o  IC), 
niigend»  ein  g. 


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H.  Petor;  PkOMpographift  hnperü  Boinwit 


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Verfolgungen  wichtige  Prokonsulat  des  Minucius,  welches  nach  U  p.  379  f. 
(n.  441)  nickt  in  die  Zeit  dee  Tekiriiii  und  ChJlien,  äondem  in  die  des  Septimina 
flef»ni%  in  die  Jahre  198—209  gehSrt. 

Die  leiehle  Überridit  Uber  die  OenmÜieit  der  Dberiiefening  und  die  be- 
queme Kontrole  der  handschriftlichen  durch  die  der  Sieine  gewährt  uns  femer 
die  Möglichkeit,  scharfer  als  bisher  zwischen  Fohlern  und  Flflchtig- 
kriten  der  Autoren  und  V^-rderbnissen  in  den  Handschriften  zu 
unterscheiden.  Die  Rhetoren  iiatt*:'!!  im  allgemeinen  Sorgfalt  und  Genauig- 
keit iu  den  historischen  Angaben  nicht  aufkommen  lassen  oder  unterdrückt'); 
gar  die  Umständlichkeit  der  römischen  Benennung  war  ihnen  überhaupt  und 
beeondert  den  Griechen  sairider.  FOr  die  Umschreibung  ins  Orieddei&e  fehlte 
CB  an  bectintmten  Grandflftteen,  und  bei  dem  hEufigen  Qebraucb  dieeer  Spradie 
anter  den  Oebildeten  rifs  das  Schwanken  auch  auf  itaUechem  Boden  ein  und 
richtete  eine  Verwirrung  an,  die  nicht  einmal  die  Namen  der  Kaiser  ver- 
schonte. Der  orientfilische  Knabe,  der  in  den  Jahren  21  s  —  222  auf  (hm 
romischen  Thron  safs,  war  der  Sohn  des  8.  Varins  Marcellus,  führte  selbst 
den  Beinamen  Avitus  und  hiefs  als  Kaiser  M.  Aurelius  Antoninns  (1  p.  194  ff. 
A  n.  1204);  als  Priester  des  Gottes  Elagabalus  aber  wurde  er  auch  selbst  so 
genannt^  und  da  man  in  jenem  den  Soaneogott  wiedeifimd,  ao  wank  der  Name 
in  Heli<^baiuB  omgefiormt  und  dieeer  dem  Eaiaer  von  der  Hietoria  Angusta, 
AnreliuB  Vietor  and  der  Eaieerepitome  beigelegt,  oft  eo^  dab  die  Terechiedenen 
Arten  der  Benemiong  Yariu«  ÄTitttS  als  PtlTatmann,  M.  Aurelius  Antoninus  als 
Kaiser  damit  zusammengeworfen  wurden:  Heliogabalus  Bassianus  Yariua, 
M.  Antoninus  Hei.,  Varius  Hel.  Ähnlich  ist  es  dem  L.  Cetonius  Commodus, 
der  als  Adoptivsohn  des  Hadrian  L,  Aelius  hiefs,  in  der  Historia  Augusta  er- 
gangen; mit  einer  Ausnahme  (Vit.  2,  1,  wo  'elius*  überliefert  wird)  ist  an 
Stelle  des  Aelius  getreten  Helius,  wie  auch  in  anderen  Namen,  Helius  Cordus 
and  HdiuB  Maoras,  doch  wohl  unter  don  Sinfiub  der  Griechen  and  iufi;^ 
der  Terleehrten  Ideotifiaierang  Ton  Aelius  mit  dem  auch  in  Rom  unter  den 
FVeigelasBenen  gebräudilidien  Kamen  Helius  (I  p.  337,  C  n.  503).  Das  Gognomen 
DiadumeniaauB  dee  CHsar  Opellius,  den  Dio  und  Herodian  riditig  benennen, 
haben  sogar  sämtliche  lateinische  Schriftsteller  in  Diadumenus  abgeändert 
fll  433,  0  n.  70);  die  kürzere  Form  war  ihnfn  atich  in  diesem  Fall  von  Frpi- 
irelassenen  gelaufig  (H  p.  9).  Zuweilen  nahmen  auch  die  Griechen  andere 
Namen  zur  Bezeichnung  eines  Kaisers  als  die  Lateiner.  Der  Kaiser  M.  Clodius 
Pupienus  Haximus  hieüs  bei  jenen  der  Efine  wegen  Hanmoe  und  imA  so 
meist  auf  ihren  Mflmten  und  bei  Herodian,  Dexippos,  Zoeimoo,  Zonaras  genannt; 
die  rSmischen  dagegen  beromigen  das  andere  C(^omen  Pupienus  (oder  -nius), 
selten  verbinden  sie  es  mit  Haximus,  und  Aurelius  Victor,  Eutrop,  die  Kaiser- 
epitome und  andere  kennen  nur  einen  Kaiser  Clodius  Pupienus.  Als  daher 
CRjiitoIinus  die  griechische  t,n>*'rli«'fernng  in  Herodian  mit  der  roniisolipn  zu- 
Hammenarheitete,  hat  er  Maximos  und  Pupienus  als  verschiedene  Kaiser  be- 


*)  S.  hierüber  des  Berichtentattera  'Geschieht!.  Litter.  d.  röm.  Kaiflerzeit'  n  S.  287  ff. 


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H.  Peter:  Proeopognphia  Imperii  Roidmü 


trachtet  und  ist  erst  oehr  spit  so.  der  Einflidit  gelangt,  dafo  sie  eins  seien 
(I  p.  418,  C  n.  939).  Sodann  gab  die  Ulnflge  OkicUieit  des  Namens  von 
yater  tind  Sohn  Anlab  aur  Venrediaelang;  bei  dem  Sohn  des  eben  ervriUinten 
L.  Adins,  dem  Mitregenten  des  Marie  Aurel,  half  man  sich,  indem  man  das 
Cognomen  Verus  bevorzugte  und  es  entweder  allein  oder  mit  dem  Vornamen 
Lucius  brauchte  (den  letzteren  aber  auch  allein);  gleichwohl  verursacht  die 
Unt^  rsclieidung  Schwlklilingen  viel  FCopfeerhrechen  (I  p.  f ,  C  n.  504). 
AudicräcüU  hui  mau  Vater  uud  Hohn  mit  dem  gleichen  Namen  iälschlich  ver- 
schen. Der  Sohn  des  ersten  Barbaren  auf  dem  römischen  Kaiserthron,  des 
0.  Inline  Veras,  hiefe  nach  den  Inschriften,  Mttnsen  nnd  einem  ägyptischen 
P^yms  nidit  If aximinus,  wie  der  Vator,  sondern  Maximns,  bei  den  lateinischen 
Sdaifksteliem  aber,  soweit  sie  ihn  ftborhanpt  benennen,  ebenso,  nnd  dieser 
Irrtum  zieht  sich  durch  die  gesamte  Biographie  des  Capitolinns  hindorch. 
Wenn  dergleichen  aber  bei  den  Trägem  de»  Purpurs  vorkommen  konnte,  so 
liegt  es  auf  der  Hand,  wie  sorgloe  man  bei  den  Namen  der  Unterthanon  zu 
verfahren  pflegte. 

Sobald  gar  ein  Name  aus  dem  Kreis  dur  üblichen  heraustrat,  bekümmerten 
n<di  die  Sehriftsteller  wenig  um  die  genaue  Form  nnd  schrieben  ihn  naeh 
dem  Gehör  oder  einer  flQchtigen  Lesung  der  Vorlage.  Das  Gognomen  limesi- 
oder  Tinusiilieus  des  Terdienstrollen  pritorisehen  Ptifekten  nnd  Sehwi^er- 
Täters  des  dritten  Gordianus  C.  Furius  Sabinius  Aqnila  hat  Capitolinus  r.u 
M isitheus  verstümmelt,  Zoaimos  zu  Timesikles,  Zonaras  zu  Timesddes  (IX  100  £, 
n  40.'))    Noch  willkflrlicher  ist  mit  den  orientalischen  Namen  nmgespningen 

worden. 

\  ifi  Verderbnis  haben  unstreitig  die  Abschreiber  ven?chuldet.  Das  cili- 
cische  Volk  der  Cietae  ist  im  Mediceus  des  Tacitus  wirklich  au  einer  Stelle 
(ann.  VI  41)  so  aberliefert  nnd  nnr  an  der  anderen  (XH  56)  rteht  in  ihm 
iilschUch  das  in  den  Text  aufgenommene  Clitae  (I  p.  127,  n.  831);  ebenso 
wenig  ist  der  Lagerpi^ekt  Mennins  (anstatt  ITEnnins)  ann.  I  38  auf  Redmnng 
des  Geachichtachreibers  zu  setzen  (II  p.  35,  E  n.  45),  der  pratorische  El)iin 
tianus  (statt  Aebutianus)  oder  der  Konsul  Aemilius  lunctus  (statt  Iimcus)  auf 
die  des  Verfassers  der  Vita  des  Comnmdus  (6,  12;  s.  I  p.  11,  n.  80,  Borghesi 
Oeuvr.  X  p.  6i>,  Vit.  4,  11,  s  I  p.  2b,  n.  234);  in  diesen  i^^en  ist  die  hand- 
schriftliche Lesart  überhaupt  ktin  römischer  Name. 

Im  allgemeinen  hängt  natürlich  die  Frage,  ob  die  Fehler  dem  Autor  oder 
seinen  Absdbreibem  miznschieben  sind,  von  dem  Grade  der  Sotgfiilt  des  ersteren 
ab  nnd  anch  von  der  Beschaffenheit  seiner  Übwliefarung.  Unsere  Phisopo- 
graphie  bietet  uns  für  dieses  Urteil  sichers  Anhaltspunkte.  ZnTerlassigkeit 
können  die  beiden  Aristokraten  Tacitos  und  Dio  in  Anspruch  nehmen,  in> 
i^leiehen  der  Antiquar  Sueton,  wenn  auch  nicht  unbedingte;  sie  schwindet,  je 
mehr  sich  der  Historiker  dnreh  die  Rhetorik  gefangen  nehmen  läfst.  Herodian 
und  die  rhetorischen  unter  den  Scriptores  historiae  Augiistae,  Capituiinus  in 
seiner  späteren  Periode,  Trebellius  Pollio  und  Vopiscus,  verdienen  sogar  in 
allem  Thatsachlichen  nnr  geringen  Glauben.   Auch  an  dem  Ruf  *alter,  echter 


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H.  P«ter:  PrOBOpographift  Imperii  Bomam. 


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Gelehnamkeit',  dessen  sich  bisher  Scholien  zu  JoTenal  im  Pithoeuuis  und 
San^enna  erfreol  haben»  tat  von  Kleba  nnd  Deaaan  atark  gerttttelt  worden; 
nidit  einmal  der  yorwuif  der  Erfindung  wird  ihnen  kfinftig  erapart  bleiben 
kennen;  ihre  Angaben  Aber  Acilius  Ölabrio  (n.  53, 1  p.  7),  über  Domitius  (n.  101, 
n  p.  16),  über  Cn.  Domitius  Corbiüo  (n.  123,  II  p.  Aber  den  Mimen 
Latitms  (ii.  S3,  II  p.  267)  pind  irrtilralich  oder  falsch. 

Dariius  ersieht  sieb  die  äulsorste  Vorsicht  für  die  T«»xtesg<'staltiin|f. 
Macrobius  erzählt  z.  B.  in  den  Siiturualieu  (VII  3,  lf)i  von  tiiRin  rfltiiischiMi 
Beamten  'Lucius  Quintus'  eine  Anekdote^  die  au»  l'luturchü  Tiuchgutiprüchea 
(II  1,  ö)  entlehnt  iat,  in  denen  er  aber  Krhixog^  d.  h.  Quietus,  heilai  Trota- 
deu  darf  man  dieeen  Namen  nicht  in  den  Text  dea  Maerobiua  einaefaten. 
Ratarch  erwihnt  ihn  namlidi  noch  aweimal  (de  aera  num.  vind.  c.  1  und  de 
firai.  am.  c.  1),  aber  das  eine  Mal  hat  die  Überlieferung  ihn  in  Kvviog^  das 
andere  Mal  in  Kvtvxog  entstellt;  darüber  ist  aUo  kein  Zweifel,  dafs  in  des 
Mucrohins  Ilüiids^clirift  der  Tischjjespniehe  KvitTog  ^stfindfii  hat.  imr  darnher, 
ob  'Lucius'  von  Abschreibern  interpoliert  ist  oder  ob  Macrobius  Kvimiog  ge- 
le«on  uiul  ilann  einen  beliehigen  Vornamen  hinzugefügt  hat;  denn  jener  hoch- 
angesehene  Freund  det>  Plutarch  hiei's  Titut»  Avidius  Quietus  (n.  1172,  1  p.  189 
nach  Pdnigs  Quaeai  Pluk  p.  48). 

Die  Steine  nnd  Mttnsen  aind  also  fttr  una  tou  aufaerordentliehem 
Werte  fflr  die  VerToUat&ndignng  der  Namen  nnd  die  Featstellung 
ihrer  Träger  aowie  snr  Beurteilung  der  Glaubwürditrkeit  der  Schriftateller; 
•ie  ermöglichen  uns  femer  viele  streitige  Punkte  in  der  Chronologie  zu  er- 
ledigen, welche  durch  die  Rhetorik  stark  verwirrt  worden  ist;  sie  ergiinzen  die 
Btadtgeschichte,  über  deren  Grenzen  die  Grefsehichtschreibung  nur  in  der  Kriegs- 
fuhrung  hinausreicht,  und  führen  uns  in  daä  Lel>en  der  Provinzen  ein;  einen 
tiefereu  Eiublick  in  die  Kulhir,  in  die  verschiedenen  Qebiete  der  Keichs-  und 
StnatarerfMBung  und  in  die  einsdnen  Perioden  ihrer  £ntwi<^ung,  in  daa  Heei^ 
nnd  Bel^onaweaen  erhalten  wir  feat  nur  dnrdi  sie.  So  epochemachende 
Werke  wie  Friedlanders  Darstellungen  aus  der  Sittengeschichte  Roms  und 
Mommsens  fünfter  Band  haben  ihren  Stoff  zu  einem  grofsen  Teil  vnn  ihnen 
abgelesen,  ttnd  ihre  Besonderheit  beruht  recht  eigentlich  auf  ihnen.  yVlso  ich 
bin  voll  durchdrungen  vnn  der  Uberzengnng  ihre?  hohen  Wertes  und  erkejine 
uneini^eschränkt  an,  dals  mit  ihrer  Ausnutzung  eine  neue  Periode  in  der  Er- 
kenntnis des  Lebens  der  alten  Völker  anhebt. 

Doeh  aber  redet  ans  dieaan  Monumenten  nur  adtan  dm  0eirt  der  auf 
ihnen  genannten  Manner  und  Frauen,  und  gerade  der  der  hochgestellten  am 
wenigsten;  kleine  und  dunkle,  oft  nidht  einmal  namhaft  gemadite  Exiatenien 
lernen  wir  weit  gründlicher  kennen;  die  Bnechelersche  Anthologie  entrollt  una 
von  solchen  ein  überaus  reichea  und  mannigfaltiges  Bild  und  halt  das  Interesse 
in  »teter  Spannimg.  Von  jenen  sehen  wir  nnr  starre,  steinerne  Gestalten  vor 
uns,  kein  Leihen,  Werden  nml  Vcrgehn;  wir  erfahren,  weiche  Amter  tind  Aus- 
zeichnungen sie  erreicht,  aber  nicht,  was  »ie  erwtreht  und  verfehlt  haben. 
Gewii's  sind  die  Charakterzeichnungen  der  Historiker  infolge  parteilicher  Be- 


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ichräuktheit  oft  einseitig  und  gefSrbt,  infolge  der  Rhetorik  obertiächlich  und 
sehabloiiflnliift)  aber  womi  wir  ihr  HaSk*  kennfln  und  duiadi  abnehen,  bleibt 
uns  ftr  die  ErlcemitiuB  der  huidehid«i  Perf<men  immor  nodi  mehr  flbng,  ak 
niu  die  Monumente  geiriIhreB  kSnnen. 

Es  kommt  hinzu,  (lafs  abgesehen  von  der  unvermeidlichen  Nennung  in 
den  Fasten  und  bei  Jahresbezeichnungen  die  aus  dem  Reich  des  Geistee  be» 
kannten  Männer,  selbst  solche,  die  im  Staate  eine  hohe  Stellung  eingenommen 
haben,  auf  den  Monimienten  uns  seiton  begegnen.  Mäcenas  erscheint  mir  auf 
Inschriften  seiner  Freigelassenen  (n.  30,  II  p.  815),  Asinius  Pollio  uuiser  auf 
den  Triumphalakten  nur  in  einem  SenatsbeschluTs  als  bei  der  Abfassung  des 
IVotokoUs  beteiligt  (n.  1025,  I  p.  163),  der  Fhiloeoph  Seneea  (n.  45S,  I  p.  59), 
GIuTiuB  BufuB  (n.  958,  I  p.  426),  der  Jurist  Domitius  Ulpianus  (n.  146, 
II  p.  S4),  Gasrine  Dio  (n.  419, 1  p.  313)  nirgends;  die  StoilEer  Bdieineii  nch 
überhaupt  vornehm  zurückgehalten  zu  haben;  es  schweigen  die  Steine  von  P. 
Clodius  Thrasea  Paetus  (n.  938,  I  p.  423)  und  den  beiden  Helvidius  Priacus 
(n.  37  f  II  p.  120  f).  Ferner  fehlen  auf  ihnen  sonst  viel  gerühmte  Feldherm, 
Antonius  Felix  (n.  G59,  I  p.  95,  wenn  überhaupt,  dann  nur  genannt  als  Ahne 
eines  Urenkels),  Flavius  Sabinus,  der  ältere  Brtider  des  Vespasian  (n.  231, 
II  p.  73,  nur  vermutungsweise  wird  eine  Terstümmelte  Inschrift  auf  ihn  be- 
zogen), Hotdeonine  Flaoeua  (n.  146,  n  p.  147),  IuHub  Agrieola  (n.  84,  II  p.  161), 
LueiuB  QuietaB  (n.  325,  II  p.  306)  u.  A.,  alhnachtige  Freigetasiene,  Edeetna 
(n.  7),  Spaphroditna  (n.  61),  Lieinns  (n.  193),  Nammii  (a.  18,  nur  auf  swei 
Bleiröhren).  Dagegen  treten  wieder  auf  zahlreichen  Steinoi  Namen  auf,  welche 
TOn  den  Schriftsteilem  entweder  gar  nicht  oder  nur  gelegentlich  erwähnt 
werden;  selbst  in  den  kaiserlichen  Familien  steht  die  Nennung  auf  Inschriften 
oft  aufser  Verhältnis  zu  der  Bedeutung  und  Dauer  der  Regierung.  Oft  hat 
natürlich  der  Zufall  sein  Spiel  getrieben;  der  eitle  C.  Cornelius  Gallus  er- 
richtete eich  in  ganz  Ägypten  Statuen  und  grub  seine  Thaten  in  die  Pyramiden 
ein,  und  roa  dieser  gesemten  Betriebsamkeit  nnd  nur  swd  oder  gar  nur  «ne 
8^ur  fltnrig  geblieben  (n.  1111,  I  p.  448).  Sonst  aber  ist  hierbei  dem  Streben, 
sidi  auf  diese  Weise  uaslirblieh  m  maehep,  dne  entscheideiide  BoUe  ng^ülen. 
Es  wurde  schon  im  Altertum  bespöttelt;  IVi^jaa  hiefs  deshalb  der  Mauer- 
pfeffer und  wurde  noch  von  Constantin  so  genannt  (Ammian.  27,  3,  8,  Epit. 
41,  13\  Indes  einen  gewissen  Erfolg  hat  es  sichtlich  erzielt,  und  es  stimmt 
sehr  gut  zu  dem  Charakter  des  Cn.  Domitius  Corbulo,  dessen  Neigung,  sich  in 
das  gebührende  Licht  zu  setzen,  Tacitus  bei  aller  Anerkennung  wiederholt 
scharf  hervorhebt,  dafs  von  ihm  noch  mehrere  Inschriften  zeugen  (n.  123, 
n  p.  20  ty).  Er  hat  dies  Gebsren  mit  dem  Tode  gebfifet;  andere  treibende 
Blemente  haben  sidi  Toniehtiger  mrllekgehalten  und  sind  —  mit  Ausnahme 
der  Freigelassenen  am  Hirfb  —  eist  durch  die  Litleratur  n  üanm  Bedile  ge- 
bracht worden.  Die  Schriftsteller  selbst  haben  fast  durchgangig  auf  die  Dauer 
der  Werke  ihree  Geistee  grölseree  Vertranoi  geeetaL  Feder  und  Meüsel  föhren 


*)  Auch  eine  BOst«  von  ihm  itt  auf  uns  gekommen;  Beraonilli  ROm.  Draoogr.  I  S.  S71  iL 


H.  P«tor:  FM>Miiogra|ilii»  luparii  BamBiü. 


45 


also  nur  selten  sich  berüiutnUe  Kreise  von  Hür8<iiilichkeiten  vor  die  Augen^ 
und  die  Überlioferung  durch  Steine  weist  weit  klaffende  Lücken  auf. 

Wir  dflrfen  ferner  nicht  vergessen,  dab  ivar  im  ganaen  die  letatere  uns 
die  Namen  EaTer]äeB%er  und  nammtlich  Tollwifindigcr  nennt,  aber  doch  FUbler 
auch  in  ihr  sieh  finden,  die  nicht  immer  von  den  Steinmetzen  henrfihreo.  Der 
Sohn  des  Maximiuus  Thrüx  IieiTst  auch  auf  einer  hessischen  Inschrift  (Henzen 
r>526)  wie  der  Vater  (s.  oben  S.  41),  L.  Aclius  auf  einer  mauretanischen  Im- 
perator, was  er  niclit  war  (C  503,  I  p.  V>2i')),  ebenso  falschlich  auf  einer 
Metzer  sowie  auf  euier  alexandrinischen  Münze  der  Sohn  des  Kai^ort»  JVrtinax 
(U  50,  II  p.  133);  Druaus  Julius  Cäsar,  der  Sohn  des  Tiberius,  fuhrt  auf  einem 
SMn  von  Lehodea  mit  dem  Vater  das  Cognomen  Oennanieiu,  das  me  nicht 
beeeaeen  haben  (I  n.  144,  II  p.  176  £)  n.  s.  Es  miüs  binaichilich  der 
Olaubwfijdigkeit  anch  bei  den  Inschriften  geschieden  werdm;  die  oifKsiftllen 
▼erdienen  gröfsere  als  die  priraten;  unter  jenen  wieder  nimmt  sie  ab,  je 
weiter  mck  der  HerateUnngsort  von  Rom  entfernt  Mflnien  wurden  in  den 
Provinzen  j*eschlapf»n ,  ehe  noch  die  Namen  der  Kaiser  j^nati  beküTinl  waren 
(s.  des  Berichterstatters  Biuh  'Die  Script,  hint.  Aug.'  8.  150  f.).  In  späterer 
Zeit  richtete  namentlich  die  Sitte,  fie  nur  mit  einem  Namen  zu  bezeichnen, 
Verwitiuug  au^  die  Gleichgültigkeit  gegen  die  übrigen  liefs  diese  überhaupt 
vergessen  ;  dem  Kaiser  Marens  INocletianns  wird  «nf  InNlinlle&  nad  Mlbuwii 
oft  der  Vorname  Gains  gegeben  (s.  a.  0.).  Kur  so  war  es  mUgltcb,  den 
Kaiser  Flavins  Constantins  in  die  Familie  des  berühmten  Gotenhesiegers 
H.  Aurelius  dandiOB  andl  auf  Inschriften  hineinzu^cb würzen  (s.  a.  0.  S.  10  ff.). 

Ztt  einem  so  vorzfiglichen  und  unentbehrlichen  Hilfsmittel  ist  daher  unser 
ünternebmen  erst  dadurch  geworden,  dafs  auf  die  Sammlung  der  Namen 
bei  ISchriftsteilorn  und  ihre  kritische  FeftstcUun^  nicht  weniger  KleÜH  und 
Scharfsinn  verwandt  worden  iät  wie  auf  die  Inuchrifteu  und  Münzen.  Die 
Arbeit,  die  es  gekostet  iiat,  Widersprüche  zu  erklären  und  auszugleichen, 
fthlende  Glieder  in  dw  Kette  der  Überlieferaag  an  erginaen,  tritt  selten  an 
Tsg^;  hin  nnd  wiednr  hat  Klebe  in  Anmerkoiq^  hurse  Begrflndnngen  ein- 
geschaltet, für  gew^nolidk  sind  die  Ergebnisse  der  Studien  in  wenig  Worte 
ansammengedrangt.  Dieselben  besieheD  sich  natürlich  zunächst  auf  die  Zu- 
weisung der  einzelnen  Nachrichten  an  bestimmte  Persönlichkeit^^ii,  ihre  zu- 
verlässige Benennung  und  die  saubere  Klarlegnng  der  Verwandtschaftsverhält- 
nisse. So  wird  namentlich  in  die  dos  Kaisers  Valerian  Ordnung  gebracht.  Er 
selbst  hiefe  P.  Liuinius  Valerianus  (n.  178,  II  p.  266),  sein  einer  Sohn  (Lic.) 
Valerianos,  der  andere,  der  spätere  Kaiser,  P.  Lic  Egnaiius  Gallienus;  wenig- 
stens wollte  er  sidi  so  genannt  wtssm,  wShrend  anf  den  meisten  Inschriften 
und  Mtlnsen  Egnatius  fehll^  anf  einem  Sgyptisehen  Papyrus  des  Jahres  265  nnd 
anf  alexandrinischen  Hfinsen  daftlr  Valcrianus  steht  (n.  135,  II  p.  278);  die 
beiden  Söhne  von  diesem  führten  die  Namen  P.  Lic.  Cornelius  Valerianua 
(n.  124,  p.  273  ff.)  und  P.  Lic.  Corn.  Saloninus  (n.  123,  p.  272  f.);  u)<h<^  wurde 
auch  dem  ersteren  das  Oij^omen  Saloninus  beigelegt,  auf  das  er  als  Sohn 
seiner  Mutter  Cornelia  Öaioniua  Anapruch  hatte,  und  dem  jüngeren  wieder 


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H.  Pvter:  FNMipo|i[;nip1d*  ]bnperü  Bamud. 


dieses  nicht  immor  und  dafiir  Yalerianus.  Durch  di«'s  LHl)vrinth  hat  nn» 
Dessau  den  Weg  gezeigt,  obwohl  auch  er  sich  nicht  über  aiie  insthrifteu  und 
Münzen  sicher  fühlt  j  die  Schriftsteller  reden  hin  und  her  und  wissen  sich 
kdnen  Rat  Oder  um  in  eine  lichtere  Zeit  den  Blick  za  wenden,  so  luben 
wir  mm  des  gesamte  Material  Uber  die  beiden  Octaviae  übenidiUich  vor  nne. 
Borgheu  (OeavT.  V  p.  139  f.)  gebührt  das  Verdiene^  die  Beuehnngen  der  Atta 
maior,  der  Tochter  der  Schwester  des  Diktators  Casar  geordnet  zu  hahen; 
darauf  wird  nun  weiter  «(«  liiuit,  und  so  wissen  wir  mit  ziemlicher  Sicherheit 
(0  n.  44  und  45,  II  p.  42«  ff.,  s.  auch  II  S.  33S  und  Klebs  hei  PanlT-Wissowa 
II  S.  2257  f),  dafs  ihr  erster  Gemalil  C.  Octavius  zuerst  verheiratet  war  mit 
Aneharia,  die  ihm  die  ältere  Octavia  (maior)  gebar,  die  Mutter  eines  Sex. 
Appuleius,  Eons,  im  Jahie  S9  t.  Chr.  (A  777,  I  p.  118);  dann  also  nahm  er 
diese  Atia  aar  Frau  und  wnrde  durch  sie  Vater  einer  aweiten  Oetavia  (minor) 
nnd  danach  des  Kaisers  AngDStus;  diese  aweite  OctaTia,  eine  hochhenige  und 
feingebildetc  Frau,  ist  es,  die  ihrem  ersten  Gemahl  C.  Marcellus  (Eons,  im 
Jahre  54  t.  Chr.)  zwei  Töchter  und  einen  Sohn,  den  von  den  Dichtern  so  ge- 
feierten und  früh  gesitorbenen  Claudius  Marcellus,  den  Soliwiegt^rsohn  des 
Kaisers,  schenkte,  dem  zweiten,  doni  Triumvim  M.  Antonius,  wiodpr  zwei 
Töchter,  die  Antonia  maior,  die  (Jrofsmutter  des  Kaist'rs  Nero  (  A  7<K>,  I  p.  KK», 
dies  war  nicht  die  jüngere  Schwester,  wie  Tacitus  ann.  IV  44  und  Xil  l>4  irr- 
tOmlich  annimmt),  und  die  Antonia  minor,  die  Gttuahlin  des  älteren  Drosus, 
des  Bmdera  des  TiberinSy  die  Muttor  des  Qexmanieas  und  Clandius  und  Orob- 
mutter  des  Galigola  (A  n.  707,  I  p.  106  f.).  Aus  der  sweiten  Ehe  der  Atia 
mit  L.  Marcius  Philippus,  Eons,  im  J.  56  t.  Chr.,  kennen  wir  keine  Kinder; 
die  uns  aus  Orid  bekannte  Marcia  (s.  Anhang  zu  meiner  Ausg.  v.  Ovids  Fasten 
S.  105  f.)  war  die  Tochter  des  rflpichnamit^en  Sohnes  dieses  Philippus,  des 
K(»ns.  im  .1.  ?>x  v.  Chr.,  der  mit  einer  jüngeren  Schwester  dieser  Atia,  der 
Atia  minor,  verheirat+^'t  war  iM  n.  17.3,  II  p.  338). 

Reicher  Ertrag  ist  femer  für  die  Chronologie  erwachsen.  Man  möchte  an- 
nehmen, dals  wenigstens  die  Hanptdaten  ans  dem  lieben  der  Eaiser  mit  voller 
Sicherheit  flberlieüni  waren;  indes  auch  sie  schwanken,  und  selbst  der  fln&ige 
und  umsichtige  Clinton  hat  sich  in  dem  Wirrwarr,  das  teils  die  allgemeine 
Sorglosigkeit  teils  das  rhetorische  Vermeiden  genauer  Angaben,  teils  bewuiste 
Fiilsi  bung  Terschuidet  haben,  nicht  überall  zurechtgefunden.  Nach  Vollendung 
der  Hrosopo^rmphie  wird  fiir  die  meisten  ein  c^enancs  VerTieiclmis  der  l{e[rierun{rs- 
zeiten  gegeben  und  für  die  übrige  Geschichte  ein  zuverlässiges  Gerüst  auf- 
gestellt werden  können.  Ich  begnüpfo  mich  jetzt  mit  eini<jon  Hinweisen.  In 
der  Überlieferung  der  nach  dem  Tode  des  Alexander  Severus  sicli  rasch  ab- 
Idsenden  Eaiser  hatte  schon  Edchel  (Doctr.  num.  VH  293)  aufgeräumt;  indes 
stand  er  nodi  unter  dem  Bann  dw  Daten  in  den  ürkundra  der  Hiatoria 
Augusta.  Nachdem  wir  uns  von  diesen  losgesagt  (8.*Dte  Scr.hist  A.'8.227f.) 
und  in  der  Daiti  rung  der  Constitutiones  des  Codex  Instinianns  zwischen  den 
Angaben  Haloanders  und  denen  der  Handschriflim  zu  unterscheiden  gelernt 
haben  (Eckhel  hatte  sie  Tdllig  aber  Bord  geworfen,  s.  Seeck,  Eh.  M.  XLI 


H.  Pe(«ri  FroaopoigtapliU  Imperii  Bomaiu. 


47 


S.  löl  ff.j,  betrachtet  Kleb«  (I  p.  96  ff.)  folgende  Zeittafel  als  zuverlässig,  die 
za  weit  gehende  Vermutungen  fern  hält: 
SmI  Marz  235  Maximinus  Kaiser. 

238:  im  Febniur  Erhebung  des  Gotdiairaa  1  (H.  Antonius  Gordtanna  als 
PriTKhaftmm,  H.  Ani.  SemproniBniu  Romamis  Afncanna  ab  Kaiser, 
geboren  ca.  159,  einmal  unter  OaracaOa  Konsul,  später  T'rokonaul  in 
Afrika)  und  seines  Sohnes  Gordianiu  II  (mit  denselben  Namen  wie  der 

Vater,  geb.  ca.  102)  auf  den  Tliron  in  Afrikn; 

—  Ende  Fehniar  oder  Anfiiii^  Man  ihre  Niederw<'rfun|f  und  ihr  Tod  nach 

drfiw(k'h*ntlicher  itegierung  flB,  Mar?,  hh  U.  April  Soeck  a.  O.); 

—  Ende  März  (oder  kurz  nachher)  Tod  des  Maiimuius  vt»r  Aquileia  (17.  Juni 

Seeck)  and  Erhebung  des  Hazimns  und  Balbinns  auf  den  Thron,  Er- 
nennimg des  dritten  Gordianns  (Enkel  des  ersten,  Sohn  einer  Tochter, 
geb.  825)  anm  dsar  (beaengt  ist  er  als  CBsar  tBar  den  10.  Hai); 

—  Mitte  Juni  Ermordung  des  Maximus  und  Balbinus  (nach  einer  dreimonat* 

liehen  oder  wenig  längeren  Regierung);  Gordianus  III  alleiniger  Augustna 
(als  solcher  bezeugt  für  den  24.  Juni)        Anfang  des  Jahres  244. 
Die  Chronologie  dt  r  unruhigen  letzten  zehn  Jahre  vor  dem  K<'gierungs- 
antritt  des  Dioeletian  ist  namentlich  durch  das  sechs    bis  sielienmonutlielie 
Interregnum,  welches  Vopiscus  und  die  Epitome  zwischen  Aurelian  und  Tuciluä 
dnsehieben,  gestört  worden.  So  lauge  hat  es  keinesfalls  gedauert  und  die  Zeit 
wird  folgendermafsen  einsateilea  sein: 
Ql.  Ciandins)  Tacitos  (n.  882,  I  p.  401)  regiert  (wahrseheinlich)  seit  S^ 
tember  275  sechs  bis  sieben  Monate,  sein  Halbbruder  (M.  Annius) 
Florianna  (n.  488,  I  p.  64  £)  seit  Frfligahr  276  etwas  mehr  als  awei 
Monate; 

(M.  Aurelius)  Prohua  (n   12««,  I  p.  21  :V)  Kaiser  276  bis  in  den  Herbst  282 

(so  richtig  1  p.  199.  die  Zahl  2S1  auf  S.  214  ist  ein  DruckfeWer)} 
iM.  Aurelius)  Carus  [ii.  1223,  I  p.  1Ü8)  Kainer  Mitte  282—283; 
(M.  Aui«lias)  Oarinus  (n.  1221,  I  p.  198)  Kaiser  Mitte  283  bis  in  den 

Sommer  285  vnd  mit  ihm 
(M.  Anrelias)  Mnmerius  Numeriaams  (n.  1282,  I  p.  211)  bis  in  das  aweite 
Semester  des  Jahres  284;  den  17.  November  284  als  Tag  des  Boginns 
der  fTerrschaft  des  Dioeletian  mit  Seeck  (Untergang  der  ani  Welt  I 
S.  409 )  anzunehmen  ist  Klebs  geneigt. 
Auch  die  üeh«rt87.eit  der  Angehörigen  des  kaiserlichen  Hauses  wird  viel- 
fkh  ri<  htiger  oder  genauer  bestimmt,  z.  B.  die  des  Titus  auf  den  HO.  Dezember 
des  Jahres  .S9  gelegt,  nicht  41,  wie  noch  Schiller,  Kon».  KaisergescL  I  S.  518, 
angiebt  (F  264,  U  p.  79),  die  des  Britanniens  mit  Wahrsdieinliehksit  auf  den 
12^3.  Febroar  des  Jabies  41;  Sneton  (Cland.  27)  widerspricht  sieh  hier,  indem 
er  ihn  *Ticesimo  imperii  die'  des  Claudios  (d.  h.  41)  und  wShrend  seines 
sweiten  Konsulats  (d.  h.  42)  geboren  sein  läTst  (n.  6G0,  1  p.  361). 

Unter  den  Männern  der  Litteratur  ist  vor  allem  T.  Claudius  Atticus 
Herodes  (101/2—177)  auf  Inaohriften  Tcrtreten;  viele  hatte  er  selbst  verfaTst 


48 


H.  Petor:  Fk08opogt»plii«  Impem  BttmanL 


oder  einer  seiner  Familienangehörigen,  andere  waren  dem  eitel  bekannten 
and  auf  Änfteres  becbuiliien  raiehfiii  Gfdmier  tob  Gtmeuideii,  Franndei^  Sehmakii- 
lem  gewidmet  worden;  er  macht  eine  Awanahmi»  Ton  der  ▼omefamefen  Haltung 
da*  flbr^^  imd  kA  unter  ibami       *Mmmf^elBt^.  Nadidem  der  gelehrte 

Epigraphiker  K.  Keil  in  Fauly«  R^alf  ncyklopadie  I*  S.  2096—2104  den  ge- 
samten damals  zu^nglichen  Bestand  von  Inschriften  verwertet  hat,  beschäftigt 
sich  mit  ihm  Klehs  I  p.  3ö3 — 360  fC  055),  indem  er  namentlich  die  atif  den 
gleichnamigeu  Vater  (n.  654),  den  Hedaer  und  die  Söhne  Ti.  Claudius  Atiliiis 
Bradua  Regillus  Att.  (oder  M.  Ätilius  Att.  Br.  Reg.,  n.  G4Ü,  I  p.  348),  den 
Konsul  des  Jahres  185,  und  den  als  Kind  gestorbenen  L.  CL  Vibullius  Reg. 
Herodee  (n.  833,  I  p.  403,  nur  aus  Insehnften  bekannt)  besflglidien  Zeugnisse 
Borgfaltig  eoiheidet  und  die  Aleia,  die  Keil  zur  wsten  Qemahlin  des  Redners 
(vor  Annia  Regilla)  gemacht  hatte  (a.  0.  S.  2102),  als  die  frfih  Terstorbene 
Tochter  (Marcia  Claudia  Akia  Athenais  Gavidia  Latiaria)  erweist  (mit  Th.  Hejee 
und  Dittenberger,  M  191,  11  p.  341);  Beachtung  verdient  auch  der  Y(^rsuch^ 
den  Streit  dos  Merodes  mit  den  beiden  Quintiliern,  dem  Legaten  von  Achaia 
und  dem  Pr<  k  iisul,  über  den  Philostratos  berichtetj  mit  dem  in  dem  Brief- 
wechsel des  Fruntu  und  Mark  Aurel  berührten  in  Verbindung  zu  bringen  (p.  357  f.). 
Von  anderen  Litteraten  bat  namentlich  der  Arzt  Oalenos  eine  eingehende  Be- 
handlung er&hren  (C  701,  I  p.  374 — 380),  eine  Ergänzung  der  AufUttBe  too 
J.  Ubeig  aber  aeme  Schriftetelleffei  (Rh.  M.  44  S.  207  ff,  47  S.  489  ff,  51  8. 16&  ff 
und  53  S.  1  ff).  Inschriften  zeugen  nidit  von  ihm,  auch  von  den  Lateinern  er- 
wähnen ihn  nur  zwei  spate  (Hnfimis  und  Isidorus),  desto  häufiger  die  Qriechen, 
aus  denen  Klobs,  der  Oberliaupt  i* n  Sc^hriftstollern  frröfscres  Interesse  zugewandt 
hat  als  sein  Mitart)eiter^  etwa  200  Stellen  zusamm^'n getragen  liat,  inn  durch  sie 
und  die  An^ben  des  GalenoH  selbst  die  Hauptdaten  aus  seinem  Leben  zu 
ermitteln;  die  biäher  geltenden  stammten  alle  aus  einer  Abhandlung  von  LabbeuH 
^  Jahre  1660),  die  nach  doa  ürteil  Ton  Etebs  auch  Clinton  wiederholt  hat 
Über  8Mn  Geburtsjahr  (128/9)  und  seinen  iweiten  Aufenthalt  in  Rom,  den 
eine  Berufung  der  beiden  Kaiser  Mark  Aurel  und  Ywus  nach  Aquileia  ver- 
anlafst  hatte,  um  der  Pestgefahr  zu  begegnen,  nach  dem  Tode  des  YeniS 
(Jan.  1G9)  bis  zu  seinem  eigenen  im  Jahre  198  oder  199  war  man  im  ganzen 
einig;  den  ersten  Aufenthalt  aber  hatte  Labbeus  auf  die  Jahre  164 — 168 
verlegt,  während  jetzt  Klebs  (p.  377 1  ihn  im  Jahre  162  nach  Rom  kommen, 
dort  163 — 165  bleiben  und  zu  Ende  des  letzten  Jahres  oder  Anfang  des 
folgenden  in  seine  Heimat  Pergamnm  zurückkehren  Hilst.  An  anderen  Stellen 
hat  eine  yosurteibfreie  Übenidit  fiber  die  alten  Zeugnisse  mr  Ablehnung 
neuerer  Vennutungen  gefthrt,  s.  B.  bei  dem  Bhetor  P.  Aelins  Aiietidea  Theo- 
dorus  (n.  859,  1  pu  131);  der  Vemnch  Waddingtons,  Uber  sein  Leben  Genaueres 
SU  bestimmen,  sdieint  Klebs  mit  Recht  ebenso  unsicher  wie  der  von  Schmid 
gewaltsam  zu  sein;  auch  bei  Apollonius  von  Tjana,  dem  Helden  des  'Romans' 
des  Philostratos,  werden  die  Grenaen  unseres  Wissens  enger  gezogen  (n.  7ö0, 
I  p.  112  ff.). 

Fragen  wir  endlich,  in  welchem  Abschnitt  der  römischen  Kaisergeschichte 


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H.  Peter:  PWMOpogittplÜA  Tmperii  ftomsm. 


49 


tlio  Stf'ine  und  Mfinzfii  <\io  wertvollste  Ausbexit««  fHi*  dir-  F('st.«tellunff  dr»r  i»e- 
schichtlichen  Thatsiirlx-n  liefern,  so  niöchtt»  ich  von  den  drei  JuhrbunderUn,  dir 
unser  Werk  unifulst,  die  zweite  Hiilft^^  des  letzten  an  »•ri^t«T  Stelle  nennen. 
Nicht  alB  ob  sie  an  sieh  die  reichste  wäre;  sie  ist  viehnelir  im  V'erhültuls  zu 
den  abrigen  Abschnitten  dfirftig;  in  jener  Periode  des  Niedergangs  dee  Reiches 
nnter  GallieniiSf  in  der  es  an  eiiMin  einheitliehen  festen  Willen  fehlte  und  nur 
die  ihren  eigenoi  Weg  einicUi^nde  Energie  einaelner  Feldherm  die  Grenien 
gegen  da^^  michiigo  Andiingen  der  Germanen  und  Perser  behauptete,  lag  das 
gesamte  Leben  so  darnieder,  dafs  selbst  die  kunstlosen  Aufserungen  auf  dem 
Stein  zurückgehen.  Noch  scliworer  wiirde  naturgemiifs  die  schriffstfllerische 
Thatigkeit  getroflfen,  und  iiU  Dioclt  tiiin  und  Constantin  nuch  auf  dicscuj  Gebiet 
Mne  neue  Zeit  herauftiuführen  «ich  bemühten,  war  die  Verbindung  mit  den 
guten  Traditionen  abgerissen;  die  unter  dem  Deckimintel  der  Rhetorik  groß- 
gezogene Hibachtung  der  Wahrheit  vergiftete  die  gesefaiditliehen  An&eich- 
nnngen,  nnd  so  flielÜ  ihre  Quelle  für  das  Toransg^ngene  halbe  Jshrhundert 
ganz  besonders  dOnn  und  trOb,  sogar  tOr  die  eine  Zeit  kng  im  gesamten 
Reich  anerkannten  Kaiser.  Mit  der  vorsicliti^rj^tcn  Skepsis  niilss<n  wir  die 
Geschichte  derjenigen  Feldherm  verfolgen,  die  in  den  Orensdändern  aus  ver 
schiedenen  Orflnden  sich  selbständig  ma<]!f»ii  und  teils  von  GaLHenup  seihst, 
teil»  Claudius   und  Aurelianna  niedergeworfen  wurden.    Die  I"hfilieferuiitr 

unglücklicher  Empörer  ist  an  und  für  sich  aiu  uieiHten  der  Verdunkelung  aus- 
gesetzt^ in  diesem  Falle  aber  fafste  eiu  jedes  Wahrheitsstimes  barer  Schmeichler, 
Trebdlins  PoUio,  den  Pkn,  zu  Ehren  des  Clandins,  eines  angebliehen  Yoifiihren 
des  gefeierten  Coostantins,  seinen  Vor^nger  Gatlienns  mit  allen  m^^Iichen 
Vorwürfen  zu  brandmarken  und  durch  Biograi^en  von  *Dreiftig  Tyrannen', 
d.  h.  nach  dem  damaligen  Sprachgebrauch  Thronpratendenten,  Usnipatoren^  zu 
zeigen,  wie  die  besten  Männer  im  Reich  sich  gegen  einen  solchen  Kaiser 
PHiporen  mul'.sten,  und  dadurch  die  Thronerhebun^  des  Claudius  xn  recht 
IVrtiijen.  Da«  Werk  war  zunächst  nur  auf  20  Tyrannen  berechnet  und  ist  erst, 
später  den  30  athenischen  Tyrannen  zu  Gefallen  auf  diese  Zahl  erweitt'rt 
worden  (*Die  Script,  bist  Aug/  S.  37):  ein  solches  Kunststück  war  aber  nur 
möglich  bei  der  wilUcfirliehsten  Verdrehung  der  Überliefenmg  und  bei  eigener  £r^ 
findnng  sowie  bei  der  rhetcnrisehen  Ffobung^  mit  der  das  Ganse  ttbenogen  wurde. 
Nachdem  nämlieli  Ms  in  die  letzten  zwei  Jahrzehnte  hinein  TrebeUitlS  als  die 
Grundlage  für  die  Darstellung  der  Geschichte  der  Dreifsig  angesehen  worden 
ist,  steht  es  jetzt  fest,  dnfs  \mf*  ein  Trnrfbild  ffetriusclit  hat.  Alle  Thatsachen, 
die  in  auffallender  Weise  den  Gallienus  niederdrücken  und  den  Claudius  ver- 
herrlichen, dürfen  wir  von  vornherein  als  verdäehti<;  ansehen  und  sind  au«  h 
bei  den  übrigen  zu  um  so  gröfserem  Mifstrauen  beriHihtigt,  je  rhetorischer  sie 
eingeUeidet  sind.  Die  Oriechen  und  die  lateinischen  Epitomae  bieten  uns  nur 
Tereinadte  Nadirichten  and  nennen  nur  wenig  Empftrer;  zudem  sind  jene 
dun^  die  grShsten  Fdiler  und  Miftverslitidnisse  entstellt  und  verdienen  an 
»ich  nur  ftlr  die  Ereignisse  im  Orient  eine  gewisse  Glaubwürdigkeit.  Der 
Boden  der  sehriftstcllerisehen  Überlieferung  ist  also  hier  ein  ganz  besonders 

Mm*  J«lirl>acb«r.   ISUS.  I.  4 


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60 


H.  Peter:  FroMpographi»  Imperii  Romani. 


scUtlpfrigery  um  so  Mher  mfissen  wir  die  fiwien  Pniüdie  tdaSItgiBa,  die  una 
Steine  und  Münzen  gemliuren  und  Kleba  und  Deaeau  uns  gezeigt  haben. 

Manche  ^Tyrannen'  verdanken  überhaupt  dem  Streben  des  Trebellius,  ihre 
Zahl  möglichst  zu  vergrSfsern,  das  Dasein,  so  der  jüngere  Postumus  (Treb.  c.  3; 
s.  Pros.  I  p.  ii\0')  xmd  Victorinuf  (c.  7,  (iic  ;inf  ihn  hpzngfnon  echtrn  Münzen 
geboren  dem  ViitLi  ),  'V-nsorinus  (e.  3a,  s.  1  j»  '.VM\  f.  i,  wiihrscliciiilich  die  beiden 
Söhne  dt^a  Odaenathos  Herennianus  und  Tiiu<»lau8,  in  deren  Nuuien  ihre  Mutter 
Zenobia  regiert  liaben  soll  (c.  27.  28,  s.  II  p.  135  und  Monunsen,  Köm.  Gesch. 
V  S.  436  Anm.  4),  Celsus  (c.  29,  s.  I  p.  3B4)  und,  wie  ich  glaub^  Trebellianu^ 
e.  26;  an  der  einzigen  Stelle  nämlich,  wo  dieser  Tjrrann  noeh  genannt  wird, 
Eutr.  IX  8,  hat  Salmaraus  (ad  Treb.  tjr.  c  10)  'llegalianns*  eingesetzt  (bei 
Paionios  ist  der  Name  ausgolaseen),  unsweifelhaft  richtig,  da  vorher  Uly* 
rien  als  Schauplatz  der  Empörung  angegeben  war,  d.h.  eben  der  des  Hegalianus, 
während  den  Trebellianus  des  Trobellius  die  Isanrier  an  ihre  Spitze  hciufon 
hatten;  dessen  Bioi^rapliie  aber  ist  liöchst  dürftig  und  wie  die  des  Aemilianus 
(s.  untenj  nur  durch  Bemerkungen  über  Land  und  Leute  zu  einem  gewissen 
Mals  erweitert;  auch  sein  sonst  völlig  unbekannter  Überwinder  Camsisoleus 
erregt  so  wie  sein  Bruder  Theodotua,  der  dee  Aemilianua^  Argwohn,  und  nach 
allm,  wa«  wir  sonst  jetzt  too  den  Schwindeleien  des  Trebellins  kennen,  die 
Ableitung  des  Namens  Ton  dem  eigenen.  Bei  Ballista  ist  wenigstma  die  An- 
nahme des  Purpurs  erfunden  (c.  18,  s.  I  p.  227),  vieUeicht  audi  bei  Piao 
(Schiller,  Gesch.  der  röm.  Kaiserz.  I  S.  835). 

Über  die  ktirao  Tvraniiis  oinos  Valens  gab  es  zwei  Nachrichten;  nach  der 
einen  (Aur.  Vict.  Caes.  21*,  iJ,  Epit.  2i>,  5,  Polem.  Silv.  (^hrou.  min.  1  p.  521 
Momms.)  fiel  sie  in  die  Zeit  des  Decius,  nach  einer  anderen  in  die  des 
GaUienus  und  zwar  nach  Trebellius  in  das  Jahr  201,  in  welchem  sie  durch 
den  Veraudi  des  Mararinns,  den  gefürchtetsten  HeerfSlirer  zu  beseitigen,  Ter- 
anlalst  worden  sein  soll  (GalL  2^  2.  ijr.  Id).  Trebellius  aber  macht  daraus 
zum  Zweck  der  Vermebrong  seiner  Liste  awei  Tersehiedene  Personen  (c;  19  n.  20), 
wenn  nicht  <rar  die  spätere  erst  von  ihm  erfunden  ist,  um  die  Unordnung  im 
Reich  unter  Gallienus  noch  schwärzer  zu  malen  (s.  II  p.  217,  wo  jedoch  die 
Stelle  aus  Ammian  noch  hin^uTiufttgen  ist).  Ähnlich  scheinen  mir  die  Tyrannen 
Aemilianns  c.  22  und  Saturiiimis  c.  23  nur  Dnpliken  zu  sein,  der  erstero  eine 
des  gewohnlich  zu  den  Kaisern  gerechneten  M.  Aeuiilius  Atmilianu.s,  der  Ende 
Mai  oder  Anfang  Juni  253  in  Mösicn  von  den  Soldaten  zum  Kaiser  ausgerufen 
nnd  Ton  ihnen  nach  wenig  Monatoi  (September  253)  wieder  getötet  wurde, 
als  Valerian  g^n  ihn  heranrfickte  (n.  213,  I  p.  25,  y.  Rohden  bei  Pauly- 
Wissowa  I  S.  545  f.);  aober  der  Epitome  an  einer  auch  sonst  mit  Trebellius 
übereinstimmenden  und  verdächtigen  Stelle  (c  32,  4)  kennt  einen  Aemilianus 
als  Tyrannen  unter  Gallienus  allein  unser  Biograph  (tyr.  22.  Gall.  4, 1  f.  5,6.  9, 1), 
herichtet  von  ihm  aber  nur,  dafs  er  in  Ägypten  vom  Volke  zum  Kaiser  ge- 
niaeht  und  von  dem  Inldhcrrn  dt-s  Gnllienns  TIuxmIhIus  be5<i«')i;t  worden  sri, 
und  versteckt  .seine  dürftige  Ertindun<4s<ral)(:  hinter  allerlei  Notizen  über  Ägypten, 
um  das  Mafs  einer  Biographie  auszufüllen.    Noch  weniger  weifs  er  von  Satur- 


H.  Poier:  Ptoaopoigntpliia  faaperii  Bouniii. 


bl 


ninuB,  nicht  oinnial  dm  Land,  in  wp|ch<»in  er  sich  /tim  Kaiser  aufwarf;  seine 
Tüchtigkeit  int  ein  allen  Tyraimen  unter  Ualiienus  gemeinsamer  Zug,  der  einzig 
penonliehcy  dab  er  den  Purpur,  den  ihm  die  Sölden  aufiswangen,  absulehneii 
snebte,  ist  tob  dem  echten  Sataniiims,  den  I^rdbue  besiegte  (^Vopise.  Satora. 
7 — ^11),  flbemommen  (vgl.  Treb.  23»  3  tand  Vop.  9,  5).  YopieciM  verdankt 
eeine  Kunde  nur  dem  Trebellius,  die  fi-äher  für  ihn  geltend  gemadite  Mflnxe 
iet  nneeht  (Eckhel  VU  p.  470,  Cohen  VI«  p.  i;3). 

Namentlich  aber  hat  Trebollin?  die  Chronologie  der  Tyrannen  in  GalHon 
ffcfiil.Hcht.  Postumuä  Imt  hier  nach  der  zuvcrlässi^fii  ('hcrhpfemnt;  di»-  IMacht 
zt  hii  Jahre  in  der  Hand  jrehaht  und  zwar  hiü  in  die  Zeit  des  Claudius  Cxifhicus 
biueiu,  wahr^eheiulich  2ä9 — 2G9,  darauf  Cornelius  UlpianuB  Laelmnu»  M.  Pia- 
TonioB  VidormnB  swei  Jabre  (dies  andi  naefa  einer  Hflnxe)  und  «war  eret^ 
nachdem  Glandins  schon  Kftisor  geworden  war,  M.  ilnreliuB  Marina,  endlich 
C.  Pina  Eanvins  Tetriona,  an  deeaen  Bekriegnng  Aurelian  nach  dem  Sieg  fiber 
Zenobia  aufgebrochen  ist  (im  Jahre  274  nach  Clinton,  s.  C  397,  I  p.  309  ff. 
E  71  f,  II  39  f.).  Wie  hat  dies  nun  Trebellius  zugerichtet,  um  diese  Namen 
alle  in  sein  Ruch,  welches  programmgemäfs  nur  die  Tyrannen  unter  Valerianus 
und  Qallienus  behandeln  sollte,  unterbringen  und  die  Zahl  30  erreichen  zu 
können?  Zuerst  schrankt  er  die  Herrschaft  des  Postumus,  den  er  fälschlich 
Julius  nennt  (tyr.  6,  6,  er  hiefs  M.  Cassianus  Latinius  P.),  auf  sieben  Jahre 
ein  (OaU.  4,  5,  tyr.  3,  4.  5,  4),  womit  also  ihr  Ende  noch  in  die  Regierung 
des  Gallienna  fidlen  wOide;  bei  Laelianoa  (den  er  Lolltanua  nennt)  ISIat  er  jede 
Zeit  weg^  Mvina  iftnml  er  nur  drei  Tage  ein  (tyr.  8,  1  f.,  zwei  übrigens  auch 
AnreL  Vict.  33,  9  ff.,  Eutr.  9,  9),  wahrend  er  nach  der  Zahl  der  MOnzcn  viel 
länger  regiert  haben  mufs  (Eckbel  VII  p.  454,  Prosop.  1  p.  210);  die  Über- 
nahme der  Herrschaft  durch  Victorinus  und  Tetricus  wird  in  ihren  Biof^ra- 
phien  selbst  nur  nach  den  Vorgängern  bestimmt,  jedoch  in  der  des  ClaudiuH 
i4,  4,  vgl.  7,  5)  bei  dessen  Regierungsantritt  die  des  letzteren  vorausgesetzt,  seine 
Besiegung  durch  Aurelian  zugestanden,  so  Jedoch,  dafe  seine  in  Wahrheit  onr 
swei  Jahre  dauernde  Tyrannis  (Anr.  Viei  85,  5  in  Übereinstimmung  mit  den 
M Onaea)  auf  eine  Hange'  Zeit  ausgedehnt  wird  (tyr.  i4,  3),  nm  die  Vorstdlung 
m  erwecken,  als  ob  er  und  die  flbrigen  noch  von  Gallienus  abgefiillen  seien; 
Victorinns  wird,  um  Zeit  m  sparen,  zum  Mitherrscher  des  Postumus  ge- 
stempelt (c.  6,  1),  wovon  die  Münzen  nichts  wissen  (l  p.  31 0\  Auch  di«^ 
♦  'hrnnolnpie  und  Geschichte  des  Aureolus  hat  Trchcllin^  'itstclli.  Der  Kuhni, 
thn  besiegt  und  in  Mailand  eingeschlossen  zu  haben  gt  bührt  nach  Aurelius 
Victor  Cae«.  33,  18,  der  Epitome  33,  3  und  Zonaras  XII  25  (vgl.  Zt)8.  1  40  i) 
noch  dem  GaU^nu  aelbht;  wenn  Trebellius  ihn  dem  Kamer  (3audinB  snspricht 
(tyr.  il,  4  und  in  dem  g^Usehten  Epigramm  §  5,  Claud.  5,  1),  dem  er  sich 
nur  ansgeliefert  ha^  so  hat  ihn  die  Absidit  geleite^  die  Thaten  dieses  Kaisen 
Qber  Gebühr  aufzubansdien,  dem  zu  Liebe  er  auch  das  firflhere  Verhältnis  dea 
.\uje(dus  zu  Gallienus  verwirrt  hat  (n.  1338,  I  p.  219  f.,  wo  noch  die  Nennung 
aui  dem  Stein  CIL  Suppl.  III  11999  hin7,ufTefngt  werden  mufs). 

Trebellius  Poilio  hat  demnach  ttber  die  Geschichte  des  Gallienus  und 

4* 


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52 


H.  P«ler:  PMiopognpbia  Imperii  BomMii. 


GlAndiiui  einen  Schleier  geworfe»,  der  die  Wahrheit  uns  ttitweder  gar  nicht 
oder  getrdbt  oder  go&lseht  erkennen  Biet.  Wir  mflbien  seine  Antoritat  fiber> 
hanpt  Aber  Bord  werfen,  wenn  nicht  wenigstens  einige  Angehen  durch  die 
Münzen  gesichert  würden;  i.  B.  erwBckxia  die  Söhne  von  Tyrannen  als  Teil- 
haber der  Herrschaft  von  vornherein  unseren  Verdacht,  aher  die  des  Macrinus, 
Macrianus  und  (^uiftns  ic.  Ir?,  14'  wenli'ii  uns  nicht  nur  als  Caesares  sondern 
auch  als  Iinperatores  durc  h  I\rtinzen  })t'stäti}^t  i  ii.  371  1'.,  II  p.  94),  besonders 
deshalb,  weil  sie  sich  im  Besit:&  eiuer  der  bedeutendsten  Münzstätten  des 
Reichs^  Aleundrine^  befanden  haben,  ebenso  dmrch  Hfimsen  und  iDSchiiften  der 
jüngere  Tetricns  als  Gisar,  den  einsäe  Hfinxen  irrtOmlich  zum  Augustus 
machen  (nicht  TrebeUias,  s.  tyr.  25,  1).  Andere  Namen  werdot  anderweitig 
geschfitzt;  der  Antiochener  CyriaJcs,  der  die  Reihe  eröflnet  (c.  2),  kommt 
sonst  nirgends  vor;  der  Name  ist  jedoch  eine  Ubersetzung  des  aus  dem  aramäi- 
schen Mürjäda  ('der  Herr  erkennt't  PTitstandcnen  Mareades  oder  Mariades  oder 
genauer  der  ersten  Hälfte  des  \N'ort*;s,  da  man  die  zweite  als  ^iechische  Ab- 
leituiiifssilbe  deutete  (Friinkel  im  Hermes  XXII  S.  G49),  und  von  diesem  als 
Verrüt*;r  seiner  Vaterstadt  berichten  wie  Trebellius  von  Cyriades,  so  sein  Lands- 
mann Ammian  (XXm  5,  3),  der  Syrer  Ifolahe  und  der  Fortseber  des  Die 
(ftf  n.  201,  II  p.  342  f.);  grieehisch-Byrische  Doppelnamen  sind  anch  sonst 
nicht  sdten  (Hommsen,  Rdm.  Gesch.  T  S.  452  f.).  I>«r  Sdhn  des  Odamathoi^ 
der  ab  Herodes  bei  Trebellius  erscheint  (tyr.  16,  15,  2;  5,  17,  1,  Gall.  13,  1), 
wird  vielleicht  licbti»^  mit  dem  Septimius  Vorodes  zahlreicher  Inschriften 
identifiziert  (H  n.  114,  II  p.  143\  sein  Vetter,  als  sein  Mörder  uns  auch  aus 
Zonaras  (XII  24)  bekannt,  Maconius  nur  von  Trebellius  genannt  (tyr.  17.  15,  ö), 
mit  dem  paimyrenischen  Grofsen  namens  Ma'nnai  (M  n.  56,  U  p.  322). 

Von  den  noch  übrigen  der  32  'Tyrannen  unter  Vaierian  und  Gallien'') 
ist  Victoria  oder  Vitruvia  aosanscheiden,  weil  sie  auch  nach  Trebellins  den 
Purpur  nicht  getragen  hat  (c  31),  such  "Titus*  (c.  32,  s.  Max.  11,  1),  der  aus 
Herodian  als  Kovagtlvos  bekannte  Verschwörer  gegen  Uaximinne  Thrax  (s. 
*Die  Scr.  h.  A.'  S.  54  f.);  bekannt  sind  der  Paimjrener  Odaenathos  (c.  15) 
und  seine  Gemahlin  Zenobia  (c.  30);  endlich  ist  Tnjrpnuuf»  (c.  9)  durch  die 
übrige  lateinische  Überlieferung,  Aurelius  Victor.  Eutrop.  Ornsius,  Pnlcmius 
Silvins,  auch  Ammian  und  durch  die  Griechen  Zonaras  und  den  Anonymus 
post  Di«)nem  (u.  IS,  11  p.  152),  Kcgalianus  durch  Aureliua  Victor  (Caes.  33,  2i, 
die  Epitome  (32,  3),  Eutrop  (9,  8)  und  MQnsen  (Cohen  VI*  p.  9  f.)  gesichert, 
wenn  auch  bei  den  letaten  Tier  die  gssohiditlieh  feststehendem  Thatsaehen  von 
▼ielen  Erdichtungen  umhflllt  sind. 

Die  Zahl  der  30  oder  32  Tyrannen  beschränkt  sich  also  auf  11,  die  nach- 
weislich gegen  Vaierian  oder  Gallien  sich  empört  haben,  die  übrigen,  d.  h.  die 
in  Kap.  2  und  4 — 8  und  alle  von  Kap.  Ib  an  mit  Ausnahme  der  Zenobia  in 

V  Die  erste  Ausgabe  d«8  Sammelwerk«  dea  Trebellius  «nthielt  unter  den  30  Timmen 

anrh  7woi  Fr.ition :  wi>^'cn  die^LT  'lyrannao  vr!  tyrantiideH*  erfuhr  vr  indes  den  Spott  von 
Kritikcru  uind  fü^  deiiliälb  noch  zwei  Miltuicr,  den  Tita«  und  Cenaoriniu,  bioxu  \tjr. 
0.  St,  7  fll). 


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H.  Peter:  Proaopognphi»  Imperü  Romani. 


53 


K&p.  a(>,  gehören  entweder  in  eine  andere  Zeit  (Laelianus,  Victorhiuii  sen., 
Marias,  Valens  siip.,  die  beiden  Teiricus  und  Titus)  oder  baben  den  Purpur 
ntcbi  angenonunen  (Gyriades,  BaUista,  Piso,  Yicfcoria)  oder  sind  Fllflebungen 
de«  Trebeilins  (Postumus  jun,  Yictorinn»  jnn.,  der  jangere  Yalens,  Aemilianus, 
Satuniinus,  Trebellianus,  Herenniaous,  Timolaiis,  Celsiis,  Censorinu»).  Die 
'DrfiTsit;  Tyrannen  unter  Valerianus  und  Gallienus'  mögen  also  hiermit  von 
der  Schaubühne  der  Geschichte  abtreten. 

Die  Prosopo^aphia  Impirii  HoTiiiiui  kann  und  wird  noch  zu  manchen 
trucbtbartn  Forschungen  und  Betrachtungen  Anregung  und  Stoff  lieferuj  ich 
reelme  dasa  x.  R  die  Aber  die  Zu-  und  Abnahme  der  Tomehmen  römiflchen 
6e«cblechter.  Ihre  Bedeutung  für  alle  diejenigen,  die  sich  mit  römischer  Ge- 
schichte beschüfligen,  ghrabe  ich  jedoch  genflgend  daigelegt  zu  haben;  und  nicht 
tveniger  wertvoll  ist  die  Erleichterung,  welche  sich  die  Schule  von  ihr  ver- 
»precben  darf,  namentlich  für  die  Erfcfömng  des  Tacitu8,  auch  insofern,  als 
die  Ausgabe  von  Xip]irr(iey  nnnTnebr  von  den  fUr  die  Schüler  nntsloaen  Zitaten 
über  Personalien  «nilastet  werdeu  kann. 


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I 


DIE  DEUTSCHE  PHILOLOGIE  UND  DAS  DEUTSCHE  VOLKSTUM. 

Von  HsXMAMN  WmmmtuCB. 

In  dem  Vorworie  zum  Dpntschen  Worte rbudu!  schrieb  Jacob  Grimm  am 
2.  März  1854  die  Worte:  'über  eines  solchen  werke»  autritt  musz,  wenu  ea 
gedeOien  «oU,  in  dw  hSlie  «in  lunlbriiigeiideB  gestira  Bchwobeo.  ich  erkannte 
ee  im  einUttog  xwder  zeiehen,  die  sonit  einaader  abetdieii,  hier  aber  von  den- 
selben inneren  gmnde  getrieben  eieh  geoahert  batbm,  in  dem  anfiwhwnii^ 
einer  deutHchen  philoIogie  und  in  der  empfönglicbkeit  des  volkes  für  seine 
muttersprache,  wie  sie  beide  bewegt  worden  dareb  erstwkte  liebe  zum  vater^ 
lande  und  untilgbare  begierdo  nach  seiner  festeren  einigung*  Was  hier  vom 
Wörte  rbuch  gesagt  wird,  gilt  auch  von  den  anderen  Aufgaben  unserer  Wissen- 
schaft, von  unserer  deutschen  Philologie  überhaupt.  Nur  mufs  entsprechend 
dem  weitereu  Raum,  den  ein  au  bestimmten  Anlafs,  bestimmte  Zeitgrenzen 
gebundener  Ausspruch  dardi  Yerallgemeineruug  gewinnt,  die  *enlarkl»  liebe 
Eom  vaterlande'  die  in  ten  ÖOer  Jahren  ihre  Bethatigang  mehr  nach  anben 
wendete,  dieie  am  ihide  des  JahrhnndertB  mehr  im  Inneren,  in  der  Tiefe 
suchen.  Die  Liebe  anm  Vaterlande  wird  aich  hier  in  eine  veretindnisToIle 
Liebe  zum  Volkstum  omwandehi. 

Ein  heilbringende«?  Gestirn  nennt  es  Jacob  Grimm,  wenn  von  snldien 
Emphndnngen  getragen  eine  deutsche  Philologie  und  ein  für  die  Muttersprache 
empfängliches  Volk  den  Einiguugspunkt  finden  —  zwei  Zeichen,  'die  sonst 
eiuander  abstehen'! 

Anf  dm  ersten  Blick  kSnnte  es  sofaeinoi,  als  ob  gerade  in  nneerer  Zeit 
wieder  ein  solch  glücUiefaer  Angenbliek  gekommen  sei,  wo  die  weit  abstehenden 
Zeichen  anfe  Neue  an  «nander  getreten  seien.  An  der  BmpfiKn|^ehkeit  weiter 
Volkskreise  für  die  Muttersprache  ist  angesichts  der  Thatsachen  aar  Zeit 
weniger  als  je  zu  sweifeln.  Aber  die  Wissenschaft?  Ist  auch  sie  getragen 
von  dem  Bedürfnisse  solcher  Annäherung?  Eine  Antwort  auf  diese  Frage 
giebt  vielleicht  die  lehhaftr.  t«*ilwci«e  gereizte  Polemik,  die  sieh  an  eine  AuJserung 
Rudolf  Kogels  knüpfte,  Kogel  liatte  in  der  Einleitung  zu  seiner  Gesehichte 
der  deutschen  Litteratur  (1894^  die  Überzeuguug  ausgesprochen,  dafs  'nach  der 
grammatisolien  Hoehflnt'  der  achaiger  Jahre  in  den  nennsiger  Jahren  nunmehr 
der  Idtteratnrgeschidite,  die  fftr  den  Beruf  des  aukfinftigen  Lehrers  weit  wich- 
tiger Bei  *als  alle  Kenntnisse  auf  dem  Qebiete  der  historischen  Lant-  und 
Flexionslebre*,  wieder  die  ihr  allein  gebührende  Stellung  im  Mittelpunkte  der 
germanistischen  Studien  eingeräumt  werde.  Nicht  so  sehr  die  Behauptung  er- 
regte Widerspruch,  dafs  fOx  den  künftigen  Lehrer,  für  den  Bildnw  der  heran- 


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H.  Wttiideriicli:  Die  denlaehe  Phflologie  und  du  deutwii«  VoHntum.  55 


wachsenden  Jugend,  die  LitteraturgescUichttJ  iit  höherem  Grnde  Bilduii^Miiitt*;! 
darbiete,  als  die  Laut-  und  Formenlehrej  vielmehr  wurde  der  Anspruch  als 
*lMnausiflch'  befunden,  dab  Ton  aolchen  Encheuiangen  des  tbateüehliehen  Lebens 
irgradwie  aneh  die  Pflege  der  WiBaenecluift  berOhrfe  werde.  Die  beiden  Zeichen 
Jacob  Qrininu  scheinen  in  dieeer  lefaEterwahnten  Ansehanni^  nidit  nur  sehr 
weit  ab  zu  stehen,  sie  haben  hier  (Hk  rhaupt  kein  Vt  rhaltnis  mehr  zu  einander. 
Man  kSnnte  einwenden,  daf»  diese  Auffassung  in  der  Polemik  zum  Vorschein 
giekommen  war;  dufs  der  Gegenwehr  immer  eine  Kraft  innowohiit,  die  nm  so 
weiter  Ober  ihr  Ziel  hinausschiefst,  je  weiter  nach  der  entgegengesetzten  Beite 
der  Gegner  das  seiuige  gesteckt  hatte.  In  der  That  leidet  ja  auch  der  Aus- 
spruch Kögels  an  bemerkenswerter  Einseitigkeit^  er  verwendet  ein  Moment,  das 
bei  der  Beurleilnng  einer  Epodie  wissensehallilidier  Leistungen  mit  in  Frage 
konun^  als  den  einaigen  Mafisstab,  der  angelegt  werden  könne. 

Auf  diese  beiden  Punkte  mddbte  idi  xunichst  die  Aufinerksamkeit  lenken: 
nicht  die  einzelne  wissenschaftliche  Leistung  ist  es,  die  an  der  Frage  nach 
ihrem  Nutzen  für  die  Allgemeinheit  gemessen  wird  —  das  thut  auch  Kogel 
nicht  —  sondern  der  wissenschaftliche  Ertrag  piir/.er  Arbeitsepochen.  Und 
zweitens  fineh  für  diese  letzteren  j»iebt  die  I'iatfi'  der  Bedeutung  ffir  diis  Ganze 
nur  einen  Mafsstab  unter  mehreren,  aber  .-»ie  ist  nicht  der  einzige  VVertraesser. 

Das  wissenschaftliche  Einzelwerk  steht  zunächst  ganz  im  Rahmen  eines 
ei^feren  Arbeitsgebietes;  es  kann  Uber  diesen  Rahmen  in  den  Ergebnissen 
hinansgreiftn,  aber  seine  Bedeutung  hSngt  davon  nicht  ab;  diese  wachst  nnd 
fallt  mit  der  Sicherheit,  mit  der  die  gestellten  Probleme  geldst  sind,  oder  mit 
der  Fruchtbarkeit,  die  diese  Probleme  zunächst  für  das  engere  Fach  haben. 
In  diesem  letzteren  Moment  allein  liegen  dann  die  Verbindungslinien  mit 
anderen  Znsammenhängen,  so  mit  den  Einzelwcrken  des  eigenen  Arbpit«;«jebietes. 
In  diesem  höheren  Zusammenhang  gewölmlich  treten  erst  die  weiter  tragenden 
Wirkungen  hervor;  Wirkungen,  die  von  einem  Wissensgebiet  in  das  andere 
reichen;  Wirkungen,  die  ans  der  Wissenschaft  lünans  ins  Leben  fOhren.  Daraos 
ergiebt  sich  eine  Mannigfoltigkeit  der  Wertmesser  nnd  Mabstabey  nnd  nach  dem 
Gesagten  wird  es  anch  kein«  Mifsdentung  mehr  untwliegm,  wenn  im  folgenden 
nur  ein  einsiger  Wertmesser  ans  der  Vielheit  herausgegriffen  wird;  ein  ^T  ! 
stab  zudem,  der  Beziehungen  aufdeckt  und  beleuchtet,  die  gerade  auf  dem 
Gebiete  der  deutschen  Philologie  besondere  Bedeutung  gewonnen  haben  und 
wieder  gewinnen  können. 

Die  ersten  Anfange  einer  Besch iifti^nmg  mit  deutscher  Sprache  und  Litte- 
ratur  reichen  in  eine  Zeit  zurück,  in  der  sich  der  Aufschwung  wissenschaft- 
licher Forschung  an  der  Empfänglichkeit  weiter  Volkskreise  mtEflndete,  in  die 
Zeit,  da  der  Humanismus  der  Reformation  die  Wege  bahnte.  In  einer  ahn- 
lichen Epoche  liegt  anch  der  Ausgangspunkt  unswer  deutsehen  Philologie, 
die  sich  in  dem  Zeitpunkte  hervorwagte,  da  die  beschauliche  Periode  der 
klassischen  Dichtung  von  den  Stürmen  der  Befreiungskämpfe  durchbrochen 
wurde.  Weitabstehonde  Gestirne  treten  du  auf  entern  Kanme  zusammen,  es 
ist  von  Bedeutung,  wie  nahe  sich  der  Begründer  der  deutschen  Philologie  in 


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56 


H.  Wunderlich:  Die  deutsche  rhiloiogie  uud  dun  deutsche  Volkstum. 


gwiz  beatimmton  Fragen  Beines  Arbeitag^bietes  mit  einem  Hanne  berührt«,  den 
wir  sonst  in  gjua  anderem  Znaammenhange  zu  wQrdigen  pflegen.  Jacob 

Grimm,  der  nun  den  Bedrängnissen  der  ri<>gt>nw:irt  in  die  weiioston  Femen 
der  Vergangenheit  flüchtete,  um  die  deutsche  Volksseele  in  iliter  Freiheit  und 
Reinheit  zu  belauschen,  und  Friedrich  Ludwig  Jahn,  der  Turnvater,  der 
dieser  Seele  einen  für  die  Qegenwurt  hrauchbaicn  Körper  formte,  der  ihr  mit 
dem  neu  gpMhaSB&aea  Worte  'dentsehes  Voftsbim*  auch  den  richtigem  Namen 
gab.  Eine  Fülle  ron  Veigleichungspunkten  liefee  sich  sdion  aus  dieser  all- 
gemeinen Gegenüberstellung  beider  MBnner  gewinnen,  fllr  unsere  Au^be  dar 
g^en  iat  es  geboten,  den  Blick  im  Besonderen  auf  Jahn  und  dessen  noch 
immer  nicht  genflgend  gewürdigte  Schriften  zur  deutschen  Sprache  zu  richten. 
Jahn  liat  sclion  im  Jahre  180()  «eine  Schrift  veröffentlicht:  'Bereicherung  des 
Hocluleiitsclien  Sjiriichschatzes,  versuclit  im  Gebiethe  der  Sinn  Verwandtschaft, 
ein  Nuclitrug  zu  Adelungs  und  eine  Nachlese  zu  Eberhards  \V(>rterV»nch*  (vgl. 
jetzt  V.  L.  Jahns  Werke  herauHgeg.  von  Euler  I  23  Ü.j.  Wenn  uus  hier  nun 
Berfihrungen  mit  Jacob  Qrimm  entgegentreten,  so  WMden  diese  freilich  wieder 
▼on  bedeutraden  Gegenraiien  swisehrai  beiden  Ifönnem  durchkreuz^  f&r  die  wir 
die  seitlichen  Unterschiede  nicht  anfinr  Acht  lassen  dürfen.  Die  Berührungs- 
punkte liegen  vor  allem  in  dt-r  Abwehr  gegen  die  Enghttligkcit  einer  ab- 
sterbenden Sprachtyrannei,  wie  sie  dureh  Adelung  ausgeübt  worden,  sie  liegen 
aber  auch  noch  tiefer,  in  der  gemeinsamen  Auffassung,  dnfs  die  Sprach»-  nirht 
ein  wissenschaftliches  Pnlparat,  sondern  eine  Lebens'axil'serung  sei,  die  nur  mit 
dem  Leben  selbst  im  Zusammenhang  erfafst  werden  könne.  Diese  Überzeugung 
bricht  bei  Jahn  ätürmiiicher  durch  alü  bei  Jacob  Grimm,  »ie  führt  ihn  vielfach 

auf  Abwege;  ne  se^  ihm  ab«  auch  gelegentlieh  ein  Ziel  von  weitem,  das 
fttr  Jacob  Grimm  unsichtbar  blieb.  So  steht  Jahn  an  manohon  Punkly  wo  er 
von  Jacob  Grimm  abweicht  in  engerer  Fühlung  mit  Bestrebungen  der  heutigen 

Wissenschaft;  in  einer  <^rofsen  Zahl  von  Einzelheiten  allerdings  ist  er  anderer* 
seits  ein  Vorläufer  von  volkstümlichen  Bestrebungen,  die  der  heutigen  Wimen- 
Bchaft  feindlich  gegenüber  st^hett. 

Bedeutsam  ist,  dafs  Jahn  au  Eberhard  anknüpft',  das  Schwergewicht 
seiner  Polemik  jedoch  gegen  Adelung  richtet.  Der  Kampf  wurde  auf  dem 
Gebiete  der  Wortforschung  gefuhrt,  einem  Teil  der  Grammatik,  für  den  da« 
IS,  Jahrhundert  die  ihm  m  Gebote  stdienden  llittd  in  gans  anderem  Halse 
ausgenfltst  hat,  als  das  19.  Von  Adelung  lag  vor  der  *Yersach  eines  voll- 
ständigen grammatiseh-kritisehra  Wörterbuches  der  Hochdeutsehen  Hundar^ 
unter  beständiger  Vergleichnn«^  der  übrigen  Mundarten,  besonders  aber  der 
oberdeateehen*,  Leipng  1774  tl  ,  der  1798  £f.  in  der  zweiten  Aufli^  und  in 
Atisziicrpu  erschienen  war.  Adelnnp;  hatte  den  Wortschatz  in  der  üblichen 
alphabetischen  Reihenfolge  vorifeführt;  bei  dem  einzelnen  Worte  hatte  auch  er 
der  Etymologie  bereits  eindringendere  Betrachtung  geschenkt  —  Ireilich  mit 
unzureichenden  Mitteln  —  aber  als  Hauptaufgabe  seines  grammatisch-kritischen 
Wörterbuches  betrsditete  er  die  geeeiagebende  Thatigkeit  des  Grammatikers. 
Nicht  die  Erkenntnis  der  tieferen  Zusammenlege  des  Einselwortes  im  Innern 


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H.  Wanderlicl):  Die  deutsche  Fliilologie  und  dan  deuUche  Volkstum. 


57 


des  8]irMlilebeii8  war  die  Au%abe,  die  ilin  reide^  Hondern  die  iiiJ«ere  Stellung 
des  Wortes  im  WorisclifttK,  die  Rangordnung,  die  ihm  ?on  Seiten  einer  eng- 

horzigen  Stilistik  zuzuweisen  war.  Es  ist  ju  niin  bekannt^  dafs  Adelung  wenig 
GlQck  mit  seinen  Festsetzungen  und  Entscheidungen  hatte.  Die  filhron<lcn 
Dicliter  liefsen  sich  in  iliren  schöpferischen  Oestaltungen  wenig  durch  ihn  be- 
eiutiussien,  und  diu  Grammatik  selbHt  wuitk'  durch  die  neu  erweckte  ver- 
gleichendr  Sprachwissenschaft  ganz  und  gar  von  den  Aufgaben  abgelenkt,  die 
ihr  Adelung  liatte  an&wangen  wollen.  Aber  in  der  Theorie  hatte  Adelung 
weniger  Widerspruch  erfahren,  und  darum  sind  gerade  Jahna  AusfÜhningen 
▼on  Interesse.  Nicht  so  sehr  um  ihrer  Einzelheiteii  willen;  wenn  es  auch  Be- 
achtung verdient,  dafs  -Talin  Worte  wie  'schleeht',  *Hafs',  *hehr',  *Hami',  'Seher*, 
'Qeschmeide',  *InJand',  'Ausland'  und  andere  zu  verteidigen  hatte.  Dodi  wich- 
tiptr  war  der  prinzipielle  Standpimkt,  den  Jahn  einnahm.  Mit  manchen  seiner 
Zi'itm  tioHscn  hat  er  es  ja  gemein,  wenn  er  den  Ausdruck  'hochdeutscln'  Mimd- 
art'  bekämpft,  wenn  er  eine  hochdentfche  Schriftr  und  Umpanfrspriiclu'  den 
Mundartcu  gegenüber  äteiit,  und  wenn  er  für  den  VVortücbutz  eiiieu  ununter- 
brochenen Austausch  swiseben  diesen  Omppen  fordert  und  emr^  Aber  ihm 
eigen  ist  neb«i  der  Lebhaftigkeit^  mit  der  or  diesen  Forderungen  nachkommt^ 
eine  Kenntnis  des  Wortbestandes  der  TersdiiedensbHi  Mundarten,  die  er  wif 
Folswandemngen  durch  das  deutsche  Land  erworben  und  aus  Nach<;clilagc- 
werken  spater  ergänzt  hat;  ebenso  ist  ihm  ei^n  eine  grolse  Empfänglichkeit 
ftir  die  Sinnverwandtschfift  und  für  die  Bedoutnnfr=iabjTrenznnj;  der  einzelnen 
Wörter.  Daher  yeine  Neif^ung  für  das  Werk  von  Eberhard,  den  'Versuch 
einer  allgemeinen  deutschen  Synonymik  in  einem  kritisch -philosophischen 
Wörterhuche  der  sinnverwandten  Wörter  der  hochdeutschen  Mundart'  (1795). 
Aus  der  Synonymik  mufste  von  Tomdierein  wied»  reidm^s  Leben  und  frische 
Anregung  in  die  durch  Bangatreitigikeiten  ausgetrocknete  Wortforschung  kommen. 
Der  Krds  der  sinnverwandten  Formm  reiste  dasn,  fttr  die  Tetschiedenetn  Kon- 
kurrenten einen  gemeinsamen  Untergrund  zu  schaffen  und  auf  dieser  Gnmd 
l^e  der  Einzelform  ein  anschauliches  Sonderdasein  abzugrenzen.  Das  belebte 
einerseits  den  gcschiclitliclicn  Hinterfjr^ind,  es  zeigte  auch,  wie  be^ltinlmte  Gcj^en- 
sätxe  in  den  Unterschieden  einzelner  Formen  immer  wieder  sicli  abspiegeln; 
andererseits  führte  es  durch  mannigfache  Versuche  der  Bedeutungsentwicke- 
liing  hindurch  auf  das  Lehen  zurück  und  liefs  ahnen,  dals  auch  die  Worte,  die 
em  Volk  Terwendeft^  NiederschlSge  des  Lebens  sind,  die  es  fiUurt  Gerade  ent- 
gegengesetsten  Weg  war  die  alphabetische  Darstellung  in  den  ttblidien  Wdrter- 
bOchem  gegangen.  Noch  die  Wörterbücher  des  17.  JehiliundertB  hatten,  ob- 
wohl praktischen  Zwecken  dienend,  das  Sprachleben  in  reicheren  Formen  wieder- 
gespiegelt.  Mundartliche  Verfitliiedenheiton  hnttcn  in  der  damaligen  Entwicke- 
lunp^epoche  der  Schriftsprache  noch  i^oinz  andere  praktische  Bedtnitun*!.  da  sie 
in  den  einzelnen  Schriften,  sofern  solche  iftrade  ihren  Leserkrei.s  ül)er  die 
Stamm^grenzen  des  Verfassers  hinausschoben,  das  Verständnis  vielfach  er- 
idiwerten.  Altes  und  Neues  lag  im  lebhaften  Kampfe,  und  die  Worterbndi- 
schreiber  hatten  fllr  alte  Formm  eine  besondere  Vorliebe,  namentlidli  wenn 


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58  H.  Wunderlich:  Die  deuUche  Philologie  und  dm  dcuUche  Volkstum. 


diese  in  Sprichwörtern  und  Redensarten  in  die  neue  Zeit  hineinreichten.  Und 
ahnliche  Bestrebungen  hielten  sich  hier  noch  lange;  im  18.  Jahrhundert  noch, 
da  auf  den  übrigen  Gebieten  der  Grammatik  die  gesetzgebende  Thätigkeit  in 
voller  Blüte  stand,  war  auf  demjenigen  der  Wortforschung  das  Bestreben 
geltend,  den  Reichtum  unserer  Sprache  im  Wörterbuch  aufzustapeln.  Erst 
Adelung  ist  es  eigentlich,  der  die  Grundsätze,  die  er  in  der  Grammatik  be- 
thätigte,  auch  auf  das  Wörterbuch  anwandte.  Und  weil  die  alphabetische 
Reihenfolge,  die  ein  Wort  um  das  andere  vorführt,  keinen  eigentlichen  Zu- 
sammenhang und  keinerlei  innere  Verbindungslinien  darbietet,  war  sie  besonders 
geeignet,  die  Schäden  der  Adelungschen  Betrachtungsweise  blofs  zu  legen. 

Umgekehrt  entsprang  für  Jahn  aus  der  blofsen  Vereinigung  der  syno- 
nymischen Darstellung,  wie  sie  Eberhard  verfolgte,  mit  der  Polemik,  die  er 
gegen  Adelung  führte,  eine  Fülle  von  Anregungen,  die  ihm  manche  der  philo- 
logischen Kenntnisse  aufwog,  deren  er  damals  noch  entbehren  mufstc.  'Aus- 
steuer', 'Ausstattung',  'Mitgift',  'Brautschatz',  'Heirat.sgut'  setzt  er  zum  Beispiel 
in  Parallele  (S.  59).  Die  Bedeutungsabgrenzung  sucht  er  aus  der  Beobachtung 
von  Volksgebräuchen  und  aus  der  Mitteilung  geschichtlicher  Vorgänge  klar  zu 
machen.  Stellen  aus  Dichtem  führt  er  an,  nicht  um  dadurch  die  Berechtigung 
des  Wortes  zu  begründen  oder  zu  bestreiten,  sondern  um  das  Fortleben  dieser 
Bedeutungsabgi-enzungen  zu  veranschaulichen.  Der  Etymologie  spürt  er  nach, 
nicht  um  seinen  Ausführungen  einen  gelehrten  Hintergrund  zu  geben,  sondern 
um  damit  den  Zusammenhang  zu  gewinnen  mit  der  auch  von  ihm  verehrten 
Denkungsweise  einer  entschwundenen  Zeit.  Denn  die  Sache  ist  für  Jahn  un- 
zertrennlich von  dem  Wort,  und  das  Wort  kommt  für  ihn  als  sprachliche 
Hülle  nur  in  Betracht,  soweit  diese  Leben  und  Inhalt  birgt.  Bezeichnend  ist 
die  Entrüstung,  mit  der  er  die  nüchternen  und  handwcrksraäfsigen  Rezensionen 
begrüfst,  die  dem  Buche  Eberhards  in  den  Fachkreisen  zu  Teil  wurden:  'Ist 
hier  an  den  Aufwand  von  Mühe  imd  Zeit  gedacht?  an  des  Gegenstandes 
Wichtigkeit?  an  die  Ehre  des  deutschen  Volkes?  In  seiner  Muttersprache 
ehrt  sich  jedes  Volk,  in  der  Sprache  Schatz  ist  die  Urkunde  seiner 
Bildungsgeschichte  niedergelegt,  hier  waltet  wie  im  einzelnen  das  Sinn- 
liche, Geistige,  Sittliche'.  Sind  in  dem  letzten  kurzen  Satze  bereits  die 
Grundsätze  klar  ausgesprochen,  auf  denen  unsere  heutige  Bedeutungslehre  recht 
eigentlich  fufst,  so  möchte  ich  noch  mehr  Wert  auf  die  Empfindung  legen, 
die  den  ganzen  Ausruf  durchdringt;  sie  würde  heute  noch  manchem  Werke 
von  tiefster  Gelehrsamkeit  wohl  anstehen.  Ein  paar  Beispiele  mögen  andeuten, 
wie  Jahn  in  bestimmten  Fallen,  wo  seine  sprachlichen  Kenntnisse  denen  seines 
Gegners  nicht  gewachsen  waren,  doch  durch  die  Kraft  seiner  auf  das  Ganze 
zielenden  Beobachtungsgabe  obsiegte.  Adelung  hatte  z.  B.  (I  1299)  das  Wort 
'Degen'  mit  Recht  an  die  Gruppe  jener  fremdsprachlichen  Substantiva  wie 
fninz.  'dague',  ibil.  'daga',  schwedisch  'daggert'  angelehnt,  die  eine  spitze  Waffe, 
einen  Dolch  bedeuten.  Irrtümlich  ging  Adelung  jedoch  noch  weiter  und  suchte 
das  Wort  mit  althochdeutschen  Parallelen  auch  für  die  germanische  Zeit  fest- 
^  zulegen.     Mit  sprachlichen   Gegengründen   vermochte  Jahn  hier  nicht  bei- 


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H.  Wunderlich:  Die  doatache  Piiilolegie  und  das  deutoche  Volkatum.  59 

lokommen,  er  «aif  sieh  auf  das  knltocgewfaiditUdie  Qebiet  und  spielte  den 
Philologen  gegen  den  einseitigen  Linguisten  ans:  'aber  die  Deutschen  sogen 
▼OD  jeher  den  Hieb  vor,  hielten  ihn,  wie  auch  noch  jelst  unsere  Krieger,  für 
minnUoher  and  wackerer.  Ihre  ältesten  Haugewehre  waren  nicht  som  StoDuen 
eingpricht^it'  (S.  72).  In  dor  That  hat  die  Forschung  seitdem  naohgewiesPTi, 
dais  das  Wort  *Degen'  WattV  nicht  vor  dem  IG.  Jahrhundert  in  unserer 
Sprache  auftritt,  uiul  duls  wir  in  ihui  ein  Lehnwort  zu  erblicken  liahen.  Diu 
Freude  am  kulturget»chichtlicheu  Ertrag  seiner  Sprachstudien  bekundet  sich 
hei  Jahn  sdum  dnrdi  die  Auswahl  der  gebotenen  Er^msongen.  IMese  nehmen 
flbnall  auf  Sitte  und  Braoeh  des  Volkes,  eimEelner  Stiünme  Bezug.  Sie  wmdM 
sieh  gegen  eingerissene  MirsbiSaehe  and  sndieii  diese  in  dem  entsprechenden 
Namen  zu  treffen»  od«  sie  hoffen  durch  Einbürgerung  eines  guten  alten 
Wortes  auch  einen  vergessenen  Brauch,  eine  entschwundene  Denkungsart 
wieder  r.n  beleben.  Man  soll  über  dipses  Bestrehen  honte  nicht  vornehm 
lächeln,  denn  die  Beziehungen  zwischen  Wort  und  Sache  und  die  Rückwirlningen 
Tom  Einen  zum  Andern  sind  durchaus  nicht  aus  der  Luft  gegriü'en.  Und  ein 
p<»itiver  wissenschaftlicher  Ertrag  ist  ebenfalls  nicht  abzuweisen.  Die  Wörter- 
hltcher  onseres  Jahihundsrts  haben  sich  viel£ach  gerade  f&r  mnndartlidie  Aus- 
drfieke  an  dem  bereichert,  was  Jshn  hier  nebenbei  darbot,  und  fttr  manches 
andere  wSren  bei  ihm  nodi  hente  Einselheitn  su  gewinnen.  Das  Wort 
'Schwindler',  dem  Kluge  kürzlich  in  der  Zeitschrift  des  allgemeinen  deutschen 
Spraehverräis  (12.  Jahigang  S.  20)  auf  seine  englische  Abkunft  nachspürte, 
ist  von  Jahn  mit  ausgiebigen  Litteratumotizen  eingehend  behandelt  worden,  und 
di'  Hf  Hebevolle  Darstellung  ertährt  gerade  durch  die  Veröffentlichung  von  Kluge 
ueue  Beleuchtung.  Trefleud  zieht  Jahn  die  Scheidelinie  zwischen  'bieder'  und 
'brav',  von  denen  er  das  erstere  gegen  Adelung  verteidigt  (S.  66),  und  knüpft 
daran  einige  Bemerkungen,  die  noch  heute  Beachtung  verdienen.  £s  ist  nament- 
lich bemerkenswert,  dais  die  Gsdanhen,  die  hier  von  dem  Volksmanne  gegen 
die  sOnftige  Qelehrssmkeit  geltmd  gemadit  werden,  heute  umgekdhrt  ein 
Gemeingut  gerade  der  wissenHehalÜichen  Forschung  sind  und  von  dieser  gegen 
cir  r  rlurch  breite  Volksmassen  getragene  Lehre  verteidigt  werden  müssen. 
Jahn  führt  aus:  'der  Sammler  und  Auswahler  des  Wörterschatzes  könnte  hier 
(wo  er  die  beiden  Wörter  'bieder'  und  'brav'  scharf  abgegrenzt  hatte)  ftiglich 
aufhören;  aber  dem  Freunde  der  deutschen  Sprache  wird  man  eine  gewisse 
Weitläufigkeit  zu  Gute  halten  .  .  .  Die  Muttersprache  ist  ein  Gemeingut  aller 
und  jeder  Glieder  des  Volks.  Zum  Alleingesetzgeber  ewiger  Vorschriften  ist 
auch  der  grölseste  Sprachkenner  nicht  befugt;  er  mu&  seine  Meinung  be- 
scheiden sls  Bill  Tortnigmi.  Kann  er  den  menschlichen  Geist  nicht  in  ewig 
daoemde  Sehraaken  üswea,  ihm  alle  mSgliehen  Begriffe  im  Voraus  abzählen, 
80  verfolge  er  nicht  gleich  Wörter  mit  Acht  und  mit  Bannstrahl.  Tödten  ist 
leichter  als  lebendig  machen,  der  Wörterbuchmacher  ist  nicht  zum  Blutrichter 
berechtigt,  und  eigen tflmlicb*'  ntxl  treffende  W5rter  einer  Sprache  vertilgen 
Wollen,  ist  ein  Mordversuch  gegen  liir  Sein  und  Wesen'  (S.  67).  Begreiflich  ist 
es,  dais  m  anderen  Punkten  Jahn  über  das  Ziel  hinaustrifft,  und  es  zeigt  sich, 


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U.  Wunderlich:  Die  deutsche  Pbilologic  und  das  deutecbe  Volkstum. 


(lafs  er  mit  diesem  Übermafs  gerade  den  volkstümlichen  Bestrebungen  der 
Qeganwart  lüiho  koiimit.  So  ist  er  z.  B.  ein  besonderer  Feind  der  Frerad- 
wort/T.  Er  st<llt  den  Grundsatz  auf:  'die  Spracbbcroichemnp  hat  wie  das 
Elirecht  verbotene  Grade.  Aus  deutschen  Mundarten  trfhcii  Htindcsinafsige 
Verbindiintjen  hervor,  mit  echten  Erben;  die  fremden  Spriuben  geben  Mil's- 
hüirathen  und  Bastarde'  (S.  49).  Aber  die  Lehnworte,  die  unsere  Sprache  den 
fremden  Nadibun  entnommeD  hal^  d.  h.  aibo  Fremdworte,  dma.  «udindisdier 
Ursprung  seinem  Spraebempfinden  nieltt  erkennbar  wer,  beanstendeie  er  keines- 
wegs, sie  sebienm  ihm  edite  Erben,  und  so  bat  er  ans  der  fremdlSndtscben 
Wort&milie  des  Turniers  ein  so  volkstümliches  Wort  wie  unser  beotiges 
Tomen  hervorgeben  lassen.  Sein  Taterlandischcs  Gefühl  flbersprang  eben  gerne 
alle  Schranken,  namentlich  folrhe,  die  bei  andern  eine  j^stpigprt<>  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  höher  (;ez()<;en  hatte.  Charakteristiscli  ist.  wie  er  die 
Ahk'itunt»  'Erker'  von  'iireorsi'  hei  Atlehm^  tadelt,  *eB  könnte  wohl  noch  eher, 
oder  doch  ebenso  leicht  von  Arche  herkommen,  um  so  mehr,  da  es  die  Haupt- 
bedentong  mit  Ardie  gemein  bai  Warum  aus  fremden  Quellen  schöpfe n, 
so  lange  die  einheimischen  noch  nicht  versiegen'?  (S.  53).  Es  sind 
dieselben  Einwürfe,  die  neuerdings  gegen  die  sfAteren  Auflagen  von  Kluges 
etymologischem  Worterbuch  erhoben  worden  sind.  Und  noek  ein  Zweites. 
Wenn  es  Jahn  in  manchen  FSUen  gelimgai  ist,  ein  altes  erstorbenes  Wort  in 
der  alten  Bedentunp  zu  neuem  Leben  zu  erwecken,  so  lagen  doch  immer  Ans- 
nuhniefalle  vor,  die  in  der  Zeit  der  Erneuerung  dos  deutschen  Geistes  ihre 
Begründung  fanden.  Aber  im  Prinzip  ^eht  es  doch  nicht  an,  dals  jeder  in 
jedem  Augenblick  eine  verblafste  Bedeutung,  die  vielleicht  nur  noch  in  ver- 
staubten Denkm&Iem  flberliefert  ist,  dem  Worte  unterlegt,  das  er  in  der  grellen 
Beleuchtung  des  heutigen  Tages  gebraucht  Die  Neigimg  des  ehrwürdigen 
Turnvaters  wuchert  heute  aber  gerade  bei  volkstümlichen  Vertretern  der 
Bprachbetrachtung  in  bedenklicher  Üppigkeit,  und  es  tauchen  hier  viele  solcher 
Verstölse  auf,  wie  sie  Jahn  begeht,  wenn  er  zum  Beispie!  das  in  der  mittel- 
hochdeutschen Dichtung  allmählich  tief  gesunkene  Wort  'Minne'  als  das  ediere 
uud  reinere  der  "^Liebe'  aeuenfiberstellt  (S.  100). 

Jahn  ist  auch  in  iiUeksieht  uuf  seine  Spraehhestrebnnjjen  ein  Typus,  ein 
Vertreter  jener  Richtung,  die  sich  aus  Liebe  und  nicht  aus  Beruf  in  die  Ge- 
heimnisse der  Wissenschaft  vovenki  Yorzflge  und  Sdhwiehen  einer  solchen 
BethStigung  auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Philologie  liefsen  sich  gerade  an 
diesem  Beispiel  offen  darlegen,  und  es  hat  sich  damit  die  alte  Wahrheit  neu 
bethätigt,  dafs  die  Vonüge  genau  an  dem  Punkte  zu  Tage  traten,  wo  die  volks- 
tümliche Forschung  mit  der  wusensdiaftltchen  Erkenntnis  Fühlung  <.r*'W'ann. 
Aber  um{Tekt>hrt  liefs  sieli  ebenso  zeigen,  dafs  auch  die  wissenseliaftliche 
Forschung  Nutzen  von  soh-her  Berühnnisr  davontrug,  und  wir  werden  in  der  That 
sehen,  dafs  Altersschwäche  und  Verkninherunii  l)ei  ihr  allemal  dann  einsetzte, 
weim  sie  die  Fühlung  mit  der  vulkätümlichen  Anschauung  zurücktreten  liels 
oder  ganx  verlor. 

In  seltenem  Halse  günstig  war  von  dteaem  Gesichtspunkt  aus  die  Be- 


H.  Wonderlidi:  Die  dvntMhe  Philologie  und  das  deutaehe  VolkrtiiiD.  61 


anJagung  Jacob  Grimms.  R<"i  ihm  v»'r<M*]n«„'t''  sicli  ein  warmes  Gefnh!  filr 
deutsche  Art  mit  einer  auisorordentiiciien  Wiite  dos  Blicks.  Das  St(ifi<;fbiet 
seiner  Wissenschaft  wurde  von  ihm  ganz  umfallt  und  in  allen  Teilen  durch- 
drungen: Sprache,  Sitte,  Religion  und  Reeht.  Der  verbindende  Grundgedanke 
filr  alle  diese  maimigfiütigai  Stadien  wsr  gerade  dae,  waa  Jahn  mit  dem  neu 
gepiigten  Worte  *deutBelie8  Volkstum'  batte  anadrfieken  wollen.  Es  war  aber 
natttrlichy  dab  dem  Tielseitigen  Begründer  der  Wiasenschalt  andere  Forscher 
zur  Seite  standen  nnd  nadlfolgten,  die  einzelne  Teile  aushauen  wollten,  die 
einzelne  Seiten  hervorkehrten,  und  es  war  natumotwendig,  dafs  ihre  Lebens- 
arbeit mehr  zentrifti<:^aler  Art  war.  Charakteristisch  hebt  sich  hier  die  Ge- 
stalt Carl  Lachmanns  ah  Es  ist  bezeichnend,  dafs  eine  Würdigung?  dieses 
Mannes  unter  dem  Gesichtspunkt^  der  unsere  Darlegungen  beherrscht,  überhaupt 
gar  nidit  möglich  ist.  Seine  Persönlichkeit  wurzelt  recht  eigentlich  in  dem- 
jenigen Punkte,  der  am  weitesten  absteht  tob  einer  Tolkstflmlichen  Begung 
wiflsensehaJUieher  Thitigikeii  Die  Mettiode  war  es,  die  er  ausbildete^  nnd  mit 
diesen  BemOhnngen  sachte  and  fiand  er  die  Anldbnmig  im  &eiBe  der  Üteren 
Schwesterwissenschaften,  vor  uUem  der  klassischen  Philologie.  Hit  der  Natur- 
wüchsigkeit wurde  aber  bei  dieser  strengen  Diszipünierung  auch  die  Ent- 
wickhmgsfahigkeit  der  jungen  Wissenschaft  vielfach  geknickt.  Ein  beredter 
ZeiK^e  för  diese  Behauptung  ist  der  Streit,  der  um  fias  Nibelungenlied  cnt 
brannte,  wie  überhaupt  in  der  wechselnden  Stellung  der  deutschen  Philologie 
zu  diesem  Liede  immer  wieder  das  jeweilige  Verhältnis  der  Forschung  zu 
miserem  Volkstom  hervortritt  Denn  das  Nibelungenlied,  kaum  aufgefitmden, 
worde  onTorweilt  aum  Gemeingut  gerade  des  Volkes  aasgornfen.  Das  Stofflidie 
in  Lied  nnd  Sage  regte  nene  Dichtungen  an,  das  SitUidie  in  den  Charakteren 
gab  die  Haltpunkte  fUr  die  Neubildung  des  deutschen  Charakters.  Bekannt 
ist,  dafs  eine  der  ersten  Ausgaben  des  Liedes  als  Zelt-  und  FeMaosgabe  für 
lÜc  jungen  Krieger  f!;«Hlacht  war,  du-  in  den  Befreinnj;skampf  jjej;en  Napoleon 
zogen.  Da  mufste  es  wie  ein  Kaub  am  Nationaleigentum  erscheiuen,  wtiin 
dieses  Lied  nun  aus  dem  gemeinsamen  Gesieht-^kreis  abgerückt  nnd  in  den 
Mittelpunkt  einer  sich  absckheikenden  Gelehrsamkeit  gezogen  wurde,  wenn  sich 
auf  den  volkstOmlichen  deufschen  Sang  eine  Betrachtungsweise  flbertmg,  die 
an  der  Textkritik  griechischer  Autoren  ausgebildet  worden  war.  Und  daxn 
war  auch  der  wissenschalUiehe  Ertrag  dies«:  Thäti|^eit  mit  unerfreulichen 
Nebcnerscheimu^en  begleitei  Der  Nibelungenstreit  ist  einer  der  unfrucht- 
barsten Kämpfe  gewesen,  die  auf  deuteehem  Boden  auagefochten  wurden,  — 
nicht  ein  Gewitter,  d;is  die  Atmosphäre  reinigt,  sondern  ein  Unwetter,  das  im 
iiumin  Thal  nicht  zur  Entfaltung  kommen  kininti-,  und  dm  m'.n  mit  duni|)f(  r 
Schwüle  über  den  Thairändem  brütete.  Es  war  verliiuignisvoll,  dals  m  diesem 
Kampfe  die  überlegene  Kraft  auf  einer  Seite  stand,  auf  der  man  nicht  den 
Kernpunkt  der  Stellung^  sondern  einielne  willkflrlich  vorgesdiobene  Posten  mit 
der  ^uuen  Zibigkeit  verteidigte.  Und  wenn  erst  in  neuerer  Zeit  nach  so 
langem  untiiattgen  Gegenflberstehen  die  Farteien  begmnen,  einer  neuen  Losung 
der  Frage  snxustmiem,  so  lAngt  dies  damit  zusammen,  dafs  die  Berliner  Schule 


62 


H.  Wunderiieh:  Die  deutsehe  Fliilolofte  und  dM  deutidifl  ToUuiliam. 


sich  ullmählich  mehr  auf  dio  ßniTKlgi-düiikea  Liiilmiüiiiis  zurück/Ofr,  diils  sie 
das  Wesentliche  vom  Zuialiigeu  zu  trennen  suchte,  uiid  dalk  aits  mit  dieser 
Änderung  der  KwnpfiBsweise  aoeh  den  Gegner  auf  nene  Balmoi  locikto.  Jettes 
ZufiUlige  Aber,  die  kleinen  Änfimrliddraiten,  die  jetst  preisgegeben  worden, 
hatten  semeraeit  gerade  dem  geniefaenden  Teil  unaMrea  Volke  den  Genula  Tor^ 
cnthulten,  den  ihm  Lachmann  mit  dem  Wosentlicben  seiner  Forschungen  hätte 
bieten  können.  Ncnere  Dichter  haben  sich  an  dem  Feinainn  erbaut,  mit  dem 
Lachniann  an  dem  NiHebni<fenliode  Spreu  urd  Weizen  sonderte,  und  diese 
Leistung  bleiljt  hestehen,  auch  nachdem  dio  Frage  der  Echtheit  und  der  Stroit 
um  div  //iihl  der  Liedi  r  in  den  Hintergrund  getreten  ist. 

Ganz  und  auf  uuäer  Volkstum  als  solches  gerichtet  und  dabei  vor 
jeder  yolksfcümliehen  BethSügung  seiner  Studien  aurfl<toehenend,  zeigt  sich  der 
bedeutendate  Schflier  Lachmann%  Carl  Hüllenhoff,  der  Vwfiuser  der  dentsehen 
Altertumskunde.  Ein  Mann,  der  die  Empfindnngswelt  seinea  weichen  Qemtttes 
nur  verhalten  kund  gab,  der  die  liegnngen  seines  heftigen  Temperamentes  um 
so  kräftiger  zum  Ausdruck  brachte,  war  er  mehr  dazu  geschaffen,  die  ab- 
schlielkeiide  Rielitunj?  seines  Vorgängers  fortzusetzen.  Um  so  empfänglicher 
knm  Williehn  Öcherer  dem  Umschwung  entgegen,  den  die  Kriegsjahre  von 
iStit)  untl  1870  in  der  deutschen  Volksseele  wachgerufen  hatten.  Durch  alle 
Kinzelforschungen  hindurch  suchte  er  den  Untergrund  der  Erscheinuugen  blofs- 
aulegen,  das  deutsche  Wesen  suchte  er  au  bestimmen,  den  dentsehen  Charakter 
suchte  er  zu  entadlfem,  nnd  daa  achien  ihm  daa  Bndaiel  aller  Angaben  auf 
dem  Gebiete  der  deutschen  Philologie.  Ans  der  Geschidite  der  Sprache  wollte 
er  die  Züge  des  Nationalcharakters  ablesen,  so  gut  wie  aus  der  Geschichte  der 
Dichtung,  und  so  wandelte  sich  bei  ihm  daa  unscheinbarste  Problem  um  zum 
Trager  dei'  ])edeut.samsten  Anregungen.  Kein  Wunder,  diifs  die  Thatsachen 
in  den  Zusammen liiui gen,  die  sein  Geist  unermüdlich  neu  fo'Tntf,  nicht  immer 
zu  ihrem  Rechte  kamen.  Selbst  das  Bild  des  deutsehen  Volkstiuiir^,  wie  es  ihm 
sich  spiegelte,  widerspricht  den  Forderungen,  die  wir  am  Ende  des  19.  Jahr- 
hnndterta  erheben  dürfen.  Wie  ao  viele  bedeutende  Ißnner,  deren  Reifeaeit  in 
den  Anbruch  des  neuen  dentadien  Eaiaertnma  fiel,  hat  er  aich  in  mandien 
Strebungen  und  Regungen  der  jüngeren  Generation  nicht  ganz  zurecht  finden 
können.  Die  schroffere  Betonung  der  nationalen  Eigenart  war  seinem  Em- 
pfinden  fremd,  ihm  schien  der  deutsche  Geist  am  li(H-hr4,toTi  da  zu  stehen,  wo 
er  mit  dem  Geiste  fremder  Dichtungen  Bündnisse  sclilols.  Die  liöfische  Dich- 
tung des  Mittelalters  entzückte  durch  ilnen  Wortlaut  sein  IVine.s  Ohr;  die 
nnhfliiili'licheren  Aeeente  des  deutschen  VVesens,  die  aus  der  Spruchpuesie  her- 
vorbrechen, drangen  ihm  nicht  ms  Herz.  Zu  Luther  hat  Scherer,  so  meister- 
haft er  alles  Litterarhistorisdie  um  ihn  herum  zu  gruppieren  wufate,  doch  nie 
in  innerem  Verhaltnisse  gestanden,  Lnther  gehörte  für  ihn  in  die  Niederung  der 
Wellenbewegungen  deutecher  Poesie.  Goethe  in  Weim«r  war  für  Qm  daa 
End/.iel,  ein  Höhepunkt,  von  dem  aus  nur  noch  ein  Herabsanken,  eine  neue 
Niederung  des  geistigen  Lebens  möglich  schien. 

Also  anch  in  Scherer  sehen  wir  ein  Gestirn,  das  allmählich  wieder  ab- 


H.  Wnndcrtidi:  Dia  dmtMhe  Philologie  und  das  denteebe  Volkstnm. 


63 


rücktv  v(in  dcii  llmtsüi  hlichcii  Htnlürfiusscii  sciiu's  Volkes.  Sn  nahe  aiu-li  seiner 
Persönlichkeit  die  Aiiaciiauungöweise  Jacob  Grimms  lag,  so  leitete  für  ihn  doch 
die  ÜbersMdlnng  von  Strafobni^  nach  Berlin  eine  Abkehr  ein. 

buEwiaehea  war  vorwiegend  im  Lager  seiner  Gegner  —  eine  nene  Macht 
cmporgewaehBen,  die  unter  den  Anregungen,  die  sie  einzelnen  Teilen  der  deutechen 
Philolugic  brachte,  eine  nene  SchSdigitng  barg,  die  Gefahr,  daCs  der  Zusammen- 
hang  der  Ti-ile  untereinander  zerrissen  werde.  Die  Linguistik  auf  Grund  einer 
neuen  Methode  innerhalb  der  vergleichenden  Sprat  lifoischung  drolitc  die  Philo- 
loffif»  sclhs't  g^finz  in  den  Hintergrund  zu  schiebi  ii.  Um  ernster  wurde  diese 
^i'falir  für  die  deutsche  Philologie,  als  sich  ihr  bei  der  ablehnenden  Haltung 
ucr  klosisiticbia  Philologie  die  ganze  Anregung»tahigkeit  fast  ungeteilt  zuwandte. 
Es  hat  den  Anschein,  als  ob  diese  Gefahr  heute  schon  überwunden  sei,  als  ob 
die  dentsche  Philolugie  sich  wieder  anf  sich  selbst  besinne  und  sieh  erinnere, 
dafit  sie  xwar  allerdings  ein  Grenzgebiet  mit  der  Twgleichendai  Spradbwiasen- 
schafli  teile,  dafs  sie  aber  mit  anderen  Grenzgebieten  auch  an  andere  Wissen- 
scbaflen  stofse.  Lumorhin  aber  ist  diese  rücklaufige  Bewegung  erst  in  ihrem 
Anfang,  und  neben  all  den  Errungenschaften,  die  wir  der  vergleichenden 
Sprachwissenschaft  zu  danketi  haben,  leiden  wir  doch  avich  an  manchen 
Schäden,  die  die  jünj^t  erkbie  VerrOckung  der  Grenzlinien  über  uns  ge- 
bracht hat 

Es  wird  sich  am  Schlüsse  der  Darstellung  zeigen  lassen,  bis  zu  welchem 
Grade  der  Umfang  der  dentscheti  Philologie  im  leisten  Jahrzehnt  sidi  Tcrengert 
list  Die  Ffihlung  mit  der  mittelalterliehen  Geschichte  und  mit  der  deutschen 
Rechtskonde  ging  an  mehr  als  einem  Orte  ganz  verloren,  indes  der  berufene 

Vertreter  der  Germanistik  sich  ausschliefslich  auf  das  Studium  der  Sprache 
warf  Aber  auch  dieses  Studium  der  Sprache  selbst  ging  schweren  Beein- 
trärbtigTing;pn  entgegen.  Die  vergleichende  Sprachwisf^enschaft  kann  die  Kiir/el 
spni<he  niemals  in  ihrem  vollen  Umfang  und  mit  allen  ihren  Kechtsanspriiehen 
zur  Gtsltung  kommen  lassen,  sie  zieht  immer  nur  Einzelheiten,  Teile  zur  Be- 
trachtung heran.  Und  diese  Einzelheiten  reilst  sie  gerade  aus  dem  Zusammen- 
hang heraus,  in  dem  sie  thatsaehlieh  dargeboten  werden,  um  einen  anderen 
Zuaammenhang  zu  gewinnen,  den  die  Hypoäiese  erst  konstruiert  Die  Gefidir 
der  Konstruktion  an  Stelle  der  sorgsamen  Beobachtung  der  Thatsachen  li(^gt 
der  Tergleichenden  Sprachwissenschaft  um  so  näher,  j<  mehr  der  Kreis  der 
angezogenen  Sprachen  sich  erweitert,  und  je  weniger  der  Einzelne  imstande  ist, 
d'mcn  Kreis  in  allen  Teilen  erschöpfend  zu  durchdrinj^en.  Daher  sind  in  neuerer 
gerade  unter  den  Vertretern  der  vergleiehendeii  Sjiraeh Wissenschaft  Be- 
deukiJü  geltend  gtmiuiht  wonlen  gegen  entsprechende  Erscheinungen  auf  ihrem 
(eigenen  Gebiete,  und  auch  dem  Unbefangensten  muTs  es  zu  denken  geben,  dals 
die  Sammlnng  von  *Elementarbflcheni  der  altgermaniscfaen  Dialekte'  mit  einer 
'sigenoanisdien  Gh«mmatik'  erSfihet  wurde,  also  mit  der  Grammatik  einer 
Sprache,  die  in  keinem  einsigen  Denkmal  flberliefert  isl^  sondern  die  ganz  und 
gwr  auf  Kekonstruktion  und  Kombination  beruht.  Das  wissenschaftliche  PA- 
psnt  geht  hier  dem  lebendigen  Organismus  Toraui^  während  sonst  auf  anderen 


64  H.  Wnndttlieh:  Die  dentsche  Philologie  und  du  deutaehe  Yolkatuiii 


Gebiettm  der  wissenschaftliche  Unterridit  den  nmfreknhrtrn  Wfir  pinsihlili;!. 
Bosonders  bedeuklicli  acheint  mir  dioser  limstiiii(l  bei  der  iiniuer  weik-r 
greifenden  Trennung,  die  sich  augenbiRkiuh  innerhalb  der  deutathen  Phih)- 
logie  zwischen  der  Sprachforschung  und  der  Litteratutgeschichte  bemerken 
lafBt.  Dafs  die  SpnMihe  nur  in  Mitteilung  lebt  und  nur  in  dieser  eigentlicli 
erfafst  werden  Icann,  diese  Thatsacbe  schwindet  immer  mehr  aus  dem  BewuTst- 
sein  jener  ^rachforBdier,  die  in  der  Lautlehre  und  im  Wörterbueh  den  Umfang 
und  den  Inhalt  einer  Sprache  zu  umfassen  glauben. 

Aber  auch  noch  eine  weitere  Folgt  hnttc  die  fkllzu  enge  Annähenmg  der 
Gtrinanistik  an  die  vfrfrloichpndo  Sprachforschung.  Wohl  ist  es  in  erster 
Linie  (iiizelnen  Vertretern  dieser  Wissenschaft,  unter  den  Junggrammatikern 
z.  B.  Hermann  Osthoff,  zu  danken,  dafs  die  neuhochdeutsohp  Sprach- 
stufe und  vor  allem  deren  mundartliche  Verhältnisse  neben  der  Betrachtung 
der  alteren  SpnehBtnfen  wieder  in  Aufechwung  kamen.  Fflr  Jacob  Grimm 
lag  in  der  neueren  SpraehentwicUung  nur  Entkri&ftnng  und  Verderbnie  vor, 
Air  die  Junggrammatiker  dagegen  bot  sich  hier  die  willkommene  Gelegenheit 
Spraehproaease,  die  rie  für  die  ältesten  Perioden  als  Hypofbesen  aufimstellen 
gezwungen  waren,  im  ToUen  Lichte  urkuiullicher  Belege  nachweisen  zu 
können.  Aber  daraus  ergaben  sich  doch  mehr  aphoristischo  Eingriffe  in  tlns 
Gebiet  der  neuhochdeutschen  Grammatik,  und  diu  eigentlichen  AufL'nbt'n  dieser 
Wissensehaft  konnten  hier  nicht  zur  Geltung  kommen.  Und  seit<lfm  hat  sich 
der  Schwerpunkt  der  Forschung  aufs  NeQe  wieder  ganz  nach  rückwärts  ge- 
zogen, d^  Gebiete  so,  wo  Germanistik  und  vergleichende  Spraehforschung  an- 
einander Stöfs«},  auf  ein  Feld,  wo  der  junge  Gdlelate  mit  dem  grolaeren  &eise 
der  Fadigenossen,  mit  der  höheren  Wahrsdieinlichkeit  Sufserer  Anerkennung 
und  sicherer  Erfolge  rechnen  darf.  Denn  der  Anbau  der  neuhochdeatscfaen 
Grammatik  gilt  noch  beute  in  weiten  Kreisen  als  nicht  SO  vornelnn  und  ver- 
dienstvoll, wie  irgend  eine  unsichere  Kombination  der  urgermnnischen  Grammatik. 
Daher  kommt  es  denn  auch,  dnls  «rrrnde  in  unserer  Zeit,  wo  zu  den  lebhaf- 
testen BedUrfni^üen  des  deutschen  Volkstums  eine  tief<n"findende  Erforschung 
unserer  neueren  Sprache  gehört,  wo  der  Stajit  in  Verordnungen  und  Einrieh 
tungen  dieses  Studium  au  fördern  sich  bemttht,  daik  gerade  jetzt  ittr  den  jungen 
Geiehrtm  die  Beschtftigung  mit  diesem  ab  so  notw^dig  anerkannten  und 
noch  so  firoditbaren  Gebiete  die  wenigste  Aussieht  auf  aufaere  Erfolge  bietet. 
Man  sehe  einmal  die  'Deutsche  Grammatik'  von  Wilmanns,  die  zum  grofften 
Erstaunen  ao  manches  Gt  rmanisten  auch  die  neuhochdeutsche  Grammatik  als 
unter  den  Begriff  der  deutschen  Gramnuitik  fallend  auffafste.  man  sein-  dif-i-  auf  die 
Litteraturnotizen  durch,  und  man  gewinnt  einen  Einblick  in  den  dürftigen  Um 
fang  des  bisherigen  Betriebes  auf  diesem  Gebiet.  Oder  nuiii  mache  selbst  den 
Versuch,  man  arbeite  ein  l'roblem  der  neuhochdeutschen  Grammatik  durch, 
oder  versuche  das  Ganze  au  Vorieeungsswec^n  im  Überblick  ausammenzuiiuMen, 
und  man  wird  geradeau  vor  einem  Bitsei  stehen.  Eine  Fttlle  von  Aufgaben 
Ittr  grofee  und  kleine  Erilfte,  und  so  wenig  Arbeiter!  Geradezu  unerschöpflich 
nräre  dieser  Boden  an  Doktoraufgaben,  die  einer  jugendlich«m  Kraft  den  Spiel- 


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H.  Wanderlich:  Die  deutsche  Philologie  und  dan  deutsche  VolkaiuiiL 


65 


räum  snr  Ent&ltunrr  giU)on,  und  die  ihm  für  das  spätere  borufliche  Leben 
zugleich  den  Mittelpunkt  darboten,  um  den  sich  das  wissenschaftliche  Interesse 
iraraff  wieder  konzentrieren  konnte.  AUffemeine  Fragen,  wie  die  Eini<»iing 
UTT<?iTer  Schriftsprache,  die  Abgrenzung  der  Mundarten  unt^reiiiaiider  und  j^e^ea 
die  Gtint  insprache,  das  Verhältnis  von  Praxis  und  Theorie,  von  Spraclieiitwiek- 
lung  und  Bpracbgesetzgebang;  und  daneben  die  £inzelprob!eme  der  Lautlehre, 
Fonnaüehre,  Wortbildung,  Wortforsehnng,  Syntax  und  StUistik,  alle  dieiM» 
Objekte  der  Spraehforsehong  mflfsten  bei  bewölkter  Eingrenxnng  auf  das  Gebiet 
der  neuhocbdeutschcn  Sprache  einen  Ertrag  abwerfen,  dessen  wisscnschaftlicbe 
Bedeutung  noch  Über  die  Schranken  des  zunächst  gesteckten  Zieles  hinaoS' 
reichen  würde.  Die  neuhochdeutsche  Grammntik  konnte  hierdurch  der  ver- 
gleichenden Sprachwissenschaft  ihr  Kapital  mit  Zin.><en  zuröckzahleii  und  luüfste 
nicht  immer  hh)fs  als  der  Empfänger  dastehen.  Aus  der  (ieschlosscnheit  ein<  r 
durch  Litteraturdenkmäkr  und  Urkunden  den  Zeitraum  von  bOO  Jahren  be 
legten  Spzacheatwicklung  eines  engeren  Gebietes  muA  ja  ein  ganz  neues 
Iddit  auf  alle  die  Fragen  fallen,  die  bislang  meist  nur  aus  der  Zerrisaenbeit 
und  Lfldcenbaffcigkeit  einer  iftnmli«^  und  Mitlich  weitaosgreifondmi  Spracb- 
poiode  erhellt  wurden. 

Ich  leugne  gar  nicht,  dafs  Ansätze  in  der  geforderten  Richtung  aus  neuerer 
Zeit  zahlreich  vorliegen;  bedeutsame  Vertreter  «jerade  der  linguistischen  Hieh 
tung  haben  auf  die  neuere  Sprache  und  auf  eine  umfassende  Grundlage  derselben 
endlich  ihr  Augenmerk  geworfen;  Preisaufgaben  und  Doktordisaertationen  der 
neueren  Zeit  greifen  mehr  und  mehr  in  diese  Bahnen  ein,  in  Berlin,  Halle,  Mar- 
burg und  Göttingen  lilst  sieh  ein  swedLbewufstes  Vorgehen  nach  dieser  Rich- 
tung beobachten.  Und  das  ist  es  gerade,  was  Not  thul^  das  ZweekbewoDite,  die 
Konzentration,  der  Zusanunenhang  in  düesen  Bestrebungen.  Und  au  diesem 
Zweck  muls  sidi  das  wissensdiafthclu'  Interesse  an  solchen  Studien  bei  den 
berufenen  Vertretern  der  Philologie  mit  dem  Bewufstsein  verbinden,  dafs  für 
sie  hier  eine  Pflicht  gegenüber  dein  deutschen  Volkstum  vorlie<rt.  In  den 
weitesten  Kreisen  gerade  der  Ivation  hat  sich  die  Erkenntnis  Bahn  gebrnehen, 
dafs  uns  in  unserer  Sprache  ein  voniehmstes  Ausdnicksmittel  unseres  Volks- 
tums gegeben  ist  Daher  der  Aufschwung  der  Sprachbestrebungeii  in  unseren 
Tagen,  wo  unser  Volk  nach  dem  Ausdruck  seines  innwen  Wesens  ringt  Und 
in  dem  dunklen  Drange,  der  hier  erwadite,  sah  sich  das  Volk  von  seinen 
Führern  rerlassen,  man  gab  ihm  Steine  statt  des  Brotes.  Wo  heute  ein  Lehrer, 
der  die  germanistische  Durchsdmittsbildung  genossen  hat,  in  gebildete  Kreise 
tritt,  die  sich  mit  der  Muttersprache  angerc(Tt^r  beschäftigen,  wird  er  znnach.st 
jedenfalls  nicht  zum  Führer,  kaum  überhaupt  zum  Genossen  tanken.  Er  bringt 
ein  schweres  Rüstzeug  von  GelehrsamkcMt  mit,  aber  es  sind  nicht  die  Waffen, 
mit  denen  er  hier  kämpfen  könnte.  Denn  es  ist  nicht  so  einfach,  wie  man 
firOher  wohl  angenommen  bat,  auf  der  0rund]i4^  der  alüioehdeutaehen  und 
mitteihoehdeutMlum  Spnidikenntnisse  sich  auch  gleich  die  neuhoehdeutsdie 
Spraehstufe  zu  ersehlieJhen.  Und  auch  der  Mann,  dar  seine  gmnanistischen 
Studien  mit  da-  LautstatiBtik  einer  bestimmten  Ifundart  al^eschlossen  hat^ 


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66  H>  Wimd«rli«li:  Die  deutaehe  Philologie  und  4»  doatieho  ToUainnt 


ftililt  sich  iiüliios  und  verlassen,  wenn  er  nun  plötzlich  im  Unterricht  und  im 
VeilBsiir  mit  den  Anwolmeni  der  Sehuki  den  Kampf  miedira  Mondut  und 
Sdiriftsprache  entbrennen  sielii  Es  atehen  bedeateame  Beiapi^  aus  den  Er- 
fahrungen  der  Schule  liier  ta  Gebote.  Die  einlenchtendsten  Beweise  lieini  uns 
aber  die  populäre  Litterator,  die  auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Spracbe  so 
üppig  ins  Kraut  geschossen  ist,  und  in  dar  wir  das  Eingreifen  des  germanistisch 
i^f»««c}iultcn  LohrorstuiKk'S  sclimer/liih  vermissen,  wenn  nnttirÜcli  uucli  für  diese 
aufgestellte  liegel  du-  bestätigenden  Au.suahmeii  nicht  fehlen.  r)a  ist  en  denn 
kein  Wunder,  wenn  sich  das  liebe  PubUkum  auf  seine  Art  hilft  und  (he  Ver- 
treter der  Wissenschaft  und  Forschung  am  Ende  als  Drohnen  aus  dem  Stucke 
wirft  Die  Geschiebte  des  dentschen  SprachTereins  bietet  ein  lehrreiciies  Bei- 
spiel, und  die  Str5mungen,  die  innerhalb  dieser  KSrpersehaft  anfemander  stoisen, 
geben  dem  Einsichtigen  wohl  zu  denken.  Daher  ist  es  mit  Freude  au  be- 
grflüsen,  dafs  immer  mehr  Forscher  sich  der  Pflicht  bewufiit  werden,  innerhalb 
dieser  Gemeinschaft  mit  dem  deutschen  Volkstum  wieder  engere  Fühlung  zu 
gewinnen.  Je  mehr  Belebning  und  tiefer  geschöpfte  Erkenntnis  auf  diesen 
frncbtbaren  Boden  fiillt,  luu  so  empfänglicher  wird  dieser  für  die  Lehren  der 
Wisaenschaft  überhaupt  werden.  Denn  nur  mit  der  Forschung  im  Bunde  ver- 
mag diese  Körperschaft  über  die  Kampfesmittel,  über  Abwehr  und  Verneinung 
hinaus,  aum  fruchtbringenden  Schaffen  Tozsuschreiten,  und  solchen  Erfolgen 
gegenüber  werden  auch  die  Angriffe  TersfamuneUi  die  auf  der  Versammlung  in 
Gras  sum  Worte  kommen  konnten. 

Doch  mit  der  Sprache  ist  ja  der  Aufgabenkreis  der  Philologie  nicht  er- 
schöpft. Dichtung,  Sitte,  Religion  und  Recht  sind  ebenbürtige  Aufgaben,  und 
sie  haben  als  solche  in  den  Forschungen  Jacob  Grimms,  in  der  Lebensarbeit 
von  Müllenhoff"  und  heilerer  und  neuerdings  in  Pauls  Grundrifs  der  germani- 
scheu Philologie  das  einigende  Band  gefunden.  Es  ist  aber  be7,eichnend  für 
unsere  heutige  Anschauung,  dals  derselbe  Germanist,  der  in  dem  einseitigsten 
Spenalistm  auf  dem  Gebiete  der  Ijautforschung  einen  beruibnen  Vertreter 
der  germanischen  Philologie  anerkennt,  doch  niemals  sich  entschlieisen  wflide^ 
dieselbe  Anerkennung  %.  B.  einem  Speziaiforsdier  der  deutsehen  Mythologie  ent- 
gegenzubringen. Dem  Litterarhistoriker  Übertragt  man  an  der  Hochsclnih-  das 
Fach  der  neueren  Litteratur,  allenfalls  von  Luther  an;  aber  für  das  Fach  der 
älteren  deutschen  Litteratur,  für  die  Darstellung  unserer  mittelalterlichen  Dich- 
tung hält  man  denjciiij^en  für  besonders  geeignet,  der  sieh  etwa  mit  den  Laut- 
verhältnissen in  althochdeutschen  Glossen  beschäftigt  hat.  £s  ist  geradezu  ein 
Jammer,  in  weldber  Weise  an  yielen  Hochschulen  unsere  altdeutsche  Dichtung 
müshandelt  wird,  wddien  Zwecken  der  Heliand,  das  Nibdnngenlied  oft  dienen 
rnuls,  wie  wenig  nationaler  Gehalt  solchen  akademischm  Vortrage  entsfardmt. 
An  eine  Verbindung  der  mittelalterlichea  Dichtung  mit  der  mittelalterlichen 
Geschichte  denken  nur  bevorzugte  Vertreto*  des  Faches,  und  die  intimere 
Kenntnis  altdeutscher  Poesie  hndet  man  an  vielen  ITochschuleu  bei  dem  mittel- 
ulteihehen  Historiker  oder  bei  dem  Vertreter  der  deutschen  H^chtsgeschiehte. 
Das  Bedeukliche  au  dieser  Wahrnehmung  ist,  daiä  solcher  Vorwurf  viel 


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U.  Wunderlicli:  Die  detiticlie  Philologie  und  daa  deutsche  Yolkatom. 


67 


iKniger  die  ilterto  Ctolehrton  als  die  jOngereii  Vertreter  du  Fedies  trifft,  die 

mh  als  Lingaisten  fQhlcn  utu!  die  Litteraturgeschichti'  iii)  Nebenamt  diiruh 
eine  fleifäig  auügcarbeit^'tc  Bibliographie  ahthun.  Wer  die  ExameiiTerbältniHse 
kennt,  der  weifsi,  wie  tit'fi^rfitViul  nun  tlit*  Küclcwirknn«?  auf  die  horanwacliscnde 
Generation  der  i'hilologen  sein  muls.  A'orlt'sunjrcn  über  AltertmuBkuiidc,  ül>er 
Sitte  untl  Kultur  des  deutsehen  Mittelalters,  über  Mythologie  —  nach  philo 
logischer  Metbode  gelesen  —  können  auf  Zidiörer  kaum  rechnen,  sie  mQsaen  sieh 
der  populären  Vom  eines  sogenenntai  'anregenden'  KoUegs  anbequemen.  Eine 
ToriMQ]^  übor  Tacittu  'Genmuiia*  sieht  an  einer  dentecken  Univeraitat  seit 
Jeliren  die  Znliörer  aller  FakoUftten,  mit  alleinigem  AusechlnfB  der  Germanieten 
an,  und  ähnliche  Beispiele  liefsen  sich  vermehren.  Es  ist  wiederum  eine  auf- 
£illende  Erscheinung,  dafs  das  Geistesleben  der  deutschen  Vergangenheit,  das 
unsere  Gegenwart  in  allen  Schieht^'n  der  Geaellr^cliaft  so  vielfach  beschäftigt,  das 
in  unserer  neuzeitlichen  Dichtung  so  vielgestaltig  nachwirkt,  dal"»  diese  ganze 
Anschauungswelt  gerade  für  so  viele  Germanisten  vers(  iilossen  bleibt.  Und  für 
diese  betrübende  Wahrnehmung  au  deu  Er/iehern  des  Volkes  bietet  e»  auch 
keinen  Breata,  wwin  andemorte  Diditer  und  Diditerlinge  eine  phantastiaclie 
nordische  Wdt  aidi  xniammen  trftomen,  wenn  sie  die  Gestalt  des  germanisehen 
Becken  durch  Häufong  von  Eigensehallen  an  gewinnen  sndien,  die  ihre  erhitate 
Phantasie  ersinnt.  Was  dabei  herauskonimt,  sieht  man  an  WildenbmdiS  mifs- 
glflcktem  'Willehahn*.  Die  deutsche  Volksseele  erschliefst  sich  uns  aus  dem 
dcutsthen  Altert^im  in  gnn?  anderer  Form,  als  solche  Dichtung  sie  darbiet^-t; 
von  tiefgreifenden  Irrtümern  umstrickt  o'itfalten  sich  uns  dort  ihre  glänzenden 
Vorzüge,  im  Guten  wie  im  Bösen  cm  iiüd  von  Naturwürhsigkeit  nnd  Kraft. 
Und  TOD  dieser  Kraft  nur  ein  Bruchteil;  nur  ein  ilestbestand  von  jenem  Uber- 
■duttse  an  Beditihewiifstaein  nnd  stolsem  Matmennut}  er  wSxe  stark  genug, 
Uli  durch  alle  St&rme  der  Gegenwart  au  tragen. 


DIE  oebmäkisghe  heldendtchtuno  mit  besonderer 

RÜCKSICHT  AUF  DIE  SAGE  VON  SIEGFRIED  UND  BBUNHILD^). 


Wie  so  viele  andere  war  auch  ich  genährt  und  grofs  gesogen  durch  die  saggeachicht- 
lichen  FondningeiB  W.  Giiioii»,  L.  Uhland«,  F.  E.  HfiDetSf  LachmanM  ancl  besondfln 

MüllenhoiTR.  AI«  ich  aber  durch  letzteren  veranlafst  mir  den  GnindRatz  eigen  macht«, 
daf«  eine  sagf^eschichtliche  Quelle  wie  jedes  littcrarhiRtorisrhe  Dculcinal  zu  behandeln  timl 
vor  allem  nicht  von  dem  Orte,  wo  ea  geiunden,  und  von  der  Zeit,  in  der  ea  entstanden, 
loBsnUMn  Ml,  4»  regte  ddi  bald  der  Zweiftl  am  den  alten  OlanbenHUmi,  and  iouner 
mehr  wich  die  Ruhe  der  Überzeugung.  Ich  prüfte  die  Quellen  unaorer  Tlcldcnsa^^t'  uIh  das, 
was  sie  waren,  al^  poetische  Erzeugnisse  einer  bestimmten  Zeit  und  einer  bestimmten 
Gegend,  ich  verglich  etic  mit  den  Denkmälern  der  Zeitgenossen,  und  unwillkürlich  wurde 
das  Bild  anden,  als  ich  es  gewohnt  war  ni  aduraen.  Und  all  dann  Qollher  die  Stadien 
zur  germanischen  f^u^roui^'OHoliiclifo  imd  Symotis  Reine  scharfsinnigen  T^'ntemirhnn^'en  über 
die  Sage  von  Siegfried  und  tirunhilde  veröii'cntlichten ,  ward  ich  durch  sie  in  meinen  An- 
schauungen nur  bestärkt,  obgleich  letzterer  zu  ganz  anderem  Besoltate  gelangt  ist,  als  ieh 
hier  vorlegen  kann.  Dasselbe  war  der  Fall,  als  ich  jflngat  SehOnhaehs  feinsinnige  Abhand- 
lini<»cn  über  die  nltdeiitsclie  IIo]clendichtun<;  las,  wenn  ich  auch  mancbe?^  anders  als  Schön- 
bach,  dem  ich  neben  WÜmanns  so  vielfache  Anregung  verdanke,  au&ofasseo  genötigt 
bin.  Mit  dteeen  Fotschem  habe  ich  mich  in  fMhwissensehaftliehen  Zeitschriften  ans- 
flinaadennselaen.  Ich  hätte  das  vor  Veröffentlichung  dieses  Vortrags  thun  sollen,  ullein 
Hfp  TnanniRfarhsli  n  Pflichten  haben  mich  noch  nicht  die  Zi  it  erübrigen  lüs^en,  «las  ziemlich 
umfangreiche  Material  genügend  zu  sichten  und  zu  ordnen.  Und  doch  möchte  ich  nicht 
die  BrgebniBse  jahrelanger  Arbeit  linger  liegen  lassen,  da  ich  inuner  von  nemem  sehen 
Miufs,  wie  einer  der  wichtigsten  Abschnitte  altgermanischer  Heldensage  durch  ubansditigte 
Kombination  mirsvei >t;inilen  wird  Dafh*  ich  viele  tmd  ücLarfe  Angriffe  zn  erwarten  habe, 
weils  ich,  denn  die  alten  Watten  sind  noch  allgemein  in  Gebrauch.  Man  wird  wieder  mit 
Namen  nnd  Efymologiea  kommen,  die  nidits  bewetsen,  man  wird  wieder  die  Forderung 
«teilen,  Hypothesen  anzuerkennen,  die  unbewiesen  und  überhaupt  unbeweisbar  sind,  man 
wird  wieder  mit  dem  Liede  vom  Hürnen  Seyfried  und  mit  dem  Märchen  von  Dornröschen 
wirtschaften  und  wird  den  Brunhildenstuhl  eine  Uollc  spielen  lassen:  alles  da»  ist  von 
mir  wiederholt  geprüft,  aber  nicht  ans  seinetn  geechicfatliehen  Znsammenhange  heraas» 
genesen  und  deshalb  für  die  mythische  Grundlage  unserer  Heldensago  als  gehaltloses 
Material  erfunden  worden.  Von  der  Zeit  an,  wo  ich  dies  fallen  liefs  und  das  Nibelungen- 
lied als  mittelhochdeutsches  Gedicht,  die  eddischen  äigurdsliedcr  als  Gesänge  aus  der 
Wiktngencait  anffiklste,  worden  mir  diese  wie  jenes  ent  klar  nnd  verstikidlielL  Dab  ich 
in  allen  Einzelheiten  das  Kechte  fretmften,  wage  ich  durchaus  nicht  zu  beliaiipt^jn,  doch 
habe  ich  bei  der  Prüfung  eines  jeden  als  Teil  des  Ganzen  überall  darnach  gestrebt,  den 
objektiven  Thatbestand  wa  ermitteln. 


Von  EuosK  Hooc 


V  0  r  h  e  m  e  i-  k  u  n  g. 


')  Akademische  AntrittsTodeeang,  gehalten  in  Iiei|wig  am  11.  Hai  IMft. 


£.  Mogk:  Di«  genoMiisehe  Ueldeadicbtaiig. 


6U 


Als  die  Brfider  Grimm  im  Ajiluige  nnaeres  JahrbundartB  den  Onrndstein 

war  germanischen  Philologie  legten,  hlQhto  in  der  dtutschen  Littoraiur  die 
Romantik.  Jacob  sowohl  ala  Wilhelm  standen  mit  den  Häuptern  dieser  littera- 
rischen Richtimp  in  freundschaftlichem  yt  iktlir»',  und  es  läfst  sich  nicht  Icngnen, 
dals  ein  grolsor  Teil  ihrer  viekfitigeii  Thätij^ktit  durch  die  Rfunantiker  an- 
geregt worden  ist.  Hierher  gehortu  vor  allem  die  Sammlungen  der  Märchen 
and  Sagen,  daneben  aber  auch  die  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  Mjtho- 
lof^e  und  HeldenBi^.  WoU  bauten  beide  Brflder  bei  weitner  Dnrdiarbeitung 
det  Stoffes  und  vor  aUent  nadb  Jaeobs  grundlegenden  Arbeiten  Uber  die 
gemumiechen  Sprachen  auch  ihre  mythologischen  und  aaggeseluclitliehen  Werke 
auf  festerer  Grundlag«'  auf,  allein  des  Geistes,  der  ihre  2^it  beherrschte,  konnten 
sie  sich  nicht  vollständig  entschlagen,  und  so  blickt  selbst  aus  ihren  voll 
endetsten  Werken  zwischen  den  Zweigen  der  exakten  Forschung  die  BlUte  der 
Romantik  hindurch. 

Auf  ihren  Schultern  hat  dann  ein  ganzes  Geschlecht  weiter  gearbeitet 
Selbst  ein  so  strenger  und  exakter  Fhflologe,  wie  K.  Lachmann,  der  neben  den 
Brfldem  Miib^rfinder  der  neuen  Wissensckaft  war,  schlug  nacb  dieser  Rich- 
tung hin  ahnlidie  ein:  in  seinen  Deutungen  der  einsidnen  Gestalten 
der  Heldensage  steht  er  mehr  oder  weniger  unl^r  dem  Stnflusse  der  Romantik. 
Sie  beherrschte  das  akademische  Katheder;  von  hier  drangen  die  Lehren  durch 
Wort  und  Schrift  in  das  Volk ,  und  ans  dem  Volke  heraus  sprolste  ein  Ge- 
schlecht von  Künstlern,  <hi8  die  orHrhlossenen  Thateti  altdeutscher  Götk-r  und 
Helden  durch  Wort  oder  Bild  von  neuem  vor  unseren  Augen  geschehou  liefs. 

Der  unbefangene  Beobachter  kann  in  den  aufbauenden  Werken  jener  Zeit 
flboall  das  Idesl  der  Bomantito  wiederfinden:  je  melir  neh  ^e  Dichtung,  die 
man  der  Forachung  zu  gründe  legte,  von  der  realen  Welt  entfernte,  um  so 
iltor  mnlstB  sie  s^,  um  so  hdheroi  Wert  legte  msn  ihr  bei.  Und  je  weniger 
die  Quellen  selbst  erschliefsen  liefsen,  um  so  eifiriger  kombinierte  man  und  be- 
diente sich  dabei  nicht  selten  bindender  Glieder,  die  bei  genauer  historischer 
Betrachtung  vollständig  nnbrauchl)ares  Material  sind.  Neben  den  Saj^n  und 
Märeben,  denn  Ursprung  in  uralte  Zeit  hinaufgeschoben  war,  äpielten  in 
dieser  Periode  wissenschaftlicher  Forschung  eine  ganz  hervorragende  Rolle  die 
Kdihilieder,  jene  Sammlung  norwegisch-isländischer  Gedichte,  deren  erster  Teil 
▼on  den  Göttern  und  ihrem  Wirken,  deren  aweiter  von  den  Helden  unseres 
Nibdungenliedes  banddi  Mit  ihrer  Hilfe  hatte  Jaoob  Grunm  den  germani- 
seheo  Gdtteriummel  aufgebaut  und  Wilhehn  im  Bunde  mit  Lachmann  die 
ursprüngliche  Gestslt  unterer  Nibelungensage  konstnderi  1ha  stellte  die 
deutschen  Quellen  aus  alter  und  junger  Zeit  unmittelbar  neben  die  nordischen, 
erklürtf  jene  aus  diesen,  ohne  dabei  die  Entwicklungsreihe  ins  Auge  zu  fassen, 
die  die  verschiedenen  Quellen  durchgemacht  hatteu  und  die  eine  Veränderung 
dea  ursprünglichen  Gehalte.s  mit  sicli  bringen  mufste. 

Wir  werden  jederzeit  in  aufrichtiger  Dankbarkeit  der  Forscher  gedenken, 
die  uns  bis  sn  ihra*  Zeit  unbekannte  Gebiete  enwhloasen  und  die  uns  das  erste 
braudibare  Material  geiiefinri^  wir  wwden  Tiel  ▼on  letzterem  auch  fernerhin  ver^ 


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70 


E.  Mogk:  Die  germaniüche  Heldondichtuug. 


wenden,  abw  der  BaOi  den  sie  aufgeführt  haben,  hat  seine  Zeit  fiberlebt.  Einen 
altgermanischen  Olymp,  wie  ihn  Jacob  Grimm  in  seiner  Mythologie  an  der 
Hand  der  Edden  aufzurichten  versuchte,  hat  es  nie  gegeben:  in  veralteten 
Lehrbüchern  und  volkstümlichen  Schriften  mag  er  noch  Jahrzehnte  sein  Schein- 
dauein  fristen,  die  Wissenschaft  hat  mit  ihm  abgerechnet.  Aber  auch  das  ]>e- 
sonderä  von  W.  Grimm,  L^hmauu  und  Mülleuhoä  entworfene  Urbild  unuerer 
germaniaehem  Heldensage,  die  am  attem  GdttemyfliuB  heranflgewaehaen  sein 
soll,  Übt  udi  nnr  mit  Annahme  geistreieher,  abw  nnbewiesoieir  und  tmbeweia- 
barer  Hypotbesen  Terteidigen,  und  eine  Tomrteilefireie  Betradhtimg  der  Qaellen 
zeigt  nns  andere  Wege  zu  ihrem  richtigen  YentBndnis. 

Sagengeechichte  ist  Litteraturgeschichte.  Keine  Sagengeetatt,  kein  sagen- 
hafter Zuj;  darf  zunächst  von  dem  Orte  getrennt  werden,  wo  wir  ihn  über- 
liefert finden.  Strenge  Kritik  der  Quellen  ist  auch  die  erste  Pflicht  des  Sagen- 
forschers. Nur  zu  oft  verstehen  wir  einzelne  Züge  allein  aus  dem  Ideenkreise 
de»  Dichter»  oder  auh  den  Strömungen  der  Zeit,  in  der  das  betretfeude  Denk- 
mal aitatanden  isi  Zu  jedor  Zeit  ist  aber  ein  bestimmter  poetiedier  Apparat 
Torhanden  gewesen,  mit  dem  die  Dichtn*  gearbeitet  babra,  mit  dem  Slterer 
geschiclitlieher  oder  seggeaehichilidier  Stoff  ao^oiHilBt  worden  ist  Dieser 
poetisdie  Apparat  hat  gewissormafsen  in  der  Luft  gelegen,  er  ist  gekommen 
und  wieder  verschwunden,  hat  aber  zm  Zeit  seiner  Herrschaft  die  Dichtunj^ 
ja  einen  p-ofsen  Teil  des  gesamten  Geisteslebens  beeinflusst.  Wir  lernen  ihn 
am  besten  kennen,  wenn  wir  eine  Anzahl  glcichalteriger  Denkmäler  auf  ilure 
Haupt-  und  Nebenzüge  hin  prüfen,  wenn  wir  sie  mit  früheren  oder  spateren 
Perioden,  mit  den  Deitkmäleru  anderer  Völker  vergleichen.    Bei  »aggeschicht- 

lidien  Diehtniigeit  ift  es  um  so  wichtiger,  diesen  Apparat  kennen  an  lernen, 
denn  er  mnfs  ja  in  erster  Linie  abgezogen  worden,  wenn  es  gill^  den  ursprflng- 
licliea  Kern  einer  Sage  an  finden.  Man  hat  dieser  Thatsache^  so  selbstrersttnd- 

lich  sie  erscheint^  bisher  Tltl  zu  wenig  Rechnung  getragen  und  den  poetischen 
Aufputz  gewisser  Gegenden  nnd  Zeiten  wie  lautres  £ns  bei  der  Forschung  ver- 
arbeitet. Lassen  wir  sie  z\ir  vollen  (reltung  gelangen,  so  gewinnen  wir  aus 
den  Quellen  bald  ein  anderes  Urbild  der  deutschen  Heldensage,  als  man  durch 
die  Kombination  einzelner,  aus  dem  Zusammenhange  herausgerissener  Züge  und 
durch  dati  Streben,  die  Heldensage  mit  dem  Göttermythus  zu  verquicken,  bisher 
entworfen  hat. 

Ein  besonders  eharaktexiatisches  Beispiel  gewahrt  hierm  die  Sage  TOn 
Siegfried  und  Bmnhüde,  die  in  vieler  Hinsieht  im  Hittelponkte  der  deutaohen 
Sagenforschang  stehi  Beide  Gestalten  hat  man  mit  dem  Mythus  der  isländisch^ 

norwegischen  Poesie  umgehen  nnd  Ulfst  sie  in  der  deutschen  Dichtung  nor 
verblafste  göttliche  Erscheintingen  sein.  In  Wirklichkeit  sind  es  aber  reine 
Menschen,  wenn  auch  idealisierte,  an  die  sich  im  Norden  die  Göttersage  ge- 
rankt hat.  — 

Wir  schöpfen  die  Sage  von  Siegfried  und  Brunhild  aus  drei  Hauptquellcn, 
Ton  denen  andere  mehr  oder  weniger  abhängig  sind:  ans  dem  mittelhoch- 
deutsdien  Nibelnngenliede^  ans  der  norwegisdien  Thidrikssaga,  der  sieh  das 


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E.  Mogk:  Di«  germudtdut  HeMendidiiaiiff. 


71 


Gedieht  Tom  Hfirnen  Sejfrid  und  die  nordisclieii  VoDcslieder  snr  Seite  stellen, 
und  ans  den  Eddaliedern. 

Dae  Nibelungenlied  ist  ein  hQfiecihes  Epoe  aas  dem  Ausgange  des  12.  Jahr- 
himderts.  Wir  keinen  seinen  Diehter  nicht,  aber  in  h9fiBch«i  Kreisen  mafg 

er  zu  Hause  gewesen  sein,  für  höfische  Kreise  mufs  er  gesungen  haben.  Seine 
Quellen,  alte  Volkslieder  und  alte  Volkssagen,  hat  er  durch  leitende  Ideen  bald 
pfsrhickt,  öfter  aber  auch  recht  ungescbickt  miteinander  verbundon.  An  br- 
{stimmt«  Personen  knüpft  er  sein  Hauptinteresse,  ihnen  zu  Liebe  werden  andtre 
in  den  Hintergrund  gedrängt,  verdunkelt  Im  ersten  Teile  ist  es  besonders 
Siegfried,  im  zweiten  Rfldiger  Ton  Bechelaren.  Es  sind  beides  Rittergestalten 
ans  dar  Stanfeneit,  jener  das  Bild  eines  freien,  an  Land  nnd  Bnrgm  reichen 
Fflrsten,  dieser  das  eines  beronnigten  nnd  trenen  Vasallen.  Das  Leben  nnd 
Treiben  am  Hofe  zn  Worms,  die  hodtffezU  mit  ihren  Tomieren,  mahnen  an  die 
Festlichkeiten,  die  unter  Friedrich  Barbarossa  zu  Mainz  und  andernorts  statt- 
fanden. Die  Jagd,  auf  der  Siegfried  seinen  Tod  findet,  ist  eine  poetisch  aus- 
??p5chniückte  Darstpllnng  jener  mittelalt^rücben  .laf^dzüge,  die  bereits  den  frnn- 
zösischtn  Einflufs  trkciiiicn  lassen.  Die  Hauptbeiden,  vor  allem  Siegfried,  sind 
durchaus  ritterlich  erzogen  und  haben  die  mihie,  die  Freigebigkeit  die  der  höfische 
Sanger  jener  Zeit  als  die  erste  aller  Tugenden  pries.  In  dies  höfische  Gewand  des 
Gedichtes  sind  dann  Züge  gewebt,  wie  sie  die  Fahrenden  ans  dem  Yolkaglauhen 
ihrer  Zeitgenossen  schSpften,  oder  wie  sie  Kreussflgler  aus  dem  Horgenlande  mit- 
gebracht hatten.  Zwerge  erscheinen  und  spielen  mit  ihrem  Reichtume  und  mit 
ihrer  unsichtbar  madienden  Nebelkappe  eine  Rolle,  ganz  ähnlich  wie  der  Zwerg- 
könig Laurin  in  dem  nach  ihm  benannten  Gedichte  oder  Euijel  im  Liede  vom 
Hfirnen  Seyfrid.  In  Anlehnung  an  die  historischen  Nibelungen,  die  Burgunden,  ist 
düö  Zwerggeschlecht  in  unser  Gedicht  gekommen  und  damit  dem  Schatze  eine 
Vorgeschichte  geschaifen  worden.  Beunruhigende  Träume  künden  die  Zukunft, 
wie  noch  heute  im  Volksglauben,  und  Donaunixen  mit  ihrem  prophetischen  Blicke 
baden  im  Wasser.  Das  sind  gewifs  mythische  Züge,  allein  sie  gehSren  nicht 
som  Urbestand  dar  Sage^  sondern  sind  erst  Tom  Diditer  nnseres  Lisdss  oder 
in  sdner  Quelle  an  diese  geknfipft  worden.  Ans  froherer  Überlieferung  dagegm 
stammen  Siegfrieds  Drachenkampf  und  seine  Unverwundbarkeit.  Doch  scheinen 
auch  diese  von  Haus  aus  nicht  mit  der  poetischen  Gestalt  Siegfrieds  entstanden, 
sondern  erst  in  älterer  Dirbtnng  an  diese  geknüpft  zu  sein:  die  älteste  Quelle, 
die  diese  Thatsachen  rühmt,  das  angelsiklisische  Gedicht  von  Beowulf,  erzählt 
die  Drachentotung  und  Hortgewinining  von  Siegmund.  Wir  dürfen  dieses 
älteste  Zeugnis  nicht  schlechthin  verwerfen,  zumal  jenes  Gedicht  wie  die 
nordischen  Eiriksmal  nodi  Siegmund  dme  einen  Sohn  Siegfried  oder  Sigurd 
kenni  Es  mnls  neben  der  Siegfriedssage  einmal  eine  besondere  Siegmnnds- 
Mg9  g^ben  liaben,  die  später  mit  der  Siegfriedssage  verknüpft  worden  ist. 
Abgesehen  von  diesen  Zügen  enthalt  unser  Nibelungenlied  nichts  Mythisches, 
das  uns  in  den  Bereich  der  altgermanischen  Gnth  rwelt  fiihrte.  Was  mnn  in 
ihm  noch  liHt  finden  wollen,  bat  mnn  erst  mit  Hilfe  der  eddischen  Diehtuii;^; 
künstlich  hineingepflanzt,  Wie  Siegfried  eine  durchaus  menschliche  Erscheinung 


72 


E.  M<^k:  Die  ^rmanisch«  HeldendichtuDg. 


ist,  80  sind  es  auch  Brunhild  uud  Hu^en,  nur  geboren  sie  in  ihren  Grundy-flgen, 
vor  allem  Brunhild,  nicht  der  Zeit  des  Dichters  an,  sondern  ciiRr  früluTcii 
Penode,  wo  auch  das  Weib  Freude  am  Kampfe  fand  uiul  mit  Brüiuie,  Schwert 
und  Lanze  dem  Feinde  entj^ctfcntrat.  Und  ebenso  natürlich  wie  menschlich  ist 
das  Verhältnis  zwischen  äiegtiied  und  Brunhild,  das  ans  verschiedenen  Stellen 
unseres  Gediebtes  klar  durehblickt:  beide  haben  sidi  einst  geli(>])t,  Siegfried  hat 
die  Cteliebte  Terlassen,  er  hat  eine  andere  genommen  und  fOr  deren  Bruder  die 
Brunhild  «worben:  Liebe  und  Eifersucbt  der  bintergangaien  Ftenndin  der 
Jugend  brin}^' II  ilmi  den  Tod.  — 

Ein  eigentümliches  litterarisches  Denkmal  ist  die  norweginche  Thi()rikssaga, 
jenof?  Snmnit'lvvtrk  von  Heldensagen,  in  dessen  Mittelpunkt  der  eigentliche 
dcutöchc  S;i<^enheid  Dietrich  von  Bern  steht.  Man  bat  nie  nu'iiics  Eracbtens 
zur  Klärung  unserer  Heldensage  bisher  viel  zu  wenig  benutzt,  indem  man  vor 
ihren  Schattenseiten  nicht  das  Licht  beachtet  hat,  das  sie  spendet  Der  Yer- 
fiisser  hat,  ww  er  selbst  sagt,  zur  ünt^haltong  sf^reiben  woUm,  doch  ist  er 
immer  bestrebt  gewesen,  seinen  Quellen  gerecht  au  werden,  wie  aus  den  öfteren 
Hinweisen  auf  diese  hervorgeht.  Niederdeutsche  Volkslieder  bMiulst  er  in 
erster  Linie,  daneben  scheint  ihm  unser  Nibelungenlied  bekannt  gewesen  zu  ' 
sein,  und  auch  die  eddische  Dichtung  verwertet  er  in  mehreren  Punkten.  Aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  gehört  er  jenem  Kreise  von  Männern  an,  die  der 
norwegische  König  Hakon  an  seinem  Hofe  pflegte,  und  von  denen  wir  den  Abt 
Robert  als  Überset;6er  der  Tristam-  und  Elissaga  kennen  lernen.  Männer  der 
Hansa,  die  man  als  seine  Gewährsmänner  hinstellt,  werden  ihn  schwerlich  mit 
jenen  Liedwn  bekannt  gemacht  babm,  Tielmelir  war  et  wohl,  wie  jener  Bober4> 
ein  OeistUcher,  der  sich  lingere  Zeit  in  mnem  norddeutsdien  Kloster  auf- 
gehalten hat.  ffier  nu^  er  mit  Leuten  aus  Soest,  Münster  und  Bremen  zu- 
sammen gekommra  sein,  die  ihm  alte  Volkslieder  aus  ihrer  Heimat  übermittelten. 
So  erklärt  sich  aueh  am  einfachsten  seine  Kenntnis  des  hochdeutschen  Nibe- 
lungenliedes, das  ja  im  1.*?.  Jahrh.  hcreiis  in  Norddeutschland  bekannt  war. 

IMauderton  geht  durch  die  ganze  Saga,  nicht  selten  verflochten  mit  lJl)er- 
treibungen,  wie  sie  der  Nordländer  durch  die  Tflege  der  Lügensagas  (/f/f/j.sM/ur) 
liebte.  Schon  wdit  in  ihr  die  Luft  der  romantischen  Fornaldarsügur  des 
13.  Jahrhunderts:  Kampfe  mit  Riesen  und  Drache  sind  nichts  Seltenes,  und 
elbische  Geister  treiben  unter  den  M^tudien  ihr  Wesen.  Trots  alledem  ist  der 
Kern  der  Saga  nicht  su  untersdiatsen,  sumal  er  aus  Gegenden  stammt,  die 
der  Heimat  der  Sage  nahe  liegen. 

Hier  ist  nun  Siegfried  niclit  der  edle  Konigssohn  mit  der  feinen,  höfischen 
Erziehung.  Er  ist  ein  Waisenkind,  das  weder  Vater  noch  Mutter  gekannt  hat, 
er  ist  aufgewacUaen  an  fremdem  Hofe,  ein  ungefüger,  tollkühner  rxeHtll,  dem 
erst  Kampf  und  Erfahrung  den  Adel  der  Seele  bringt.  Dtr  Wrfaöser  will  ihn 
auch  nidit  zu  einem  Idealhelden  gestalten,  er  will  nur  berichten,  was  er  von 
ihm  er&hren  ha^  und  dies  bausdit  er  nach  Knften  auf.  Die  mirchenhaften 
Zflge,  Drachenksmpf  und  ünverwundharkeit,  knflpf«i  sich  auch  hier  an  den 
Hdden,  sonst  aber  hat  er  nichts  ÜbemattlrlicheB:  es  ist  dw  unerschrockene 


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£.  Mogk:  Die  geniuuuache  üeldeudidituDg. 


73 


Knabe,  der  bei  Mimir  die  SchmiedekiuiBi  erlernt,  der  den  Lindwurm  R^n 
erflcUagt^  die  Brunliild  besucht  um!  endlich  Schwager  und  Knt<;t  Iht  des  Königs 
SU  Worms  wird,  den  er  selbst  auf  die  schöne  Brunhilde  sufmerknam  machly 

und  für  den  er  sie  erwirbt. 

Auch  an  der  Bruiiliildi^'  ist  in  (kr  Saga  uiehts  ÜbernatOrlichf» ,  nirhts 
Mythisches  zu  finden.  Öie  i^i  eine  miichtige  Königstochter,  die  Freude  am 
Kampfe  hat,  und  die  freudig  den  kUhneu  Helden  in  ihrer  Halle  aufnimmt  und 
sieb  mit  ihm  Terlobi  Als  spater  Gnntiier  auf  Siegfrieda  Bat  am  die  hehre 
Jm^fran  wirbl^  folgt  sie  diesem  nur  mit  Widerwillen  nnd  grollt  ihnnn  früheren 
Terlobtni,  der  eine  andere  mr  Gemahlin  genommen.  Doeh  sie  will  auch  in 
der  Ehe  noch  ihre  ITfidonkrafi  wahren  und  sich  ihr  mcujetumn  nicht  mehmen 
lassen:  erst  durch  Siegfried  wird  Gunther  ihrer  Herr.  Lange  ist  ihr  dieser 
zweit«  Trug  Siegfrieds  verborgen;  «jI*-  ihn  aber  erfährt,  bcsrliliefst  sie  den 
T^ntergang  des  einst  Geliebten:  iu  semem  Tode  findet  die  stolz«  Königin 
allt^in  Sühne. 

Aus  denselben  sachsischen  Liedern,  die  die  Quelle  der  Thicjrikssaga  sind, 
ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch  das  Gedicht  vom  HOmen  Seyfrid  her- 
TO^gangMi.  Dies  ist  im  Änfiinge  des  16.  Jahrhunderts  ans  swei  Sitten 
Liedern  snsammengesdiweLlst,  Ton  denen  das  «rste,  das  kOnere,  Siegfrieds 

Jugendthaten  besingt,  wihrend  das  längere  im  Bankelsangcrtone  Siegfrieds 
Kampfe  mit  dem  Riesen  Kuperan  und  die  Befreiung  der  Kriemhild  aus  der 

Gf'walt  des  DrJichen  behandelt.  Das  Ringen  des  Helden  mit  dem  Riesen  und 
dem  Draelitn  bildet  den  Kern  des  ganzen  üedichtea;  alle»  iöt  bereit,  fast  er- 
mQdend  behandelt.  Altes  Sagengut  findet  sich  nur  in  wenigen  Namen,  be- 
sonders in  dem  Siegfrieds  nnd  der  Kriemhilde,  und  in  den  letaten  Strophen 
des  Gedichtes. 

Die  Quelle  des  %  TeOes  des  Seyfridliedes  mag  dem  Anlange  des  13. 

oder  dem  Anfange  des  14.  Jahrhunderts  angehören,  zu  welcher  Zeit  sieh  die 
deutschen  Epen  durch  ermüdende  Breite,  durch  einförmige  Wiederholnngen, 
durch  Kiesen  und  Zwergmüren  hervorthaten.  Eine  weitverbreitete  Sage  dieser 
Zeit,  das  Märchen  vom  I)racbenHt<»in ,  anf  dem  ein  verwunschener  Prinz  eine 
geraubte  Jungfrau  birgt,  hat  dem  Dieliter  Veranlassung  zu  dem  Gedichte  ge- 
geben: in  Anlehnung  an  die  Sii  gfriedssagc  lafst  er  die  geraubte  Jungfrau 
Krimhild,  den  rettenden  Jfingling  den  Drachentöter  Siegfried  sein,  aber  die 
nordisdie  Br7nhild-8igrdri&,  die  hinter  der  Waberlohe  sehlBft,  ist  nie  und 
nimmer  in  jener  ni  finden.  Und  ebraso  wenig  darf  man  behaupten,  dafs  der 
Zwergkonig  Eugel,  der  Siegfried  bei  seinen  Kämpfen  Beistand  leistet,  dem  nor- 
dischen Gn'pir  entspreche,  den  ein  Skalde  des  12.  oder  13.  Jahrhunderts  ab 
Mutterbruder  des  Siegronnd  ersonnen  hat.  — ' 

Zum  Teil  anders  alis  in  den  deutseben  (Jutdlen  klingt  der  Sang  von  Sieg- 
fried und  Bruahild  in  der  eddischen  Di  i  lKi  i;.  Aufgezeichnet  sind  auch  die 
Eddalieder  nicht  vor  der  Mitte  des  13.  Juliriiunderts,  doch  rühren  sie  unstreitig 
aus  dnM*  frUhooi  ZeiL  Wie  aus  dem  NibeiungMiliede  der  höfische  Geschmack 
der  Staufer-,  aus  der  Thidrüms^  der  Plaudnrton  der  Sturhu^fenaeit,  so 


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74 


K.  Mogk:  Die  gemuuÜMhe  Heldendiditaiig. 


apriekt  aus  den  eddiadun  Gedichten  die  groCse  und  Tielbewegte  Zeit  der 
WikingenOge,  der  nordiaeh«!  Vdllcerwandenuig.  Aueh  die  Littentiir  dieser 

Periode  hat  charakfceriBÜsche  Züge,  die  nur  ilir  eigen  aind,  die  nur  dem  nor- 
wegiach-ifllandi seilen,  'sonst  keinem  germanischen  Stamme  anp^ehSren,  ja  die 
nicht  einmal  b<i  «Icm  dluusclu'n  Brudervolke  ihr  Atuilogon  finden,  wie  die 
schonen  Arbeiten  Axel  Ohiks  über  Saxo  OrHinmuticus  jüngst  gezeigt  haben. 
Es  ist  ein  verderbhchcr  Irrtum  der  For^iiiung  gewesen,  duls  man  diese  Züge 
in  eine  urgermunitiche  Zeit  versetzt  und  aus  ihnen  ein  Üebäude  aufgeführt  hat^ 
daa  anf  ^aernen  Onindpfeileni  ruht  und  mit  Eisen  bedacht  iai  Daa  ist  nur 
dem  unhewnlstai  Etnflnsae  mziiachreib^y  den  die  Romantik  in  der  Ktteratnr 
anf  die  Forschui^  gdiabt  hat 

Wo  wir  in  der  eddischen  Dichtung  hinschauen,  auf  Schritt  und  Tritt 
können  wir  den  poetischen  Apparat  der  Dichter  wahrnehmen.  Wir  finden  hier 
dasselbe  Sondergeprage,  wie  in  der  mitteUiocbdeutschen  Epik;  die  Götter 
nehmen  Anteil  an  dem  Geschicke  der  Menschen  wie  die  Homerischen.  Vor 
allem  erselieint  ()f)inn  als  Beschützer  berühmter  Helden,  der  aber  auch  zugleich 
ihrem  Leben  ein  Ziel  setzt.  Göttliche  Walküren,  die  sich  bei  keinem  anderen 
germanisdien  Stamme  nachweisen  lassen,  verbinden  sich  mit  Recken  und  stehen 
ihiwn  mit  Rat  und  That  zur  Seite.  Ea  sind  die  Wonschmadcheit  des  Toten- 
und  Schlachtengottes  Ödinn,  dem  sie  die  Helden  in  aein  Reich  nifilhren  und 
der  die  nngeborsame  mit  dem  Schlafdom  sticht.  Deutlich  wird  swisdien  ihnen 
und  den  irdiachen  Schildmadchen,  die  sich  am  Kampfe  beteiligen,  unterschieden. 
Gestaltentausch  haben  höhere  Wesen  die  Menschen  gelehrt,  und  aus  den  Händen 
unterirdischer  Mächte  wird  der  Yerge?srnheitstmnk  gereicht.  Wiederholt  lodert 
die  Waberlohe,  die  ebenfalls  aulser  dem  norwegisch-isländischen  kein  germuni- 
scher,  kein  skandinavischer  Stamm  kennt.  Von  Zeit  zu  Zeit  taucht  die  Gestalt 
eines  IMunonen  au^  bald  in  Wort-  und  Weisheitsstreit  mit  den  Göttem,\bald 
den  Menachen  Terderbenbringend.  Dam  geht  durch  die  mmaten  Gtedichte  ein 
didaktiaoher  Zag,  der  sidi  aelbat  bei  solchen  mit  rein  epischer  Grund- 
lage findet. 

Die  grofse  Zeit  der  Wikingerztige  mit  ihren  Tiel£schen  Anregungen  hat 
die  Wirklichkeit  und  mit  ihr  auch  die  alte  Dichtung  und  Sage  in  eine  höhere 
Sphäre  (rohobon  —  das  ist  das  Charakteristische  der  eddischen  Diehtnng.  Der 
Verkehr  mit  anderen  Völkern,  vor  allem  mit  den  Angelsachsen,  hat  eine  fast 
zur  Theokratie  ausgebildete  Religion  geschaiien,  im  Bunde  mit  ihr  hat  eine 
nadi  Freiheit  und  Unabhängigkeit  strebende  Aristokratie  diese  latteraturblflte 
zur  Entfikltnng  gebradit.  Aber  altea^  ererbtea  Nationaleigentum,  das  in  Bausch 
und  Bogen  auf  urgmnaniaehe  oder  auch  nur  altdeutsche  Verhaltniaae  und  Auf- 
fassungen zurückgehe,  ist  ea  nioht. 

Mit  diesen  Thatsachen  müssen  wir  rechnen,  wenn  wir  die  altnordische 
Dichtung  zur  Kritik  der  deutschen  Heldensage  benutzen  wollen.    Leider  hat 
gerade  der  Abschnitt  der  Eddalieder,  welcher  die  Sage  von  SignrO  und  Brvn 
hild  enthält,  in  der  ein/i^ren  Handschrift  eine  arge  Lücke.    Diese  vermag  uns 
auch  die  prosaische  Wiedergabe  unserer  Lieder  in  der  Völsimgensuga,  deren 


.^  .d  by 


£.  Mogk:  Die  gennaiiiwhe  Heideodicbtaiig. 


75 


YeifiMMr  die  Sammlgiig  noeh  vollBtiüidig  vor  aich  hatte,  niolit  guu  xa  er- 
aelMii.  Dum  konunty  daTs  auch  der  fibrige  Teil  der  Sammlung  nidit  un- 
bedeutende Schwierigkeiten  bereitet.   Mehrere  Lieder  haben  denselbm  Gfegen- 

stand  behandelt,  sie  haben  aber  nicht  die  gleiche  Darstellung  der  Sage,  nidii 
denselben  Aufputz.  Von  anderen  sind  dem  Sammler  nur  Bruchstücke  im  Ge- 
dächtnis gewesen,  seine  durchaus  nicht  klassische  Prosa  hat  hier  das  Fehlende 
ergänzt.  Sind  doch  zwei  bis  drei  .lahrhunderte  ins  Feld  gegangen,  stit  sich 
die  ersten  Skalden  über  die  ruhiureiclu  ii  Tliaten  der  Völsungen  und  Niflutigen 
machten  und  sie  in  den  Liedern  besangen,  von  denen  uns  die  Kopenh^ener 
^ndadurilt  die  letatea  Beste  bewalirfc  hai  Trofat  alledem  laBsen  sieh  noch 
denllidi  swei  Parallebagen  erkennen,  in  denen  das  YerhSlteis  swiseben  Sigurd 
und  Biynhild  verselueden  aufge&fst  wird:  nach  der  einen  weckt  Sigurdr  die 
hinter  der  Waberlohe  schlafende  göttlicln-  Walküre,  nach  der  anderen  kommt 
er  in  seiner  Jugend  zu  einer  kühnen  Königstochter,  die,  wie  viele  Schildmaidc 
der  Völkerwandorung  und  der  Wikinpcrzüge,  Freude  am  Kampfe  hat.  und  ver- 
\nhi  ?ich  mit  ihr.  Letztere  Fassung  »iimmt  zur  deutschen,  wie  wir  sie  aus 
dem  Nibelungenliede  und  der  ThiOrikssaga  kennen,  erstcrc  hat  ein  durchaus 
nordisches  Kolorit,  und  ich  verm^  ihr  kein  deatechee  Heunatsrecht  einsu- 
rSomen,  du  man  für  sie  in  An8[Hnicli  nimmt.  Qeihdrt  doch  der  Sang  Ton  der 
adUafenden  Walküre  gerade  joten  Oedichten  an,  in  denen  wir  die  nordische 
Weiterbildung  und  Ansschmfickong  der  ans  Deutschland  eingewanderten  Sage 
•JT^nz  besonders  klar  erkennen.  Daher  hat  man  schon  vieles,  was  einst  W.Grimm, 
Lacliraann  u.  n.  als  altes  Sagengut  auffafsten,  als  solches  preisgegeben  und  es 
diT  nordischen  Dichtung  zugewiesen.  Hiorhcr  irrhort  ?..  B.  die  Vorgeschichte 
den  Schatzes,  die  Erzählung  von  den  drei  Asen  <)()inn,  Loki  und  Hoenir,  die 
als  Bufse  für  den  erschlagenen  Otr  das  Gold  zahlten  und  den  fluchbeladenen 
Bing  spendeten.  Hierher  gehört  auch  die  Auflösung,  dab  die  erwachte  Brynhild, 
wie  wir  im  Sigrdrifamfl  lesen,  den  jungen  Sigurd^  Runenweidieit  gelehrt  haben 
soU.  So  iat  sohon  mandiea  gefidlen,  aber  noch  hat  man  sich  meines  Erachtend 
dem  Wichtigsten  gegenOber  zu  zaghaft  verhalten:  nämlich  'die  Brynliild  ihres 
ttbematflrlichen,  ihres  gottlichen  Glanzes  zu  entkleiden. 

Brynhild  ist  nach  den  Eddaliedern  die  unjiehorsame  göttliche  Walküre, 
eines  jener  halbgöttlichen  Wesen,  die  unter  dem  Befehle  Ör3inns  stehen.  Sie 
hat  gegen  den  Willen  ihres  Gebieters  dem  jungen  Agnar  den  Sieg  verliehen 
und  den  alten  ^jalmgunnar  zur  Hei  gesandt.  Zur  Strafe  für  ihren  Ungehorsam 
stiebt  sie  ödinn  mit  dem  Sehsliom  und  nmgicbt  ihr  Ligsr  mit  dnw  nmchtigcn 
Waberlohe.  Hiw  ruht  sie,  bis  Sigurdr  auf  Oranis  Bfleken  die  Flamme  durch- 
reitet und  die  Jungfrau  weckt.  —  Wo  finden  wir  anderenorts  in  der  germani- 
sdien  Sage  und  Dichtung  anch  nur  eine  Anspielung  auf  jene  gottlichen  Wal- 
küren, die  im  Dienste  des  Schlachtengottes  stehen  und  seine  Befehle  ansftÜiren? 
Nirgends.  In  der  norwegiscli  iHlandischen  Poesie  dagegen  treffen  wir  sie  nnf 
Sehritt  und  Tritt;  schützend  schweben  Walküren  üher  Ilelgi  dem  llimflings- 
teittr,  in  Scharen  begleiten  sie  den  Leichenzug  Baldrs,  ihr  Erscheinen  serkiuidet 
in  der  Vglnspä  das  nahe*0ötterge8chick.    Allerorten  erscheint  Ö^inn  als  ihr 


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76 


E>  Mogk:  Die  geniuiiüiclie  Hcldendichtiuig. 


Herr  und  Gebieter,  Ödinn,  der  ebenfalls  nur  hti  den  Norwegern  diese  Macbt- 
sphSze  erlangt  bai  Die  Walküren  sind  ein  nordisches  QebUde  aus  der 
Wikingeneit  und  gehören  zum  poetischen  Apparate  jener  Periode.  Dasselbe 
gilt  Ton  der  Waberlohe.  Auch  sie  kennt  kein  gemuuuschsr  Stamm  aufser  dem 

norwegisck-islündischen,  b(d  ihm  aber  finden  wir  aie  wiederholt:  hinter  ihr 
weilt  im  Lande  der  Reifriesen  die  schöne  Oerdr;  die  Waberlohe  mub  durch- 
reiten, wer  die  Liebe  der  Menffiri  J  erlangen  will.  Und  nur  aus  der  nordischen 
Natiu"  erklären  sich  Wort  und  Bild:  'in  wellen artigon  SchwingTingfn  erhebt 
sich  über  den  Bergen  Norwe<?enö  und  Islands  ilie  Auroni  borealiä,  funkelnde 
Lichtstrahlen  schiefsen  am  Horizonte  empor,  immer  achneller  wird  die  Bewegung 
dw  6hitwellen\  Das  ist  es,  was  noch  heute  der  Norweger  vavra  nennt.  Dies 
Fbunm^imeer  im  Norden  mag  dem  Mythus  tod  der  auf  dem  Bwrge  ruhenden 
Jungfrau  Veranlassung  und  Farbe  gegeben  haben.  Auf  keinen  Fall  ist  er 
altes  nrgermaniscbes  Mythen-  und  Sagengnt,  ebenso  wenig  wie  die  gottliche 
Walkürennatur  der  Brynhild.  Daher  wissen  weder  unser  Nibclungrailied  nocfa 
jüp  durch  die  Thidrikssagu  vertretenen  sächsischen  Volkslieder  etwas  von  diesen 
mythischen  Zügen:  sie  sind  in  Deutschland  nicht  vergessen  oder  ver- 
blnfst,  sondern  sind  liior  nie  bekannt  gewesen.  Und  es  wäre  wahrlich 
auch  wunderbar,  wenn  sich  in  der  deutschen  Dichtung  bei  der  Brunhild  nicht 
ein  einziger  myliiischer  Zug  erhalten  hatte,  wahrend  doch  die  märchenhaften 
Züge,  die  die  Sage  an  die  Gestalt  Siqjfrieds  geknüpft  hat,  der  Drachenkmnpf 
und  die  ünTerwundbarkeit,  in  allen  deutsehen  Quellen  auf  gleidie  Weise  er- 
halten sind. 

Neben  dieser  Erweckung  der  götttichen  WaDcflre  hinter  der  WaborI<ihe 
weifs  aber  die  eddische  Dichtung  noch  Yon  einem  anderen  Besuche  Siegfrieds 
bei  Brynhildc.  Hier  hat  dh-  Tungfrau  nichts  Übernatfirliclu  s,  nichts  Göttliches, 
sondern  sie  ist  eines  jener  .Schildmädchen,  die  Freude  am  Kaiiuif'  tindeu  und 
sich  selbst  an  diesem  beteiligen.  Die  alten  Lieder  von  der  ßnivuIJaäcklacht 
geben  uns  ein  treffliches  Bild  von  ihrem  Treiben  und  Wirken.  Wie  in  ihnen 
erscheint  aodi  hi«-  Biynhild.  Sie  ist  Budlis  Toditer  und  bSlt  sich  bei  König 
Heifflir  auf.  Ihr  Vater  hat  sie  ob  ihron  miunliohen  Wesen  schon  m  froher 
Jugend  inr  Sehildmaid  beatimmi  Von  Sigurd  hat  sie  gehört  und  ist  für  den 
Helden  begeistert.  In  der  Zeit,  wo  die  Waffen  ruhen,  sitzt  sie  in  ihrer 
Kemenate  und  webt  seine  Grofsthaten  in  einen  Teppich.  Einst  kommt  der  junge 
Held  an  Heimirs  Hof  Durch  Zufall  lernt  er  die  Brvnliild  kennen,  und  sie, 
die  nocli  keinem  Manne  den  I'hitz  neben  sich  vergönnt  hat,  nimmt  ihn  freund- 
lich auf.  Wohl  rult  sie  ihm  zu:  'Nicht  ist  es  beschieden,  dafs  wir  beisammen 
wohnen  sollen;  ich  bin  eine  Schildmaid  und  tri^e  den  Helm  bei  Heerkönigen, 
und  ihnen  will  idi  au  Hilfe  kommen,  denn  nicht  ist  es  mir  leid  an  Umpfen*. 
Aber  der  ungestOme  Jflngling  wiU  das  Mädchen  erwerben,  und  er  bringt  es  in 
der  That  so  weit^  dafe  beide  sich  verlobra. 

Man  pflegt  diese  aweite  Fassnn«;  der  Ssge  für  einen  spiteren,  speaieU 
nordiselun  .\iis\viiehs  anzusehen.  Das  kann  nur  geschehen,  solange  man  den 
Walküreiunjthus  zu  der  ältesten  Gestalt  der  Sage  rechnet   Gewüs  hat  die 


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E.  Hflgk:  Die  gerauiiMehe  Heldendiehtung.  77 

Einkleidung  dieser  zweiten  Fassung  junge,  ja  sogar  ronumtisdie  Zflge,  allein 
der  Kein  dedct  sieh  ao  mit  der  Überli^tornng  im  Nibelnngeiiliede  und  vor  allem 
in  der  ThidrikaMga»  dals  ich  nicKt  daran  sweiflsy  dals  wir  bier  die  altere  deutsche 
Faann^  dw  Sage  TOr  uns  haben  Beide  Fassungen  sind  dann  in  der  nordi- 
sehen  Dichtung  TermiHcht  worden,  zuerst  wohl  in  ^em  Liede,  das  Gunthers 
Brautwerbung  nm  Brynhild  enthielt^  und  von  dem  uns  die  Völsungensaga  swei 
Strophen  erhalten  hat. 

Rechnen  wir  mit  all  dipspn  Thatsachen,  die  eine  unbefangene  i'rüfimti  dvr 
einzelnen  Quellen  und  ihrer  Zeit  ergiebt,  so  gestaltet  sich  die  alte  Sage  von 
Siegfried  und  Brunhild  ungefähr  folgendermafsen: 

Bnmhild  iit  tob  Haus  nns  knne  göttliche  Walküre,  sie  ist  eine  Sehlachten- 
jungfinan  in  Brfinne  und  Hehn,  mit  Schwert  und  huaß,  eine«  jener  Schild- 
müdchen,  wie  sie  die  ROmer  unter  den  Leidien  der  Markomannen  landen  oder 
wie  sie  gefessdt  im  Triumphzuge  Aurelians  den  schaulustigen  Bewohnern  Roms 
TOr  die  Augen  traten  oder  wie  sie  an  der  Spitze  ihrer  Scharen  in  die  Bravalla- 
schlacht  ziehen.  Fast  jeder  deutsche  Stumm  konnte  sich  in  heidnischer  Zeit  Holchor 
Hchlcnniädclien  riihinen,  nnd  hfi  den  NurdgernianeTi  finden  wir  sie  noch  im  Aua- 
gjiiitre  des  10.  Jahrhundert-.  Von  ihrem  unerüchrockencii  Siiine,  ihrem  Mut-t"», 
ihrer  alles  besiegenden  Kratt  wissen  die  Dichter  zu  singen  und  sagen.  Das  ist 
deutsche,  das  kt  germanische  Eigenart,  die  selbst  die  Römer  in  Bewunderung 
aetrte.  Verhalst  ist  diesen  Midchen  die  Bhe.  Stob  weist  die  sSehsiache 
KSnigstochter  Olef  jeden  Werber  xurOd^  und  KOnig  Erichs  Kind  {»orabjgrg 
will  nichts  von  einer  Varniahlnng  mit  einem  Manne  wissen.  Solche  Helden- 
jnngfran  ist  auch  die  Brunhild.  Sie  weilt  fem  von  Freundinnen  und  nefiihr- 
tinnen.  Auch  ihr  ist  die  Ehe  verhafst;  frei  will  sie  ihrem  Waffenhandwerke 
nachgehen,  sie  will  nichts  von  Mannes  Minne  wissen.  Mnfs  sie  «ich  aber  dem 
Gebote  der  Notwendigkeit  fügen,  so  will  sie  nur  dem  ihre  Hand  reielien,  der 
ihr  an  Kraft  und  Stärke  gewachsen  ist.  Da  kommt  an  den  Ilof,  wo  sie  weilt, 
jener  jugendliche  Held,  von  dessen  Thaten  sie  schon  vernommen,  für  den  sie 
begeiatert  isi  Wir  wissen  nidit,  wer  hinter  dieser  Idealgestalt  deutschM*  Dich- 
tong  steckt;  alle  Yertuche,  ihn  an  einem  gezmanischen  Gotte  an  machen,  sind 
ebenso  gescheitert  wie  die  Bemtthnngen,  in  ihm  eine  geschichtliche  Person  zu 
finden.  Er  kommt  in  die  Burg  der  Brunhilde,  er  weifs  noch  nichts  über  die 
ersten  Jahre  seiner  Kindheit,  Vater  und  Mutter  sind  ihm  unbekannt.  Er  ist 
an  fremdem  Hofe  anfgewaehsen  nnd  in  der  Freinde  zum  Jüngling  geworden, 
der  nur  an  Abenteuern  und  Heldenthaten  Freude  find'  t  Wold  gegen  «"i'vu 
Willen  ist  er  zum  Drachentöter  geworden  und  hat  sieii  ue.s  Schatzes  bemächtit^t, 
den  das  Ungetüm  hütete.  Zu  diesem  ist  er  aber  erst  in  der  Dichtung  ge 
worden,  als  die  Si^mnndssage  mit  seiner  Person  in  Verbindung  gebracht  und 
er  snm  Sohne  Si^pnnnds  geworden  war.  Seine  Hddenkraft  hat  den  Mythus 
entatdien  lassen,  er  habe  sich  im  Blute  des  Wunnes  gebadet  und  sei  infolge- 


^  Ctans  bewnden  diese  Aasfebt  gedenke  idi  auf  Qnwd  der  Qudlea  ein- 
gebend  sa  begrfinden. 


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78 


B.  Mogk:  Die  gecmanitclie  Beldendichiimg^. 


dessLU  unverwundbar.  Von  solchen  Tliiiton  hatte  auch  Bruuhihl  veriioninioii, 
und  üIb  ein  Zufall  den  kflhnpn  Helden  zu  ihr  geführt,  haben  sioli  bald  die 
Herzen  gefunden.  Wohl  warnt  die  ächildmaid  kraft  prophetiHcher  Ahnung  den 
QQW&lirenen  Jfingling  tot  der  Vorlobung,  aber  dieser  acKiet  die  Warnung 
wenig,  und  Jfingling  und  Ißdehen  geben  aidi  das  VerBprechen,  gemeinaam 
darcbs  Leben  ni  wftndeln.  Nadi  altgermanischms  Reebie  war  dies  Versprechen 
kein  Becbtsaki  Hieran  wnrde  ea  erst,  wenn  der  Vonnund  des  Madcbttu,  ihr 
Vater  oder  ihr  äliester  Bruder  oder  Oheim,  Erhiubnis  und  TlMM^f^>^l^ag  ge- 
geben hatte. 

So  stand  Sicgfiied  vor  <K'in  iU'clito  schuldlos  da,  wenn  er  Hpät<»r  eine 
andere  zur  Gattin  nahm.  Dot-h  nichts  lag  ihm  ferner  als  dieser  Gedanke,  wie 
er  (Iii'  Burg  der  Brunhilde  verliei's,  um  vor  dtr  rechtlichen  Verlobung  noch 
weitere  lieldenthaten  zu  verrichten.  Buld  iiommt  er  an  den  Hof  des  Burgunden- 
königs,  wo  die  schöne  Kriomhild,  die  die  oddischc  Dichtung  Gu<}nin  ueuuf^ 
unter  der  Obhut  ihres  Bruders  Ghinthar  lebt  Zwischen  dem  fremden  kfihnen 
Hdden  und  den  kdn^chen  Brfldem  entwickelt  sich  bald  die  innigste  Freund- 
schaft, und  nachdem  man  das  Blut  graiischt  und  sich  Eide  geschworen,  steht 
einer  für  alle,  alle  für  einen.  Durch  Versprechen  wissen  die  Brfider  Siegfried 
an  sich  zu  ketten;  sie  geben  ihm  ihre  Schwester  Kriemhild  zur  Gemahlin  und 
mit  ihr  zugleich  Anteil  an  der  Regierung  und  einen  Teil  burgundischcn  Ge- 
bietes. Si)  hat  Siegfried  der  Brunhild  gegenüber  sein  Wort  gebrochen,  und  in 
diej^er  Haudiungs weise  liegt  der  tragische  Konflikt.  Siegfried  fühlt  seinen 
Fehler  rcuht  wohl;  er  sucht  ihn  wieder  gut  7-ii  machen,  indem  er  den  mächtigen 
König  Gunther  auf  diu  »tarke  Brunhild  hinweist  und  ihn  bet»tLuimt,  um  sie  zu 

werben.  'Gunther  sei  reidi  an  Land  und  Leuten,  dieser  gezieme  sieh  ffir  die  edle 
KSnigstochter  besser  als  er,  Siegfried,  der  jen«u  erst  lAnd  und  Leute  Terdanke' 
—  so  sucht  er  sp&ter  seine  Handlungsweise  Tor  Brunhild  au  reditfertagen. 
Allein  in  dieser  lebt  die  alte  Liebe  ungeschwacht   *Nur  einen  Fürsten,  nicht 

andere  liebte  ich,  denn  Wankelmut  war  meinem  Wesen  fremd',  ruft  sie  nach 
der  eddischen  Dichtung  beim  Tode  Sigurds.    Und  dieser  eine  war  Sigurd r. 

Daher  bricht  jetzt,  wo  fie  gieh  von  diesem  hintergangen  sieht,  das  ganze  Un 
gcstnm  ihrer  Kriegernatnr  durch:  sie  will  niehts  von  einer  Ehe  mit  (iuiither 
Wissiii,  sie  will  ihrem  ersten  Versprechen  treu  bleihen,  und,  da  sie  Siegfried 
nicht  haben  kann,  auch  ferner  im  Kampfe  das  Scli\vt;rt  zücken  und  die  Lanze 
werfen.  Doch  gezwungen  von  ihren  Angehörigen  giebt  sie  endlieh  nach,  und 
liebelos  folgt  sie  dem  gehaTsten  Manne,  d«-  sie  nach  ihrer  Meinung  um  ihr 
Liebstes  gebracht  hai  So  ist  sie  nach  dem  Rechte  Gunthers  Gattin,  aber  noch 
nicht  in  Wirklichkeit:  ihr  magdwm  will  sie  sich  wahren,  und  im  Kampfe  um 
dieses  unterliegt  Gunther.  Um  auch  in  diesem  Punkte  ihrer  Herr  au  werden, 
mufs  Siegfried  abermals  einschreiten,  und  bei  diest  r  Gelegenheit  nimmt  er  jenen 
verhängnisvollen  King,  den  er  der  Kriemhild  schenkt.  Jahre  vergehen.  Brunhild 
fügt  sieh  in  das  Unvermeidliche,  aber  in  ihrer  Brust  schlummert  Eifersucht  auf 
Kriemhild  und  die  alte  Liebe  zu  Siegfried.  Sie  macht  letzterem  keinen  Vor- 
wurtj  die  Brüder  seiner  Gattin  haben  ihn  umstrick^  verleite^  böse  Schicksals- 


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E.  Uogk:  Di«  germanische  Heldendiehtoitg. 


79 


machte  haben  ihr  ihn  eatrisfien,  Zweifel  qnalt  sie,  ol)  (iunther  sie  wirklich 
beniegt  habe.  Da  erfahrt  sie  durcli  ihieii  Streit  mit  Ivneiuhilde  eleu  wahren 
Sftcbverhalt,  und  nun  giebt  6b  ftr  die  stöbe  Königin  nur  noch  einen  Weg: 
Siegfried  rnnfs  sterben,  danüt  sie  gerSeht  ist^  aber  damit  sie  audi  sugleich  mit 
dem  einiig  Geliebten  im  Tode  Tereint  sein  kann.  Als  dann  die  Nachricht  von 
Bi^fiieds  Tode  ihr  zu  Ohren  komm^  da  bricht  ihre  Tolle  liebe  zu  dem  Helden, 
ihr  ganzii  HaCs  g<g('n  Gunther  und  seine  Sippe  hervtjr.  Sie  macht  ihren  Ge- 
fühlen Luft,  sie  ofienbart  Gunther  ihr  Innerstes,  ihre  Seelenkämpfe  in  der 
Zeit  einer  verhafsten  Elu*.    Nur  eine  Bitte  hat  sie  noch  an  ihren  Gemahl: 

'Der  Wünsche  letzten  gewähre  mir,  Gunnar,  nicht  Weiteres  wird  Brun 
bild  erbitten  im  Lehen:   so  breit  lafs  schichten  der  Buche  Scheite,  dain  tür 
alle  reichlich  liaum  sich  finde,  die  wir  treu  dem  Sigurc)  im  Tode  folgen.  Mit 
Schüdftn  ottd  T^pichen  sdmifleket  den  Hohstois,  au  der  Seite  des  trefflichen 
Heldra  verbrennet  mich*. 

Der  Wonsch  wird  ihr  gewahrt:  auf  dem  ScheiterhanÜBn,  worauf  Siegfrieds 
Leiche  Hegt,  stufst  sich  Branhilde  das  Sdiwert  in  die  Brust 

So  endet  das  grolse  ergreifende  Drama  von  Siegfried  und  finmhilde.  Wir 
können  den  Helden  nicht  von  aller  Schuld  frei  sprechen  und  wir  empfinden 
mit  der  hochherzigen  Heldin  wie  jene  Völve  in  Heireif),  die  ihr  den  Eintritt 
in  das  Reich  der  Ilel  versagen  wollte.  Das  ist  ein  Drama  aus  der  Heldenzeit 
unseres  Volkes,  dem  Leben  entnommen  und  durch  Dichtcrtalent  gewaltig  ge- 
staltet. Aber  etwas  Übemaifirlicbee,  das  ans  ins  Reich  der  Götter  führe,  finden 
wir  nicht  in  ihm.  Die  nüfapdienhaften  IXigfi,  Siegfrieds  Kampf  mit  dem  Drachen 
und  seine  UnTerwnndbarkeit^  können  den  Orundrüs  nicht  Teiandem.  Die  Sage 
und  Dichtung  hat  Minliche  Thaten  andb  an  andere  Menschen  gekaftpfly  in  denen 
noch  niemand  zu  Heroen  verblafste  Gottheiten  erblickt  bat 

In  dieser  Gestalt  ist  die  Sage  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  bei  den 
Franken  entstanden.  Hi»'r  ist  sie  auch  verbunden  worden  mit  der  Nibelungen- 
sage d.  h.  mit  der  S^e  vom  Untergange  der  Burgitndeiikr>!)ii/f.  Von  hier 
wanderte  sie  dann  nach  Oberdetitsehland,  wo  sie  an  die  oritgotisehe  I)ii>trieh- 
hage  geknüplt  und  wo  sie  vom  Dichter  des  Nibelungenliedes  in  jenes  hötische 
Qewand  gekleidet  worden  ist  Auch  hier  haben  sie  schaffende  Geister  neu  ge- 
formt und  wachsen  lassen.  So  ist  u.  a.  dem  Horte^  den  Siegfried  dem  Drachen 
abgewonnen  hatte,  eine  Vorgeschichte  angedichtet  worden,  und  neben  dem  Gold 
erscheinen  Sehwert  und  die  unsichtbarmachemfe  Nebelkappe  als  alter  Besits  des 
Zwerggeschleehtes.  Die  Forsdiong  hat  früher  auch  diese  Züge  für  uralten 
Bestand  der  Siegfriedssage  angesehen.  Das  mythische  Qeschlecht  der  Nibe- 
lungen, altdeutscher  Gottheiten  der  Finsternis,  meinte  man,  sei  das  ältere,  nach 
dem  die  Burgunden  erat  später  als  Herren  Hortes  den  gleichen  Namen  er 
halten  hätten.  Auch  diese  Annahme  ist  tuL-iprungeii  aus  dem  Streben,  in 
unserem  mittelhochdeutschen  Gediclite  überall  alte  Uüttermjthen  zu  suchen. 
Oeben  wir  von  ihr  ans,  so  stehen  wir  vor  einer  Reihe  ungelöster  und  unlösbarer 
fVsgen:  flberall  stehen  Drachenkampf  and  Hortgewinnung  im  engsten  Zusammen- 
hange^ nirgends  wird  Siegfried^  der  den  Hort  so  lange  besessen^  Nibelung  genannt, 


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80 


£.  Mogk:  Die  germaniMhe  Heldendiditiuig. 


die  Burgundenkonige  sind  nie  BeBiteer  des  Schstaes  gewesen,  nach  dem  sie  dt  n 
Namen  haben  sollen,  in  allen  anderen  Quellen  endlich,  aufser  im  <  rston  Teile 
des  Ni^fhingenliedes,  sind  unter  den  Nibelungen  die  Biircriindenkönige  tmd 
iliro  Leute  verstanden,  nirgends  dm  m_ythiftche  Ni})eluiigenge8chlecht.  Die 
Zweifel  lösen  sieh  uiit<r  der  einfachen  Voranssetznii^,  die  schon  Wilh.  Müller 
verteidigt  und  jüngst  in  VVihnann»  einen  warmen  Fürsprecher  gefunden  hat, 
dftfo  der  Nttne  Nibelungen  für  die  Burgondm  «ks  iltoe  üid  dalk  das  mytiuBehe 
Nibelungengeachleeht  das  Phantasiegehilde  eines  apateren  Dichten  iBi>  der  dem 
Horte  eine  Vorgeechiehte  hat  schaffen  wollen.  Dieie  aeh5pfte  er  aber  ans 
dem  Yolks^nben  seiner  Zeit,  nach  dem  das  Volk  der  Zwerge  in  den  Bergen 
nach  Art  des  mittelalterlichen  Lehnstaates  organisiert  und  im  Besitze  grofser 
lleichtfnner  war.  Auch  hier  bewahrheitet  es  sich:  den  Dichter  der  Quelle  und 
die  Anschauungen  seiner  7<'it  zu  versteh »t.  .  'la-  ist  die  erste  und  wichtigste 
Aufgabe  aller  saggesclüchtlichen  und  mythologischen  Forschung. 

Von  den  Franken  kam  aber  auch  die  Sage  von  Siegfried  und  Brunhild, 
direkt  oder  indirekt,  nach  dem  europäischen  Norden,  wo  sie  bald  ein  Lieblings- 
thema norwegischer  Slnlden  wurde.  Durdi  diese  lernten  sie  die  Kelten 
Britanniens  kennen  nnd  Terfloditen  sie  mit  ihrer  Heldensage.  Ans  letaterer 
leuchtet  noch  die  ältere  nordische  Gestalt  herrcnr,  dieselbe,  die  ein  Yer^^eidi 
mit  den  deutschen  Quellen  als  die  oraprÜngliche  ergab.  Von  den  norwpgis't'hen 
Dichtern  wurde  dann  die  Sage  weiter  ausgebildet.  Es  ist  wahrscheinlich,  dafs 
hier  mit  ihr  ein  Motiv  verknüpft  wn-den  ist,  wie  wir  e<»  in  unserem  Märchen 
von  Dornröschen  besitzen.  Von  den  Kelt<.'n  sieheinen  die  Nordgermanen  nach 
Falks  Nachweisen  dies  zn  haben.  Doch  hat  es  ein  ganz  nordisches  Gewand 
erhallen,  und  so  int  die  hinter  der  Waberlohe  ruhende  Jungfrau  entstanden.  Auch 
lassen  die  Dichter,  wie  es  der  Zeitgeist  m-langte,  ihren  Idealgott  Ödinn  an  dem 
Qesehicke  des  jungen  Helden  und  seiner  Familie  thfttigen  Anteil  nehmen  und 
machen  die  Brunhild  zu  einer  seiner  WalkOren.  Doch  alles  das  ist  nordische 
Dichtung,  nicht  urgermanische,  nicht  altdeutsche.  Aber  sie  ist  von  germani- 
8thein  (leiste  durchgeht,  und  so  mögen  Kunst  und  Poesie  auch  fenuibin  ihre 
Motive  benutzen  und  ihre  Bilder  neu  beleben.  Wir  verstehen  die  Gefühle  der 
Geister,  die  auf  diesem  Gebietf  arbeiten  und  schaffen,  und  wissen  sie  zu  wür- 
digen. Die  Wissenschaft  aber  luulk  sie  /uriiekdriingen;  sie  hat  die  Au%abe, 
den  wahreu  Sachverhalt  zu  ergrüudeu  und  oiten  zu  bekennen. 


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JAHBGANG  1898.  ERSTE  ABTEILTTKO.    ZWEITBS  HEFT. 


GOETHE  UND  DAS  KLASSISCHE  ALTERTUM. 

Von  Tbbodob  Toobl. 

Den  Anlafä  zu  dun  folgenden  Zeilen  bietet  'Goethe  und  das  klassische  Aiter- 
tom'  von  Frans  Th.«lmayr,  ein  mit  WSime  und  flaehkfnintnis  geachriebeDesy 
g^egenea  Bneh,  Tornebmlieh  altidttiauschen  Philologen,  welehe  der  Verf.  wohl 
m  «nter  Linie  bei  seiner  Arbeit  im  Auge  gehabt  hai^  angelegentUchat  su 

empfehlen.*)  Goethekennem  stofflich  Neues  oder  Anregung  durch  Bdiandlang 
abgelegener  Einzelfragea  so  bieten,  war  nicht  sein  Vorhaben.  Wie  er  es  im 
Vorwort  (S.  IV)  klar  ausspricht,  ist  Zweck  und  Endziel  seiner  Ausführungen, 
don  Nachweis  zu  liefern,  *daf8  Goethes  tiefe  GeistwbildTing  znm  grrifst^n  Teile 
auf  der  Grundlage  klassischer  Studien  hrrnht,  dafs  die  Anerkennung  ihres  hohen 
VVtrtes  ihn  durchs  ganze  Leben  begleitet  und  dafs  er  den  vertrauten  Verkehr 
mit  allem,  was  aus  dieser  Quelle  stammt,  mit  hebevoUer  Teilnahme  bis  in 
Ntne  spätesten  Lebenstage  onterhalten  hat/ 

Dieser  Naehweis  ist  nicht  nnr  mit  wohlthuender  Hingabe,  sondern  ancb 
mit  Umsicht  und  ChrflndlicUEeit  geführt  wordra,  unseres  Erachtens  in  durchaus 
flberzeugender  Weise.  Die  Darlegungen  des  Verf.  wirken  Tomehmlich  dadurch 
Bo  einleuchtend,  dafi»  er  so  viel  als  möglich  den  Dichter  selbst  sprechen  hifst, 
Urteile  anderer  über  ihn  nur  spärlich  heranzieht  und  es  gewissenhaft  vermeidet, 
seine  Beweisführungen  durch  Beibrinp^ung  von  Nebonsächlichem  oder  gar  Zweifel- 
haftem zu  beeinträchtigen.  In  löhliehcr  Seibstbestliränkung  liilst  er  sieh  auf 
ferne  Auklüiige  an  Antikes,  die  bei  Goethe  schier  aller  Orten  zu  finden  sind, 
nicht  ein.  Was  er  aus  dessen  Werken  bespricht,  weist  dem  iniiaite  oder  djjr 
Fonn  iMck  nnsweifeUuift  auf  Uassiaehe  Muster  hin,  wenn  nidit  gar  Goethe 
tuidrileklich  anf  solche  sich  besielii  Palftophron  und  Neoterpe,  Was  wir 
bringen,  die  nattirliche  Tochter,  Pandora,  des  Epimenides  Erwachen,  Helena 
wentiUL  daher  nor  als  'antikisiwend'  behandelt,  weil  sie  blofii  nach  gewisien 
Seiten  an  antike  Vorbilder  gemahnen;  in  gleichem  Sinne  werden  Tasso  und 
Hermann  und  Dorothea  besprochen.  Alle,  die  flberzeugt,  nicht  überredet  sein 
wollen,  werden  dem  Verf.  auch  das  Dank  wissen,  dafs  er  es  nirgends  darauf 
anlegt,  durch  Summationen  verwandter  Thatsachen  aus  verschiedenen  Lebens 
Perioden  G.s  ^\  irkungen  zu  erzielen,  den  chronologischen  Faden  vielmehr  bis 
m  Ende  festhält. 


*)  Qoeth«  nad  das  kUiiisebe  A.liertum.  Die  Bniwirkttiig  der  Antike  auf  Goetb«« 

Dichtur^eii  im  Zusaninifriliange  mit  dem  Lebensgange  des  Dichtere  durgextellt  von  Dr.  Frans 
Tkalmajr,  k.  k.  GjmnasialprofeMior  in  Lins.   Leipaig  1897,  fock.   V,  186  8.  gr.  8. 


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82 


Th.  Vogd:  OoeÜie  und  dM  UMiitdM  Altartum. 


Der  Gesarateiudiuck  muls  für  jeden  Verehrer  des  klassischen  Altertums 
hocherfreulich  sein;  die  AusfÜhriingen  des  Verf.  dürften  aber  auch  auf  manchen 
Qoeihekenner  flberraaehMid  inrk«ii.  Dab  die  Beschäftigung  mit  dem  Altortain 
bei  allem,  was  Qt.  in  aeinrai  langen  Leben  betrieben  ba^  stUl  neboihergegangen 
ist,  wissen  alle  Kundigen.  Wenige  werden  aber  diesen  Stadien  eine  so  nadi' 
haltige  und  tiefgehende  Bedeatnng  im  Innenleben  des  Duditers  beigemessen 
haben,  wie  sie  nach  Thatmajrs  tinanfe(litl)aren,  weil  zumeist  durch  Qoethe- 
stellen  belegten  Ausfahrungen  anerkannt  werden  mufs.  Hinter  naturwissen- 
schaftlichen Interessen  sind  bei  0.  die  philologischen  merklich  zurückgetreten 
nur  wahrend  der  der  italienischen  lieise  unmittelbar  vorhergehenden  Jahre,  in 
denen  tler  Diehter  neben  einem  ihn  stark  in  Anspruch  nehmenden  praktischen 
Amte  in  die  Aiitangsgründe  der  Naturwissenschaften  sich  einarbeitete.  Weiter- 
hin hat  swar  aeitweilig  die  Minmlogie,  Meteorologie  and  TomehBÜldi  die 
Farbenlehre  s«n  Intwesse  stark  in  Anq»nich  genommen.  Als  seine  eigent- 
liche Lebensaafgabe  hat  er  seit  der  Bflckkehr  ans  Itslien  inunw  die  hfinstleriaehe 
im  weitesten  Sinne  des  Wortes  angesdioi.  Bm  deren  LSsang  waren  and  blieben 
aber  seine  Hauptführer  die  Alten. 

Die  volkstttnüiche  Schliditheit  von  Hans  Sachs,  den  genial -kraftvollen 
Realismus;  Shakespeares  u.  s.  w.  hat  G.  zeitlebens  gebührend  gewürdigt.  Seinem 
durch  Italien  geläuterten  Form  und  Stilgefühle  konnte  aber  weit«^rhin  weder 
der  ©ine  noch  der  andere,  noch  weniger  die  mit  Formlosigkeit  sich  brüstende 
Romantik  voll  zusagen.  Dem  Einflüsse  der  letzteren  hat  G.  verschiedentlich 
nachgegebeu,  ganz  vornehmlich  da,  wo  es  ihm  besonders  bequem  erscheinen 
mnlste^  in  den  sweiten  Teilen  Ton  Wilhdm  Heister  nnd  Fansi^  Im  Divan  da- 
gegen dodi  nar  insoweit  dalb  die  peinlichste  Sorgfhlt  in  der  Formgebni^  dabei 
gewahrt  blieb. 

Bei  der  grofsen  Bestimmbarkeit,  die  6.  zeitweilig  verschiedensten  Kunst- 
richtungen gegenüber  geseigt  hat,  mufs  die  zähe  Festigkeit  doppelt  beachtlich 
erscheinen,  mit  der  er  am  klassischen  Ideal  festgehalten  hat.  Pindar  Odeni, 
Aeschylus  ^Prometheus*  !,  Euripides  !Gött4»r,  Helden  und  Wieland),  Aristophanes 
(Satyros.  Vogel'^  hatten  den  jungen  Mann  begeistert  in  der  Zeit  des  'Sturmes 
und  Dranges'.  Sachliche,  sprachliche  Anklänge  au  Antikes  ziehen  sich  durch 
Elpenor  und  Iphigenie  wie  dmch  die  wesentlich  späteren  'antikisierenden' 
Blihneostficke^  die  mit  1800  anl^bend  aaf  ein  Yierteljidirimndert  sidi  Terteilen, 
bis  snr  Massiiwihtii  Walpurgisnacht  nnd  dem  Abechlasse  dar  froh  begonnenen 
Hdena.  So  sehr  interessierm  noch  den  nahem  AchiigipUungen  die  Stoff»  der 
grieehiadien  Tragiker,  dab  er,  mit  Philologen  von  Fach  wetteifernd,  sogar 
mit  Tragödien fir^menten  und  dürren  Angaben  über  Tetralogien  eifrig  pich  be- 
schäftigt. In  die  klassische  Walpurgisnacht  spielen  ja  auch  naturwisaenschaft- 
liche  .\nlio£jen  mit  hinein;  das  (lanzo  ht  aber  der  hellenischen  Sagenwelt 
vtin  den  rohtsten  Naturanfängen  bis  zu  den  hehrsten  Gebilden  homerischer 
Dichtung  gewidmete  Und  die  Hauptarbeit  davon  fällt  in  die  späte  Zeit 
von  1^27  — 1S30! 

Geradem  einxigartig  (das  wird  aus  Thalmajrs  Schrift  erst  recht  klar)  ist 


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Th.  Vogel:  Goethe  and  die  UaniMbe  Attertum. 


83 


aber  das  Verhältnis  G.s  zu  Homer.  Von  allen  Dichtem  aller  Zeiten  hat  keiner 
vennoehij  Qoethen  auf  die  Dauer  nnd  ganx  m  feaseln  aulhsr  dem  einen 
Homer.  Spanisehea,  Ruflsiscbes,  ytthauiBchee,  GhineBischeB  o.  s.  w.  hat  0. 
kennan  und  in  seiner  Art  sehataeB  galemt  Der  Diehter  schteckUiin  ist  abor 
fDr  ilin  immer  Homer  geblieben;  in  diesem  StQche  hat  die  Wertherbegetsterung 
stündgehalten  bis  zuletzt.  Eriunemngen  an  Homerisches  umschweben  den 
Geheimen  Rat  Goethe  in  Italien,  wie  sie  ans  grofnfn  und  k!ein«^n  Artlüssen 
8.  Z.  den  Auskultiitor  (i.  in  Wetzlar  mn8cli\vol)t  battt'ii.  Im  Ikrl>.st  IT'JS  richtet 
er  Homerahenile  ein,  an  derer  jedem  ein  (iesang  Ii  s  von  ihm  deklamierend 
vorgelesen    wurde.     Mit   entschiedener  Vorliebe   t>tellt   er    von    1799  — 1805 

Kfinstlern  PreiBaii%abeii  ans  d^  Gestalteiiwelt  Homers.  Sein  umfönglieher 
Auszog  ans  dw  Dias  vom  Jahre  1798,  in  dem  er  alle  Motive  der  Diehtung 
zusammengestellt  hatte,  wird  1820  sorgfiiltigst  von  ihm  für  den  Abdruck  in 
'Kunst  und  Alterthum'  flberarbeitei  Rfihrend  ist  das  bekannte  Distidion,  in 

dem  der  f^ofste  Dichter  unseres  Volkes  dem  Einen,  rnerreichbaren  gegenüber 
mit  der  Holle  eines  nachstrebenden  Homeriden  sieh  demütig  begnügt.  Schier 
bis  zur  Verlencrnnng  seiner  Eigenart  ist  G.  in  seiner  Aohillci?  (ITOO)  ge- 
gangen, in  der  er,  als  Ergiinzer  Homers  sich  fühh  iul,  an  .s»  in  Muster  »ich  biü 
auf  den  Ausdruck  und  kleine  Kunstmittel  angelehnt  hat.  Begreiiiieh  ist,  dafs 
der  Dichter,  der  kurz  vorher  in  Hermann  und  Dorothea  als  einen  gott- 
begnadeten Homsridfioi  ddi  erwiesen  hatte,  es  bald  als  eine  Unmöglichkeit 
erkannte,  die  Aehilleis  in  der  begonnenen  Weise  an  Ende  zu  fOhren.  Dafs  er 
die  Arbeit  ttberhaupt  angegrifien  und  so  weit  geführt  hat,  ist  aber  ein  viel- 
besagende^  Zeugnis  wie  für  seine  Bewunderung  der  Dichtergrölse  Homers  so 
f&r  die  absonderliche  Wertschätzung  der  homerischen  Gtestaltenwelt. 

Aneh  auf  dem  Gebiete  der  bildenden  Kunst  hat  G.  in  seinem  langen  Leben 
für  sehr  Verschiedenartiges  neben-  niul  luiclieiininder  sicli  Ix-ireistert.  Das 
Interesse  für  griechiscli- römische  Kunstwerke  liat  ihn  aber  Ix-gleitet  von  der 
Kinderzeit  bis  in  die  letzten  Weimarer  Jahre.  Künstlerische  Anregung  hat  er 
Tou  Meistern  aller  Zeiten  und  Volker  erhalten.  Die  eigentliche  echte  Kunst 
ist  aber  immer  (Ar  ihn  die  antike  geblieben,  so  wenig  er  s.  B.  der  alteren 
dentsehen  Baukunst,  Malerei  und  Bildhauerei  Anerkennung  versagt  hat^ 

AUgemein  gilt  als  ausgemacht,  dafs  der  Dichter  G.  anf  dem  Gebiete  der 
Naturwissenschaften  als  Gelehrter  sich  hervorgethan  hat.  Hat  nicht  auch  die 
Philologie  ein  Recht  darauf  ihn  als  einen  der  Ihren  in  Anspruch  zu  nehmen'? 
Denkt  man  bei  Philologie  wesentlich  an  Grammatik,  Linguistik,  Text- 
kritik u.  dergl  ,  so  ist  die  Frage  zu  verneineii.  Fafst  man  sie  im  Sinne 
F.  A.  Wolfs  auf,  so  wird  man  flem  nicht  zunftmäföig  geschulten  Dichter  gern 
einen  Ehrenplatz  unter  den  tieiuiuegenden  Förderern  unserer  W^isaenschaft  zu- 
erkennen, den  kein  Geringerer  als  Wolf  selbst  (Widmung  des  Museums  der 
Alt«rtamswissenschaft,  Bd.  I)  ihm  angewiesen  hat.  Wird  G.  als  Natoifbrsdier 
anerkannt  trots  seines  Idiotentums  in  der  Matiiematik  nnd  der  grandfl&tdiehm 
Yerwerfong  aller  feineren  Experimentiermittel,  so  wird  die  Philolt^e  wohl  so 
hochhersig  sein  kennen,  dem  einxigartig  tiefen  Kmner  antik«'  Kunst  nach- 

6* 


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84 


Th.  Vogel;  GkMithe  and  das  klamucbe  AUertom. 


suadien,  dtb  er  nidit  lateinisoli  gMchrieben  und  «ntike  Studien  mdtr  dilet- 
tantiieli  betrüben  bat.  Hentnitage  bat  maneber  Bemfiqpbildog«  eogur  wobl 
Anlafs,  auf  6^  philologische  Bethatigang  mit  Beschämung  hmzublicken ,  gana 
abgesehen  vom  Punkte  der  Begeisterung,  in  dem  wir  Neueren  im  allgemeinen 
leider  kümmerlich  bestellt  sind.  Die  Anzahl  der  römisch  -  griechischen  Schrift- 
werke, welche  0.  durch  Lektflre  im  Original  —  natürlich  nach  seiner  A.rt  — 
genau  kennen  gelernt  und  bis  zu  einem  beachtlichen  Grade  sich  zum  geistigen 
Eigentum  gemacht  hat,  ist  sehr  ansehnlich,  nicht  minder  die  der  gelehrten 
Themen,  die  er  im  Verkehr  mit  Wolf,  Güttiiug,  Eichstädt,  Gottfr.  Hermann, 
Sebobarthy  Riemer  o.  a.  nadi  nnd  nadi  behandelt  bat 

Dw  Thateache,  dab  G.  ein  hoher  Verebrer  und  nach  nelea  Seitra  ein 
gründlicher  Kenner  des  Altertums  gswesfoi  ist,  stdit  UUigst  und  naeh  "nial- 
mayrs  Darlegungen  ToUeiidB  nnersehlLtbariidi  fbÄ,  so  dafs  kein  Mifswollen  daran 
rütteln  kann.  HSdist  unbequem  ist  fireilicb  Tielen  Neueren  diese  Thatsacb^ 
licht  nur  dem  Pöbel  der  Misologen,  sondern  auch  manchen  Ffibrem  auf  dem 
'Gebiete  des  höheren  Schulwesens  wie  der  Kunst. 

'  Dem  Naturalismus  und  '  Impressionalismus'  unserer  jüngsten  Zeit  ist  der 
Goethe  der  Sturm-  und  Draugzeit  natürlich  ein  Entzücken,  zusagend  ö.  auch 
noch,  soweit  er  weiterhin  in  den  Bahnen  von  H.aus  Bachs  oder  Shakespeare 
gewandelt  ist  und  ron  dem  Satse  der  Romantiker,  dafs  dem  Genie  alles  erlaubt 
sei,  sdniftsteUeriseh  gelegentlich  Gebraudi  gemadit  bai  Der  antikiBierende 
G.  ist  dieser  Richtung  aber  durdiaus  unsympatbisdL  Spielte  die  konventionelle 
Heuchelei  nicht  auch  in  aestheticis  eine  Rolle,  so  würden  tou  den  Realisten 
nicht  nur  die  Achilleis,  Natürliche  Toehtw  u.  s.  w.  als  *  frostige  Stviriien  nach 
der  Antike'  beiseite  geschoben,  sondern  schliefslicb  auch  —  die  Iphigenie.^) 
Da  dieses  Stück  einen  alten  Ruf  geniefst  und  von  rielen  noch  heute  hoch- 
gehalten wird,  so  spendet  man  ihm  ja  wohl  meist  das  herkömmliche  Lob  oder 
geht  wenigstens  mit  höflicher  Verbeugung  vor  dieser  antiken  Studie  Goethes 
vorüber.  Der  Moderne  von  reinem  Wasser  gefüllt  sich  aber  inuner  mehr  in 
Andeutungen,  dafs  der  kraftvolle,  gesund -realistische,  noch  dazu  durch  natur- 
•wissensdiafllidio  Anschauungen  ansreiebend  proifim  gestimmte  Goethe  durch  die 
beiden  gefiihrlichen  idealistischen  Doktrinare,  Schiller  und  den  sogenannten 
*Kunstme7er',  auf  falsdie  Bahnm  verlockt  worden  seL  Man  ist  bemüht  dar^ 
luthun,  dalk  mit  Sidiillers  Tode  ein  gewisser  Alp  von  G.s  innerer  Entwickelung 
genommen  worden  sei  und  dieser  bald  darnach  —  mit  einzelnen  antikisiM^mden 
Rückfällen  —  in  das  Fahrwasser  der  genialen  Romantik  (wenn  auch  suo  more) 
eingelenkt  sei.  Wie  mancher  von  Thalmayr  angeführte  klare  Ausspruch  G.s 
straft  diese  Auffa^ssnng  Lügen!  Und  welche  Verkennung  von  G.s  Natur!  So 
leicht  dit  si'  sich  von  allem  an  sie  Hcrnntretenden,  was  für  sie  eine  ansprechende 
Seite  hatte,  beeinflussen  liela,  so  unbeirrbar  zäh  widerstrebte  sie  allem,  waa  ihr 
nicht  gemafs  war.  Keine  Autoriiat,  au<&  nicht  die  des  besonders  hoch- 
gehaltenen Schiller,  bitte  G.  bestimmen  können,  Politik  oder  Mathematik  lu 


B«Nod«n  eingehead  niul  liebevoll  wkd  dteiet  Stfiek  wm  Teif.  behsadelt,  8.  U— 80. 


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Th.  Vogel:  Goethe  und  dm  klassische  Altertum. 


86 


betreiben,  für  das  Ton  den  Romantikern  so  viel  Terherrlichte  Mittelalter  sicli 
lebhaft  zn  intereaaieren,  das  NibelnngeiiUed  xaoA  Gudrun  mit  Bias  und  Odyaaee 
tllf  gleii-he  Linie  zn  stellen  n.  s.  w. 

Sicher  hat  dir  VorfiiHsor  wohlgethan,  auf  eine  Kritik  der  Folgerntigen, 
die  Q.  theoretisch  und  praktiäcli  aus  sei  neu  iVltcrtum»titudien  gezogen  hat,  sich 
nicht  einzulassen.  Die  reine  Wirkung  seiner  Darlegungen  würde  dadurch  nur 
beeinträchtigt  worden  »ein. 

Raf.^  der  «ine  ^ebe  ZorSdlultang  sieh  nidit  an&aerlegen  braneh^ 
idunt  flieh  nidit  es  anflsiuqpre^en,  dafa  der  Einflitls  der  Antike  auf  Ghtettiea 
IKehtoBgen  wohl  sieht  ohne  Einaduriokong  ala  ein  gflnatiger  heseichnet  werden 
kann.  Soweit  6.  unter  Wahrung  seiner  vollen  Eigenart  sich  Ton  antiken  Vor- 
bildern hat  anregen  bwaen,  bat  er  Uti vergängliches  geschaffen.  Hermann  und 
Dorothea  und  Iphigenie,  von  anderen  Dichtungen  ganz  zu  flchweii^|!eOy  sind  ein 
Höchstes  in  ihrer  Art,  das  nicht  nberboten  werden  knnn.  Wenn  G.  aber 
weiterhin  den  iambischen  Trimeter  wieder  heraiizit  ht,  auch  allerlei  abo;' 1' wue 
antike  Metra,  wenn  er  kunstvolle  Chöre  dichtet,  Rühuenstückcn  expomerenc 
Prologe  vorausschickt,  seine  Gestalten,  die  nach  der  menschlich  -  natürlichen 
Seite  bereits  in  Iphigenie  und  Tasso  nur  mit  leichten  Pinseletrichen  charakteri- 
liert  waren,  immer  unpersSnUcber  werden  lafst  in  der  Stufenfolge  yon  Typen, 
AUegorieiiy  blol^  Sehemen  (Homunealu^  Eupborion),  so  werden  nur  woiige  in 
diaien  Antikisieren  Itber  die  Iphigenie  hinaus  einen  Fortschritt  sdien.  Das 
Motiv,  der  Konflikt,  die  vorgefahrt  werden  sollen,  kommen  ja  ohne  Zwelftl  am 
reinsten  zur  Darstellung,  je  mehr  Unwesentliches,  Zufälliges  femgehalten  wird. 
In  dem  Ma^e  als  dieses  hinwegdestilliert  wird,  gerät  eine  Dichtung  aber  in  die 
üe&hr,  !inr  als  'akademische  Studie'  und  aueh  als  solche  "rir  auf  einen  kleinen 
Kreis  Hochgebildeter  zn  wirken.  'Denken  kSie  sich  den  Uennff»,  in  einer 
poetischen  Darötellung  alles  Sterbliche  ausgelöf«cht,  lauter  Lieht,  lauter  Freiheit, 
lauter  Vermögen,  keinen  Schatten,  keine  Schranke  u.  s.  w.  mehr  zu  sehen', 
hilte  Sdiiüer  a.  Z.  sn  W.  von  Humboldt  in  Bezug  auf  das  ihm  Torschwebende 
Gedicht  'das  Ideal  und  das  Leben'  gesdirieben.  Wie  weit  war  Oo^e  damals 
TOD  solclier  Aulbssnng  entfernt^  und  wie  bedenUidi  hat  er  sich  spiter  ihr  an- 
genShert  zur  grofsen  Bedntraditigung  der  Wirkung  seiner  BflhnenstQcke, 
wahrend  der  Schreiber  der  angezogenen  Zeilen,  Schiller,  Ton  1799 — 1806  ala 
Theaterdichter  einen  Treffer  nach  dem  andern  erzielte! 

Die  Erklärung  liegt  nahe.  Von  den  Rünbern  bis  zum  Teil  hat  der 
Dramatiker  Schiller  mit  bewnfster  Berechnung  für  das  grofse  Pnbliknm, 
Gottht;  dagegen  auch  ala  Bühnendichter  zunächst  immer  nur  für  den  engsten 
Freundeskreis  gearbeitet.  So  wenig  wie  für  Iphigenie  und  Tasso  konnten  für 
Ptoseipina,  Ptadora,  Nansikaa,  di^  Danaiden  u.  s.  w.  von  Tombwein  andere 
•Is  gaaa  bescheidene  BQhnenerfo^  ^wartet  werden.  Je  ftlter  0.  wnrde^  desto 
l^eiehgOltiger  wurden  ihm  aber  die  Ansichten  der  Massen  nidit  nur,  sondern 
aueh  der  Stimmflihrer  des  Tages. '  Allen  Einrede  der  Bomsntiker  zum  Trotae 
heharrte  er  bei  der  1790  fPropylaen  II  1)  ausgesprochenen  Ansicht,  dafs  die 
höchsten  Muster  und  Ziele  des  echten  modernen  £finstlers  in  der  Qestaltenwelt 


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86 


Th.  Vogel:  Goethe  und  das  klassische  Altertum. 


Homers  zu  suchen  seien  (Thalm.  S.  147).  Medor  t-oi  auf  seine  Art  ein  Grieche* 
(fbendas.  S  140'  i«!t  scino  Losnng  noch  1818  und  weiterhin.  Daneben  steht 
G.  audorseits  Hcit  der  Wende  des  Jahrhunderts  insoweit  im  Strome  der  roman- 
tischen liewe^nifj.  dafa  es  ihm  von  Jahr  zu  Jahr  nielir  Bedürfnis  wird,  hw^hst-e 
und  tiefste  Gedanken  aller  Art  in  seineu  Dichtungen  irgendwie  zum  Ausdrucke 
m  hrragtai.  Sollfte  dabei  *4ie  edle  En^di  ond  Blüle  Chrilfre  des  antiken  Ideals* 
(Dich!  n.  WahrlL  Vlil)  nieht  geopfert  worden,  ao  moTaten  die  TonEiifUirenden 
Qeatalten  immer  mehr  dea  Persfinlich -Zufälligen  entkleidet  und,  wie  wir  oben 
andeuteten,  erst  typisch,  dann  allegorisch,  symbolisch  werden.  Nur  folgericlitig 
war  es.  dafa  fOr  einselne  der  ^antikiaierenden'  StOcke  nieht  nur  der  iambiaehe 
Sechsflifsler,  sondern  socjar  dif  antiken  Masken  wieder  zur  Anwendung  kamen. 

Dafs  in  verschiedenen  Diihturi<jen  der  spätereTi  Zeit  der  Ideengehalt  den 
Empfindungs-  und  SiniuMijt^elialt  hedenkluh  überwiegt  (S.  170),  dafs  wir  den 
Dichter  des  Götz  und  Egmunt  zuletzt  auf  Pfaden  finden,  die  Schiller  theoretisch 
zwar  empfohlen,  als  Bühnenpraktiker  aber  selbst  wohlweislich  nie  betreten  Lat, 
▼erfehlt  Thahnajrs  Schrift  nickt  anaudenten. 

Alles  daa,  wie  man  ea  andi  beurteile,  widerlegt  jedenliüla  schlagend  die 
AnfBuBimg,  die  antiken  Liebhabereien  seien  für  Q,  etwas  An^edrongenea, 
neben  der  Hauptrichtung  seines  Wesens  nur  Herlaufendes  gewesen. 

Das  schöne  dem  Vorworte  nU  Motto  vorgesetzte  Wort  Jean  Paula: 
'Goethes  Baum  treibt  die  Wurri !?'  in  Deutschland  und  senkt  den  Bluten üher- 
hant;  hinüber  inn  ^griechische  Klima'  sagt  in  si'iTier  zweiten  Hälfte  zu  wenig, 
wenn  man  es  so  auffafst,  als  habe  des  Dichters  Lebensbaum  sich  nur  der  ihm 
zusagenden  südliehen  Sonne  zugewendet.  Etwas  anderes  als  er  selbst  hat  G. 
ja  ztt  keiner  Zeit  sein  mögen  noch  können;  dazu  war  aeine  Begabung  zu 
mSditig,  seine  Eigenart  zu  ausgeprägt.  Anderseita  hat  er  zu  keiner  Zeit  zu 
den  aelbstgenügsamen  Qeniea  gehört,  die  ea  TerBchmähen  an  anderen  sidi  zu 
bilden.  Von  den  zahlreichen  Vorbildern  aber,  denen  nachzuarbeiten  er  aidi  je 
bemOht  hat,  hat  er  keines  so  stetig  und  so  bewulat  hochgehalten  wie  den 
Sänger  der  Ilias  und  Odyssee.  'Die  Liebe  zu  Homer  ward  in  G.s  dichterischem 
Wesen  der  dauerhafteste  Gnmdzng*  sagt  Cholevius  (Thnlm.  173),  'auf  Homer 
ruht  gleichsam  G.8  rr-mTo  Dichtung',  sagt  Loeper  (el)endas.  i. 

Die  oft  augezogeneu  zwei  Aufserungen  des  Dichterji,  von  deueu  die  eine 
das  klassische  Altertum  als  die  beste  QueUe  einer  gediegenen  Büdung  für  die 
htAiere  Henachheit  bezeichnet,  die  andere  den  Wnnaeh  anaapricht,  dab  das 
Altertnmsatndium  immerfort  die  Baaia  der  hSheren  Bildung  bleiben  möge, 
dftrfen  nach  aUedem  den  Anspmeb  erbeben,  ala  AuaflQaae  einer  tief  begrilndeten 
Herzenstiber/.eu<_ninif  auf^rfafst  zu  werden. 

Hat  ein  Universalgenie  wie  G.  bis  ins  höchste  Alter  nie  das  Gefühl  ge- 
habt, den  Vollgehalt  der  Antike  annaliernd  erschöpft  zn  haben,  so  mufs  es  bc- 
trüb(nd  und  kaum  verständlich  erscheinen,  dafs  zahlreiche  Berufsphiloiogen 
lii  iitzutatre  von  dem  Schlagworte,  unser  Zeitalter  sei  über  das  klassische  Alter- 
tum hinausgewachsen,  sich  merklich  einschüchtern  lassen.  Will  unser  Ge- 
aehlecht  den  klassischen  Studien  sich  mehr  und  mehr  entziehen,  so  sehe  es, 


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Th.  Togel:  GoetiM  und  dM  klunielie  Aliertmn. 


87 


wohin  es  auf  diesem  Wege  kommi  Jede  Begründung  dieses  Abfiäiles  ist  aber 
eitrigl&liffir  ali  die  iliSrieht-uiinalialidie,  eine  Quelle^  ana  der  die  Herooa  miaerer 
Liilemtitr  Ton  Elopetock  bia  Goethe  aich  immer  und  immer  wieder  erfiriacht 
baben,  aei  Ar  nna  Fortgeachrittene  at^joatandeiiea  Waaaer.  Will  man  aber 
etwa  daa  Gewicht  der  angeKOgenen  beiden  Goetheworte  dadurch  abschwächen, 
dafs  man  sie  als  Kundgebungen  eines  philologischer  gesinnten  Zeitaltera  auf- 
Mst,  so  lädst  mau  aufser  Acht,  dafs  G.  nach  Mehrheitsanschauungen  sich  nie 
gerichtet  hat  (man  denke  nur  an  die  zahme  Xciiic  nm  Buch  VI:  'Ursprünglich 
eignen  Sinn  lafs  dir  nicht  rauben'  u.  s.  w  V  in  seiner  Stellung  7.11m  Altertimi 
«och  nur  von  einzelnen  auserwähltjen  Zeitg*  ;ui.>M'n  voll  verstanden  worden  ist. 

Ob  eine  liebevolle,  vertiefte  Beschäftigung  mit  den  Meisterwerken  der 
grieebiaeh-rSmiachen  Littminr  und  Konat  mn  'echter  Ring'  ist  mit  wmidM>- 
banr  Wirkongakraft  aiidi  fttr  imaer  Zeitalter,  darftber  wird  der  begeiaterte 
Fhilolog  wobl  andere  denken  ala  mancher  in  anderan  Bereiche  dngewuiselte 
Zeitgenoaae.  JedenftUa  kann  der  Ring  aeine  Kraft  nnr  aeigeiiy  wenn  der 
TrSger  an  diese  glHubt.  Tn  diesem  Glauben  ihn  zu  beatihcken,  iat  die  an- 
geaeigte  Schrift  ohne  Zweifel  geeignet. 


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DIE  SOZIALE  DICHTUNG  DER  GfilEGHEN. 

(FortaeUnog.) 
Vom  BoBiBT  PdHUfAm. 

Dafs  dieser  Fortechritt  gemacht  wurtle,  verdankte  die  Dichtung  jeuer  ge- 
waltigen sozial-reformatoriscben  Strdmimg  in  der  Flifloaophie,  deren  SoBuliflinitt 
▼on  einem  mBterialiatiaehen  und  rein  individualietisdien  KommnniwmtiB  so  weit 
entfernt  war,  wie  mSgilicli.') 

Wir  werden  damit  wieder  anf  den  eigentiiehen  Anagangepnnkt  nnaerer 
Daretellnng  zurückgeführt.  Auch  die  Philosophie  ging  nliinlith  von  jenem 
liarmonieehen  Weltbild  aus,  das  ihr  die  Kronossage  darbot;  schon  deshalb, 
weil  es  sich  aufs  inni^te  mit  iliren  eigenen  Vorstellungen  von  einem  idfiilfii 
Urzustau<l  herührte-)  und  daher  zur  all('?Tori>j(hoii  Venuischauiichuug  ihrer 
Ideale  vorzüglich  geeiguet  war.  Dabei  is-i  t-a  bezeichnend  für  die  so  j^auz 
andere  Gesinnung,  in  der  hier  der  Mythus  aufgenommen  wurde,  dafs  hier 
von  Anfang  an  neben  dem  materiellen  Moment,  der  Freiheit  von  wirtschaft- 
licher Not,  ganz  beeonders  die  ethiechen  und  socialen  £leniente  des  Mythna  in 
den  Tordergrund  geatdlt  werden.  Diese  Soualphilosophie  betont  vor  allein, 
daJb  das  Kronosreich  eben  ein  Gottesreich  ist,  and  es  steDt  aidi,  schon  bei 
Plato,  das  Bild  von  den  göttlichen  Hirten  ein,  unter  deren  Obhut  die  Mensch- 
heit ein  friedliches  Erdendn^^ein  geführt  h^ie.')  Friede  und  Eintracht,  der 
Geist  sittlicher  Selbstzucht  und  Ordnung,  sowie  dts  Reelites  Fülle,  das  sind 
die  Güter,  die  nach  der  platonischen  Darstell initr  des  Mythus  damals  die  Ge- 
sehlerhter  der  Mensthen  zu  lux  hhe^likkten  gemacht  haben.*)  Plato  verbindet 
damit  die  Ansicht  seines  spüt^reu  Fesäimismus,  dafs  die  menschliche  Natur 
keine  selbstherrliche  Grewalt  ertragen  könne,  ohne  in  Übermut  und  Ungerechtig- 
keit SU  Ter&UoL  Eben  in  der  Erkenntiiis  dieser  Sdiwiehe  der  Menschanimtar 
habe  Eronos  damals  keine  mensdilidien  Obrin^ten  eingesetzt,  sondern  ein 
gottahnliches  und  edleres  Gescfalecht  mit  der  Leitang  der  Meoachheit  betrank 
das  Plato  als  IKbnonen  bezeichnet,  und  die  in  potensierter  Oeslalt  jene  Gattung 
?on  Übermensihrn  oder  'Göttersöhnen'  repiisentieren,  wie  er  sie  in  seiner 
qiateren  Zeit  für  die  Beherrschung  eines  idealen  Gemeinwesens  forderte. 

Besonders  die  Stoa  ist  es,  die  ihre  Ideale  in  dem  Kronosreich  verkörpert 
sah.   Die  Treiheit  unter  Kxonos'^J,  die  kerne  äuüseren  rechtlichen  und  stsat- 

Vgl  die  aus^eieiduwte  Charakteristik  des  prinzipiellea  tipflCBiitifi  der  SUdeoa- 
»u»en  zur  f.  lit.  ia  des  Plato  bei  VhAid  a.  a  0.  S  S9T  ff 

Vgl.  m.  Uesch.  d.  aatikea  Kommnniwnu»  u.  Soualisuus  I  110  ff. 
")  Plato,  Stsstwaina  md  ff.      *)  GsMtie  IlSe. 
^  8.  m.  0«Mh.  d.  aat  Komm.  a.  SodaL  I  116. 


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R.  FDUmMiB:  Die  sociale  Diehtang  der  Griechen. 


89 


liehen  Normen  nnd  Autoritäten  kennt,  sondern  mir  eine  zwangloHP  «ittliche 
Ordnung,  «  in  freiwilliges  Zusammen  v  i rkpn  aller  aus  freier  Moraiitat  nnd 
Brüderlichkeit,  pie  ist  ja  durchaus  ideutij*iii  mit  dem  hyperidealistischeu  Kollek- 
tivieiuus  und  Anarcliiämus  des  stoischen  Geseilschaftsideals.  ^)  Auch  die  Selbst- 
geaOgsamkeit  des  stoischen  Lebensideals,  ein  einÜMbes  mit  Handel  und  Geld- 
«irtBchaft  noch  unbekuintos  Nsburdaflein,  dM  sidi  mit  den  Fr&ehten  des 
Bodens  begnügte,  &nd  man  in  der  L^^de  Tom  goldenen  Zeitalter  Terherrlidit. 
So  bat  ein  Jttngw  der  Sioa,  einer  der  gelesenetoi  Poeton  der  heUenlBtiecliMi 
Zeit,  Aratos  von  Soloi,  in  seinem  gefeierten  Lehrgedicht,  den  *inUUHnnenen', 
(zwischen  276 — 74")  die  Herrlichkeit  des  Kronosreiches  beomgen,  wo  'noch 
Dike,  die  unsterbliche  Göttin,  die  Altesten  des  Volkes  versammelnd  bald  mif 
fiem  Markt,  bald  auf  geraimiigem  Heerweg  Bürge r<_rp!^<tze  sang  mit  ernst 
mahnendem  Nachdruck,  wo  unseliger  Hader  und  Kaniplesgetümmel  noch  un- 
bt?kauut  waren,  wo  kein  Schiff  Lebensbedarf  aus  der  Ferne  über  das  Meer  führte, 
sondern  Stier  und  l'tiug  und  sie  selbst,  die  recht*peudeude  Dike,  zur  Genüge 
alles  gewifthrte*.  Eine  Darstellong,  die  aneh  ineofem  von  Intereeee  iaty  als  hier 
neben  dem  aosDal-ethisdien  Moment  der  bereits  too  Flato  anflgesproebene  nnd 
dann  vom  Cynismns  so  entschieden  betonte  Gedanke  nun  Ansdmck  konunt, 
dals  die  Menschen  zur  Arbeit  geboren  nnd.  Nach  der  Vorstelliing  Arats  hat 
die  Erde  selbst  den  Menschmi  der  glücklichen  Urzeit  ihre  Gaben  nicht  frei- 
wiUig  gespendet  sondern  sie  mQssen  ihr  durch  die  Arbeit  mit  Pflug  nnd  Stier 
abgewonnen  werden. 

Diepp  Auffassung  ist  zugleich  das  Ergebnis  einer  h'ationalisierung  der 
Sagt',  einer  Abstreifung  des  'allzu  Fabelhaften',  wie  sie  das  fortf^eschnttent; 
kritische  Bewufstsein  forderte.  Verflüchtigt  sich  doch  der  Mythus  zuletzt  völlig 
durch  die  rationalistische  Umdeutung,  die  wir  bei  einem  anderen  Stoiker, 
nämlich  b«  Poseidomos  finden.  Er  sieht  in  der  Sage  vom  goldenen  2£eitalter 
nur  eine  mifsrerstandene  Überlieferung  Uber  die  üneit,  in  der  die  noch  un- 
verdorbene Menschheit  dem  Znge  der  Natur  folgend  sich  willig  der  Führung 
der  Besseren  und  *WetBen'  flberliefs,  deren  Einsicht  ihr  all  das  Olflck  ver- 
schafft habe,  das  man  eben  am  goldenen  ZeitaltcM-  rühmt,  Sehuts  gegen  Frevel 
und  Gewaltthat  nnd  Freiheit  von  wirtschaftlicher  Not.*) 

Aber  nicht  blofs  der  Mythus  seiltet  hat  den  Wandel  der  Zeit  an  sieh  er- 
fahren. Das  Bedürfuiti,  die  gesellsclmtt liehen  Ideale  der  Zeit  im  dichteris^ehen 
Bilde  zu  verkörpern,  führte  unvermeidlich  dazu,  daln  auch  die  soziale  Philosophie 
—  ähnhch,  wie  ja  schon  die  Komödie  —  über  deu  durch  die  volkstümliche 
Sage  gegebenen  Bahmsn  (Ibwhaupt  hinausging  und  das  Ideal  auf  einen  gana 
neuen  Boden  stellte,  auf  d^  die  Phantasie  des  Einseinen  völlig  frei  irslten 
konnte.  Und  swar  ist  es  wiederum  Plat0|  der  hier  vorangehi 

Plato  auf  diesem  Wege  zu  begegneni  kann  uns  nicht  wunder  nehmen. 
Kr  selbst  ist  ja  ein  Künstler,  ein  Dichter  unter  den  Denkern.  Als  solcher 
übrigens  keine  vereinselte  Erscheinung  in  einer  Epoche  des  qtekulativen 


')  8.  m.  Oeeck  d.  Komm.  u.  8os.  I  610  ff.      *)  Bei  Seneo*  £p.  90. 


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90 


B.  PPhlnmin;  Die  loiiale  Dichtang  d«r  GriedieQ. 


Denkens,  in  der  Oberhaupt  Spekulation  und  Dichtung  noch  fortwährend  in- 
flinanderliefen.  So  gro£9  aein  Yerstand  Rudi  -wWf  er  blieb  doch  sehr  oft  hinter 
edner  raatloB  kombinierenden  EinbildnngikFaft  rarflck.  Die  systetnatiBehe 
Untenaehung  und  theoreÜBehe  Eonatrnktioii  konnte  dem  Drange  nach  mSg- 
liehet  lebeneroUer  Ansgeetaltung  einw  Oberreicben  Gedankenwelt  nidit  genOgen; 
Piatos  Qeist  beilurflo  dazu  nodl  einer  anderen  Form;  and  das  war  ebw  die 
Dichtuii(r,  Wo  die  Dialektik  versagt,  greift  er  zur  poetisch  symboh'schen 
Spracht'  (li'H  ATvtlniH,  zmn  Oleichnis,  um  eino  völlige  Veranschaulichnng  der 
vorgetrageiioii  Wahriieiten  zu  erreichen.  Aber  auch  dann,  wenn  er  sich  auf 
dein  NV^egc  der  Abstraktion  zu  vdller  Klarheit  durchgerungen,  konnte  der 
Drang,  das  begrifflich  Deutliche  nun  auch  noch  im  künstlerischen  Bilde  an- 
auechaaen,  ilberm&chtig  in  ihm  werden.  Die  Glut  reformatorieeher  Begeisterung, 
die  seinen  Geist  weit  Aber  die  verderbte  Wirkliciikeit  binauahob,  erweckte 
natm^emiUk  immer  wieder  die  Sehnsudit^  'ans  Tergebliehem  Wunadi  nnd  boff- 
nungsToUen  Tr&ameu  wenigstens  bia  au  jenem  poetiacben  Schein  einer  Wirk- 
lidlkeit  sich  zu  erheben,  welcher  die  Dichtnng  von  der  abstrakten  Vorstellung 
des  Denker''  ur  f«  r-cheidet'.')  Selbst  da,  wo  er  nicht  die  Form  der  Erzählung 
wählt,  wie  l)ei  der  Darstellung  seines  'Staates',  spricht  Plato  von  einem  'dich 
tcrischen  Pliantrtsiepjebildo'*);  die  Schriften  des  Gesetzgebers  seines  zweitbesten 
Staates,  für  die  er  ja  in  den  eigenen  das  Vorbild  giebt,  sind  'nicht  ohne  einen 
Anhauch  göttlicher  Begeiät^rung'  geschaffen.')  Das  Idealbild  eines  Staates, 
das  sie  vor  Augen  stellen,  wird  mit  der  Dichtung  eines  Dramas  verglichen.*) 
Das«  kommt  die  Kraft  der  Propaganda,  die  der  Soualiamna  Ton  jeber  in  der 
Poesie  gefbnden  bat  Wie  der  modern^  ao  bat  auch  achon  der  antike  Soaialia- 
mus  das  Lied,  die  dramatiache  wie  die  erdblende  Dichtang  in  aeinen  Dienet 
gestellt.  Die  grolste  RoUe  spielt  in  der  phtoniacben  Erziehung  die  Liederpoesie, 
die  die  gewünschte  Gesinnung  den  Gemfttern  schon  Ton  Kindheit  auf  einprägt^), 
und  die  Legende  oder  der  Mythus,  der  die  Lehre  plastisch  veranschaulicht 
und  ihre  Wirkung  durch  die  Autorität  der  Tradition  verstärkt*),  wozu  dann 
noch,  wenigstens  im  zweitbesten  Staat,  das  Drama  kommt,  das  das  ganze 
menschliche  Leben  durchaus  im  Sinne  dieses  Sozialismus  darr-ustollen  hatT) 
£s  gilt  eben,  wie  Plato  selbst  eimuai  sagt,  'alle  Töne  auzuäciüagen',  um  die 
Hnaen  nnd  die  Gditer  an  gewinnen.*) 

So  hatte  Plato  kaum  das  gewaltige  GelAnde  des  'besten  Staates'  auf- 


Rohdc,  Der  griecbiBcht-  Rmnun  und  Beine  Yorl&ttfer  8.  197. 

*)  S.  m.  Qe«cb.  d.  Komm.  1  414. 

^  Sie  werden  geradem      Oetftng e  besetclmet.  B.  ehd.  8.  fiS6  und  SS6. 

*)  S.  ebd.  TgL  fibrigens  da/.u  >iic  Bemerkung;  Qotheiiu  in  seiucr  ^'eistvollen  Abhaodittag 
'Thoma«  Campftnplla,  ein  T>ichti'r(>hilo;ioiih  der  Renaissance'  Ztschr  f.  Kulturpesch  I  .52': 
'Immer  wird  die  Poesie  in  der  Philosophie  ihr  Recht  behalten;  denn  nie  kann  diese  von  ihrer 
hecbatea  Aufgabe  absehen,  die  vereinielten  BrkenatniMW  der  getrennt  arbeitenden  Wniea- 
ecbai^n  tu  einer  \\')'ltiLnacbauunf;,  einem  Weltbilde  zu  vereinigen.  Und  schon  mit  den  Wertm 
cAnecbauung'*,  «Bild»  deut«n  wir  darauf,  daTs  sie  di<'R  nnr  niif  dem  Wege  der  Kunst  vemiap  ' 
S.  m.  Gesch.  d.  Komm.  I  281  f.  &27.  Ebd.  S.  28S  475  628.       *)  £bd.  ä. 

*)  Ebd.  8.  640. 


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Bw  PAUmum:  Die  wwiale  IKditong  der  Cfariedien. 


91 


geführt,  dft  «aeh  aehoa  daa  Bedfirfiiis  in  ibm  erwadit»,  das  Ideal  noch  in 
einer  anderen  Gestalt  tot  Angen  zu  föhren:  er  will  es  in  diditeriseher  Ver- 
kSrperung  gleichsam  lebendig  vor  sidi  sehen.  Ixn  Timaoe,  dem  «raten  Stüde 
der  philoaophiachen  Trilogie,  welehe  eine  Ergänzung  und  Weiterfahrung  der 
im  Staate  entwickelten  Ideen  und  zugleich  jene  dichterische  Darstellung  bringen 
sollte,  hat  er  sich  selbst  darüber  geaufsert.  Eh  sei  ihm  ««»ji^Tigen,  wie 
jemandem,  dor  irgendwo  schnnc  Tiere  vom  Maler  (larf;o»^tellt  oder  lebend,  aber 
im  Zustande  der  Ruhe  gesehen,  und  der  sif  nun  auch  in  der  Bewegung  und 
in  den  ihrer  Art  angemessenen  Kämpfen  zu  beobachten  wünscht.  So  habe 
auch  er  das  Bedürfnis  nach  einer  Erzählung  empfunden,  welche  veranschaulicht, 
wie  die  im  Crcspräche  vom  Staat  im  Znatand  der  Rohe^)  geschilderte  Moater- 
«fadt  —  in  das  wirkUdie  Leben  hineingeetdlt  —  die  Vorzüge  ihrer  Inatün« 
tioiien  bewShren  würde *),  wie  sie  im  Wettstreit  und  im  Kriege  mit  anderen 
StMiten  ihre  geistige  und  materielle  Überlegenbeit  ntr  Geltung  bringen  würde.*) 
Km  eine  Darstellung,  in  der  sich  die  Lebenskraft  des  Ideals  erproben  und  SO 
—  wie  wir  hinzufugen  dürfen  —  die  im  Staate  ausgesprochene  Überaengnng 
bestätigen  soll,  dafs  dieses  Ideiil  doeli  Iceineswegs  blofs  ein  schöner  Traum  ge- 
wesen, an  (!f^-^«rn  Verwirklichung  nicht  zu  denken  sei.*) 

Natürln ii  muiü  es  —  giinz  wie  Bellarays  'Rückblick'  —  eine  'wahre*  Ge- 
schichte sein,  Avenn  auch  eine  gar  'wundersame'.'^)  Es  ist  Piatos  eigener  Oheim, 
der  bekannte  Staatsmann  und  Publizist  Kritias,  dem  sie  in  den  Mimd  gelegt 
wird*);  und  der  versieht  una,  dab  er  dieae  *wihre'  Oeachichte  durdi  Yer- 
taittdung  aeinea  glddmamigen  OrdaTaters  Ton  keinem  Qerii^ren,  ala  dem 
greisen  Selon  übarkommen  habe,  dem  Verwandten  jmes  Slterm  Sritiaa.  Sdon 
aber  habe  sie  auf  seinei  ägyptiselien  Reiae  VOn  einem  gretaen  Priester  in  Sais 
erfahren,  dessen  Bewohner  sich  als  Verwandte  der  Athener  betrachteten  und 
unter  dem  Namen  Neith  dieselbe  Göttin  verehrten,  wie  Athen  in  seiner 
Atbena.^    Hier  in  Ägypten,  einem  Lande,  das  von  den  zahlrdchen  Erdkatt^ 

'y  oeatQ  iviQiu«,  wie  es  im  'Staat'  wiederholt  heilst. 

*)  Vgl.  Ariftoteles  Elb.  Kieom.  IV  14  p.  llSBa;  &«tu9  tic  «dlftcrr«  «tvifmMr 
■flrtrau,  ovta        t<1:  >"^r;. 

*)  Timäos  19 bc  26cd.    Die  Ailuntisdichtung  Platons  verhält  sich  in  dieser  Hiaücbt 
tarn  'Staat'  ganz  ilhnlicb  wie  die  'Utopia'  des  Morus,  die  selbst  von  sich  sagt: 
leb  wag'  den  Wettrtreii  jebt  mit  Hatoi  Staak,  rieUdcht 
sein  Ülicnvinder:  denn  was  im  geschriebenen  Wort 
er  nnr  entworfen,  ich  allein  steH's  wirklich  vor! 
*)  Vgl.  was  Victor  Considdrant  (Destindo  sociale,  1837;  von  der  Methode  seiner  'neuen 
WiiMDMliafi*  bemerkt,  die  darin  besteht,  daTs  man  snent  'den  Roman  dei  allgemeinen 
WohlWfindens  gestaltet,  um  darnach  die  Bedingungen  dieses  Wohlbefindens  zu  entdecken, 
dafs  man  zuerst  in  Gedanken  auf  irgend  einnm  Weltk9r])cr  sich  eine  (icsellschaft  vorstellt, 
in  der  die  Ursachen  des  Übcb  nicht  vorhanden  sind.    Kinc  Methode,  die  wegen  ihrer  An- 
wmdiug  in  der  Metfaematik  dem  Syetem  die  ünantastbarkeit  einer  'exakten'  Baiis  verleihe. 
Timäofl  20 d:  i6yo9  udl«  fiiv  &roifos,  itavränagt  yt  fl^  dll|9lfff. 
*»  In  der  Einleitung  des  Timäos  und  im  Kritias. 

^}  Eine  zur  Steigerung  der  Illusion  gtit  geeignete  Verwertung  der  8[tekulatiouen  über 
^  Mgebliebea  ZoeammÄbftage  grieeUeeher  «ad  Igyptitdier  Qeicbiebte  nnd  ICTthologie. 


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9S  PObImann:  Die  soziale  DichtuDg  der  Griechen. 

Strophen  verBchont  geblieben  sei,  die  anderswo  die  Völker  immer  wieder  fast 
vernichtet  und  in  die  rohesten  Anfänge  der  Kultur  zurückgeworfen  hätten, 
wären  eben  in  den  Tempeln  uralte  Überlieferungen  erhalten,  aus  einer  Zeit, 
von  der  bei  den  Griechen  jede  Kunde  verklungen  sei.  Und  aus  diesen  uralten 
Tempelöberlieferungen  stamme  der  Bericht,  den  der  priesterliche  Greis  dem 
athenischen  Gesetzgeber  erstattete. 

Was  den  Inhalt  der  Erzählung  betrifft,  so  werden  wir  in  eine  Zeit  zurück- 
versetzt —  angeblich  9000  Jahre  vor  dem  Erzähler  — in  der  die  Götter, 
nachdem  sie  die  Welt  unter  sich  verteilt  und  bevölkert  hatten,  die  junge 
Menschheit  noch  selbst  in  ihrem  Sinne  erzogen  und  leiteten.  Dem  durch 
Liebe  zur  Weisheit  und  Kunst  enge  verbundenen  Geschwisterpaar  Athene  und 
Hephästos  war  als  gemeinschaftliches  Loos  das  Land  zugefallen,  das  ftir  die 
Entwicklung  einer  verständigen  und  tapferen  Bevölkerung  besonders  geeignet 
erschien:  Attika.  Da  die  grofsen  Flutkatastrophen  und  sonstige  Zerstörimgen 
der  Elemente  ihr  Werk  noch  nicht  begonnen  hatten,  so  war  es  damals  noch 
ein  'unversehrtes'  Land.  Die  Berge  waren  noch  nicht,  wie  jetzt,  von  der  fetten 
Humusschicht  entblöl'st,  sondern  überall  mit  herrlichem  Wald  bedeckt.  Daher 
war  auch  die  Bewässerung  des  Landes  noch  eine  überaus  reichliche  und  der 
Boden  ein  aufserordentlich  ergiebiger.  Hier  war  die  Grundbedingung  eines 
gesunden  Gemeinwesens:  die  Möglichkeit,  neben  der  wirtschaftenden  Bevölke- 
rung eine  zahlreiche,  ausschliofslich  der  Wehrhaftigkeit  und  den  höheren  Inter- 
essen lebende  Klasse*)  zu  erhalten,  in  vollstem  Mafse  gegeben,  während  anderer- 
seits das  herrliche  Klima,  die  'schöne  Mischung'  der  Jahreszeiten,  wie  dazu 
geschaffen  war,  die  edelsten  Blüten  des  Geistes  zur  Reife  zu  bringen.^) 

So  erwuchs  hier  ein  Geschlecht  von  Menschen,  schön  und  herrlich,  das 
nirgends  in  der  Welt  seinesgleichen  gehabt  hat:  ausgezeichnet  durch  Sitten- 
reinheit und  durch  hohe  schöpferische  Kraft  auf  dem  Gebiete  staatlichen 
Lebens,  auf  das  durch  die  Götter  selbst  sein  Sinn  vornehmlich  gelenkt  ward.*) 
Der  gottverliehenen  Weisheit  seiner  ersten  Gesetzgeber  verdankte  es  staatliche 
und  gesellschaftliche  Ordnungen  von  einer  Vollkommenheit,  die  an  den  'besten 
Staat'  erinnert.^) 

Auch  hier  in  ürathen  erhob  sich  über  die  Masse  der  Ackerbau  und  Ge- 
werbe treibenden  Bevölkerung  eine  Gesellschaftsklasse,  die  genau  dieselbe 
Stellung  im  Staate  einnahm  und  genau  so  organisiert  war,  wie  die  Hüter- 
klasse im  besten  Staat.  Dieser  Kriegerstand,  wie  er  nach  dem  Berufe  der 
Mehrzahl  seiner  Mitglieder  genannt  wird,  wohnte  geschlossen  zusammen  auf 


•)  'Also  vor  etwa  9200  von  den  Tagen  der  jetzigen  Wiedererzählung  an,  somit  im 
glücklicheren  Anfang  eines  grofsen,  bekanntlich  10000  Jahre  umfassenden  Weltjahrcs,  wie 
Plato,  für  seine  Zeit  in  einer  gewissen  fin-de-sif-cle-Stimmung,  offenbar  absichtlich  datiert.* 
Pfleiderer,  Sokrates  und  Plato  S.  702. 

*)  Kritias  llOe,  nach  der  ohne  Zweifel  das  richtige  treffenden  Lesart  von  Bekkcr: 
aTQCtxöntdov  noXv  rHiv  niQl  rrjv  yfjv  tcgybv  fQymv. 

»)  8.  Timaos  24 e.    Kritias  llle.       ♦)  Tim.  24 d.    Krit.  109 d, 

•)  Vgl.  zum  folgenden  Krit.  110  ff. 


PoUmanB:  Die  wtMle  Dicbtong  der  Otiediflii, 


93 


dem  —  die  spätere  Akropolis  von  Athen  in  sich  bergeiitien  —  Hochplateau, 
ibs  damals,  als  die  wilde  Erdbeben-  und  Flutnacht  seinen  Kelsenkcro  noch 
nielit  in  eine  Gruppe  einiebiM'  Hfigel  lenisseu  hatte,  als  ein  nalima  ebener 
Laiidrfloken  von  dar  q^teren  Pnyx  bis  vom  LjkabettoB  reichte.')  Eine  Bing^ 
imiier  omgab  den  weiten  Bnitm,  in  dem  —  ringe  nm  du  Zentralheiligfenm 
des  Landes,  den  Tempel  der  Athrnt-  und  des  Hephüstos  —  die  Häuser  samt- 
lieber  Krieger  lagen.  Bauten  und  Einriehtnng  di  r  Wohnungen  waren  würdig, 
TOD  stolzem  Prunk  ebenso  ferne,  wie  von  verletzender  Dürftigkeit.  Nur  Gold 
und  Silber  sah  man  nirgends,  da  hier  sein  Gebrauch  durchaus  verpönt  war. 
Derselbe  iiaum  umsehlols  auch  noch  Gurten  und  d'n^  gemeinsamen  Übungs- 
und  Rpeisehanser.  Denn  das  Leben  der  Burght-wohiier  war  (iurchaus  ein 
gemeinäameä.  Selbst  das  weibliche  Geschlecht  nahm  Teil  au  der  geiueiusebaft- 
Uehin  bübiing,  ja  sogar  em  kriegerieciien  Beruf  dea  Mumee.  Zeuge  deeeen 
H  noch  heutigen  Tages  das  Standbild  der  in  voller  Bllatnng  dargestellten  Bui^ 
gottin,  eine  Gestalt,  die  das  GStterbild  eben  in  jener  Zeit  xon  erstenmal 
empfing,  die  die  Gleidiiieit  von  Mann  und  Weib  selbst  auf  dem  Gebiete  der 
Wehrverfassung  durchführte.')  Natürlich  kannten  die  Mitglieder  dieser  eng 
Terbondenen  Genossenschaft  auch  das  Institut  des  Privateigentums  nicht  In 
Tollkommener  Gütergemeinschaft  le))ten  sie  zufrieden  mit  dom^  was  ihnen  das 
arbeitende  Volk  zum  Unterhalt  augewiesen. 

Das  ist  übrigens  alles,  was  über  den  ersten  Stand  mitgeteilt  vrird.  Noch 
kürzer  falst  (»iuh  der  Bericht  über  die  anderen  Gesellschaftsklassen.  Mau  hört 
nur,  dafa  die  Niederlassungen  der  Handwerker  und  Gewerbetreibenden  an  den 
AbUogoi  der  lAndesbnrg  lagen,  sowie  die  Wohnungen  deijenigen  Landwirte^ 
die  ihre  Ädcer  in  der  Nlhe  hatten,  nnd  dalk  das  Frimdp  der  Arbeitsteilung 
aoeh  hier  strenge  dnrchgeftthrt  war.*)  Der  Bauer  war  hier  nur  Bauer  und 
nichts  anderes.*)  Übrigens  waren  auch  die  Mitglieds  dieses  Standes  dnreh 
körperhche  Wohlgestalt  und  *Liebe  mm  Schönen'  ausgeaeichnet'^),  ganz  so,  wie 
w  im  besten  Staate  der  Fall  gewesen  sein  muTs,  da  —  wie  der  Erzähler  aus 
drücklich  hervorhebt  —  die  Bürger  Urathens  denen  des  besten  Staates  in 

')  Vgl.  Belger,  Platoa  geologische  ßekonfltruküon  eiper  Urburg,  Berl.  pliiL  WodMBMbr. 
1890  S.  802.  Dit'f^t'  Rekonstruktion  ist  j^oulopisch  wohllx  ^rrüniict  Die  p'unze  Gruppe  von 
Hohen  gehört  in  der  That  zusammen.  Akropolis,  Ljrkabultu!^,  Areopag  sind  isolierte  Reste 
«nwr  dMutala  EttMimneidiiiigendon,  nahesn  horitoütal  gelugcitea  KrddekaUcichicht,  die 
tnf  wasserfilhrcndem  byitaUinischem  Schiefer  aofintst 

^,  Von  der  Francnpcracinschnft  fli's  IdeaUtaateFi  iist  hii'r  allrTtiinK>*  nicht  dii'  Rotio 
Hier  er»cheinen,  wie  schon  Fdeidercr  (S.  700)  bemerkt  hat,  die  Prinzipien  des  Idcalstaates 
'«tMs  venddmert  und  abgedlmpft*.  DaTi  flbrigeaa  das  Oemeimehaftspriniip  «df  dieMm 
Gebiete  ia  weiterem  Umfang  dorcbgefülut  war,  aJs  an  nnserer  Stelle  direkt  erwähnt  wird, 
zciß^  dio  s|»<lterp  Bcmcrkunp  uIkt  tMne  Rpfj-plnnp  des  (;csThl<:..li1sv('rkphr8,  welche  die  Folge 
hatte,  dsJ^a  'die  Zahl  der  M&uner  und  Frauen  stets  lüemlich  dieselbe  blieb'  (ungefähr  20U00). 
IriL  Ute. 

*)  Vgl  Tim.  84  a  und  den  Teigldch  nait  dem  Sorptisdheii  KsatenweMn. 

*)  8.  m.  Gescb  d.  a.  Komm,  u  Soz  I  272  f. 

*)  Krit  llle  ditKS*6cnTjto  (»c.  x^"*)  tUbg  iuit  jttMtf^  ürfiiväv  tiai  it^at- 
S^vmv  tiifb  xottOf  ^tloxailof  tt  %ttl  ti^v&v 


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94 


IL  PoliliiittiD:  Die  «wiale  Diditniig  dar  Griebhen. 


jeder  Hinsicht  gUchen.^)  Ur^iheii  eifreata  sieh  daher  auch  jener  inneren 
Hannonie  der  Twschiedeiien  GeselbchsfibiklMsen'),  welche  f&r  die  Kraft- 
beChatifping  des  Staatee  nach  aulseii  von  so  hohem  Werte  ist. 

Diese  staatliche  Machtaufsening  zu  schildern,  zu  sseigen,  welch  eine  Ffille 
von  idealen  and  materiellen  Kräften  ein  solcher  Staat  im  Ringen  um  die 
Existen?:  zu  entwickeln  vermag,  ist  die  eigentliche  Aufgabe  der  Erzählung. 
Sie  stellt  dem  idealen  Athen  einen  Staat  «ref^nüher,  der  auf  den  ersten  Blick 
im  Besitze  einer  vernichtenden  tlbemiftcht  erscheint.  Von  der  gewaltigen, 
jenseits  der  Säulen  des  Herakles  gelegenen  Insel  Atlantis  aus,  die  an  üm- 
tang  Libyen  und  Asien  übertraf,  aber  jetzt  ^nzlich  ins  Meer  versunken  ist, 
henrschte  die  feindliche  Macht  weithin  üher  die  Inselwelt  des  atlantischen 
Oaeans  und  diesseits  der  Sinlen  des  HeraldeB  in  Libjen  bis  an  die  Qrenxen 
Antens,  in  Europa  bis  Tynhenien,  wahrend  Athen  nur  Uber  die  verbfindeten 
Streitkräfte  des  kleinen  Hellas  verfügte  und  zuletzt,  als  im  Laufe  des  Kampfes 
auch  diese  versagtra,  Tdllig  auf  sich  selbst  gestellt  war. 

Aber  schon  dieser  monströse  —  die  nach  platouiachcr  Anschauung  für 
einen  gesunden  Staat  zulässige  üröfse')  unendlich  ül)errn(_'fM'de  —  Umfang  des 
Reiches  Atlantis  iälist  uns  ahnen,  dafs  es  im  Grunde  ein  Kolols  auf  thönernen 
Füfsen  ist,  der  hier  in  Aktion  tritt.  Überhaupt  ist  die  Atlantis  recht  eigent- 
lich als  das  Gegenstück  zu  dem  ^gesunden  Staat'  gedacht.')  Der  Boden  des 
Landes  brachte  in  üppiger  Fflile  nieht  nur  hervor,  was  des  Lebens  Notdurft 
wheiseht,  sondern  auch  kostbare  Metalle,  alle  Arten  von  Spezereien,  von 
köstlidien  Frflchten  und  WeineOi  von  Wild  und  was  sich  der  verwöhnteste 
Gaumen  an  Reizmitteln  nur  wünschen  mag.*)  Und  dazu  kam  noch  all  das, 
was  aus  den  nnterthanigen  Landern  an  Gfitera  hereinströmtel   Hier  war  auf 

dttvoot«,  tpt'iOO(ifr  fytflvnv?  rnvi;  t':X  i  r  o  v  ^  tivcct  ■riiO'j'6vovc  ^««&r,  ol'S  fi-fytv  6 
lt(ftve'  nüvTas  UQHoaovai,  xal  otix  ünaaönt^a  HyotTtfi  uiroiie  tlvcci  tov$  iv  tött 

*)  Die  Regierung  der  Kriegerklasse  SlfirSUte  sieb  der  freiwilligen  Ziutimmung  der 
Ilaml werker  und  Bnuem  iKrit.  112d(,  p<»nitu  ao  wie  im  Vorniinflstaat  —  Die  drei  zuletzt 
genannten  Stellen  cuthalten  —  nebenbei  bemerkt  —  den  urkundlichen  Beweis  für 
die  Riehtigiceit  meiner  Anaicht  (Iber  die  Stellang  des  wirtsehaftenden 
BiirgertiimK  im  Idouletaat.  AngesichtB  dieser  authentischen Erklftruagflatos^M,  Ule 
im  Vertjlcieh  mit  Tim.  26),  die  Zi  Her  offenbar  übersehe  hat,  wird  man  an  dessen  Auf- 
fassung unniüglich  mehr  festhalten  können.  Oder  wird  man  dieselben  Leute,  die  Plato 
als  'woblgMtaKet  nad  Frrande  des  SdiOnen*  rfilunt,  nooh  fernerhin  mit  Zeller  'an  Leib 
und  Seele  verkümmert'  nennen  V  Zeller  hätte  in  seiner  Polemik  gegen  meine  AufTaasrug 
(Archiv  für  Gesch  t!.  Phil  VIII  572  ff.)  sich  mit  (iiesen  und  andern  Quellenzeugnissen 
auseinandersetzen  raüsRen.  Statt  dessen  nichts  als  Sophismen  und  Verdrehungen,  bekatmt- 
Itdi  das  mttrOglidie  Zei«b«i  eines  nnhaltbar  gewordenen  StaadpnnkteBl 

Bei  der  allein  <lie  'innere  Einheit*  de«  Staates  möglich  ist.  S.  m.  Gcsch  «1  Kmum.  I  350. 

*t  Dafft  das  ^jaii/e  Faliell.iiul  Atlantis  die  freie  dichterische  Krtindiinpr  P!at<>^  ist.  lirancht 
wohl  kaum  mehr  bemerkt  £u  werden.  Vgl.  gegenüber  den  unglaublichen  i^hantustereieu 
KnOteli  (Atlantis  und  du  Volk  der  Atlentea  181>8)  Stoinhnrt  VI  78  ff.  uid  SuemiU  n  471  ff. 

•)  Krit.  ll4d  ff.  Vgl  damit  die  Landesoator  de«  GesetMastaates,  Gesch.  d.  Komm.  1 499  tt. 


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R.  PfiUmaiui:  Dte  ioiial«  DiditoiiK  d«r  GiittilMn. 


95 


die  Dauer  keine  Stätte  für  jene  genügä^iiue  Einfachheit  und  8innvolle  Selbst- 
beschj^nkung,  welche  die  Völker  gesund  erhält.')  Und  wie  der  Verbrauch  in 
boliem  Mafiae  LnxadconBani  war,  so  nahm  aneh  das  Sdiaffi»n  der  MenBclien 
luitnrgeiiliUii  immer  mehr  den  Cliarakler  der  Luxiuprodnktion  an.  Statt  der 
aehliehten  Wfiid«^  die  an  den  Bauten  Aliaäiene  ao  woUtiiaend  berOhrte,  ttberall 
gleitender  Pktmk,  der  sich  im  Tersehwenderi^chcn  Verbrauch  iles  kostbarsten 
Materiales  nicht  genug  thun  konnte,  und  eine  barbarische  Vorliebe  für  das 
Extravagante  und  Kolossale.  So  war  das  Zentralhciligtum  des  Landes,  der 
gewaltige  Poseidontempel,  aufsen  <»;u!iz  uiit  Silber  überdeckt,  die  Zinnen  mit 
purem  Golde!  Im  Iiinenii  war  die  Dttkc  von  Elfenbein,  mit  Ventierungen 
von  Gold  und  Messing,  Wände,  Säulen,  Fulsboden  mit  Messing  überzogen. 
Dazu  überall  goldene  Standbilder,  darunter  die  Kolossalstatue  dee  Gottes  auf 
dem  mit  sed»  FUlgdroesen  bespannten  Wagen,  mit  dem  Sbupt  bis  an  den 
Giebel  reidiend,  um  ihn  auf  DeJ^hinoi  hundert  Nereiden  n.  s.  w.  In  ihn- 
liebem  Glanse  ersfarahlte  die  K6nigsbur|^  in  deren  Verschönenmg  ein  Hensdier 
den  anderen  zu  überbieten  suchte,  indem  jeder  zu  dem  'ohnehin  wohl  Aus- 
geechmfickten'  immer  noch  weiteren  Schmuck  hinzufügte;  —  recht  im  Gegensata 
zw  den  Bewohnern  der  alten  Burg  von  Athen,  dir-  ilire  Häuser  'stets  in  demselben 
Zustand  ihnen  gleich  Gesinnten  hinterheisen',*)  Erscheint  doch  das  Herrscher 
<?;e«ichlecht  der  Atluiitiden  zugleich  im  Besitze  fabelhaften  Keichtnras,  während 
dort  die  liepräsentanten  des  *wahren*  Reichtums  herrschten,  nicht  des  Goldes, 
sondern  der  idealen  Güter  des  Lebens.  Dazu  kamen  wahre  Wunderwerke 
einer  hoch  entwiekelten  Teehnik,  groCsartige  Kmal-  und  Brüekenbanten,  ge- 
waltige Befestignngsanbgeny  Sehi&werfben  und  Hlftn,  bin  all  das,  was  Plate 
sinmal  im  Verlultnis  zu  jenen  Gfitem  als  'Tsnd'  bezeidmet  hat.*)  Wihread 
endlich  nach  derselben  Anfiassm^g  der  gesunde  Staat  naturgemäfs  Agrarstaat 
ist  und  Gewerbe  und  Handel,  besonders  den  Seehandel,  möglichst  zu  beschränken 
sucht,  waren  hier  die  HäfeTi  mit  Schiffen  aus  aller  Herren  Ländern  (iberftiüt, 
wimmelte  es  von  Händlern  und  Seeleuten,  deren  Lärm  und  Getümmel  selbst 
die  Nacht  zum  Tage  machte.  Alles  war  auf  Handel  und  Industrie  angelegt, 
auf  eine  möglichst  glänzende  Entiultung  der  materiellen  Kultur  und  behag- 
liehen GenuTs  des  Lebens.  War  doch  das  Land  bei  der  Teilung  der  Erde 
dem  Poeeidon  sugefidlen,  dem  Urheber  der  Schiffiüirt  und  Bossesueh^  wShrend 
über  Athttn  die  Götter  walten^  in  denen  sieh  die  Ideale  der  Weisheit  und  der 
bildende  Kunst  verkörpern. 

Man  sieht:  so  recht  das  Milieu,  in  dem  sich  mit  innerer  Notwendigkeit 
das  entwickeln  mufste,  was  Plato  den  'Staat  im  Fieberzustaiid'  nennt/"')  Zwar 
hatte  sich  das  Volk  der  Atlantiden  in  sittlicher  und  sozialer  Hinsicht  ursprüng- 
hch  gesunder  Zustände  erfreut.  Mehr  als  aller  materielle  Besitz  und  Genufs 
hatte  ihnen  die  Tugend  gegolten  und  der  soziale  Friede,  der  Geist  der  Gerecbtig- 

>!  8  m  Gesch.  d  Komm.  I  215  ff.       »)  Krit  lV2r        »|  S.  ui.  Gesch.  d.  Komm  I  '2S7 
*,  8.  ebd.  S.  217  und  Pfleiderer  S.  705  f.,  der  in  der  Schilderung  der  AllaoU»  eine 
Auetpielung  auf  das  Perikleische  Athen  findet. 

*)  «£Us  92«n(«ii«tf«K.  8.  m.  Qwk,  i.  Koma.  I  Sl8. 


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96 


B.  PShlmann:  Die  soziale  Dichtunfjf  der  Griechen. 


keit  und  die  alle  Volksgenossen  umschlingende  Bruderliebe'),  ohne  welche,  wie 
sie  glaubten,  selbst  jene  materiellen  Güter  nicht  gedeihen  können.  Allein  auch 
sie  vermochten  eben  auf  die  Dauer  Verhältnisse  wie  die  geschilderten  nicht 
zu  ertragen.  Der  Reichtum  gewinnt  zuletzt  auch  hier  die  Obmacht  über  die 
Gemüter.  Der  Wertmafsstab  verschiebt  sich  zu  seinen  Gunsten.  Er  wird  das 
höchstbegehrte  Gut,  Reichtumsvermehrung  das  allbeherrschende  Prinzip.  Und 
mit  der  Pleonexie  geht  bald  Hand  in  Hand  die  Begier  nach  Macht,  als  der 
ergiebigsten  Quelle  von  Gold  und  Genul's.  Der  Friede  entflieht  vor  dem  Geist 
der  Gewaltsamkeit  und  Ungerechtigkeit,  vor  dem  sich  jetzt  alles  beugt.  Eine 
Umkehr  kann  nur  noch  das  göttliche  Strafgericht  bringen,  auf  welches  die 
letzten  Worte  unseres  Berichtes  die  Aussicht  eröflftien. 

Die  Erzählung  bricht  nämlich  an  dieser  Stelle  plötzlich  ab.  Sie  ist  ein 
Torso  geblieben,  und  der  Kampf  der  Atlantiden  mit  den  Athenern,  in  dem 
sich  der  innere  Gährungsstoff"  und  der  Geist  der  Selbstsucht  nach  aufsen  ent- 
lädt, kommt  nicht  mehr  zur  Darstellung.  Wie  in  dem  krankhaften,  fiebernden 
Organismus  des  plutokratischen  Staates  unter  dem  kräftigen  Gegendruck  einer 
moralisch  weit  überlegenen  Macht  der  'längst  entzündete  Unheilsbrand'*)  zu 
hellen  Flammen  emporschlägt,  wie  auf  der  anderen  Seite,  im  gesunden  Sozial- 
staat, alle  Glieder  in  einem  Sinn  und  Geist  zusammenwirken,  alle  Funktionen 
des  staatlichen  Organismus  sich  tadellos  vollziehen  und  der  Kampf  um  die 
Existenz  siegreich  bestanden  wird,  —  von  alledem  hören  wir  nichts. 

Man  wird  wohl  nicht  irre  gehen,  wenn  man  annimmt,  dafs  derselbe  Um- 
schlag der  Stimmung,  der  bei  Plato  den  Glauben  an  die  Durchführbarkeit 
seines  Staatsideals  zerstörte'),  auch  die  Vollendung  der  kühnen  Dichtung  ver- 
hindert hat,  die  ja  recht  eigentlich  diesem  Glauben  ihre  Entstehung  verdankte. 
Schon  im  Getriebe  des  Tyrannenhofes  mag  die  Stimmung  zur  Weiterführung 
des  grolsangelegten  Werkes  verloren  gegangen  sein,  und  unter  dem  Druck  der 
Resignation  vollends,  die  in  der  Folgezeit  dem  sozialtheoretischen  Denken 
Piatos  so  vielfach  eine  andere  Richtung  gab,  war  an  die  Wiederaufnahme  der 
Dichtung  nicht  mehr  zu  denken.  Nachdem  der  Vernunftstaat  für  die  Mensch- 
heit, 80  wie  sie  nun  einmal  ist,  ein  unerreichbares  Ideal  geworden,  hatte  es 
für  seinen  Urheber  keinen  Zweck  mehr,  ihn,  wenn  auch  nur  im  dichterischen 
Bilde,  in  den  Kampf  des  Lebens  hineinzustellen. 


Das  Geschick  der  neuen  Kunstform  selbst  war  damit  freilich  keineswegs 
entschieden.  Im  Gegenteil,  für  die  Entwickelung  des  Staatsromanes  konnte 
nichts  günstiger  sein,  als  die  von  sozialen  Ideen  erfüllte  Welt  des  damaligen 
Griechentums.  Die  Erörterungen  der  Theorie  Ober  die  Bedingungen  sozialen 
Glückes,  die  ja  nicht  auf  die  Hallen  der  Schulen  beschränkt  blieben,  mufsteu 
die  Phantasie  eines  geistreichen  Volkes  auf  das  lebhafteste  erregen.  War 
einmal  die  grofse  Frage  nach  der  Möglichkeit  einer  Gesellschaftsordnung  be- 
jaht, die  auf  völlig  anderen  Grundlugen  ruhte,  als  die  bestehende,  hatte  sich 


V  9«iicr  xoi»t5  Krit.  121a.       *)  S.  m.  Gesch.  d.  Komm.  I  194.       »)  S.  a.  a.  0.  S.  477  ff. 


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B,  PwhhnMHii  Die  soiuJe  DiehtiiBg  dar  OiiMhan. 


97 


der  cnieii  Denker  dor  Naüon  die  Illluian  bemftditigt,  den  bot  mdikelen 
Heiiiuig  aller  knmkhiften  AoBwOdue  der  QeeeUechaft  leigen  sn  kSnnen,  so  wt 
ee  begraifliidiy  dals  mtk  bei  einem  kBnatlenaeli  eo  lioeh  begabten  Volke  inuner 
wieto  der  Drang  inbnte^  dieee  Vorstellungen  möglichst  lebendig  auszugestalten, 
seinem  Interesse  für  jene  gewaltigen  Probleme  in  einer  Form  Ausdruck  zu 
geben,  die  Einbildungskraft  und  Gemüt  in  höherem  Grade  befriedigte,  als 
abstrakte  T^ntersuchungen  und  theoretische  Konstruktionen.  Und  diese  Form 
war  eben  die  der  Erzählung,  die  die  gewonnenen  Vorstellungen  mit  dem 
Scheine  der  Wirklichkeit  umkleidete.  Der  noveUiaiische  Trieb  und  die  Lust 
ai  frbnlieren,  die  in  diesem  Volke  so  mächtig  waren,  und  die  sich  gerade  seit 
dem  fierten  JahzluindMi  in  der  stetig  annehmenden  FOlle  der  geographiaeh- 
ethnograiiluaehen  FabeleiriUilnng  so  charakteriatisdi  Inbem^),  konnten  kanm 
einen  ansiehenderen  Oegeoetand  för  ihre  Betkitigung  finden,  als  die  nanen  nnd 
inlemaanten  Apercus  über  die  bestmöglichen  Bedingungen  menschlichen  Zn- 
Nmmenlebens.  Eine  Erzählung,  die  diese  Ideen  exemplifizierte  und  die  von 
keinem  erleHtp  Wirklichkeit  einer  glücklicheren  Welt  in  einem  grpifVjp.ren 
lebendigen  l^iMe  vor  his  geistige  Auge  zu  zaubern  vermochte,  durfte  der  all- 
gemeinsten  Ttnlnahiue  sicher  sein. 

Zudem  war  jü  der  gestaltenden  Eiubüdungskraft  aui  diesem  Gebiete  von 
•Uen  Seiten  mächtig  vorgearbeitei  Die  ethnographiache  Romantik  mit  ihrer 
Idealiaiemng  ftmer  BarbarenT51ker^  daa  paKadieaaaohe  Fabelreioli  der  EomSdie 
und  in  den  Dicktangen  joa  den  Liaeln  d«r  Seligen  oder  dem  Elyaion*),  die 
nun  Teil  bis  ins  einielnste  dnrdigearbeitete  Eonatrnktioai  idealer  Ceaellaehafti- 
SDilande  in  der  Pnbliaistik^l  und  in  den  gewaltigen  sozialtheoretischen  Kon- 
zeptionen Piatos,  die  oft  selbst  mehr  Dichtung  und  historisierende  Romantik^ 
als  Theorie  ist,  das  Beispiel  endlidi.  das  Plato  in  seiner  Atlantis  gab,  all  das 
enthielt  die  mannig£altigäten  Anregungen  und  Stoffe  zu  Idealaohildenmgen  im 
üewande  des  Staatsroman  es. 

Dazu  kam,  dais  das  Jahrhundert,  das  aut  Piato  folgte,  eine  jener  Epochen 
gewaUager  Qähmng  war,  in  der  mit  psychologischer  Notwendigkeit  immer 
wieder  Ton  neuem  der  Wnnadi  vnd  daa  Bedüzfiiia  erwadit,  Idealbilder  dea 
Sfeiatea  an  gestalten,  bei  denen  von  dem  geachiehtlieh  Gegebene  nnd  recihtlieh 
Beslehendffii  ToUkommai  at^jesehen  wird.  Es  ist  gana  ibnlidi,  wie  in  der 
IntstehnngBaeit  des  modernen  Staatsromanes,  der  Utopien  eines  Morus  imd 
Camponella.  Und  auch  darin  gleicht  dieser  letateren  Epoche  daa  Zeitalter  dea 
Hellenismus,  dafs  hier  der  Staatsroman  <.'lficli<»ara  auch  'einen  geometrischen 
Ort  fand'^),  da  sich  durch  die  Entdeckung  neuer  Welten  der  Blick  bedeutend 
erweitert  hatte  und  der  Phantasie  ein  noch  freierer  Spielraum  eröflFiiet  war  alä 
bisher.    Wie  die  Schilderungen,  die  ein  Columbus,  Petrus  Murtjr,  Vespucci, 

'j  Vgl.  Bohde,  Der  grieduMhe  nonum  8.  179  ff. 
*i  Vgl.  ni   Oe«ich   d   Komm  I  117  t}', 

*)  Vgl.  z.  B.  Od.  IV  661  tf ,  Heaiüd  W.  u.  T.  167,  Find.  Olymp.  II  6H  ff. 
*)  Z.  B.  io  den  Sdiziften  ntQl  ö/iovoMtg,  a.  m.  Geidi.  d.  "Kamm.  I  158. 
V  Nadi  dem  Aasdnek  Gotheins  a.  a.  0.  8.  84. 
KfMjaivMcbw.  im.  I.  7 


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98 


R.  Pöhlmaon:  Die  souale  Düshiuag  der  Oriechen. 


WftldaeemflUer  von  den  AntiUtn  und  anderen  amerikaniftdaen  Inaeln  und 
KflstenlAndern  gaben,  dem  Abendlaad  plötslich  die  Xeontnui  von  Völkern  mit 
kommunistischen  und  sozialistischen  Lebensformen  eröffneten  und  dadurch  aar 
Entstehung  jener  ersten  modernen  Utopien  wesentlich  mit  beitrugen,  so  haben 
die  Erzählungen  Nearchs,  des  Admirals  Alextinder^  des  Grofsen,  und  anderer 
Reisender,  die  aas  Indien  und  Arnbien  von  ganz  iihnlicheu  sozialen  Erscheinungen 
zu  berichten  wufsten,  die  Entvvu  ki  limg  des  Staatsromans  Lei  den  Griechen  gewifs 
nicht  weniger  stark  beeiuüuiät  und  gefordert.  Brachten  doch  die  Griechen 
dieser  Zeit  aoldieii  Beriditan  «ine  ganz  ähnliche  StimBnuug  entgegen,  Mrie  die 
Mensdmi  der  Bmiaiaaance,  nimlicih  die  koamopditiiclie  Oeainnung.  Yon  dem 
nationalen  EigendOokety  dem  ee  nicht  in  den  Sinn  will,  daia  dranben,  bei  dem 
*Barbareii',  etwaa  voDkornrnttier  aein  könne,  als  an  Hanse,  ist  der  grieehieclke 
Staatsroman  ebenso  frei,  wie  der  moderne.  Auch  von  ihm  kann  man  sagen: 
'Jedes  soziale  Gebilde,  ob  diesseits  oder  jenseite  des  Weltmeeres,  ist  ihm  gleich 
bedeutsam  ah  Quelle  der  Belehrung,  wie  nh  Gegenstand  der  Kritik'.')  Ohne 
jede  VoreiiiLTi  :iommenheit  zieht  auch  er  die  Bilanz:  zwischen  dt  r  ait  'ii  und  der 
neuen  Weit,  auf  deren  Boden  acine  Ideale  Leben  und  Gestalt  gewiunen. 

So  hat  sich  denn  eine  ganze  Litteratur  der  Art  entwickelt,  deren  Reich- 
haltigkeit vnd  innere  Bedeutsamkeit  wir  nicht  nach  den  dflrftigen,  oft  gerade 
das  Wichtigste  vsndiweigenden  Fragmenten  beorteilen  dQifen,  die  anfUlig 
daTon  flbrig  gebliebm  smd. 

Der  erste,  Ton  dem  wir  winen,  dafii  er  sieh  naeh  Ilato  ftr  die  BeliiMe- 
rung  idealer  Staats-  und  GesellschaHBaastinde  der  Form  des  Romans  bedient 
hat^  ist  der  Oeschichtschreiber  Theopomp  TcmChios,  der  Schüler  des  Isokrates, 
aus  dessen  Schriftstellerei  uns  freilich  ein  ganz  anderer  Geist  entgegenweht, 
als  bei  seinem  grofsen  Vorgänger.  Oh  pr  überhaupt  ein  tieferes  sozialrefor 
matorisches  Interesüe  gehabt  hat,  iat  liochst  zweifelhaft,  trotz  des  moralisieren- 
den Tones,  den  er  überall  anzuschlagen  liebt.  Um  so  sicherer  ist  es,  dafs  es 
ihm  ganz  wesentlich  um  den  äulseren  Effekt,  um  die  Befriedigung  des  Sen- 
sationsbedtlx&iBBeB  m  tknn  war.  Um  die  Spemiung  semer  Leser  stets  wadk 
EU  halten,  hat  er,  wie  sdion  ein  antiker  Beurteiler  bemerkt,  *bei  jeglichem 
Land  nnd  Heer  etwas  Wnndnsames  oder  ünerwartetea  arwihnt';  und  voUeads 
in  dem  achten  Buch  der  Thilippischen  Geachiehten',  das  die  romantisdie  Dich- 
tung von  dem  Meropischen  Lande  enthalt,  war  eine  Fülle  von  seltsamen 
und  wunderbaren  Dingen*)  zusammengetragen,  die  ihm  allerdings  recht  gieht, 
wenn  er  sich  riilmit,  dul's  er  nnrh  besser  frei  erfundene  Gescbichtea  vorzußihren 
wisse,  als  Herodot,  Ktesiaa  und  die  Erzähler  der  Wunder  Indiens. 

W  ie  sehr  bei  ihm  die  Behandlung  sozialer  und  ethischer  Probleme  zur 
Spielerei  wird,  zeigt  schon  die  charakteristische  Thatsache,  dais  er  dem  Leser 
nidit  blols  ein  Gemeinwesm  mit  idealen  Henschen,  sondern  auch  einen  Staat 


Dietzel,  Beiträge  2.  Uescb.  des  Sosialiemua  und  KoxDJuunismuo  (mit  Bezug  auf 
Thomas  Monis).  Vierta^alunelir.  f.  Staats-  and  TolkswittMhaft  18M  8.  tS6. 


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IL  PiBUmMin:  Di«  aoiial«  Diobtoiig  d«r  OriedMO. 


99 


der  Bosewichter  (/7ovi;()ö;roA<s)  vorführt,  eine  angebliche  Gründung  König 
Philipps,  der  hier  das  schlimmste  Gesindel,  Vt  i  brcthcr  uller  Art,  Sykophanten, 
&bche  Zeugen,  Advokat^u,  zweitausend  au  der  Zahl,  iu  eiuer  Kulonie  zusammeu- 
gefBhrt  liab«*),  gans  fthnlüilk  wie  mm  in  der  iltnen  Epoefae  der  modernen 
Stealnromaxie,  im  liebselmten  Jslirhimd«rt,  dran  Leeer  neben  dem  Sonneneteat 
fiam]ianeHiMi  oder  Baoone  neuer  Atkntia  dme  Horonia  (daa  Land  dar  Narren) 
oder  Laremia  (das  Land  der  Diebe  und  Räuber)  YorfBhrie.  Audi  daa  P^phar 
gonieii  (das  Land  der  Fresser)  und  Ivronien  (das  Land  der  Sanfer),  an  dem 
sich  dieselbe  Zeit  ergötzte,  findet  sich  echon  bei  Theopomp,  wenn  auch  nicht 
dem  Namen,  so  doch  der  Suche  nach. 

Man  lese  nur  seine  Schiidemng  der  sozialen  Zustande  der  Etrnsker!  Sie 
iuiüpft  zwar  an  GeachichtlifheH  an,  greift  aber  nur  solche  Züge  heraus,  die 
Gelegenheit  zur  Anbringung  der  l'ikauterieu  gaben,  au  welchen  die  Masse  der 
Lmer  ihr  Ergötzen  fiiod.  Wie  mia  die  eimÄiaehe  Oriborweli  noch  jetzt  er- 
knuien  lälai,  handelte  ea  sieh  hier  mn  ein  Volk,  daa,  in  aeiner  herraaiienden 
JDaaw  wenigetene,  daa  Leben  in  ToUen  Zügen  genofii*)  und  in  einer  illr  nnaer 
Gefühl  geradezu  abstoleenden  Weise  selbet  den  Emst  des  Todes  mit  den 
Symbolen  der  Lebensfreude  zu  verachleiern  liebte.  Man  denke  an  die  Wand- 
gemälde der  etruskischen  Grabeshallen  mit  ihrer  Vorführung  von  Zechgelagen, 
an  die  Steinbilder,  die  die  Verstorbenen  in  festlicher  Tracht  darstellen,  zechend, 
mit  dem  Becher  in  der  Hand.  Eine  Kunde  von  diesem  Schlaraffenleben  der 
Tomehmen  etruskischen  Welt  ist  auch  zu  Thoopomp  gedrungen.  Aber  was 
hat  er  daraus  gemacht?  Eine  phantastische  Geschichte  ganz  im  Stile  der 
Fibeleien,  die  sMt  den  Zeiten  der  Phlakendi^timg  flW  die  Volker  des  Westena 
omliefen,  verqniekl  mit  V<nateUungen,  die  an  daa  Ctesellaehaflsideal  des  «sfcremstsn 
Gjusmns  erinnern. 

Damach  soll  bei  den  Etroskem  wenigstens  anf  geschlechtlichem  Gebiet') 
der  roheete  Kommunismus  des  Geniefsens  geherrscht  haben.*)  Das  Weib  ist 
völlig  emanzipiert  und  nimmt  auch  an  den  Genössen  der  Männer  teil,  denen 
es  m  Beziehung  auf  Ziicbtlosigkeit  nicht<<  nachgiebt.  Nach  Belieben  vereinigen 
sich  die  Angehörigen  beider  Geschlechter  zum  gemeiniiamen  Mahl.  Die  weitere 
Konsequenz  ist  die  gemeinschaftliche  Erziehung  der  Kinder,  denn  die  Vater- 
lehaft  ist  hier  ja  nirgends  festzustellen.  Ebenso  natürlich  ist  die  Beteiligung 
der  wttblifihai  Jugend  an  den  körperlichen  Übungen  der  Knaben  und  JQng^ 
linge.  Daa  Gef&hl  der  Scham  kennt  man  in  Etmrien  nidit,  daa  Weib  so 
«anig  wie  der  Hann  nimmt  Anatand  sich  Töllig  nackt  an  leigm.  Nach  dem 
Gnindaate  *natnralia  non  sunt  tnipia'  geht  ea  hier  angeblieh  in  der  geachieht- 


')  Möller.  FrajüTO  Ii  ist  ^n-acc.  I  298  fr.  122. 
•  Vgl.  i.  B.  die  Schilderung  bei  Diodor  V  40. 

*>  Bei  Athenäofl  XII  517 d  ff.,  der  die  Erzählimg  Theopomp«  mitteilt,  wird  ner  diese 
Seite  idncr  Daxstellimg  bcrOlnt. 

'  xnn«{  vTtudiftv  tue  ywalnut,  oder,  wie  c<  im  weiteren  Verlauf  In  ifsf.  -nlriGiätovxti 
xuli  ywuiilv  ündeaif,  ganz  so,  wie  es  Diog.  Laert.  72  als  Ideal  des  Diogenes  hinstellt: 

r 


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100 


R.  Pöhlmann:  Die  soziale  Dichtung  der  Griechen. 


liehen  Wirklichkeit  genau  so  zu,  wie  in  dem  uiopistischen  Roman  des  Ver- 
fassers des  'Gesetzbuches  der  Natur',  in  der  Basiliade  Morelüs!  Die  Gelage 
der  Etrusker  arteten  nach  dieser  Schilderung  regelmäfsig  zu  Orgien  aus,  deren 
Einzelheiten,  so  abscheulich  sie  sind,  Theopomp  mit  sichtlichem  Behagen 
ausmalt. 

Dies  soziale  Sittenbild  (in  einem  ernsten  Geschichtswerk!)  zeigt  wohl  zur 
Genüge,  dafs  es  dem  Verfasser  vor  allem  auf  das  Amüsement  des  grofsen 
Publikums  ankam.  Die  den  Roman  erzeugende  Zersetzung  der  historio- 
graphischen  Kunstform  ^)  macht  sich  schon  hier  deutlich  bemerkbar!  Daher 
hat  sich  Theopomp  auch  gar  keine  Mühe  gegeben,  das  Bild  so  zu  gestalten, 
dafs  wenigst^jns  die  einzelnen  Züge  zusammenstimmen.  Fortwährend  schieben 
sich  ihm  Begriffe  unter,  die  dem  Leben  der  wirklichen  Gesellschaft  entnommen 
sind,  aber  in  den  Rahmen  der  vorgestellten  sozialen  Verhältnisse  absolut  nicht 
hineinpassen.  So  werden  unter  den  zechlustigen  Weibern,  die  sich  an  den  ge- 
nannten Orgien  beteiligen,  'Buhlerinnen'  {ixalgca)  und  Trauen*  unterschieden. 
Als  ob  in  einer  Gesellschaft,  wo  die  freie  Liebe,  die  regellose  Mischung  der 
Geschlechter  herrscht,  überhaupt  noch  von  einem  derartigen  Unterschiede  die 
Rede  sein  könnte!  £in  andermal  heifst  es:  Die  Frauen  teilen  nicht  das  Mahl 
mit  ihren  Männern,  sondern  mit  jedem  beliebigen.  Ganz  naiv  werden  also  die 
dem  Autor  vertrauten  monogamischen  Vorstellungen  mit  Zuständen  verquickt, 
mit  denen  sie  von  vorneherein  gänzlich  unvereinbar  sind.  Und  mit  derselben 
Unbefangenheit  werden  Verwandtschaftsverhältnisse  vorausgesetzt,  wie  sie  eben 
nur  das  Familienleben  der  bestehenden  Gesellschaft  erzeugen  konnte.  Es  ist 
von  gemeinschaftlichen  Gelagen  die  Rede,  zu  denen  sich  die  'Verwandten*  ver- 
sammeln.') Als  ob  es  in  einer  Gesellschaft  des  absolut  freien  Geschlechts- 
verkehrs, in  welcher  kein  Kind  seinen  Vater  kennt,  überhaupt  'V^erwandte'  in 
diesem  Sinne  geben  könnte! 

Es  leuchtet  ein,  dals  ein  Schriftsteller,  der  sich  solche  Blölsen  giebt'), 
nicht  der  Mann  war,  das  Problem  des  Staatsromans  von  der  rechten  Seite  zu 
fassen  und  ein  vollständig  abgerundetes  und  folgerichtig  durchgeführtes  Bild 
eines  Staatswesens  zu  entwerfen,  dessen  Wirtschal'ts-  und  Gesellschaftsordnung 
von  der  Wirklichkeit  grundsätzlich  verschieden  sein  sollte,  wie  er  es  —  nach 
seiner  eigenen  Erklärung  —  in  der  Erzählung  vom  meropischen  Lande  beab- 
sichtigt hat.*j  Insofern  wird  es  für  die  Geschichte  der  sozialen  Theorien 
kaum  einen  wesentlichen  Verlust  bedeuten,  dals  der  Autor  der  'bunten 
Geschichten',  der  uns  einiges  aus  diesem  Staatsroman  mitteilt,  nur  für  den 
novellistischen  Kuhmou,  nicht  für  den  sozialpolitischen  Inhalt  ein  Interesse  ge- 


Nach  einem  treöeuden  Ausdruck  von  Schwartz,  Fünf  Vortrage  über  den  griechiucben 
Itoman  (^Ib'Jti;  S.  Hö. 

')  intiöüv  öt  awovaiü^titai  naO''  itaiQfiai  ))  xaru  evyyfviUti. 

*)  Es  iäl  gewii's  nicht  anzunehmen,  dals  dieae  Widersprüche  erst  nachtrilglicb  durch 
daa  Exzerpt  des  Atheuäos  in  die  Erzählung  hineingekommen  sind. 

*■)  Aclian,  Var.  hiat.  III  18  i  Müller,  Fragm.  bist.  Uracc.  I  200  fr.  76):  xai  pimv  «»ÖT^ratf 
%ui  vö^ovi  «vroiV  T(zui9ai  ivuvxUog  Xfi^tVovs  xoli  JtaQ  i^Up  votitiofiivon^ 

•  •  -  -  • 


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Bw  PttUmaiui:  Die  «Mtiftle  Diebtang  der  dtieclieii. 


101 


habt  hat  und  gerade  über  die  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Einrichtungen 
dm  gesehildmien  Ütopiaw  mii  KillMihweigen  hinwe^eht.  Jedenfidls  macht 
iaB,  mm  vir  von  Älian  wm  dem  Romane  wirUich  eifilireii,  dnrduiiu  den  Ein- 
draek,  dafs  es  Theopomp  andi  Uer  nidit  um  die  Mittelung  TOn  ErgeVnissen 
ernsten  Denkens,  sondern  Tor  allem  darum  zu  thun  war,  eine  *Wiiiidergeschichte' 
zn  erzählen,  den  Leser  durch  ein  'Märchenspiel  and  dessen  TergnQgliehe  Dar- 
rfellnn^r'*  *  fesseln.  AUcnlings  linttc  nich  schon  vor  ihm  ein  Plato  in  solcher 
Phtint.isiegaukelei  gefallen,  aber  dort  «loch  immer  im  Spiele  selbst  ein 

crnsttr,  tiefer  Sinn;  bei  Theopomp  dagegen  ist  das  Abenteuerliche  und  Wunder- 
same recht  eigeutiich  Selbstzweck,  wenn  auch  eine  bestimmte  Tendenz  mit 
aebenlieiBiift. 

Ganz  phantastisch  ist  schon  die  Einleitong.  Sie  knfipft  an  die  alte  Ssge 
von  dem  tranken  gemaditen  and  gefesselten  Waidgott  an,  der  sich  vor  dem 
K&nige  Hidas  durch  die  Offenbarung  seines  tiefsten  Wissens  ISsen  mofs.  Er 

iK'riclitet  dem  K5nig  von  dem  Wunderland,  das  jenseits  des  grofsen,  den  be< 
kannten  Erdkreis  umgebenden  Meeres  liegt  und  von  einem  glückseligen 
Menschengeschlecht  b<?wf)hnt  wird.  Dort  werden  die  Menschen  noch  einmal 
90  grofs  und  noch  eiinnal  so  alt  wie  bei  uns,  und  ebenijo  überragt  die  Tier- 
weit die  unsrige.  Das  Land  »elbst  hat  eine  unermeisliche  Ausdehnung  und 
nUreiche  grolse  Städte,  unter  denen  wieder  zwei  als  die  gröfsten  hervorragen: 
Susebes  und  Machimos.  Erstere  ist  die  Stadt  der  Frommen  und  Oerechten, 
die  am  ihr»  Tagend  willen  selbst  des  Verkehrs  der  65tter  geirfirdigt  werden. 
Sie  leben  in  beslindigem  IVieden,  in  der  FOUe  der  CHlter;  die  Erde  spendet 
ihnen  ihre  Graben  ohne  Pflug  und  Ackerstier,  ohne  Aussaat,  ihr  Leben  ist 
durch  kein  Siechtum  getrübt,  heiter  und  lachend  sinken  sie  in  defi  Tod.  Ganz 
anders  die  Stadt  der  Krieger!  Anst^chliefslich  dem  Waffenhandwerk  lebend 
haben  sie  ihre  ganze  Existenz  auf  Kampf  und  Erobemng  gestellt.  Und  bei 
ihrer  Menge  —  es  sind  ihrer  zwei  Millionen  —  ist  es  ihnen  gelungen,  zahl- 
reiche Völkerschaften  umher  unter  ihr  Joch  zu  zwingen.  Ihr  lleichtum  ist  no 
grob,  dafii  hier  Gold  und  Silber  weit  weniger  gesch&tst  wird,  als  bei  ans  das 
Eiaen.  Das  ungetrftbte  physische  WoUseiB,  deMen  sidi  die  Bfitger  der 
frommen  Stadt  erfreaen,  Ist  den  Bewohnern  dieser'  Stadt  nicht  sn  teil  ge- 
worden; immerhin  aber  fühlen  auch  sie  sich  in  ihrer  Lage  so  gjQcklicL,  dafs 
sie,  einmal  bei  einer  Heeree&hrt  über  das  Meer  herübergekommen,  schon  bei 
den  Hyperboreern  wieder  untkchrten,  weil  ihnen  diese,  die  glück  liebsten  der 
diesseitigen  Menschen,  all/n  elend  prscbienen!  Endlich  baust  noch  ein  drittes 
mächtiges  Volk  in  dem  W  in  i<  rlmd,  die  Meropes,  die  'viele  und  grofse*  StSdte 
bewohnen,  von  denen  wir  treüicii  nichts  zu  hören  bekommen,  als  eine  phan- 


'i  Nach  dem  treffonripn  Ausdruck  von  Rohde,  Zum  griechischen  Itoman,  Rhein  Mus. 
W,  128.  Kohde  weist  daxauf  hin,  dafii  selbst  ein  Verehrer  der  Thilosophie'  de»  Theopooip, 
vis  Dioiqr«  (Ep-  ad  Pomp.  6,  11)  in  denen  Enfthltuig  toU>  tb  muiimdfs  findet;  und  er 
«düebt  da«MM  satt  Eeeht,  dsb  dieies  'ffindisehe*,  rein  ia  WtmderberiohteD  Spielonde 
'■rin  tterk  ttberwogen  babea  aatae. 


108 


K.  PShlmaiui:  Die  wniale  IMcbtniig  der  Oriechen. 


tastisdie  Fabel  toq  d«m  in  ihrem  Lande  gelegenen  Qit  Aer  'NinunenriedAr» 
kehr*  ^Aviowg)  mit  den  WunderflflBRen  der  Liut  und  der  Traner.^) 

Han  kann  nicht  sagen,  dab  dieee  allerdinga  dfirftigen  Zf^,  auf  die  aidi 
unsere  Kenntnia  dee  Romans  beschränkt,  eine  besondere  Originalität  verraten. 
Wae  ihm  die  Dichtung  oder  die  Sage,  die  geographisch-ethnograpliiBehe  Fabelei 
und  sonstige  Litteratur  für  seinen  Zweck  darl>ot,  ist  von  Theopomp  oinfuch 
ontlchnt  oder  nachgebildet. Die  Stadt  der  Frommrn  ?..  B.  ist  nichts  als  ein 
Scitenstück  zu  dem  volkstümlichen  Wunschlaiui  lle^<  ^oMfiien  Zeitalters,  wie  es 
Hesiod  schildert.  Die  Stadt  der  Krieger  erinnert  sofort  an  die  Atlantis  Pia  tos 
und  schon  den  Gedanken  selbst,  zwei  Volks-  und  OeaellsdiaftBijpen  in  dieser 
W«8e  sieh  gegenfibemuMkn,  hat  Theopomp  dem  Platoniachen  Roman  ent- 
nommen. Wird  man  annehmen  dfliftn,  dals  er  in  der  Sdiildemng  der 
Skooomiadien  und  aciialen  Lebei^ormen  aei&er  Fabeivfliker  eine  gritlbere 
Originaliüt  gezeigt  hat?  Neu  ist  allerdings,  dafs  er,  offenbar  um  Plato  an 
ttberhieten,  noch  einen  dritten  Volkstjpus  anführt,  die  Meropes,  die  in  dem 
Roman  die  Hanptrolle  gesipielt  haben  müssen,  da  er  in  der  Uberlieferung  be- 
kanntlich kurzweg  nach  ihnen  benannt  ist  Und  hier  mag  ja  Tbeopomp 
vielleicht  ein  eigenes  Gesellscliaftäideal  entwickelt  Inihen.  In  einer  Beziehung 
wenigstens  hat  er  möglicher  Weise  einen  neuen  Weg  eingeschlagen.  Er  lälki, 
wie  Bchoa  banexli,  die  Heroper  'viele  und  grofse  StSdte*  bewohnen.  Hat  er 
dabei  an  einen  Bund  von  aelbatindigen  Stadtstaaten  gedacht  oder  an  einen 
einheitUdmt  QroJaetaat?  Fkat  modite  man  in  einer  Zeit,  wie  dßt  dea  herauf- 
ziehenden Hellenismus,  in  der  sich  der  alte  Stadtstaat  so  grftndlich  Überlebt 
hatte,  zumal  bei  einem  mit  der  neuen  Zeit  so  eng  verwachsenen  Autor  an  das 
letztere  denken.  Es  hätte  damit  die  Vorstellung  einer  idealen  Gesellschafts 
Ordnung  im  Sinne  der  Zeitideen  eine  neue  l)reitere  Basis  erhalten;  an  die 
Stelle  der  Stadtstaatsutopie  wäre  die  Territorialstaatsutopie  getreten.  Allein 
angenommen,  daiä  iheopomp  diese  Wandlung  wirklich  vollzogen  hat,  —  war 
damit  fllr  ihn  nieht  snj^eidi  die  Sdtwierigkeit,  ein  wirididi  MMnsToUes,  an- 
scbauliehea  GeieUadiallabild  zu  gestalten,  bedeutend  gesteigert?  Säie  Sdiwinr^* 
keil^  der  gegenfib«  eine  Sdmflstellm,  wie  die  seinige,  notwendig  msi^en 
mu&te.*) 


')  über  die  allegorische  Bedeututi'^-  rVi^'r^r  Fabel  s.  Rohde  a.  a.  0.  8.  IM. 
*)  Vgl.  Bohde  a.  a.  0.  8.  Iii  f.  und  Griech.  Roman  S.  207. 

^  Wie  Bchon  Bohde  in  der  gen.  Abh.  8.  IIS  mit  Beeht  gegen  Hinel  (Zur  Charakteristik 
Theopomps,  Rhein.  Mub.  47,  381)  bemerkt  bat. 

'  i  ApoUodor  bei  Strabo  VU  p.  tn  beaceicbaet  die  ganze  En&hlang  einükch  ak  die  der 

■)  IKei  aei  gegen  jene  Zwtmode  gesagt,  die  dek  in  dtm  wohlfeilen  Vergnügen  gefällt, 
alle  Werte  umzuwerten,  und  nicht  übel  Lust  zeigt.,  TheopompB  Werk  als  'Uauptwetk  der 
hfllfninchcn  Historiographie'  zu  proklamiereu.  Bolocli  in  spinfir  an  derartip'^n  Parn'Inxien 
reichen  'Uricchischen  Ueschichte'  (II  420)  glaubt  dies  'vielleicht'  aus  den  Fragmenten  des 
Werkes  'ahnen*  an  dbfen,  —  andb  am  Fragmenten,  wie  dea  oben  behaaddieHf  Freilich 
hat  derselbe  Bcloch  entdeckt,  dals  die  'Fonehnng*  eiaee  Epboiee  gegeaftber  Thnl^dides 
einen  'weaentiiohen  Fortachritt  bezeichnet*. 


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B,  Pfliiiiniui:  Die  Kttble  IK«ht«i«  der  Grieohen, 


103 


Eine  gröfsere  sozialgescliichtliche  Bedeutung  würden  wir  wohl  einem  anderen 
Totreter  äea  aodakai  Romaae  tns  dieser  Zeit,  nimKeh  dem  Hekaiftoe  mu 
Teoe  merlmmeii  dUrfm,  wenn  nns  seine  das  gJttekseiUg»  Leben  des  nordiiehen 
IkbelToIkes  der  Hyperboreer  sdiilderade  Dichtang  Ton  der  *kirameriacben 
8tedt'  niher  belraimt  ^i^.  Die  ans  seinen  Schriften  geschdpfte  Darsiellung 
jBdiaohen  Lebens  bei  Diodor  and  die  sicherlich  auch  von  ihm  herrührende^) 
Idealschilderung  des  alten  Pharaonenataates  in  demselben  Werke  lassen  ein 
entschieden  sozialpolitisches  Int<»rc8se  crlceimen.  An  dem  .Judentum  interessiert 
ihn  Q.  a.  besonders  die  gleichheitlicbe  Aufteilung  eroberten  Landes  und  die 
ünTerkänflichkeit  der  Erbf^'iter.  Er  schildert  »ip  als  ein  Sohntzmittel  gegen 
dje  Profitwut,  die  Fleonexie,  durch  welches  die  Pruletarisierung  der  Wirtschaft* 
lidi  EMmidierw  nnd  die  Entvölkerung  dea  Landes  TSrhinderfc  wOrde.*)  In 
der  Gkarakteristik  des  ^Qekseligen  Herrseherdaseins  der  Pbanonen*)  kommt 
uDfwkmmbar  die  aosiale  Anfbssnng  der  Honarehie  mm  Ansdmefc^  wie  sie  uns 
andh  sonst  in  der  Staatatheorie  der  Zeit  so  bedeutsam  entgegentritt^^  ^  Auf- 
Jassunj^r  des  Königtums  als  eines  'Gutes  der  Gemeinschaft*,  als  eines  *mhm 
ToUen  Dienstes  für  die  Gemeinschaft',  durch  den  allen  ihren  Gliedern  ihr  Recht 
wird.  In  der  Schilderung  der  sozialökonomischen  Verhältnisse  des  Landes 
wird  rühmend  herv'orgehobeti  die  geringe  Pacht,  die  König,  Priester  und 
Kriegerkaste  von  den  dem  Bauern  iiberlii.'*!«enen  Grundstücken  erhohen,  die 
Produktivität  der  verschiedenen  Wirtöchaftsaweige  infolge  der  ererbten  tech- 
nischen Geechicklichkeit  nnd  des  Ileifrea  der  Berölkenuig,  die  konsequent 
dsrdbgefUirte  Arbeitsteilung^),  der  von  allen  ünterüiaaen  geforderte  Kachweis 
der  ünterhaltsmittel,  die  BekSmpfong  der  Fleonene  durdi  das  Verbot,  mit 
indnstridler  Tbitigkeit  Ackerban  oder  Handekgesehafte  lu  verbinden  oder 
mehrere  Handwerksbetriebe  in  einer  Hand  Stt  Tereinigen*),  Überhaupt  die  strenge 
Durchführung  des  Grundsatzes,  dafs  'um  der  Habsucht  von  Privatpersonen 
willen  nie  die  gemeine  Wohlfahrt  allf^r  'j-f'fdhrdet  werden  darf'.')  Dies  nnd 
vieles  andere  läfst  dem  Verfasser  di  Sraatn  und  Geaollschaftaordnung  des 
alten  Pharaonenreiches  als  eine  geradezu  ideale  erscheinen.  Und  er  fafst 
echhefslich  seinen  allgemeinen  Standpunkt  in  den  Satz  zusammen,  daist  die- 
jenigen Gesetze  die  besten  seien,  welche  nicht  die  möglichste  Förderung 


')  In  dieser  Ännabme  stimme  i  n  ü  orein  mit  Schwartz,  HckaWu*  von  Teo»,  Bbeui. 

Um.  40,  225    Dazu  Suaemibl,  Geacb.  d.  alexandr  Litt  1  31ft  ff 

*)  Diod.  XL  a,  7  (8.  Müller,  Fragm.  hist.  Qraec.  11  »^i  fr.  l»):  oi*  fif^v  di  toi«  idtwtais 

»I  Diod.  I  70  ff. 

*)  S.  mein  Buch,  Aua  Altertum  und  Gegenwart  S.  287  ff. 

^  IgTpten  galt  ja  deehalb  den  Grieeh«ii  ab  das  iadtutrieUe  Husterlaad.  Vgl.  s.  B. 

bokrate«,  Busiris  16  ff. 

•)  S.  da«  analoge  Verbot  in  Plufna  r;).«,.t7r>«Ht;iHt,  Bd.  I  m.  Opscb.  «1   Komm  S.  512. 
I  79,  3:  6xonov  yuQ  .  .  .  xfjs  tei>v  iduoieiv  :tXtovtiUcs  Ivmu  nivdvvivuv  t^v  *oivr)P 


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104 


E.  PMilmann;  Di«  soziale  Diditaiig  der  Grieeheii. 


des  Beiehtums,  sondern  die  Erziehung  zu  einer  liumaueu  und 
sozialen  Gesinnung  im  Auge  haben.') 

Es  kann  nach  aUedem  nicht  zweiMiaft  sein,  Tcm  woIcImiii  €date  die 
Sehildenmg  des  Wton  StasisB  erilBUt  war,  die  Helattoe  von  soner  kimin«ri- 
Boheii  Sladt  entwoiftn  lat  Viel  HenlioliM  und  Drhabeiiea'  hai  «r  nach  dem 
Zeugnis  eines  aatikai  Lesen  too  ihr  gesagt*);  und  es  ist  beUageosvert,  dab 
uns  von  dieser  offenbar  sehr  umfangreichen^  Schilderung  fast  nur  ein  paar 
Züge  der  novellistischen  Einkleidung  erhalten  sind.*)  Von  Interesse  ist  höch- 
stens eine  Mitteilung  über  die  Fruchtbarkeit  des  alljährlich  zwei  Em t(  n  spen- 
denden Landes,  welche  wenigsteuä  so  viel  erkennen  läi'st,  dals  dem  idealvolk 
des  Hekataos  die  Bearbeitung  des  Bodens  nicht  erspart  war  und  daher  die 
Bedeutung  der  wirtschaftlichen  Arbeit  hier  eine  ganz  andere  gewesen  sein 
mufs,  wie  etwa  in  der  Sladt  der  Frommen  bei  Tbeopomp. 

Hü  dem  Roman  des  HekatiOB  wird  in  der  'Oberlieftrung  ver^idien*)  die 
Gesdiichie  Ton  dem  FlabelTolk  dar  Attakoren,  die  im  Ans«hfafii  an  die  indisdien 
Sagen  von  dem  paradiesischen  Lunde  der  ütt»r:i  Kürü  nflrdlicik  des  Kmalsya^ 
dem  indischen  Gegenstück  der  griechischen  Uypt^rborecr,  ein  gewisser  Amo- 
metos  ebenfalls  v.orh  im  dritten  Jahrhundert  verfafst  hat.  Und  wahrscheinlich 
gehört  der  gleichen  Epoche  der  phantastische  Roman  eines  sonst  ffinz  nn- 
bt'kannton  Timokles  an,  der  nnter  einem  abenteuerlichen  Pseudonvin  die  Glück- 
seligkeit eiueä  von  ihm  selbst  erfundenen  Volkes  der  'Schlangen töter'  ge- 
aehildert  bat*);  —  IKcbtongen,  Ton  denen  wir  nns  aber  eine  TonteUwig  nidit 
mehr  machen  können. 

')  I  93,  4:  Uffatiatovs  S'  olfiai  x&v  röfUBv  ilp[tiov  oi%  ii  &v  tino(f»tdtovSt  (iil* 
ii  av  tifttt%$0tdxovs  Tole  ^#«0»  nttl  »ol(«*ii««<fvov(  cvußi^eetat  yivit^ai  9Phs 
iv^eöirrovi-.  DaTs  Diodor  diese  Bemerkung  als  die  seinige  vorträgt,  hindert  nicht,  dab 
er  nur  die  Anschauung'  seiner  Qa«Ue  wiedengifibt  Vgl.  dM  Qeseh.  d.  ant.  Kamin.  I  6t 
über  seine  Schriftsteiierei  Gesagte« 

noVLd  t$  mA        fta««.  Adiaa,  Hirtw  an.  XI 1  (MflUer,  Fr.  bist  graee.  O  MT  Ar.  4). 

*)  Schol.  Apoll,  fibod.  II  676  spiieht  von  fiißllu  AnyfseytffMMt  «ifl  «•»  'ItetJ^evAn' 
des  HekatäoK 

*)  S.  die  Fragmente  bei  Müller  II  S«6  S.  Dazu  die  Bemerkungen  ilohde«  a.  a.  0.  208  ff. 
*)  Bei  PHnius,  Nat.  b.  VI  17,  65. 

*)  8.  Fhotios,  Epist.  66  (dazu  Rohde  S.  218  f).  Oamacli  beluuidelte  Timoklos  ji9«g 
nal  (fviftr  nof!  jroltrfi'av  x«i  tidfus  nal  v/xas  *ctl  ßlav  eelSvag  %ul  ijJunias  nai  t i 8 tei- 
lt oviag  oi*  dv^ginmv  (lövov,  «üUä  »ul  <pVT&v  nal  ^tpnv  tuxI  yfjg  »oi  9tdde9^s  xai  ü^og 

(FoctietBtuig  folgt.) 


Üigiiizeü  by  ioOO^l» 


VmülLÖ  YUÜiTK  EiiLOUli 


Ton  TBiBMtioa  Mass. 

Hit  dii«r  gewisMn  Ehrfurdit  und  Sehen  nefamen  wir  ein  G(edieht  but 
Hud,  da»  unter  allen  Gedienten  rdmiBdier  Sprache  die  grdÜBie  und  wunder- 
nnufte  Qeeehichte  hat,  dem,  wie  man  annimmt,  ein  leieht  begreiflioher  und 

leicht  yerzeihlicher  Irrtum  der  philologiachen  Erklärung  einst  einen  FlatE  ver- 
schafft hat  neben  den  Prophetien  der  altjQdischen  Litteratur  und  den  Ver- 
iTsungen  der  Sibylle  des  hellenistischen  Judentums.  Der  Dichter  verkündet 
hier  in  liohen,  feierlichen  Worten  seinem  Gönn<M  P*>1in  ziurst  dif  nahe  bevor- 
«tfbende,  dann  die  eben  erfolgte  Geburt  eines  goiUutstHinmt^^ii  Knaben,  der  be- 
stimmt sei  von  der  Vorsehung  dem  Erdkreis  den  Frieden  zu  geben,  in  dem  neu 
anbrechenden  goldenen  Zeitalter  vollendeter  Glückseligkeit  ein  neues  Menschen- 
geaehleeht  mit  den  Tom  Vater  ererbten  ToUkommenen  Gaben  zu  beherraelien. 
Die  Geburt  dieses  Knaben  findet  nacli  des  Dichters  eigner,  unzweideutiger  An- 
gabe statt  wihrend  des  Konsolatea  des  Adressaten,  im  Jahr  71^^,  und  in 
^selben  Jahr  kurz  nach  der  Geburt  des  Wunderkindes  ist  die  bertthmte  vierte 
Ekktge  des  Vergilins  entstanden. 

Der  mühseligen  und  undankbaren  Aufgabe,  die  zahlreichen  Deutiings- 
TPr?uphe  dieses  Gedichtes  einer  Besprechung  zu  unterziehen,  enthebt  mich  die 
überaus  eingehende  Darstellung,  die  in  dem  unlangsit  erschienenen  Buch  von 
A.  Cartault,  Etüde  sur  les  bucoliques  de  Virgile  (Paris  l.SüT  i  p.  210 —  250, 
Ober  den  Stand  der  Frage  geboten  wird:  etwa  gleichzeitig  hat  0.  Crusius 
(Rh.  Mos.  U  [1896]  p.  551 — 659)  dnrdh  Heranziebung  sehr  entlegener  astro- 
iogiieher  und  mysttsclier  Litterator  das  Versinndnis  des  Gedichtes  an  fördern 
gusocht  nnd  ist  an  dem  Sehlnb  gekommen,  der  IMehter  habe  nicbt  etwa  einm 
Sohn  des  Polio  besungen,  sondern  'einen  unbekannten  Liebling  des  Schicksals*, 
ähnUch  wie  ja  andere  vordem  in  dem  Wunderkind  die  Personifikation  des 
Friedens  von  Brnndisium  oder  der  nach  den  Bflrp^prknVjren  •wiederkehrenden 
Kühe  unil  Ordnung  wiederzuerkennen  glini^>ten  '  D;»tT"cr*'Ti  linlt  Cartault  a.  ii  0. 
p.  230  mit  anderen  an  der  Ansicht  fe^t,  dul8  V  irgil  einen  Menschen  von  Fleisch 
und  Blut,  und  zwar  den  Sohn  des  Asinius  Polio,  C.  Asinius  Gallus,  kurz  nach 
seinem  Eintritt  in  die  Welt  mit  diesem  Gedicht  begrüTst  hat;  und  er  that 
wohl  recht  daran.  Denn  alle  die,  welcbe  die  Gestalt  des  göttliehen  Sjwben 
als  luftige  und  wesenlose,  rein  allegorische  Figor  zu  erweisen  suditen,  sind 

'  Kolster,  Vergil»  Eklogen  p.  60.  Sonntag,  Vergil  als  bukolischer  Dichter  p  61  ff 
PlüKB,  Fleckeis.  Jahrb.  CXY  (1877)  p.  69  ff.  0.  Gruppe,  Oriech.  Kulte  und  Mythen  p.  6es  ti.  u.  a.  m. 


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106 


F.  Marx:  Virgils  vierte  Ekloge. 


nicht  im  stände  gewesen  auch  nur  eine  fördernde  Parallele  aus  der  Litteratur 
des  Altertums  nachzuweisen.  Es  soll  in  dem  folgenden  lediglich  versucht 
werden,  das  für  unser  Gefühl  Seltsame  und  Wunderliche,  das  Übcrschwängliche 
des  Gedichtes,  in  dem  der  Dichter  dem  Konsul  zur  Geburt  seines  Knaben 
Glück  wünscht,  etwas  verständlicher  zu  machen. 

Bei  weitem  das  Beste  und  Fördemdste  für  die  Erklärung  der  Ekloge  haben 
die  ältesten  und  ersten  Erklärer  und  üerausgeber  des  Virgil  geleistet  und 
leisten  können.  Wie  aus  den  erhaltenen  Kommentaren  ersichtlich  ist,  hatten 
diese  festgestellt,  dafs  zwei  Söhne  des  Polio  in  Betracht  kamen:  Asinius  Gallus 
und  Asinius  Saloninus.  Von  dem  letzteren  wird  berichtet,  dafs  er  frühzeitig 
verstorben  sei  (Serv.  ecl.  IV  1,  schol.  Bern.  ecl.  IV  G3);  eine  Nachricht,  die 
deshalb  als  urkundlich  gelten  mufs,  weil  von  diesem  Saloninus  in  der  Geschichte 
der  Zeit  des  Augustus  nirgends  die  Hede  ist:  der  Knabe  mag  bald  nachdem 
Polio  Salona  eingenommen  hatte,  Ende  715/39  oder  716/38  geboren  sein,  und 
Asinius  Gallus,  tot  consularium  parens  (Tacit.  ann.  VI  23  und  dazu  Nipperdey; 
E.  Klebs,  Prosopogr.  imp.  Rom.  I  p.  102),  hat  kein  Bedenken  getragen,  das 
cognomen  seines  verstorbenen  Bruders  auf  einen  seiner  vielen  Söhne  zu  über- 
tragen (Klebs  a.  a.  0.  p.  109 1.  Dieser  urkundliche  Bericht  geht  auf  Asconius 
zurück  und  ist  uns  erhalten  im  vollständigeren  Servius  zu  ecl.  IV  11,  aller- 
dings in  einer  durch  spätere  Erklärer  verdorbenen  Form:  inibit]  .  .  .  non  iniit, 
quia  consiil  designatus  erat.  Quidam  Saloninum,  Polionis  tilium  accipiunt,  alii 
Asinium  Gallum,  qui  prius  natus  est  Polione  consule  designato.  Asconius 
Pedianus  a  Gallo  audisse  se  refert  hanc  eclogam  in  honorem  eins  factam.  Der 
Scholiast  zu  V.  1  setzt  verkehrterweise  die  Einnahme  von  Salona,  die  715/39 
erfolgte,  und  die  Geburt  des  Saloninus  in  das  Konsulat  des  Polio,  schliefst 
V.  11  aus  dem  Futurum,  dafs  Virgil  vor  dem  Konsulat,  als  Polio  noch  consul 
designatus  war,  dies  geschrieben  habe,  was  für  uns  alles  wertlose  Vermutungen 
sind,  und  verunstaltet  so  den  urkundlichen  Bericht  des  besten  Philologen  der 
römischen  Kaiserzeit.  Dieser  hatt«  berichtet,  dafs  zwei  Söhne  des  Polio  in 
Betracht  kämen,  ein  älterer  Gallus  und  ein  jüngerer,  früh  verstorbener  Saloninus: 
er  habe  deshalb  den  allein  noch  lebenden  Gallus  hierüber  befragt  und  die  Ant- 
wort erhalten,  der  Knabe,  dessen  Geburt  Virgil  besingt,  sei  er,  Gallus  selbst 
gewesen.  A.  Kiessling  im  Greifs  walder  Sommerindex  1883  p.  5  hat  diese  Nach- 
richt im  Zusammenhang  mit  ähnlichen  Nachrichten  über  die  urkundliche 
Forschung  des  Gelehrten  erörtert,  und  es  erscheint  unter  dem  Eindruck  dieser 
Forschungsweise  des  Asconius  gcwifs  angezeigter,  das  Gedicht  auf  Grund  ihres 
Ergebnisses  in  all  seinen  fremdartigen  Zügen  zu  verstehen  zu  suchen,  so  gut 
es  geht,  als  zu  anderen  Hülfsmitteln  der  Deutung  seine  Zuflucht  zu  nehmen. 

Dafs  Gallus,  dessen  Geburtsjahr  gewifs  leicht  zu  ermitteln  und  wohl- 
bekannt war,  den  scharfsichtigen  und  bedächtigen  Gelehrten  dermafsen  anzu- 
lügen versucht  hätte,  dafs  er  ihm  berichtete,  er  wäre  im  Jahr  714/40  geboren, 
während  sein  Geburtsdatum  weit  früher  oder  später  fiele,  ist  ganz  unglaublich, 
l  Elr  bekleidete  das  Konsulat  146/H,  als  Sohn  des  Polio  und  Schwiegersohn  des 

l  Agrippa  gewüs  so  früh  wie  möglich  (A.  Feilchenfeld,  de  Vergilii  bucolicon 


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F.  Man:  TizgUs  vi«rte  EUoge. 


107 


temporibus,  Lipsiae  1886,  p.  32 ).  Monunsen  (R.  Staatsrecht  I  [1887]  p,  574  ff.) 
legt  dar,  dafs  in  jener  Zeit  in  der  Kegel  das  laufeadt*  33.  Lob<»n8jahr  der  Termin 
für  die  Bekleidung  der  Eonsulwürde  gewesen  ist:  wenn  Ciulius  bereits  im 
32.  Jahr  d»  Komidii  emiehte,  so  vird  dieae  Bflgttnstigung  durch  den  oW 
enfShoten  Emderreiehtum  aeiner  Familie  hinreichend  erUart:  ein  Sohn,  der 
KouBol  dea  Jahrea  TT^fSS  G.  Aainina  Polio,  war  damals  bereite  am  Leben 
(Mommaen  a.  a.  0.  p.  575  Anm.i.  Wenn  aber  demnach  es  ao  gut  wie  fesi- 
siekt,  dafs  zur  Zeit,  ala  Vii^i  sein  Gedicht  geschrieben  hat,  im  Hause  des 
Polio  ein  Knäblein  in  der  Wiege  lag,  dann  konnte  weder  der  Dichter  noch 
seine  Leser,  am  weniiirsten  ab*T  d'-r  Vater  und  die  Mutter  des  Neuiit'KorfTK'n, 
die  Anrede  an  die  Eltern  ik's  kindcö,  an  die  (jchurtsgöttin,  die  Klagen  über 
die  Widerwärtiifkc'ikn  zchnmonatlicher  Öchwangt  rsebaft  anders  verstehen  oder 
verstanden  wissen  wuUen,  wie  Asinius  Galluns  und  Asconiuti  dies  alles  ver- 
standen haben:  oder  es  verlangte  der  Takt  und  gesunde  Sinn,  dab  der  Klient 
in  seinem  Gedicht  jede  Zweideutigkeit  anptlich  Tennied.  So  hat  auch  die 
iitere  Periode  der  VirgilerUirung  bta  Suetoa  (p.  86  B.)  die  EUoge  an%e&fbt: 
misere  erhaltenen  Kommentare  gehen  aber  surflek  auf  einen  Grammatiker  naeh- 
hadrianiacher  2Seit,  der,  wie  Festus  den  Yerrtua,  ao  den  Aaoonius  verbessern  au 
müssen  glaubte  und  sich  seihst  mit  diesem  Besserwissenwollen  ein  wenig  vor- 
^ilhaftos  Zeugnis  ausgestellt  hat:  weil  der  Knabe  dos  Virgil  nach  Ausweis  des 
Schlusses  der  Kkloge  unbedingt  sterhen  niurf«te,  wurde  Saloiiinus  statt  Gallus 
eingesetzt,  und  diesen  Saloninus  bezeiclmen  denmaih  als  Sohn  des  Polio  und 
Helden  des  Virgil  die  erhalteneji  Scholien,  auch  die  zu  Horaz  ^carm.  11  1,  15), 
und  der  Bhetor  Grilliua  (Hahn,  Bhei  Lai  p.  598, 10),  wo  der  Name  in  soSmtiMi 
verschrieben  eiaoheint:  genethliaeon  Salonini  wird  die  Ekloge  genannt  in  der 
Einleitung  dea  Serviua  III  1  p.  3,  22. 

Bei  der  Befanchtung  des  Gedichtes  haben  wir  au  scheiden  swischen  der 
äofseren  Form  und  dem  Inhalt:  eine  Besprechung  der  Form  wird  auch  den 
Inhalt  mit  verständlicher  erscheinen  lassen.  Das  Gedicht  bat  mit  der  bukoli- 
schen Poesie  und  mit  Tlieokrit  nichts  zu  schaffen:  Scrvins  nennt  dasscnn' 
(jeiiethliaa/n  (a.  a.  0.  und  zu  V.  1:  cm  unnr  Vcrfjiltus  'fetwihliacon  divil,  wozu 
zu  vergleichen  ist  yfvfx^hxcxov  If'ynv  unten  S.  inS),  durchaus  richtig  bezeichnet 
er  dm  Gedicht  als  ein  ächriftwerk  zur  Feier  der  Geburt  oder  des  Geburtstages 
einer  dem  IMehter  nahestehenden  PeraSnlidtkeit  Verherrliehungen  dea  Hodi- 
leitBiages  und  des  Geburtstages  wurden  in  gebundener  und  in  ungebundener 
Bede  abgefidkt,  und  Vorschrillen  ftr  die  Ab&wung  von  ystrcdAumoZ  I6yin 
sind  uns  erhalten.  Aber  der  Ausdruck  genethliaeon  ist  mehrdeutig.  Zumeist 
wird  mit  demselben  ein  zum  Geburtstag  bestimmtes  Gedicht  bezeichnet,  auch 
lum  Geburtstag  eines  Verstorbenen,  wie  Stat.  silv.  U  7  genethliaeon  Lticani  cui 
Pf^hm  betitelt  ist:  seltener,  wie  in  unserem  Falle,  ein  Gedicht  nnf  den  ersten 
Geburtstag  eines  eben  geborenen  Kindes.  In  der  ars,  die  unter  des  Dionysios 
von  Halicamass  Namen  überliefert  ist,  werden  cap.  II  die  Lehren  für  yu}iixni 
koyoi^  cap.  lU  p.  14  (TJsener)  für  ytvttyXiuHoi  Xoyot  gegeben:  die  Eingangsworte 
von  cap.  III  scheinen  sidi  auf  Lobreden  nach  Ati  unaera*  ISkloge  m  beliehen: 


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106 


F.  Man:  Viinils  vierte  BUog». 


'Exdfifvog  dt  6oi  TovTov  6  fT?  Tßig  ytviotai  ziiv  xaidcav  Xey6[Uvoi;  X6yoc' 
yd^co  yuQ  :iov  yivtöiv  dväyxij  dxokovd'etv  ov  xal  ttvtbv  Ttlstv  XQh  r*tOrov 
«dir  tQdxcv.  Aber  die  nun  folgenden  Vorschriften  beziehen  sich  säiutlich  auf 
GelrarMagnreden  für  Errachflene»  dieadben  Lduren  sind  nnB  auafUirlielier  er^ 
arlert  beun  Rhetor  Menandtr  p.  141  Bnn.  (Bhet  Qnec  IX  279  W.  m  412  8p.) 
erhalt«D.  OfiinibBr  gthSit  indenen,  da  der  «isie  Gebnrtstaig  immeilun  »neh 
als  eine  Art  von  Geburtstag  betrachtet  werden  mufs,  ein  Gedieht  nach  Art  der 
Ekioge  Virgils  unter  die  ytvi^Xiaxol  Xöyoi^  und  an  Rhetorik  hat  es  der  Dichter 
darin  ja  nicht  fehlen  lassen:  die  zahlreichen  Anaphern  und  sonstigen  rhetori- 
schen Wiederholungen  sind  bei  Cartault  y>  j*U)  sorgfältig  zusamniengestciii. 
Wir  werden  demnach  gut  thun,  mit  den  Erklarern  des  Altertums  der  änlseren 
Form  nach  die  £kloge  als  einen  ytv6&Xitatbs  Xöyos,  oder  als  ein  carmm 
genethUaam  anfriiÜHneii. 

Unier  den  a.  0.  gegebenen  Lelixen  fllr  soldte  Oeburtatagereden  intereMiert 
nne  am  meisten  die  Vorechrifty  die  Henander  am  Seblula  seines  Kapitds  ge- 
gebtti  bat:  iAv      arofudig  Ttvos  viw  yivt&liaxbv  fi^Ugs  Hyiiv . . ^erä  tä 

fiivri  xQaiitvos-    Hitä  ravta  tb  yt'vog  igctg^  (Ira  rrjv  yivtßiv,  elxa  r^v  tpvOtv 

/>t;?  d}  ovd}v  ix^i$  extQOV  xaQ«  ra^xa  (Utflv  rov  viov  —  i'/oc  yun  lav  ovSina 
ZQÜ^ii^  f:riön%(CTO  —  ^pffg  f'x  ufOddov  {yxfoniä^mv  ovxm'  jovro  dl  rfxuai- 
QÖufvog  TTfQ]  TÜv  ^{XX6vT(ov  udvx ivoftaty  oxi  xtudeittg  fig  axQov  'i\%h 
xai  ufjtxii'iy  oTt  ^piAon/it/tf^rat  :i6ki(iiVy  uyStvug  dia^ön^  xoafii^osi  Jtui^t^yv^ngj 
juel  tottt&nt. 

Es  lenehtoi  ein,  daTs  Virgil,  der  ein  genetUiac<m  nicht  nur  Übr  einen 
»omifi  viogj  sondern  fllr  einen  ebengeborenen  Knaben  ni  adireiben  die  Auf- 
gabe hatte,  Tomehmlich  auf  das  t^^avxiveö^ai  und  xixficuQeö^ta  xSnf 
luXlövrav  at  u^r  d  iesen  sein  mnfste:  Ulst  doch  selbst  StattOB  im  genethiiaoon 

Lucani  die  Miij^«'  dem  Sünglinj;  meinen  späteren  Ruhm  weissagend  vorher  ver- 
künden. Im  übrigrt»  stimmen  die  Vororlirift^'n  zu  Geburtstagsreden  für  Kinder 
hezü^jHch  der  Anortlnun^  mit  den  \'orsciiriften,  die  Menander  und  Psendodionys 
allgemein  für  diese  Reden  ertfilen,  geiuiu  üherein  ^a.  a.  0.):  i.  sfQÜTov  ^iv 
igits  XQOoCittu  II.  furd  tA  XQOotma  x^v  iniigav  isuavigttg,  xetff  x^v  itix^ 
. . .  <i  fotdlv  i%ttQ  thut»  towOtWy  ixmvittts  ^h^qccv  M  leotpoO,  8n 
d^povs  fivtof  tri  /«^ff  . . .      ^fttg  foi)  »mpo&     ßßUpn«  UL  futä 

%hv  tils  4}ii^Qtts  txmvo»  i»l  x6  iyx6(iiov  ^^ig  teAw^  to6  yivm'g  IV.  eixu  t^g 
ytvißims  ^  r'iS  (  i'ttxgo<p^g  VI.  fira  r&v  ixixrfdevfittxav  VII.  nru  töv 

XQo^tcav  Vlll.  fitxtt  xar>x(t  xdXiv  ixtUvn  ti)v  xjfieQccv  ovxag'  S)  xavevdeufiovog 
^(Qag  ^xfttTjs,  XfiO"'  iji»  hixtno.  &  urjQog  6dtvfg  fvxvx&S       tovto  Xx*&ft6tti. 

Es  wird  nieht  schwer  s«'in,  dit  se  einzelnen  Tülle  in  dem  genethliacuu  des 
Virgil  wiedei-zuerkennen:  bevor  wir  in  deren  Besprechung  übergehen,  ist  es  er- 
foi^erlich  über  den  Inhalt  und  die  Quellen  der  Ekloge  das  Feststehende  zu- 
sanunenaostoUen:  soeh  in  dieser  Frage  haben  die  alten  ErUirer  Vorzügliches 
geleistet. 

Das  A  und  St,  der  Ausgangapiinkt  und  Sehlnfii  des  yEin^Xuocbg  l6yos  ist 


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F.  Mtn:  Tirgib  viecte  BUofr». 


109 


nach  der  Vorschrift  der  Rhetorik  das  Lob  der  ijfti'ga  oder  des  xaigos^  also  der 
Zeit  der  Geburt,  aufserdem  sollen  bei  ganz  jungen  l't  rsonen  nur  die  Aljkunft, 
Geburt  und  Naturanlage  einer  Besprechung  unterzogen  weideu:  alieä  übrige  i»l 
Proplieflciitng.  Virgil  liai  die  Form  der  Propheieiimg  audi  «of  die  DanteUttE^ 
d«r  Qebnrt  eelbsk  ansgedebit,  indem  er  die  Gebart  des  Enabeu  ab  nalie  be- 
metehend  yoAet  verkfindet:  er  libi  ao  den  Leaer  die  Qeborfc  des  Sjuhben 
{^eidiaam  mit  erleben  und  ist  dadurdi  einer  Darstellong  aeiner  natflrlidien 
E^jenschaften  erfreulicherweise  enthoben.  Was  die  Besprechui^  aeinea  Stammes 
und  Geschlechtes  betrIflFt,  so  ist  der  Dichter  derselben  gewiDs  gern  ausgewichen: 
über  die  Vorfahren  des  Asiniua  war  nichts  zu  berichten,  der  Name  erscheint 
in  jenem  Jahr  zuerst  in  den  Fasten  und  klang  dem  römischen  Ohr  sn  fremd- 
diÜg  und  unaristokratisch  wie  Vipsanius:  die  Dichter  wählen  darum  uuch  ätati 
des  Tobriitrea  JäM  daa  «u^omen  FoUoj  trola  der  metrischen  Schwierigkeit 
dM  kretiadien  Wortea.  Ahnen  fiterlieheraeita  batte  der  homo  noToa  nichts 
die  Vot&hren  dea  Neugeborenen  mflttertieheraeita  m  rflhmen  lAn  wenig  siem- 
Uch  gewesen:  darum  atreül  der  Dichter  nur  die  Abkunft  dea  Kmdea  gelegent- 
lich, er  redet  zu  An&ng  vom  Vater  Poho  V.  11,  von  den  patriae  virtutes  Y.  17, 
von  den  fecta  parmtis  V.  26,  am  Ende  von  der  Mutter,  die  unter  (Tfofser 
Mül und  Plage  das  Kind  so  lange  unter  dem  Herzen  iretragen  V.  (30  tF.: 
liafs  diese  pareutes,  der  pater  und  die  mater  alles  nur  ailegoriäche  Personen 
and  Figuren  wären,  wie  Rom  oder  das  Vaterland,  erschciut  doch  ebenso  uu 
denkbar  wie  ein  zehn  Monate  lang  schwangeres  Italien.  Nur  an  einer  Stelle, 
V.  49,  wird  der  göttliche  Ahnherr  des  Knaben,  Juppiter  eben  erwiUmt^  Tielleidit 
die  intereaaanteate  Stelle  der  gunaen  EUoge.  Wie  der  Rhetor,  ao  befaraclitet 
Virgil  die  Beepcechnng  dea  nmqög  Übt  daa  mdkligirte  ond  WertfoUate  im 
genethlia<M>n:  aber  mit  grofsem  Geschick  hat  der  Dichter  nicht  etwa  das  Tages- 
datum oder  die  JahreaMiit  der  Gehurt,  wie  die  Rhctoren  lehrten,  oder  die  Kon- 
stellation der  Gestirne,  wie  die  genethlia«  )  nnd  mathematici  zu  thun  pflegten 
(Gell.  XiV  1,  1),  besung'"^,  sondern  aus  der  ihm  bekannten  philosophischen  und 
poetischen  Litteratur  srIi  zu  seiner  Prophezeiung  die  Anrepmg  geschöpft. 
Aach  iiir  die  LoHUUg  dieser  Frage  haben  die  alten  Erklärer,  wie  bereits 
erwihnt,  bia  jetat  bei  weitem  das  Beste  geleistet.  Die  Qoellen,  die  aie  ftbr 
die  mdoge  ftatatetten  konnten,  aind  folgende: 

1)  IMe  atoiaehe  Lehre  Ton  der  darexariftfr «dtf,  der  ISmenerang  der  Welt 
und  ibrar  Bewohnnr  von  Anbeginn,  Servius  zu  V.  34;  Oerdce  duTaippei^ 
fiigm.  14—16  (Jahrb.  für  klass.  Phü.  Suppl.  XTV  p.  T08). 

2)  Die  Lehre  der  PliiloBophen,  dafs  eine  derartige  Erneuerung  immer  nach 
Vollendung  eines  magnns  annns  stattfinde,  wenn  die  Planeton  71  der  Stelle, 
Ton  der  sie  ausgegangen,  zurückkehi'en:  Servius  zu  V.  4,  Aetius  dv  plac. 
U  32  p.  363  Diela,  Stobaeus  I  p.  107  Wachsm.,  Usener  Rh.  Mus.  XXVlll  p.  aU2. 
Diese  Lehre  wurde  durch  die  geuethliaci  und  Chaldaci  popularisiert,  Gell. 

m  1, 1. 18. 

3)  Die  Lehre  de»  Heaiod  nnd  aeinea  Naehahmera  Arat  von  den  nach 
Hdallen  benannten  vier  oder  fünf  Zeitaltem,  Prob,  nnd  achoL  Bern,  au  V.  4 


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110 


F.  lUaii  TugiUi  vwtU  BUog«. 


Dm  goldene  Zeitalter  steht  unter  der  Herrschaft  des  Batum  nach  Hesiod, 
erga  109—111. 

4)  Eine  Lehre  der  magi,  wonach  da»  letzte  Zeitalter  vor  der  Erneuerung 
dM  W^tilb  unter  dar  Henw^aft  dm  Apollo  oder  Sol  stehe,  toh  dem  toU- 
sttndigeren  Senrios  sn  V.  10  tau  Nigidioe  Werk  de  die  belegt,  ein  Werl^  das 
kniz  TorW  eiw^enen  war:  dieselbe  Anschanniig  soll  nach  Serrins  zu  V.  4  in 
einem  Lied  der  CnnuieiBchen  Sibylle  behandelt  gewesen  sein,  eine  Nadhridit^ 
die  neben  d^  dorch  das  Zitat  ans  Nigidins  geetfitzten  Berieht  Aber  die  Lehre 
der  magi  weniger  in  Betracht  konuni 

d)  Dieselbe  Lehre  von  der  cbtoxartiatccifts  als  Lehre  von  der  ataXiYYtvt^ta 
der  Menschheit  popularisiert  doreh  die  genethlioci  und  mit  dem  etrnskisdi- 
rSmischcn  Begriff  dos  3a(»culum  als  eines  Zeitraumes  von  11"  Jahren  ver- 
einigt: Bo  der  voUstiindigere  Serviiis  zu  V.  5,  die  Bemer  Scholien  in  der  Ein- 
leitung zu  der  Ekloge.  Diese  Leliie  war  durch  die  drei  Jahre  vorher  ersckieueue 
Schrilt  des  Varru  de  gente  populi  R.  besonders  populär  geworden  (Bist.  Rom. 
fragm.  ed,  Peter  [1883]  p.  229,  4):  nach  Probus  zu  V.  4  fand  sich  die  Lehre 
▼on  der  sutUyytPMia  post  quattaor  saecnla  andi  in  den  Versen  der  C^Danaetsclien 
Sibylle.  Von  der  Einteünng  des  magnus  aonns  in  10  Perioden  oder  saecnla 
(Plntarch,  Snlla  C^.  7,  Auguatns  bei  Peter  a.  a.  0.  p.  253,  5,  Senr.  sn  V.  4\ 
von  einer  Bezugnahme  des  Virgil  auf  die  ludi  saecnlares  findet  sich  in  dem 
Gedichte  aber  keine  Spur:  Virgil  muiste  die  erstgenannte  Lehre  schon  deshalb 
bei  Seite  lassen,  um  nicht  mit  Hesiod  in  Widerspruch  zu  geraten,  ein  Ein- 
drehen auf  die  letztere  hätte  aber  den  Charakter  des  Gedichtes  ab  yevt&JUecxAv 
wesentlich  verändert. 

Neben  diesen  durch  die  alten  Erklärer  in  dankenswerter  Weise  aufgehellten 
Quellen  des  Virgil  kommt  für  die  Erklärung  der  Ekioge  in  Betracht  die  An- 
schauung, wonach  die  Geburt  eines  Herrn  des  Erdkreises  von  göttlicher  Ab- 
stammung, eines  Friedensfürsten,  unter  dem  die  Glückseligkeit  des  goldenen 
Zeitalters  wiedwkehren  soll,  nahe  bevorstebi  Hierüber  soll  aum  Schlnls  dieser 
Abbandlong  ausfBltrlicher  gehandelt  werden. 

Endlidi  mnls  zur  Beurteilung  der  überschnüng^ehen  Sprache  nnd  Phantasie 
der  Eldoge  die  Spraobe  der  01üdcwflnscbe  und  sonstigen  frommen  Wttnschs, 
die  in  der  Wocbenstube  und  Kinderstube  vernommen  wurde,  in  Betracht  ge- 
XOgMl  werden:  es  ist  dies  die  Sprache  den  Volksmärchens.  Eine  Vorstellnng 
davon  geben  nns  die  schönen  Verse  des  Persius  Ii  dl  E: 

Seee  avia  ant  meiuens  divom  matertera  cunia 
exemit  puerum,  frontemque  atque  uda  labella 
infami  digito  et  lustralibus  ante  salivis 
expiat,  urentis  oculos  inhibere  perita; 
tutic  nianihus  fjuatit  et  spera  maerum  »uppiice  voti) 
nunc  Liciui  in  cainpos,  nunc  Cra«««i  mittit  in  aedis: 
'hunc  optent  geueruni  rex  et  regina,  puellae 
bnnc  rapian^  quid^iä  ealemferU  hie,  nm  fiaP. 


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F.  Ums  TiigOi  vierte  BUo«e. 


III 


Nach  Pünn  und  luhalt  tuiierscheidtin  öich  dieäe  Wünsche  nur  wenig  vun  der 
Prophezeiung  des  Virgil:  hauptsächlich  dadurch,  dala  der  Bildungsgrad  der 
iimdModen  Fenonai  als  «in  mBontlidi  TeFsehMdMier  emfaemi  Yon  der 
ia&ereii  Saanerie,  tn  der  Yii^  die  Ekloge  dem  Polio  ttbmniitelt^  ist  es  nicht 
sdnrer  ehw  Ukre  Vorstellung  sn  gewinn«!.  Sueton^  Nero  Csp.  6  schildert  uns 
aoBchaalich,  wie  bald  nach  der  Geburt  eines  Kindes  in  dem  römischen  Fstrixier- 
hsoM  die  nahestehenden  Freunde  erscheinen,  ihre  OlQckwünsche  darzubringen. 
Als  dankbarer  Klient  des  Hauses  des  Polio  erscheint  auch  Virgil:  or  überreicht 
dem  Konsul  'inter  gratulationes  amicorum',  wie  Sueton  sich  ausdrückt,  seine 
tierlichen  Verst'.  Diese  Verse  wollten  aber  ebensowenig  ernst  genommen  und 
wörtlich  verstanden  werden,  wie  die  Gebete  und  Wünsche  der  Grorsmutter  und 
Tante  bei  Persius.  Ais  einzige  erhaltene  Probe  solcher  Klientenpoesie  bei 
Bmtritt  eines  firolien  BreignisseB  im  Hanse  des  res  ist  nns  die  Tierte  Ekli^ 
Too  miseliitsbarem  Wert  Dab  disHes  Gedieh^  in  dem,  was  den  Inhalt  betrUII^ 
M»  Tielerlei  Ansdhaanngen  und  Ideenkreise  sieli  krausen,  ▼ereinigen  und  be- 
kimp&n,  nicht  gerade  leicht  für  unser  Verständnis  erscheinen  kann,  insbesondere 
da,  was  die  Form  angeht,  die  Form  der  Prophezeiung  eine  dunkle  und  gewählte 
Ausdrucksweise  an  die  Hand  gab,  ist  offenkundig.  Es  erübrigt,  seine  einzelnen 
Teile  mit  Hiilfo  der  oben  S.  108  fElr  den  ytvi^lumbs  Aöyog  ermittelten  Dio- 
potition  kurz  zu  besprechen. 

I.  X(footutoi\  in  dpui  der  Dichter  von  der  Muse  Theokrits  Abschied  nimmt: 

äicelides  Muüae,  puulo  maiora  cauumus. 

non  onmes  arbusta  iurant  bomilesque  myricae: 

si  canimus  Silvas^  sÜTse  sint  consnle  dignae. 
Die  Sprache  ist  absichtlich  dnnkd  und  schwer  versttndlich,  der  Qedanke  den 
Lehren  der  Rhetorik  Ober  das  proonsünm  entiehnt:  ad  Her.  I  4,  7:  attentos 
habebimus,  si  pollicebimur  noa  de  robns  magnis,  novis,  inusitatis  rerba  facturos. 
Die  beiden  folgenden  Verse  sind  strittig  in  ihrer  Deutung,  dem  tüchtigen  ist 
Vofij  am  nächsten  j^pVonimon.  Nicht  jf'dpnnnnns  Sache  ists,  sich  an  Knieholz 
und  niederem  Heidekraut  zu  erfreuen:  nicht  solche  yaiiaCt.riXu  (pvra^  sondern 
vielmehr  devÖQia  vi'i'?chTi]}.K  und  ^pi»f?  '^^txapijvoi  möchten  vielleicht  eines 
Konsuls  würdig  »ein,  silvae  sint  cotisuk  digntie;  si  canimus  silvas  ist  gleich- 
wertiger Ausdruck  mit  dem  diesen  Bedingungssatz  rekapitulierenden  süwie. 
n.  Bespredinng  des  mupög,  7  Verse: 

Ultima  Comaei  Tenit  iam  earminis  aetas; 

magnns  ab  intsgjro  saeelorum  nascitor  ordo. 

iam  redit  et  Viigo^  redeunt  Saturnia  regna, 

iam  nora  progenies  caelo  demittitar  alto. 

tu  modo  nascenli  puero,  quo  ferrea  primum 

desinet  ac  toto  sarget  genn  aurea  mundo, 
10  Cdutii  fave  Lucina,  tuus  iam  regnat  Apollo. 
*Die  letzte  Zeit,  von  der  das  Sibyllenlied  singt,  ist  herangerückt,  der 
nagnua  annus,  der  sich  aus  den  vielen  Zeitaltern  zusammensetzt,  beginnt  bald 
m  neuem  (oben  fl,  109,  2).    Znrflottommt  f^idi  die  Jungfrau,  zorflck  die 


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119 


F.  Man:  Vüfi^  vlote  BUcg«. 


Herrflchaft  des  Satuni  (oben  Ö.  110),  vom  hohen  Himmel  herab  wird  das 
erueuertß  öeachlechfc  auf  die  neue  Erde  herabgesandt  (oben  S.  110,  5).  Sei  du 
nur  dem  Knaben,  dessen  Geburt  jeden  Augenblick  erwartet  wird,  unter  dem 
das  eiserne  GeBchlecht  absterben  und  das  goldene  Qeschlecbfc  auf  der  ganzen 
Welt  sieb  erheben  wird,  sei  du  ihm  gnadig,  Lncina,  schon  fthrt  dein  Apollo 
das  Ssepter.' 

Das  neue  Zeitalter  ist  das  goldene,  sein  Herrscher  Satnni:  das  alte  das 
eiserne,  aber  desBon  letste  Phase  ist  bereits  angebrodien,  die,  wie  die  alten 
Erklarer  berichten,  unter  der  Herrschaft  des  Apollo  steht  (oben  8.  110,  4):  die 
Vereinigung  des  eisernen  Zeitalters  des  Hesiod  mit  der  decima  aetas  des  grofsen 
Jahres,  die  unter  Apollos  Herrschaft  steht,  ist  ebenso  unglücklich,  wie  die  Ver- 
einigung des  goldenen  Zeitalters  des  Saturn  mit  der  Emeuerong  der  Kreator 
nach  der  Lehre  der  St()iker. 

'Castii  fave  Lucina,  tuus  iam  regnat  Apollo',  mit  diesen  Worten  ruft  der 
Dichter  die  Geburtsgöttin  un  um  Beistand  für  die  Mutter  in  der  schweren 
Stunde.  Wenn  Crusius  a.  a.  0.  p.  öüö  schreibt:  'Sieht  man  in  diesen  Versen 
das  Qehet  eines  Höflings  für  eine  Tomehme  römische  Dame,  sind  sie  wider- 
wärtig und  abgeächmackt',  so  kann  ich  diese  Ansieht  nicht  teilen.  Das  Alter- 
tum dadite  fiber  derartige  Dinge  anders  wie  die  Modemen:  schon  bei  der 
Hioehzeitsrede  empfiehlt  der  Rhetor,  wenig  passend  nach  unserem  Geschmaeh, 
die  Anrufung  der  Artemis  Locheia,  der  Hebamme  unter  den  Göttern  (Menander 
p.  ISS  Burs.  Rhet.  Gr.  IX  p.  272,  3  W.  IH  p.  404,  26  Sp.),  und  das  Gebet  des 
Krinagoras  ("Anth  Pal.  VI  2441  für  Antonia  wird  man  doch  schwerlich  für  ab- 
geschmackt oder  widerwärtig  erklären  wollen: 

xul  Zfv  yivofit'voig  ^vvbg  uTtaöi  :tut£Q^ 
mdivttg  vfvtfatt'  'y^tTcorä;  ikaoi  ekd^iiv 
X(fijeittg  (taXaxaig  x^Q*^^  'ii^i'^^'ri^^ 

in.  An  die  Sesprechung  des  «oipöf  anknflpfend  kommt  der  Dichter  auf 
das  fipog,  auf  den  Vater  des  Kindes  zu  sprechen,  den  er  mit  Namen  anredet^ 
nnd  gesdiickt  bringt  er  hier  das  Loh  und  den  Buhm  des  Vaters,  sein  Konsulat 
und  seine  persSnlichen  Vorsflge  zur  Erörterung^  abennals  7  Verse: 

Teque  adeo  deeus  hoc  aeri,  te  consule  inibi^ 
PoUo,  et  incipient  magni  procedere  menses: 
te  duce,  si  qua  manent  iceleris  vcstigia  nostri, 

irrita  perpetua  solvent  formidine  terrae: 
15  ille  (ieiim  vitam  aeeipiet  divisque  videbit 

jxrnuxttis  lii-roa^i,  et  ip^e  videbitur  illis: 

pacatiiuujuü  reget  patriia  virtutibus  urbem. 
Die  goldene  Zeit  bricht  also  an  unter  Folios  Konsulat,  zugleich  mit  der  Geburt 
des  Knäbleins:  dann  beginnen  die  magui  meu»eM,  d.  h.  der  magnus  aaeculorum 


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F.  Marx:  Virgils  vierto  Ekloge, 


113 


ordo,  der  neue  magnut  annas:  unter  Polios  FOhrung  und  Leitung  wird  der 
Rest  aller  Greuel  ausgelöscht.  Die  Worte  fe  chice  sind  nicht  gleichbedeutend 
mit  tr  rtmmh,  denn  nach  V.  31  bleiben  noch  zur  Zeit  des  herangewachsenen 
Sohnes  paiuu  priscne  rr^iiqiti  fntudis:  Vir<(il  bat  den  Ausdruck  !il)sichtlicb  uii 
befitimrut  gelassen,  den  mau  wohl  auf  die  väterliche  Erziehung,  die  educaiio 
bezieheu  kann.  Der  Knabe  wird  ein  Leben  wie  die  Götter  führen,  Götter  und 
H«ro60  miteinander  rerkehren  aehen  und  a^bst  unter  dieaen  Qenoaaen  er- 
■dwuien;  er  wird  dem  ganaan  Erdkreia  den  Fried«a  geben  und  ihn  bdierraehen 
aut  den  Tagenden  aeinea  Vatwa.  Dab  damaeh  ein  neuer  Abaehnitt  beginnt, 
«nraitt  die  Parfcikal  in  V.  18  At  tibi  prima  puer:  der  starke  Ausdruck  dea 
Gegensatzes  zum  Vorhergehenden  macht  klar,  data  auf  dem  patriis  virtutibus 
TOD  V.  17  der  Hauptnachdruck  liegt  und  hier  ein  Gegensatz  von  Vater  und 
Sohn  beabsichtigt  war.  Das  Geschlecht,  das  jetzt  neu  auf  Erden  ersteht,  ist 
das  Gesehleiht  der  Heroen:  das  Zeitalter  der  Heroen  wird  demnach  mit  dem 
goldüneu  Zeititit'  r ''identifiziert,  nicht  gerade  glücklich,  denn  das  Hcroenaeit- 
alter  ist  reich  an  Krieg  und  Greueln.  Hierin  liegt  eine  Seh  wiche  der  Dar- 
iteliung  des  Virgil,  die  an  TJnzafan^dikeitai  fBbri  üfe  detm  miam  ineipief, 
dann  nacli  Hedoda  Sehilderong  der  Glftddichen  im  goldenen  Zeitalter,  erga  113: 
US  n  ^soi  d*  ICiootr:  A'magwe  vüUM  pemmiw  henroaa  fiUirt  der  Düditw  for^ 
«n  Kaehkhng  aeiner  AjaUdctflre,  der  aneh  die  Virgo  V.  6  enlataxnmi  Li  der 
Erorlenmg  aber  die  UaQ^tvoq  Arat  102  ff.  hoifst  es:  u}<s  STi^tv  imx9w£ij 
xd^g  fjiv,  ^QX^^o  ^'  Stv^Qdtxmv  xätc vavrt'ij ,  ovdd  xot  avÖQöv  ovdi  x<yi 
6QlcUav  i]i'ijvccro  (fvXa  ywaixätv  aAA'  Kvaul^  ixd^to  xal  i9ttvnrii  :t{Q  iovßcc^ 
und  im  Scholion  zu  diesen  Versen  las  wohl  schon  Virgil  wie  wir  heut»^  das 
Fragment  des  Hesiod  f21f)  Rzach^:  SvvkI  yccQ  ton  dalng  iö(ci>^  ^vt'oi  dh 
douKoi  ä&ui'ütoiöc  &ioiöi  xaTad'vritoig  %  üv&^uiytui^  (Bahr.  prol.  auch 
V.  llü  braucht  Arat  daa  Wort  ixtitt'ffyito  vom  Verkehr  der  Gottheit  mit  den 
Xenachen.  Mit  den  Worten  pacatomque  reget  patrüa  Tirtatibna  orbem  V.  17 
aieUt  Virgil  dem  Neugeborenen  daa  Horoakop  in  einer  Weia^  wie  diea  in  da^ 
maliger  Zeit  fiblieh  gaweaen  an  aein  aeheini  Zwei  Jahre  Torhw  war  der 
8|rätere  Kaiser  Tiberius  geboren,  von  deaaen  Kindheit  Sneton,  Tib.  14  berichtet: 
Ac  de  infante  Scribonius  mathematicus  praeclara  spopondit,  etiam  regnaturum 
quandoque,  sed  sine  regio  insigni,  ignota  scilicet  tunc  adhuc  Cae^^finim  polestate. 
Weder  die  Eltern   des  Tiherius  Tioch  die  des  Asinius  werden  solche 

Prophezeiungeu  tsehr  ernst  gfcnuniinen  haben;  es  gehörten  diese  nti'enbar  zu 
den  offiziellen  Glückwünschen,  mit  denen  die  Klienten  den  neugeborenen  »Sohu 
d«a  rex  zu  begrüfsen  pflegten. 

IV.  Es  folgt  ein  weiterer  Abachnitl^  der  die  yivtais  dea  Knaben  in  8  Venen 
behandelt  (vgl.  oben  S.  108),  der  DispoaitioD  dea  Rhetora  entaprechend: 

At  tibi  prima,  puer,  nuUo  mnnnacula  cdta 

errantia  hederaa  paaaim  cum  baccare  tellna 
iO  raixtaque  ridcnti  coloca.^in  fundet  acantho. 

ipsae  lacte  domum  referent  distenta  capellae 

nhern,  nec  metaent  mi^oa  aimenta  ieonea: 

Ktn«  Jahrbficher.   1898.  L  8 


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114 


F.  Vatx:  Viifib  vierto  EUog«. 


ipsa  tibi  blandos  fundent  ouiiabula  flores. 
occidot  t't  sfrpeiis  et  failax  horha  vt-neni 
26  occidet:  AHsyriiim  volgo  nascetur  amomuiu. 
Horaz,  epod.  XVI  33.  43 — ')2  hat  diese  und  die  folgenden  Verae  bald 
nach  dem  Erscheinen  der  £klogr  nachgeahmt  nnd  zum  Teil  durch  Paraphrase 
nna  TentliiiiUieher  gemacht.  Eine  Sdiüderung  Jl.  goldenen  Zeitalters  ist  Uer 
mit  einselnen  märdraaballen  Zfigen  ans  Gtospiadien  der  Einderstabe  vereiaig^ 
wie  die  oben  nlierteii  Vene  des  Persins  sie  «ns  TeraasduMdicheiL  Y.  23  ipea 
tibi  blandes  fandent  canabala  flores  stört  infolgedessen  dam  Qedanken^anir  und 
ist  deshalb  von  Kloucek  (vgl.  Ribbeck  z.  d.  St.)  nach  V.  20  geetellt  worden: 
Virgil  hatte  vielleicht  einen  derartigen  Vorschlag  zur  Umstellung,  wäre  ihra 
dersell**-  -/.n  teil  geworden,  gern  befolgt:  wir  müssen  uns  mit  der  Erkenntnis 
der  Eiit-b  himg  dieser  Inkonzinnität  und  mit  der  Überlieferung,  so  wie  sie  ibt, 
beachoiden.  Die  Wiege  suü  Blumen  spriefsen,  subalil  das  Kind  in  dieselbe 
hineingelegt  wird,  d.  Ii.  g]eieli  nadi  der  Geburt:  die  pnmet  motniseak  —  das 
DeminutiT  entstammt  gleicbfiUIs  der  Sprache  der  Kindwstabe  (Hör.  qpiai  I  7, 1 7) 
—  sind  die  ersten  Geschenke,  die  der  ijiab^  dessen  Gebort  erwartet  wird,  im 
Leben  erhalten  soll.  Die  Vereinigung  der  £r:äihlimgen  vom  goldenen  Zeitalter 
mit  den  Sagen  von  der  Geburt  der  Götter  ist  aufserdem  in  den  Versen  klar 
ersichtlich:  die  tellus,  welche  nullo  cultu  ihre  Früchte  spendet,  ist  entnommen 
aus  Hesiod,  erga  117,  xtCQxbv  d*  ^cpig^v  ^eidagog  Sqovqu  avroftccrr/,  wie  Hejne 
bemerkt  (Bahr.  prol.  12):  aber  das  nullo  cultu  pafat  schlecht  zu  den  errantes 
hederae,  die  keine  Pflege  benötigen,  und  Hesiod  spricht  von  der  Getreidefrucht, 
Aber  Euripides,  Phoen.  649  flf.  erzählt  uns,  wie  bei  der  Geburt  des  Dionysos 
Ephenranken  den  nengeborenen  umsdiatteten:  Epd|Mov  jvdw  tAtero  iiatijQ 
^tbg  )^fH»«tft,  iuet^bg  ftv  mQt^£^pi^  iUntbs  §69iis  Ir»  ßifipog  xXoi^^iifOiatv 
i^vs6tv  «ecuMiiüMfat  öXßütag  ivdnüev*  Den  Yms  ipsae  laete  domum  rderent 
distenta  capellae  ubera  interpretiert  uns  Horaz  (epod.  XVI  49.  50):  die  Ziegen 
brauchen  keinen  Schutz  noch  Hirten  auf  dem  Heimweg.  Im  folgenden  wird 
geschildert,  wie  Löwe  und  Stier  in  Eintraelit  leben,  wie  die  Giftschlange  und 
das  Giftkrant  ausstirbt:  ^vir  kennen  zwar  mannigfache  Nachahmer  dieser  Verso, 
aber  \'orl)ild<T  oder  passende  Parallelen  sind  nur  aus  der  jüdischen  und  jüdi.sch- 
helleniütischen  Litteratur  bis  jetzt  nachgewiesen  oder  nachzuweisen  (vgl.  uuben 
S.  133).  Die  Worte  Ansyrium  wlgo  itascdur  cunomum  am  Schlnüs  sind  wiederum 
den  Sagen  Aber  die  Gebort  des  Bacehns  im  Orient  entnomm»,  die  nach  ilteren 
Vorbildern  (Maass,  Aiatea  p.  207)  Dionys  der  Perieget  935  ff.  behandelt  hat: 
990  SXio  üi  CO»  md  fMifUf  \fdi  llo^ov  UJju^  iiuiw^' 

dvov  7}  aftiif/v^s  tvadiog  ^  xuXccfioio  .  .  . 

t]  x{t6ti]i'  iziov  yag  uru  x^tova  Ivcccro  xtCvi]V 

roj  x((i  yni'oiiivo)  xr^cöSfa  rpviro  :xia'TU. 
Ii,t]ku  dl  xid  xi)fiog  kuöt'oig  ißugvvito  fudkolg 


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F.  Man:  Virgik  vierte  Ekloge. 


115 


MS  ^X9'ov  (pvkXa  ipiQovng  mcriQaöLwv  xivet§tAfUO», 
ttirttt^  6  veßQtdag  ftiv  ixofiadiag  ixdvv66$ 

^M^o%ttJit^  d'  oivm  Tikfxrovg  &viQH6azo  d'VQöox^g 

fifid i6mv,  xal  nokkirv  Iii   dvd^deiv  öXßov  fxfvev, 
eine  Beschreibung,  die  Euätathius  eine  yeve&i.imtij  diuöxtvtj  beneuni  und  in 
der  idMm  BernfaKrdj  im  Xommmitar  unter  Hinweui  «ttf  'Virgfto  Ekloge  ver- 
muidte  ZQg^  wied«i«rkaiiiit  Iwi')  Lm  aUgemMneii  hat  Vixgil  in  d«r  Dmntel- 
limg  dieses  Abschnittes  die  Ferben  des  FHthlings  gewihli 

V.  Es  folgt  die  Darstellang  der  uvatQoip^  des  Enabtn  (oben  p.  108)  in 
11  Versen,  den  neuen  Abschnitt  beginnt  ahermals  die  Partikel  Ai:  diese  Partie 
ilt  geaehmfickt  mit  d^^n  Farbton  de»  Sommer;^  und  Herbstes; 

Ät  simul  heroum  laudcs  et  facta  parenti«« 

iam  legere  et  quae  alt  pot^ris  cognnscere  virtus, 

molli  paulatim  flavescet  cauipus  ariäta, 

tncultisque  rubens  pendebit  sentibua  uva, 
SO  et  dorae  qnerens  sndabnnt  rosdda  mdh. 

panoa  tarnen  sabenint  priscae  vestigia  frandis, 

qnae  temptare  Thetim  ratibns,  qnae  oingere  nrans") 

oppida,  quae  inbeant  tellnri  infindere  sulcos. 

alter  erit  tum  Tiphys,  et  altera  qnae  Tehat  ArgQ 
Sb  delectos  heroas:  erunt  ftinm  ültora  bell», 

atque  iterum  ad  Troium  magnuH  mittetur  Achilles. 
lü  dt'D  ersk-n  beiden  Versen  wird  die  Erziehung  des  Knaben  geschildert:  er  wird 
erzogen  wie  der  Solin  des  alten  Cuto,  der  aach  Plutarch,  Cat.  Cens.  Cap.  20 
Tci:;  laroQius  avyYQuxirat  9ijtfly  «dnh^  Hlcf,  %n(fl  xal  ftfydXoig  yQdy.yLU0iv^  5xas 

der  Lesart  parentis  Y.  26  wird  mit  Reeht  mit  drat  OewihrsnAimem  des  Nooios 
ud  8erriii8  der  Konjektur  parentnm  von  Ribbeck  der  Vorzug  gegeben. 

Wie  wir  oben  sahen,  ist  das  von  dem  Dichter  geschilderte  Zeitalter,  das 

erwartet  -wird,  das  Zeitalter  der  Heroen  und  das  goldene  Zeitalter  zugleich.  In 
diesem  Abschnitt  entsteht  aber  dadurch,  dafs  ein  glOi-kürlio«  Zeitalter  und  7^3- 
gleich  eine  Art  von  Vorbereitung  und  Vorstufe  zu  deni>«eiben  geschildert  wnä, 
während  welcher  pauca  tarnen  suberunt  priscae  vestigia  fraudiij^j  ^V.  31),  \  er- 
wimmg  und  Unklarheit;  Schiffahrt,  Städtebau  und  die  harte  Arbeit  des  Pflflgers 
nnd  Torerst  uoeh  die  Plagen  dee  HeroengeschlediteSy  das  entstdien  soU 

■)  Beaehnogen  «of  Baednw  will  ia  dem  gsaaea  Oedidit  Vngüs  aaehweteeB  FUlee 

1  »-  0.  p.  70. 

*)  Graf,  Leipziger  Stud.  VIII  M  vergleicht  den  Vers  des  Tragiker«  Moscbion  (FTQ* 
p.  eis,  6,  7):  oviina  jrap       oixt  ethytiqtis  olnoi  oSftln^Mtg  tii^tla  n^gyaie  otivfftanimi  Jt6hs. 

*)  Ovid,  metam.  I  180:  in  qnoram  talnere  locttn  frandesque  dolique,  mit  Anspielung 
Mf  VaiTo,  Menipp.  495  Bueeli.;  in  quarum  leeom  labienmi  inqoüinae  impietas  peifidia 

impadicitia. 

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116 


F.  Marx:  Virgils  nerte  Ekloge. 


(Y.  32.  33).  Darum  ist  der  Vers  28  molli  paulatim  flavescet  campus  arista 
wenig  am  Platz  und  kann  nicht  viel  mehr  wie  den  Sommer  bozeiolineii:  der- 
selbe palst  st'hlcfht  7Ai  dfiTi  folcf<'nden  Vers,  in  dem  geschildert  wird,  wie  ohne 
Pflege  des  Winzers  am  Dornengebüsch  die  Weintraube  sich  rötet.  Zu  V.  30 
et  dnrae  qnercus  sudabunt  roscida  melia  verweist  Heyne  auf  Hesiod,  erg^ 
232  Ö.,  wü  das  Leben  der  Gerechtem  geschildert  wird: 

TOttfi  tptQti  fihv  yulu  zol'bv  ßCoVy  ovQfOi  Öl  ögvg 
&x(fri  ftev  te  tpagei  ßaXävovg,  p^itcri  d\  fukioau^^ 

J)k'ne  Verse  hat  Aiat  «.  a.  O.  110  ff.  (Maass,  Aratea  p.  276)  auf  das  goldene 
Zeitalter  fibertragen,  das  er  achilclert  wie  ein  jedem  Bdu&Terkdir  fiundaelig 
gegenübentebender  Agrarier: 

ItO  avtas  ^  i^caov  i^(ih:xi]      ccTcttuiro  &dXa<tatCy 
xal  ßt'ov  of'?rc3  vfjeg  äx6:TQo&fv  iiyivtOHOV^ 
iiklu  ßöfg  xal  (iQOXQa  xal  uin^^  xötvia  Xa&v, 
(iVQta  :idvru  7taQal%t  jd£xr}j  deäreiQu  ötxcUav. 
t6q>Q  ^v^  8tpQ  irt  yata  yivog  %qv6ii,ov  iq>igßiv. 

Virgil  hat  dieses  Bild  durch  die  Zufügung  märchenhafter  Züge  des  goldenen 
Zeitalten  naeh  Heeiod,  erga  109  fL,  Teraerrt.  Hehr  noch  etSren  die  Sduld^rong 
Virgils  die  sehr  interessanten  Yeree  34 — 36: 

alter  erit  tum  Tiphys,  et  altera  quae  Tehat  Argo 

delectoB  heroae;  enmt  etiam  altwa  beU% 

atqne  itemm  ad  Troiam  magnus  mittetur  AehiUee. 

Also  ikr  Wimsch  der  Amme  im  Prolog  toa  Ettripides'  Hedea  geht  «oek  im 
neuen  saeeolnm  nicht  in  Erfüllung,  die  Greuel  der  Meden  und  die  Greuel  vor 
Troia  sollen  wiederkehren.  Die  ausgezeichneten  alten  Erklarer  haben  uns  auch 

diese  Stelle  verständlich  f^macht:  videtiir  tamen  locus  hic  dictus  per  apoca- 
tastasin  (Scrv.  ad  34).  Die  stoische  Philosophie  war  es,  die  den  Dichter  iu 
der  Konzoption  diesef»  Teiles  wesentlich  beeintlui'^^t  hat,  und  wir  glauben  iioeli 
den  Wortlaut  seines  philosophischen  Gewährsmanns  in  dem  Vers:  alter  erit  tum 
Tiphjs,  et  «Mera  quae  vehat  Argo  heranssnli&en,  wenn  w  den  Boidit  des 
Nemeeitts  xtql  ^ijtfsas  dvd^i&rov  ci^  38  (Oercke,  Chrjsippoa  p.  708,  15)  var- 
Riehen:  ol  d^  IknauU  tpvatv  d9rai$ai9»dv«|i/i«v£  toö^  «ilifvqvflV  e^  x6  «edrö 
crjfiHov , , ,  iv  ^i^i$ttls  XQ6vmf  sttffMotg  itat^a^iv  luA  <p9x>(fäp  tAv  ihnmp 
iaU(fyii^to^ui y  xal  xnhv  II  vxaQx%g  tU  to  ctdvö  xov  x6ayMv  obcoxttl^ittta99'aty 
xal  xStv  äöxtgav  6(ioi'(og  Jtdkiv  (piQo^tvwv  exaörov  iv  agoxig^  xsQt69^ 
yevöfiFvov  ä:raQ((lkc<xrci3g  äxoTsleiö&at.  iöeff&at  yrtQ  xdXtv  ^axQarijv 
xal  IlXuxavK^  nai  IxuaTov  tCov  (\v^f>(O7t03v  Ovv  roi't;  uifxolg  xal  fpiXoig 
xal  noXixui,^  xul  r«  avzü  niiOiG^at  xui  rol^  taVoii,-  övvxtv^tGd^ai  xttl  rä 
ttvxu  fitxaieiQulö^tti^  xal  «aöav  xöXiv  xal  xu/it^v  xal  dy(f6p  intoCtos 


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F.  Hwrx:  Vu^gil*  viert«  Ekloge. 


117 


^M6Mu9i9tu09ai.  Weon  dcEnraaeli  das  neue  Zeitalter  daa  dar  Heroen  ia^ 
dann  erstellt  neu  Jaaim  mit  aeiner  Ai^  und  Beinen  AigonanteSf  Tnüa  die 

Stadt  und  der  TTcld  Achilleus  und  snine  Ruhmosthaien:  zu  der  voraufgehenden 
Schilderung  paTst  diese  Darstellung  freilich  wenig,  aber  Namen  der  Qlflckscligen 
dea  goldenen  Zeitalters  könnt  die  Sage  nicht,  und  m  niu^f»^^  die  Namen  der 
Heroen  gewählt  werden,  zu  deren  Zeit  ja  gleichfalls  d^vt^Tbiv  r^r}(>jr£  xai  ^eätv 
iraiQH'ri  (Hahr.  prol.  KVi,  wie  die  Gresehiehte  von  Anchises  und  Apkiudite  er- 
weisen kauu.  Dalk  Virgil  nicht  den  Jason  uenui  souderu  den  Tiphys,  ist  aul- 
Ubnd  und  beruht  auf  den  Venen  dea  ApoUcML  Argon,  t  105  IL: 

iXbg  eÖQBiiig,  itfO'l^f  d*  dy/fUMO  9vdl!lMS 

ccdrij  {iiv  Tifitmvis  &Qt6Tijcov  ig  oiiiXov 
110  SiQOn<  *A^veei'r},  ufrä  ä'  ijXvd'tv  ikdouivoiOiv. 

cnm)  yuQ  xal  vfiU  ^oi^v  xäftty  6in>  <^f'  o{  "Agfog 

xfvtfv  \4xf6ron{dr^q  xtivr^g  VTrod-iiiiofSvi^riOti'. 

tu  xui  zaödiüf  :i^otpfQt0t«xrj  inkexo  vtjöiVf 

8<r««»  ^  €life<s£fi0iP  £r<Hpiftf«yfO  9«üid€9f^ 
Si  sdiwebi  aber  Her  dem  Diebter  niebi  daa  griedUnclie  Original,  sMdnn  die 
damah  bochberObmte  nnd  yidgdeeene  Überaefanmg  dea  P,  Termtina  Vanro 
Ataeinna  tot,  in  der  demnach  i^eieh&Ua  die  Argo  mit  Tiphya  an  einer  Stella 
zusammen  genannt  war:  wenn  Virgil  mit  dem  ileUdos  \enas  woS  den  berühmten 
P!n>leg  Ton  Ennius'  Medea  anzuspielen  scheint  (0  Ribbeck,  Verg.  BncoL  et 
Georg.  [Lips.  p.  241 1,  so  darf  es  noch  wahrscheinlicher  erscheinen,  dafs 

bereits  bei  Varro  sich  eine  derartige  Anspielung  fand,  da  derselbe  nach  Serv. 
Aen.  X  300  einen  ganzen  Vers  des  Ennius  wortlich  in  seine  Argonautica  über- 
nommen hat.  Am  meisten  mifslungen  sind  iii  diesem  Teile  V.  28 — 30  in  ihrer 
gezwungenen  Schilderung  des  glückseligm  Zeitalters,  die  nicht  hierher  pafst 

Hit  V.  37  beginnt  in  16  Venen  der  widitigafce  Teil,  die  Beadumbnng  dea 
HamieBalten  dea  Kubat,  und  wir  erwarten  nach  der  Vorschrift  dea  Henander 
(oben  S.  108)  eine  Propbeaeinng  aeiner  tmxrfis'vyiuta  und  atq^ug.  Dieaer  Teü 
zerfallt  in  zwei  Teile,  deren  erster  sich  mit  der  Schilderung  des  goldenen  Zeit- 
alters beschafögt  (V.  37 — 47)  und  die  Einleitong  bildet  zu  den  beiden  folgen- 
den Teilen: 

Hinc  ubi  iam  firmata  virum  te  fecerit  aetas, 

oedet  et  ipae  man  feefew,  nee  nantiea  pinoa 

mntaUt  mereea:  omnia  feret  omnia  tdlna. 
40  non  raatroa  patietnr  hnmna,  non  ivam  ftloem, 

robnatoa  qnoqna  iam  tanris  inga  sollet  arator, 

nec  irarios  discet  mentiri  lana  colores, 

ipae  sed  in  pratis  aries  iam  ?uaTC  rubenti 

murice,  iam  croceo  mutabit  vellera  luto: 
46  sponte  sua  sandjz  j^tacentes  vestiet  agnos. 


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118  F.  Marx:  Virgils  vierte  Ekloge. 

Wenn  V.  40  berichtet  wird,  dafs  jetzt  erst  der  Weinstock  ohne  Pflege  (incultus) 
Früchte  tragen  wird,  so  ist  diese  Darstellung  im  Vergleich  zu  V.  29  incultisque 
rubens  pendebit  sentibus  uva  keine  Steigerung,  sondern  eine  wenig  geschickt 
erscheinende  Variation:  der  ganze  Abschnitt  giebt  für  das  Verständnis  des 
ganzen  Gedichtes  am  wenigsten  aus.  Beschrieben  wird  das  goldene  Zeitalter 
nach  Hesiod  (erga  109  ff.):  aus  den  Versen  erga  225  ff.  ist  der  V.  234  iIqo- 
:t6xot  d'  ötfg  {iccXlots  xttraßeßgi&aöt  zu  vier  Versen  unter  Anbringung  märchen- 
hafter Züge  erweitert.  ^)  Einen  Abschlufs  dieses  Teiles  bildet  das  Distichon  46. 47 : 

'Talia  saecla'  suis  dixerunt  'currite'  fusis 

concordes  stabili  fatorum  numine  Parcae, 
in  dem  die  Nachahmung  des  Catull  (64,  327)  wie  in  den  kurz  vorhergehenden 
Versen  40.  41  (Catull.  64,  39,  Ribbeck  a.  a.  0.  p.  241)  kkr  erkenntlich  ist: 
der  Pluralis  saecla  ist  dem  Singularis  (V.  52)  gleichwertig. 

Es  folgt  der  zweite  Teil  (48 — 59),  der  in  zwei  Abschnitte  zerfällt.  In  dem 
letzteren  spricht  der  Dichter  von  sich  selbst,  dem  ersteren  gab  er  die  Form 
der  Anrede  an  den  bereits  zum  Mann  herangereiften  Knaben.  Wir  erwarten 
nach  der  Vorschrift  des  Rhetors 

VI.  eine  Besprechung  der  ixixrfiev^axa  des  Gefeierten  (vgl.  oben  S.  108): 

Adgredere  o  magnos  (aderit  iam  tempus)  hon&res, 

cara  deum  suboles,  magniun  Jovis  incrementum! 
50  aspice  convexo  nutantem  pondere  mundum 

terrasque  tractusque  maris  caelumque  profundum, 

aspice  venturo  laetentur  ut  omnia  saeclo! 
Der  Dichter  versetzt  sich  an  den  Anfang  des  goldenen  Zeitalters,  das  mit  dem 
Mannesalter  des  erwarteten  Knaben  sich  deckt:  selbstverständlich  beginnt  mit 
dem  Beginn  des  saeculum  auch  der  Beruf  des  Gefeierten.  'Echt  römisch  wird 
dieser  Beruf,  die  ^nix'rjdevfiaTa,  allgemein  mit  magnos  honores  bezeichnet,  der 
Dichter  begnügt  sich  damit,  vorher  V.  17  über  diesen  künftigen  Beruf  mit  den 
Worten  pacatumque  reget  patriis  virtutibus  orbem  des  genaueren  berichtet  zu 
haben:  im  Zeitalter  der  Gerechten  herrscht  nach  Hesiod,  erga  228:  (Igijvrf  xcera 
yr^v  xovQOXQÖtpo^^  ov8i  tiox'  avxolq  ägyakiov  xöXffiov  xexfictiQtxui  ivqvoxu 
Zevg.  Der  Dichter  hält  es  in  der  Voraussetzung  der  Erinnerung  an  Vers  17 
selbst  für  überflüssig,  auszuführen,  dafs  die  in  den  vorhergehenden  Versen  er- 
wähnten Feldzüge,  Kämpfe  und  Schlachten  jetzt  verstummt  sind,  eine  Aus- 
führung, die  man  doch  erwarten  sollte,  die  aber  zu  Unzuträglichkeiten  führen 
mufste,  da  doch  dem  Erdkreis  erst  irgendwie  der  Friede  gegeben  wurde,  bevor 
ihn  der  kommende  Held  regieren  konnte.  Statt  dessen  folgt  eine  Aufforderung 
an  den  Helden:  er  soll  zusehen,  wie  das  kreisende  Weltall  sich  freut  über  das 
kommende  Zeitalter,  das  sofort  mit  seinem  Eintritt  ins  Mannesalter  beginnt. 
Crusius  a.  a.  0.  p.  557  bringt  Parallelen  aus  einem  aegyptischen  Zauberbuch 
bei:  am  nächstliegenden  wird  es  sein,  hier  Nachklänge  berühmter  Verse  des 


'>  Vgl.  oben  8.  114  den  V  942  in  de»  Dionysius  Schilderung.  Die  Schafe  Virgils  ge- 
hören in  das  Land,  ubi  porci  cocti  ambulant. 


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F.  liarx:  Virgils  vierte  Eklogo. 


119 


Empäm  ni  Tennatfln,  die  in  nuymigfiMsher  ümgeBlRltiiiig  und  Yarwendnng 
aidi  in  der  römischen  Litteratur  toti  Goschleeht  »i  Geschlecht  fortgepfluzt 
babeo.  Kurz  vor  Virgil  Lncretiiui  V  91  £: 

Qiiod  superesf,  ne  te  in  promissis  plura  moremur, 
pnncipio  maria  iic  terras  caelumque  taere 
quoruin  naturani  tripUcem  .  .  . 
una  dies  dabit  exitiu 
und  V.  318: 

Deniqne  iam  toere  hoe  dicom  snpraque  quod  omnem 

continefc  ampl«zn  temm  e.  q.  8^ 
Paennna  (Trag.  Rom.  Fr.  edii  1891  p.  99): 

Hoc  yidßf  eircom  rapnquo  quod  eomplexa  oonÜnei 

iemun, 
Eniiiiu  (». «.  0.  p.  66): 

Aspice  hoc  sublime  candcns,  quem  invocant  omncj^  Jovcm, 
wom  die  berühmten  Verse  des  Euripides  (Trag.  Graec.  Fr.*  941  j  Kur  Ver- 
gleicliung  herangezogen  worden  sind. 

Der  interessanteste  Vers  in  diesem  Teil  ist  jedoch  V.  4Ö,  in  dem  der 
Dichter  den  Knaben  mit  den  Worten  amredet:  cam  denm  enbolee,  magnmn 
Jofis  inerementnm.  Wegjnterpretieren  darf  man  dae  Wunder  hier  anf  kein«i 
ftS]f  dem  Vera  auch  nicht  allgemem  fimen,  eo  wie  Dionys  der  Perieget  77  eegt: 
*ItaX&v  vli^is  Iii  i}xe/|poio  v^utvtem  bt  ^tfoiv^c^,  äel  fJya  «otfcr- 
vimniS'^)  Nach  den  Worten  des  Virgil  ist  der  Sohn  des  Polio  von  Göttern 
entstammt  und  Sohn  des  Juppiier.  Wohl  mSglich,  daTs  im  Atrium  des  A  sin  ins 
ein  Stammbaum  angemalt  war,  ahnliob  jenem  im  Han«ie  des  Kaisers  Galba, 
der  nach  Sueton,  Galb.  2  imperator  .  .  .  stomnia  in  utrio  j)rnpo8uerit,  quo 
patemaui  orifrinem  ad  Joveni,  niaternam  ad  Pasipbaam  Minois  uxorem  referret: 
tles  Polio  Gemahlin  Quinctia  (Appiau  b.  c.  IV  12.  27)  konnte  gewifs  ohne  viele  Ge- 
«iHfliiBBkmpel  ibien  Stammbaum  auf  den  von  den  Griechen  zum  Gott  erklärten 
Titoe  sarflekf&hroi  (Plnt  Titna  cap.  16).  Ane  den  Biographien  des  Flutareh 
und  Sneton  (anf  Odaviana  göttlichen  Ursprung,  Ton  dem  Sueton  Aug.  94  be- 
riditet^  weiet  Cartanlt  a.  a.  0.  p.  S24  bin),  aus  den  erhaltenen  FamiUemntlnxen 
und  Ineehriffcen  (Ditienberger  Sylloge  269)  jener  Zeit  liefse  sich  vielerlei  Der- 
artiges rasammenbringen.  Ich  wurde  diese  Erklfirang  schon  um  dieser  That- 
sachen  willen  ftlr  die  einzig  riclitigo  lialtcn^  ^ibc  nicht  die  Lehre  der  Hhetnrik 
derselben  eine  nicht  zu  versehmähende  Stiltzf.  Der  Vers  hehandclt  olFenliar 
das  ytvog  des  Knaben.  Dai's  über  dasselbe  nieht  vii  l  IlühmeuHweitcs  zu  berichten 
war,  ist  oben  p.  109  bereits  erörtert.  Der  öfters  zitierte  Khetor  p.  97  Burs. 
(Rhet  Gr.  IX  p.  217  W.  III  p.  370  Sp.)  giebt  bei  der  Behandlnng  der  Lob- 
rede auf  einen  K6nig  besfi|^eh  des  yivos  folgende  Vorsehriften:  4^§m(f1^6Hs  di 
ndhv  M&ttffov  #pdo|ov  «ed«o0  f  6  yh^f  ^  o0 . . .  /dv  9%  iSdo$of  j  ^  t^iUg^ 
fudclff.  md  Tod«o  dar'  ccdvod       ßagMag  so»ij«g  (eine  Vorschrül^ 


*)  TgL  di«  Ven«  im  Ibmagoiaa  oben  8.  119. 


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120 


F.  Marx:  Virgils  vierte  Ekloge. 


die  Virgil  zu  Anfang  der  Ekloge  befolgt  hat)  .  .  .  ^  otürog*  sroXkol  tä  jilv 
doxtlv  ii  av%QG}7tmv  döC^  tq  d'  aAijO-ft«  arap«  tov  9tov  xi{ixovzai  xuC  daiv 
axÖQQOiu  5vtag  xov  XQtixxovog'  xal  yäg  'Hgaxk^g  ivofii'^txo  {ilv  '^ftgjtrpreoi'oj, 
TQ  d'  dXrj&£ccf  f(V  Jiog'  ovxfo  xal  ßaöikivg  6  r,fiixfQos  rfi  filv  Öö^rj  tg  uv- 
^QOJcav^  TQ  ö'  akti^Ha  ri]v  xaxaßoXiiv  ovgavö&ev  Bxti  .  .  .  äöxsQ  i:tl  roi) 
yivovg  dQrjxu^iev^  oxi  iäv  jit^  v:täQxV  i^oOro  ivÖo^ov,  igstg  ix  •frföv  avxbv 
yevta&ai.  Dafs  diese  Regel  auch  für  die  Behandlung  des  yivi&Xtaxbg  Xöyog 
gilt,  erscheint  selbstverständlich:  zu  vergleichen  ist  Claudius  Mamertinus, 
genethliacus  Maximiani  cap.  2  und  Himcrius  VIII.  Rede  Cap.  3.  Die  nahe 
Verwandtschaft  aber  dieser  köyoi  yivi&haxoi^  ixi^aktinioi ^  :tKvr}yr>Qixo£^  stqo- 
xe(ixxixoL  mit  den  dichterischen  Erzeugnissen  gleichen  Inhalts  erweist  schon  die 
Anwendung  der  gleichen  Benennungen  in  der  Rhetorik  wie  in  der  Poetik: 
besonders  zu  beachten  sind  die  allgemeinen  Ausdrücke  stiboles  und  incrementum, 
die  nicht  mit  dem  Ausdruck  filius  gleichbedeutend  erscheinen  dürfen. 

VH.  Den  letzten  Teil,  der  die  :tQäJ^£ig,  lateinisch  facta  nach  der  Dis- 
position des  Rhetors  (vgl.  oben  S.  108)  behandelte,  werden  wir  leicht  in 
V.  53 — 59  wiedererkennen.  Der  Dichter,  der  zur  Zeit  des  Mannesalters  des 
Gefeierten  die  siebenzig  überschritten  haben  wird,  hat  es  geschickt  vermieden, 
dessen  Thaten  näher  zu  beschreiben: 

0  mihi  tum  longae  maneat  pars  ultima  vitac, 

Spiritus  et  quuntum  sat  erit  tua  dicere  facta: 
55  non  me  carminibus  vincat  nec  Thracius  Orpheus 

nec  Linus,  huic  mater  quam  vis  atque  huic  pater  adsit, 

Orphei  Caliopea,  Lino  formonsus  Apollo. 

Pan  etiam  Arcadia  mecum  si  iudice  certet, 

Pan  etiam  Arcadia  dicat  se  iudice  victum. 
Die  Disposition  der  Ekloge  hat  sich  in  der  Reilienfolge  der  einzelnen 
Teile  ohne  Schwierigkeit  mit  der  Vorschrift  des  Rhetors  über  den  yive^i-iaxog 
Xöyog  vereinigen  lassen. 

Bevor  wir  zu  der  Besprechung  des  Schlusses  der  Ekloge  übergehen, 
müssen  wir  uns  die  Frage  aufwerfen,  ob  die  bisher  nachgewiesenen  Quellen, 
die  Stellen  der  Philosophen  und  Rhetoren,  der  griechischen  wie  der  römischen 
Dichter  genügen,  die  merkwürdige  Idee,  welche  diesem  Gedichte  ohnegleichen 
zu  Grunde  liegt,  genügend  zu  erklären,  die  Idee,  dafs  die  Geburt  eines  Knaben 
bevorsteht,  der  dem  Erdkreis  den  Frieden  bringen  und  in  einem  Zeitalter  voll- 
kommener Glückseligkeit  jeglicher  Kreatur  über  die  ganze  Welt  das  Szepter 
führen  wird.  Wenn  sich  auch  einzelne  Züge,  gleichsam  Bruchteile  dieser  An- 
schauung, vorwiegend  bei  Hesiod  nachweisen  lassen,  diese  Anschauung  selbst 
erscheint  in  ihrer  Gesamtheit  so  eigentümlich  und  eigenartig,  so  klar  aua- 
geprägt, ganz  und  selbständig,  dafs  es  nicht  wahrscheinlich  erscheint,  sie  wäre 
etwa  durch  eine  Vereinigung  jener  vielen  Lehren,  die  oben  S.  109  aufgezählt 
sind,  erst  im  Kopfe  des  Dichters  erstanden.  Der  Dichter  hatte  einen  yeve^ki(txbg 
Xöyog  zu  schreiben  und  entwarf  die  Disposition  genau  nach  Vorschrift  der 
Rhetorik:  aber  den  eben  geborenen  Knaben  zu  identifizieren  mit  einem  zukünf- 


F.  II«»:  Virgils  vierte  SUoge. 


tigen  Herrn  des  Erdkreiaes,  unter  dem  die  goldene  Zeit  des  Friedens  und  der 
CKIkSoNl^^Beit  iviederkelirty  dran  konnte  er  weder  in  den  Veraen  des  Heeiod 
nodi  in  der  Lekre  der  Btoieeken  FhiloBopkie  die  Anregang  finden,  denn  Ton 
iidiidien  KSnigen,  die  diese  neue  Welt  bekerrsdien,  wmr  in  diesen  Autoren 

nirgends  eine  Spur  zu  finden.  Selbst  was  uns  in  der  vit«  de»  Augustus  94 
Soeloii  bericktet  über  ^nen  Anssprudi  des  Ni^ndius  bezüglich  der  Geburt  de» 
Octavi«n.  affirmasse  dominum  terrarum  orbi  natura,  was  der  Mathematicu« 
Srriboiuus  dem  Tiberius  prophezeit  (oben  S.  121),  regnahimm  quandoque,  kann, 
vuu  der  Unznverlässiirkeit  dieser  Beriilitf  abcrpsphen,  zur  Erklärung  der 
Virgilscben  Eklugt»  nicht  genügen:  dalti  die  Schilderung  des  goldenen  Zeitalters 
n  loleliMi  FropbesEeinngen  TOn  Vii^  Melbet&ndig  kinzugefügt  »ei,  ist  mm 
bOdut  onwakTsekeinlicbe  und  unbefriedigende  Annakme.  Kkur  ist  nur,  dob 
Virgil  reckt  mfikselig  und  gewalteun  diese  Sekildening  des  goUmeii  Zeitslters 
in  die  dnrck  die  Bkettnrik  gebotene  Disposition  hineingearbeitet  hat.  Eine  dem 
UsMiBcken  Altertum  unbekannfe,  dem  Dichter  damals  auf  einem  uns  un- 
bekannten WejT  vermittelte  Lehre  von  der  Wiederkehr  einer  goldenen  Zeit 
ToUer  Glnckst'ligkfit.  die  mit  der  Geburt  rinos  Fflrsten  anbricht,  der  bestimmt 
ist,  den  pinzcii  Erdkrtis  zu  regieren,  muk  es  «rewesen  sein,  die  Virgil  in  dem 
genetkiiacou  auf  den  Sohn  des  Asinius  Poho  in  der  oben  erörterten  Weise  zur 
Verwendimg  brachte. 

Luebmtius,  divin.  instit.  VII  24, 11  kat  die  Ekloge  zueilt,  wie  es  sdMiiity 
in  Zusammenhang  gebraekt  mit  den  messianiseken  Weissagungen  der  jfldisdien 
Sibylle,  in  der  Zeit  ConstantinB  wird  diese  Ldire,  die  die  keidniseken  Serviua- 
scholien  völlig  ignorieren,  weiter  auagebildet  (Virgiliua  ed.  Wagner  [Lips.  1830}  I 
p.  2öO),  und  die  Spuren  dieser  im  einzelnen  in  die  Irre  gebenden  Erklürung 
finden  wir  flbcrall  in  den  Börner  Scholien:  Dante  schildert  uns  Purgat.  XXII 
To  ff.  mit  bew«'i«;li(li('n  Wort*-!!,  wie  der  Dichter  Statius  durch  die?c  Prophe- 
zeiung Virgils  bewogen  wurde,  sich  heimlich  zum  Christentum  zu  bekennen. 
Wir  sind  nicht  gewohnt,  die  uns  von  Jugend  auf  geläufigen  jüdisch  -  christ- 
lidien  Y<nrstellungen  nml  Lebren  bei  einem  beidniscben  Schriftsteller  wieder^ 
tuflnden,  und  dedudb  kat  die  Annakme,  ein  Tirgil  sei  durck  die  meestaniscken 
Wctflsagnngsn  d«r  Juden  beeinfinfst,  illr  den  erstmi  Augenblidc  etwas  IVemd- 
arliges  und  ftst  Abenteuerliekes.  Aber  bei  genauerer  PHifbng  erweist  sidi 
diese  Anschauung  als  weit  weniger  abenteuerlidi,  als  es  den  meisten  Erklarem 
bis  jetzt  erschienen  ist. 

Im  Herne -Wagnerschen  Virgil  I*  p  1?4  lesen  wir  in  der  Einleitung  zu  der 
Ekloge:  'Enimvero  qnicnnume  .«tensuni  Konmnoiiun  et  ingeniimi  vel  e  longiuquo 
inspexit,  facile  tenebit  uuuquum  Judaeorum  tantani  auctoritatem  ac  tidem  aut 
fiüsse  aut  esse  potuisse  apud  Romanos,  longe  aUis  sensibus,  religionibus,  iudi- 
dtt  imbutos,  ut  istorum  opiniones  publice  admittsrent  et  oarminibus  eeiebra- 
reni  Heminit  snpsvstitioiiis  Jndaicae  Horatius:  verum  ut  eam  risu  exploderet 
Atkunen  vel  de  Tulpta  esse  potnit  &ma  inde  ab  Oriente  prcqpagata  de  rege 
▼enturo  ...  de  novi  saeeoli,  noTi  rerum  ordinis  imminente  fiitali  exordio.  Ham 
liniili  modo  alias  quoque  supwstitiones,  maadme  vaticiniorum,  perragatas  esse 


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122 


F.  Man:  Yügt]«  viMto  BUog«; 


plura  loca  nfrarimus:  Romain  ftutem  a  conflnenfce  andiqne  mnltitadine  eas  nur 
turioB  debiaa  ease  quid  nuremnr?'  Dula  m  fDr  die  Übmnitteliiiig  der  Idee 
von  Judaea  nach  Rom  eine  beaeere  Erklärung  giebt  als  den  Hinweia  auf  den 
conflnzna  gentiiiin  m  Rom,  soll  wuter  unten  daxgelegt  werden.  Wenn  wir 

aber  die  jüdische  Lelir*'  v(»ii  dem  kommenden  Messias  bei  Virgil  anzuerkennen 
hätten,  wäre  dies  wirklich  desLaib  eine  so  auffallende  und  befremdende  That- 
sncho,  weil  uns  die  Vorstellung  htnitzutage  so  bekannt  und  so  geläufig  erscheint, 
während  wir  nur  unter  Aufbiitiuig  grolser  Gelehrsamkeit  im  stände  eind,  die 
triceöima  sabbtifa  bei  Horatius  zu  verstehen  (Sat.  I  9,  69;  Dombart,  Archiv  f. 
lat.  Lexicogr.  VI  1*72),  und  die  Herodis  dies  bei  Persius  V  180  noch  einer  be- 
friedigenden Erklärung  bedOrftig  sind?  Es  iat  deshalb  nicht  notwendig,  an- 
zunehmen, dafii  etwa  durch  Chaldaei,  magi,  mathemalici  und  geneÜiliaei  die  Lehre 
Tom  Meaaiaa  naeh  Rom  gelangte,  od«:  dab  wir  dieae  Lehre  in  Virgile  Ekloge 
etwa  nur  in  deraelben  Wetae  wiedenmerkennen  hatten,  wie  auf  dem  bckamiteii 
pompeianischon  Bild  das  Urteil  Salomoa,  oder  wie  der  Stern  der  drei  Magier 
boieits  einen  Wiederschein  in  Varros  Schriften  geworfen  hat  (Serv.  zur  Aen, 
II  SCI:  Usoner,  Religionsgeschtchtl.  Untt-rs.  I  p.  77\  Es  kommt  nur  darauf 
an,  «!:tl"-  der  Vergleich  des  helleuistiscb  iüdi--'hf'Ti  >!essias  mit  dem  erwartet^^u 
Hilden  m  Virgils  Ekloge  wirklich  eine  VerwandUckaft  beider  Crestalten  wahr- 
scheinlich zu  machen  im  stände  ist. 

Josephus,  bell.  lud.  VI  312  (5,4)  berichtet  bei  Gelegenheit  der  Darstellung 
der  Belagerung  Jerusalems  durch  Titua,  dala  ro  «tdwifs  fuUctfT«  ^l?os 

ri^v  xQt'atv.  tö}/.ov  SiQtt  xeQi  rrjv  Oietnactai'ov  t6  I6yu)p  ^yipmnkpy 
(i:fod{ti9i'vTog  fjcl  'Jovduucs  avToxgaroQOQ  Auch  die  Romer  nehmen  von 
die*5or  Prophezeiung  der  heiligen  Schriften  Kenntni«!.  sie  deuten  dieselbe  auf 
Vespasian,  wit*  auch  Sueton  \'espas.  4  berichtet:  Percrebuerat  Orient«  toto 
vetus  et  constans  opiuio,  esiv  in  fatis,  ut  eo  tempore  ludaea  profecti  rerum 
potirentur.  Id  de  imperatore  Romano  quantum  postea  eventn  paruit  prae- 
dictom  Indaei  ad  ae  trahentea  rebellarunt  e.  q.  sl  Sowohl  die  Eennlaia  wie 
eine  ahnliche  Umdeutong  dkeer  uralten  Fh»|ihetie  wird  man  gewila  auch  einem 
RSmer,  der  ein  Jahriiundert  vor  Yeepaaian  lebte,  mtnuen  kSnnen»  und  dala 
die  abergttttbiachen  Herren  der  Welt  dieaee  Orakel  des  Oriente  über  deren  zu- 
künftigen Herrn  interessieren  mulste,  muCs  ohne  weiteres  einleuchtend  er- 
scheinen. Etwa  hundert  Jahre  vor  Polios  Konsulat  ist  das  III.  Buch  der 
SibvUinon  III  97 — '^l'^  Kza  li'  entstanden,  das  Lactantiits  a  a  0  zum  Vergleich 
heningezogen  hat:  hier  wird  verkür.'Kt.  «iafs  Gott  einen  König  standen  wird 
V.  052:  xrd  tot'  icy^  f]c/,ioio  t^föc  arfucv/  ßamlrn,  oc  :rp.em'  ytdfcv  xccvüfi  .to- 
ktuoio  xtütoio  \lMciAin.  a.  a.  O.  ^  11  l«"*,  *     auf  Uruen  wmi  Lbvrtiufs  sein  an 


allen  Gtttent  nnd  Gaben  (744  ff.),  kein  Krieg,  iJULit  fßkw  dgi^fr,  ßf/dkr^  *atä 
ytsUtv  tartM«(¥  \^7b6\  adüielelich  beachreiben  die  Terae  7^8  ff,  die  adion 
Lactantiua  a.  a.  O.  MI  2^  12  mit  Thrgils  EUcge  vergleicht,  daa  goideiie  Zeitalter: 


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F.  Man:  VirgÜB  vieite  Bldoga. 


12S 


4^  hhn  ti  nul  ü^ve£  iv  oUgtOtv  Sitfity  tdovuu  xö^iov,  xaQÖäXug  t  ^Qi<poig 
Sfut  ^«MftfoffM*  Sfftctm  6i>v  fiöoiots  pofiddte^  ttdhöfh^ovrtw  «fuQxoßÖQos  tc 
limr  i(x«i^v  ipdytriu       ^M^^vg,  <b$  /SoOsi  ^  xtitdts  fLdXtc  vi^uh  #y  ^ctfjfioftfur 

tt^ovtfii'  .  .  .  ,  tfvr  ßg^fpBöCv  tc  dpaxoiTf^  .  .  .  xm^i^iffotncu  xovx  ^dtxiftfovfcv, 
«ine  Stelle,  in  der  die  Wühintc  Prophetic  des  Jesuias  XI  6 — 8  in  Hexameter 
umpefctzt  erscheint.  Das  Wesontlitlu'  in  all  diesen  Prophezeiungen  ist  der 
Umstand,  dafs  der  erwartete  Held  durchaus  als  Mensch  ersf-hriTit  (K.  Marti, 
Geschichte  der  israelitischen  Religion  [Stral'sb.  1897]  p.  29?,.  2iH)  i,  (  lienso  wie 
der  von  Virgil  erwartete  Held  kein  Gott  ist,  sondern  nur  deum  v  itam  acci- 
piet  V.  15:  dals  die  Bezeichnung  magnum  Jovis  iucrementum  und  deum 
inboles  nur  Ar  ein  rhetoriechefl  Aecidens  zu  halten  ist^  wurde  oben  dargelegt. 
Eine  Sduldemng  eines  Zeitaltere  ▼cUkonunener  Glfiekieli^it,  das  unter  der 
Henradtaft  der  Tugend  und  Oeredriagkeit  an  erwarten  ist,  entwirft  auch  bald 
oach  Virgil  Philo  in  den  Schriften  df  jirutmiis  ot  poenis  §  15  ff  und  de 
exwcrationibus  §  8  ff:  Reichtum  und  Überflufs,  Sieg  und  Frieden  wird  auf 
Erden  herrschen  (d«f  praem.  §  20):  cbxvfioQOi;  i]  üTf?J]^  ovdelg  uv  yivono 
Töt»  xoOfiovfisvov  vöfiois^  ovd(  Ttvog  ijXixittg  äfioiQog.  cjv  d-fog  fvfiufv  <^v9q(Ö 
xav  yivti.  alX*  fx  ßQitpovg  fxuvihv  i%i]g  a6:rio  öl  uvaßftifuibi'^  tf- 
raynfvoig    XQÖvuv    xtQiödon^j    txdöT^s    iiltxiug    roitg  bgiö^tvtag 

liHlo¥  d*  ätitvticCtt  yei%viA9ttp  (a.  0.  §  18):  die  wilden  l^ere  werden 
ubniy  das  schidliche  Oewflm  wird  Stachel  und  Gift  verliere  (a.  s.  0.  §  15): 
r4kc  fMw  S€%oß6ip  äffKtoi  xa2  UovtBg  xtd  Mtffddiiits  mid  . .  .  iU^putwss  ntet 
t£f^Hs  .  .  .  ^(itQodT^ißea^ca  .t(>6$  t^v  civd^genrov  <pavuaCmf .  .  .  töte  xal  axo^- 
xmv  yivi]  xtil  ^tpecav  xul  r&v  äkkav  tQXit&v  ü^gtcxrev  f^fi  tbv  l6tK  Die 
Fr<  »irul'^cbaft  der  armenta  mit  den  leones  (V.  22),  wofür  klassische  Autoren, 
der  Tierwelt  der  Heimat  ent^jirecbead,  lieber  die  Wolfe  und  Rehe  eintreten 
lassen  mochten  (Theokrit  XXIV  84.  85),  konnte  Virgil  weder  aus  Arat  noch  aus 
Hesiod  entnehmen,  auch  der  Hinweis  auf  die  Fabel  des  Babrius  102  (bei  Cru- 
nos  a.  a.  0.  p.  554,4),  in  der  eraihlt  wird,  dals  der  EOnig  LSwe  allen  Tiaren, 
die  ohne  Unterschied  einander  freundschaftlich  geeinnt  und  geseteliehend  sind, 
Recht  spricht,  ffihrt  m  keiner  passenden  Anak^e:  ebensowenig  ist  bis  jetst 
anderswo  als  in  diesen  orientalischen  Quellen  das  Vorbild  zu  dem  V.  24:  occi- 
dpt  et  serpens  et  faUax  herba  veneni  nachgewiesen,  ein  Zug  der  Darstellung^ 
der  bei  Hesiod  und  Arat  feldt,  den  selbst  Ovid  imetam.  I  89  ff.)  versohn'jilit 
hat  zu  benutzen,  der  aber  in  den  jihlisclien  Quellen  stehend  ist  in  der  Be 
«hreibnng  des  goldenen  Zeit«!ter8  seit  Jesnias  a  a  (>  :  xa)  Xt'ioi'  ij^;  ßovg  (payomai 
uiv^u^  x(d  :taxöiov  vi^xiov  ixl  T^uy/Mv  aoziiduii'  kul  £-Tt  xot'rijf  ixyöviov  äöxt- 
9»p  Hiv  iilQu  ixißcdiS»  Einen  Zufidl  allein  hier  walten  sn  lassen,  scheint 
mir  indessen  wmig  ratBsm,  so  lange  nicht  eine  sdhlagende  Parallele  aus  der 
klassischen  Litteratnr  naehgewiesm  werden  kann.  Femer  ist  doch  sehr  zu 
beachten,  dafs  Virgil  diese  Schilderung  von  dem  aahmen  Löwen  und  dem  Aus* 
sterben  der  Gillschlange  in  die  inüantia  des  zu  erwartenden  Helden  verlegt 
hat:  er  ha^  diese  Beschreibung  Tielleioht  passender  an  der  Stelle  sugef&gt^ 


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124 


F.  Marx:  Virgils  vierte  Ekloge. 


wo  von  dem  Manncsaltcr  des  Knaben  die  Rede  war,  V.  37  ff.,  in  dem  ja  keine 
vestigia  fraudis  mehr  übrig  sind  und  die  Glückseligkeit  vollkommen  erscheint. 
Man  erkennt  leicht  den  Grund,  warum  er  gerade  den  Säugling  in  diese  Um- 
gebung versetzt,  aus  seiner  hellenistisch -jüdischen  Vorlage,  die  wie  die  Verse 
der  Sibylle  eine  genaue  Paraphrase  der  Stelle  des  Jesaias  gegeben  hat:  e« 
werden  auch  in  der  jüdischen  Prophetie  die  arraenta  und  der  Löwe  mit  dem 
xtaSCov  iiixQ6t\  die  Giftschlangen  mit  dem  xaidCov  injniov  zusammengebracht: 
darum  verzichtete  der  Dichter  auf  die  heimatlichen  Wölfe  und  Schafe  und 
brachte  anders  wie  der  Verfasser  von  Theokrit  XXTV  84.  85  das  Bild  aus  dem 
Hirtenleben  des  Orientes  in  sein  Gedicht;  denn  es  heifst  bei  Jesaias  a.  a.  0.: 
xal  ^oaxugiov  xal  ruvQog  xal  kttov  ufia  ßooxi^öovrtti ,  xal  xaidiov  fiixgbv  a^ti 
ccvxovg  .  .  .  xal  JcaidCov  vij^tor  rgcoyläv  äoxidav  xal  (jd  xoiTtji'  ixydvtov 
aöxCdav  Tr^v  xtiQcc  ixißuktt.  Virgil  hat  zu  der  Giftschlange  das  Giftkraut 
noch  hinzugefügt,  was  jedoch  als  bedeutungslos  für  diese  Argumentation  er- 
scheinen mufs. 

Dais  die  Ekloge  kurz  nach  Abschlufs  des  durch  Polio  im  Namen  des  An- 
tonius vermittelten  Friedens  von  Brundisium  abgefafst  ist,  ist  eine  mit  Recht 
allgemein  gebilligte  Annahme:  dafs  Polio  und  die  Wöchnerin  zur  Zeit  sich  in 
Rom  befinden,  erscheint  gleichfalls  selbstverständlich:  me  Romae  tenuit  omnino 
Tulliae  meae  partus  schreibt  Cicero  ad  fam.  VI  18, 5.  Nach  dem  Friedensschlufs 
zogen  Octavian  als  Herr  des  Westens,  Antonius  als  Herr  des  Ostens  in  Rom 
ein,  unbekannt  ist  es,  in  welchem  Monat.*)  Polio,  der  Freund  und  Vertreter 
des  Antonius,  war  gewifs  in  ihrem  Gefolge  bei  dem  Einzug  (Appian,  b.  c.  V  64; 
Dio  XLVHI  30  flf.).  Bald  darauf  wird  der  Knabe  geboren  sein  und  Virgil 
sein  Lied  gedichtet  haben,  in  einer  Zeit,  wo  Hungersnot  und  Trübsal  in  der 
Stadt  herrschte  (Appian  a.  a.  0.  67,  Dio  a.  a.  0.  31)  und  die  Sehnsucht  besonders 
schmerzlich  empfunden  wurde  nach  dem  glückseligen  Zeitalter,  in  dem  die 
Schiffahrt  unnötig  sein  wird  und  überall  die  Erde  von  selbst  das  Brotkom 
erzeugt,  vor  allem  aber  der  Notschrei  nach  Friede  und  nach  dem  Ende  der 
Greuel  des  Bürgerkrieges  überall  sich  vernehmen  liefs:  die  Getreideschiffe 
konnten  infolge  des  Krieges  mit  Sextus  Pompeius  nicht  einlaufen.  Inmitten 
jener  Zeit  aber  und  um  die  Zeit,  als  Virgil  dies  Gedicht  verfafste,  wurde  dem 
römischen  Volk  ein  merkwürdiges  Schauspiel  geboten,  über  das  uns  der  ur- 
kundliche Bericht  eines  Augenzeugen  bei  Josephus  antiqu.  Jud.  XIV  388  (14,5) 
erhalten  ist.  Der  Judenkönig  Herodes  weilte  damals  mit  seinem  Gefolge  in 
Rom  (Frankel,  Athen.  Mittheil.  XXI  [1896]  p.  445  ff.).  Durch  des  Antonius 
Einflufs,  der  als  otpödga  iönovdaxias  xegl  rhv'Hgmdr^v  bezeichnet  wird  (a.a.O. 4), 
erhält  der  Judenkönig  vom  Senate  die  Königswürde  zuerkannt:  nach  Schlufs 
der  Sitzung  verlassen  Antonius  und  Octavian,  den  König  in  die  Mitte  nehmend, 
geleitet  von  den  Konsuln  und  den  übrigen  Magistraten,  das  Senatshaus  und 
gehen  auf  das  Kapitol,  um  dort  zu  opfern:  iöxiä  Öl  r-qv  jrgärrfV  rjfi^gav  zijs 
ßtt<Sikiia>;  '^vraviog.    Diese  zeitliche  Koincidenz  jüdischen  Einflusses  in  Rom 


F.  Ktn:  "VligUs  vierte  SUog«. 


md  \m  iiausü  des  Polio  mit  der  Ekloge  des  Virgil  erscheint  doch  gleichfalls 
sehr  bemerkeDBwert:  auf  die  durch  Josephus  antiqu.  Jud.  XV  343  (10, 1)  be- 
zeugte PreandscltKft  des  Polio  and  des  HaiueB  des  HarodM  isi  bereits  in  dem 
HeTse-Wagnersehen  Virgil  I  p.  124  bingewiesen.  Wenn  Jossas  a.  a.  O.  Aber 
die  Smehong  der  Sdhne  des  Herodes  in  Born  berichtet:  tw&totg  ^clOol^tf» 
Tutxayayil  ftlv  i^v  IJoXXiavog  olxog,  &vd(^  tAv  (idXiörcc  6xovdae«vT<ov  xegl 
nj»»  'Hgadov  ipikiuv^  so  dürfen  wir  hieraus  mit  Sicherheit  schliefsen,  dafa 
difse  Frpinif^'^c!ifift  und  Gn«tfrpundschaft  dainals  unU'r  Folios  Konsulat  in  Rom 
ihrtii  Alt  III  Iii  lim,  als  der  Konsul  bei  jenem  Verlauseu  des  Senatshauses  dem 
Judenkönig  (ins  Geleit  gab  und  gewifs  auch  an  dem  Festmahl,  das  dem  neuen 
König  Poüus  Freund  Antonius  veranstaltet  hat,  telLiiaiiui.  Der  Umstand,  dals 
des  BEerodes  SShne  qpater  in  Folios  Hanse  Wohnung  nehmen,  macht  es  mehr 
wie  wshrschw'nlich,  dafo  dort  im  Jahr  714/10  bereits  der  Vater  mit  Gefolge 
gewohnt  hat  nnd  vielleicht  mit  Virgil  nsammen  an  der  Wiege  des  Nea- 
gsborenen  seine  GlttckwQnsche  darbringen  konnte. 

Wenn  wir,  abgesehen  von  diesen  Beziehungen,  bei  Virgil  Einflüsse  jüdischer 
Kultur  vorfanden,  so  wäre  dies,  wie  oben  bemerkt,  an  und  für  sich  gewifa 
nicht  auffallender,  hI?  wenn  ein  anderer  Klient  des  Polionischen  Hauses,  Tima- 
genes,  sich  mit  jüdischer  Geschichte  befiiist  (Fragm.  Hist.  (iraec.  III  p.  322). 
Hierzu  kouinit  aber  noch  die  weitere  Erwägung,  dai's  gerade  iu  dem  Jahre,  in 
dem  Virgil  die  vierte  Ekloge  verfällst  und  in  dem  der  Judenkönig  mit 
seinem  Gefolgt  von  Litteraten  jeder  Art  im  Banse  des  Konsuls  Polio  veikehrt 
ha^  das  Werk  eines  Schriftstellers  erschienen  is^  dessen  Beiiehni^en  an  Virgil 
ans  andern  Anhaltsponkten  wahrscheinlich  gemacht  worden  sind,  das  Wok  des 
Polyhmtor  Alezander  über  die  Juden. 

Ein  Bruchstück  dieses  Werkes,  in  dem  ftliere  Werke  über  die  Juden,  wie 
das  Werk  des  Eupolemos,  benutzt  waren,  ift  uns  hei  Plemens  Alexandrirms 
ström.  I  21,141  p.  404  Pott,  erhalten  i  Freudenthal,  Heilenist.  Studien  [Bresl. 
1875]  p.  230.  vgl.  p.  214  und  p.  12);  dasselbe  lautet:  "En  «5f  xm  RvndXfuos 
hf  Tg  h^QKf  z^ay^aTiia  tä  xdvru  ixri  ^pr^öiv  üstö  'Aää^  aj^gi  tov  :ttjizvov 
irovg  JrjiirjrQÜiv  ßuOiXstus  .  .  .  awdyeö&cu  ix-q  i^Qli^^'  dg»'  61  ;i;pdvov 
ii^yccye  Maö^g  xoi>g  lov^oe^vg  ig  jily6xrüv  iitl  xijv  XQOHif  tjitdvriv  :tQo&e6(Uu» 

fdtaF  ip  *A6fig  iutdxw  Dkmw  ^oficv^v  (jSoftmwiwO  die  Überlieferung)  FeUw 

^AötvCov  (xtc0ic(vov  überliefert)  (Svvu^QoCSßirat  ixri  ixaxbv  stxooi.  An  der 
Eichtigkeit  der  Herstellung  der  Konsulnamen  wird  nach  Freuden thals  Aus- 
führungen niemand  zweifeln  wollen:  richtig  erscheint  femer,  dafs  das  Bruch- 
stück von  üuger,  Phüologus  I  p.  178  dem  Werk  des  Polyhistor  zu- 
gewiesen und  somit  dessen  IIiTausgabe  auf  714  40  festgesetzt  wird,  so  wie  man 
die  Veröffentlichung  von  Varros  Werk  de  geute  populi  iiomum  aui  (irund 
einer  »hnlichen  Angabe  mit  Recht  in  das  Jahr  111/42  verlegt  (Peter,  Hisi 
Rom.  Fr.  ed.  1888  p.  230, 7).  Die  Bendrangen  des  Aleiander  su  Virgils  Poesie 
sind  Afters  dargelegt  worden  (Snsemihl,  Gesch.  d  gr.  Liti  II  p.  359,53): 
Alexander  benntste  die  PrepheBeinng  sowohl  der  Sibylle  (Frendenihal  a.  a*  0. 


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126 


F.  Mhx:  VisgOs  vierte  EUoge. 


p.  2ö;  Rzach  zu  Orac.  >SibylL  III  97),  wie  die  Prophetien  des  alten  Testamenten 
(Frttudentihal  l  a.  0.  p.  229, 4):  der  Anniliine,  dafs  Virgil  in  dem  Tielgeschäftigen 
Streben  nach  G«lelinaiiikei<^  das  im»  in  den  Eklogen  kbr  erkenntiidi  iat^  eine 
Anregung  ans  diesem  Werke  geechdpft  liebe^  steiht  nichts  im  Wege.  IntereMierl 
sicli  doch  der  Dichter  noch  in  den  Georgica  für  die  Palmenwalder  Idamaees 
(ni  12)  und  für  die  Bogenschützen  Ituraeaa  (II 

In  Erwägung  der  bisher  besprochenen  Thatsachen  wird  jeder  Unbefangene 
zu  dem  Sehlufs  gelangen,  dafs  der  Hinweis  des  Lactantius  auf  orientalische, 
hellenistisch-judische  Quellen  und  Vorbilder  noch  bis  heute  ab  (Iiis  Hestf  er- 
scheinen miifs,  was  über  die  vierte  Ekioge  hinsichtlich  ihres  zuletzt  besprochenen 
Inhalts  beigebracht  worden  ist:  ob  wirklich  eine  Prophezeiung  der  Cumauischeu 
Sibylle  nach  Art  dar  oben  erSrfcetten  nnd  derart,  wie  der  Diehter  dieselbe  im 
Eingang  kennseidine^  damals  existierte,  oder  ob  Virgil  dieses  Orakel  selbst  nur 
ftr  seinen  Zfntk  erdichtet  hat,  tat  fdr  diese  Frage  wenig  TOn  Belang.  Wie 
GoeUie  Uber  seinen  B'aust,  so  bat  Virgil  dem  Gewährsmann  des  Asocmins 
Pedtanns  gegenüber  sich  gf'äufsert,  dafs  er  in  die  Eklogen  allerlei  'hinoin- 
gebeimnifst*  habe:  der  unbekfinnte  Gewährsmann  des  Asconius  hatte  nach  schol. 
Beni.  eclog.  III  liT^  >>*  richtet:  se  audisse  Verf/ilium  diceniem  in  hoc  loco  se  gram^ 
nuttieis  crucem  fi.nsst:  quaesituros  ma  si  quis  studiosius  ocmleretnr  (A.  Kiessling, 
Greifswalder  Index  achol,  Sommer  1883  p,  6).  'Die  Philologen  werden  daran 
SU  tiinn  finden',  sagte  sadi  Qoe&e  nadi  Eckermanns  Beriekt  fiber  seine  Helena, 
üm  so  dankbarer  mflssen  wir  Hbr  das  sein,  was  Asconins  Uber  die  vierte  Ekioge 
nns  noeh  an  Erklärung  bieten  konnte;  wenn  wir  fiber  Virgil  besser  unter- 
richtet sind,  wie  über  irgend  einen  Diditer  des  Altertums,  wenn  wir  selbst 
solche  Einzelheiten  erfahren,  wie  dafs  er  seine  Aeneis  erst  in  Prosa  gest  bl  ieben 
hat,  wie  Goethe  die  Iphigenie  und  den  Tasso,  so  verdanken  wir  all  dies  dem 
hohen  Interesse,  das  sowohl  die  Zeitgenossen  des  Dichters  wie  die  niiih.st- 
foigende  üeuerutiou  au  Virgils  Scliöpfungen  zu  nehmen  für  ihre  PtiicLt  hielten. 

Es  erübrigt  die  Betrachtung  des  Schlusses  der  Ekioge.  Der  Rhetor 
Menander  a.  a.  0.  giebt  die  Vorschrift,  nach  Vollendung  der  oben  besprochenen 
Teile  wieder  som  Anfang  Enrüokznkehren  und  den  Oebnrtatag  zu  preiaen:  fUMÜ 
TirOra  itAUv  htvdvu  ^^«v  nß/ta^'  h  nv»ev9vfyiQf»9q  4f*^p«e  httiifi^  wa^ 
^  if^cro,  h  fi^po;  ÄdtM^  ^m>f^  isl  codTO  Av^cltfoi.  Bei  Virgil  fanden 
wir  hiervon  nur  die  Form  des  Auani&  wieder  in  dem  letztbeaprochenen  Teil 
(V.  48.  b?»y.  das  Kompliment  aber  an  die  Mutter  steht  gleichermafsen  am 
Schlnfs  des  pnnzen  Getlitlitej^,  an  dem  der  Dichter  den  Ton  der  Prophetie 
plötzlich  verlä&t  und  den  Knaben,  der  jetzt  leibhaftig  vor  ihm  in  der  Wiege 
liegi^  anredet: 

60  Incipe,  parve  puer,  risu  cognoscere  matrem: 
matri  longa  decem  tulerunt  fastidia  menses. 
incipe,  parve  pner:  coi  non  riaere  parente^ 
nee  deua  hunc  mensa,  dea  nee  dignata  eubilt  eai 
Der  hier  gegebene  Text  ist  der  Bibbeeksche:  idi  halte  mit  Bibbeck  alle  Ver- 
beaseruttgsTorachlSge,  die  anm  Teil  Slter  sind  wie  Qointilian,  für  verüdilte 


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F.  Haix:  TiigOt  vierte  Eldoge. 


127 


Versuche,  einer  uns  dunklen  SteUe  Liclit  zu  verschaffen.  Der  Dichter  ver- 
wkt  sich  und  seine  Leaer  pl^HsUdii  wob  dar  Höhle  der  Sibylle  und  dem  Adyton 
der  Pjrdiift  in  die  Kindentabe  und  fOlirt  mit  eine  Sieiie  vor,  wie  ne  too  der 
Kunst  des  Altertums  am  seIionsl»n  in  der  Qmppe  des  Silen  mit  dem  Dionysos- 
kmben  im  Lernte  dargestellt  erscheint.  Tang  an  kleiner  Enafn-  /u  liielien 
and  die  Mutter  zu  erkennen,  deine  Mutter,  der  die  zehnmonatliche  Last  lange 
Widerwartii^keit  bereitet  hat,  nochmals  sage  ich,  funp  an,  kleiner  Knabe:  die 
Kinder,  über  die  die  Eltern  nicht  haben  !a<*hen  müssen,  die  haben  noch  nie 
weder  am  Tisch  eines  Gottes  teilnehmen  dürfen,  not  h  sind  sie  der  llaiid  einer 
Unsterblichen  gewürdigt  worden/  Der  Schlufs  klingt  halb  scherzhaft,  erinnert 
an  den  Schlols  der  zweiten  Epode  des  Horaz:  'lachen  mnfst  du,  kleiner  Borsch, 
mut  sind  all  deine  stolaen  Propheaeiungen,  die  dn  eben  gehört  hast,  nichtig 
lind  irr^*  Die  richtige  Srldjfoni^  des  Verses:  ineipe  parfe  puer  risn  oc^osoere 
natmn  eigiebt  die  Vergleidrang  des  Paradozogr^hen  Antigenes  (0.  Keller^ 
Rer.  aal  scripi  min.  p.  42),  der  von  den  Kindern  bevidttet,  sie  pflegten  tfl 
de  Tidöoifixxoattj  xgoöXofißaveiv  rb  yeJitBgwtbv  xal  ixiyiyvaoxuv  (tr/tiga.  Dies 
ist  d'i^  Lehre  des  Aristoteles,  histor.  anim.  VIII  1<>  p  5S7b  .'):  ra  dl  cruidi'u 
utüf  YivGJVTui  Tör  TfxraodxovTu  y'jUfQäv,  ^ynr,yoQ6zu  jilv  oine  yiXä  o{rr£ 
dax^vtt,  vvxTioQ  ()'  iinoxf  ufitpo-»  und  de  smini.  j^ener.  V  1  p.  770a  11:  xal 
i'/^fyogotu  n^v  ov  ytkä  xä  naiÖLU^  xa^tvdovzu  öl  xal  ytf-u-  xvX  duxqvu.  Die 
alten  lirldärer  (Ser^.  su  Y.  1)  nnd  ilmlich  Grosius  n,  a.  0.  p.  557  schlieben 
SOS  der  Stelle^  dafs  der  Knabe  *natam  risisse  statim';  'quod  parentibns  est 
otnen  infelicitatis*  filgt  der  Scholiast  hinan,  wihrend  Cmsins  unter  Heran- 
liehung  entlegenster  Litteratur  darauf  hinweist,  dafs  in  den  griechischen 
mystischen  Schriftwerken  dem  thranen reichen  Geseldecht  der  Menschen  die 
heiter  laehilnde  Gottheit  gegenüberstehe:  er  Tcrgleicht  ein  Fragment  der 
Urphischcn  Poesie  (236  Abel): 

üaxgva  }itv  ai^iv  iöii  nokvtXiiiiov  yt'vog  avö(f&Vf 

[Uidilauv  dt  d-e&v  legbv  yivog  ißkäarrföe. 
Ich  rnuüs  es  dahingestellt  sein  lassen,  ob  sich  eine  Brücke  von  der  mystischen 
Poesie  der  Orphica  zu  Virgil  hinflbersehkgen  UUht*):  unter  dem  Einebruck  der 
Ver^eiehnng  der  Stelle  mit  dem  Faradoxc^raphni  scheint  mir  das  Haupt- 
gewicht auf  dem  eognoscere  matrrai  in  lii^en:  haben  wir  es  doch  nidit  mit 
ebem  Gott  zn  thun,  wie  wir  oben  sahen,  sondern  mit  einem  xwar  gott- 
entstammten, aber  wirklichen  Menschen,  der  wie  ein  romischer  praeteztatus 
selbst  in  Bilchern  studiert.  Der  GtHlanke,  diifs  die  Mutter  durch  ein  Lächeln 
und  das  ersU;  Zeichen  geistigt^r  Thätigkeit  für  die  lange  Mühsal  und  La?t  der 
Erwartung  belohnt  werden  soll,  scheint  mir  rein  menschlich  gedacht,  anmutig 
erfunden  und  warm  empfunden. 

Am  schwierigsten  sind  die  beiden  letzten  Verse:  hoffen  wir,  dab  Polio, 
der  durch  seines  Cinna  Poesie  an  schwere  Kost  gewöhnt  sein  mochte,  sie 
mhtig  an  ▼erstehen  wnlste.   Incipe  parre  puer:  cni  non  risere  parentes,  nee 


*)  Yergleieheii  Übt  nch  das  uttiUmp  in  dem  Yen      des  Dieniyi,  oben  B.  116. 


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128  I*.  Man:  Vügils  vierte  EUoge. 

dem  liimc  menM,  des  nee  d^pata  eobfli  est  Es  kkfll  swiscben  der  Erneaerang 
der  Anffiirdenmg  indpe  parre  puer  und  dem  BelatiTiaftB  eine  Lfleke  des  <3e- 
dtnkens,  und  wir  können  bei  dem  Stand  der  Oberliefemng  mdak  mäu  Üatn, 
als  diese  Lücke,  indem  wir  das  in  V.  60  enthaltene  risu  noch  hier  nachklingen 
lassen,  selbständig  auszuftUlen.  Es  läfst  sich  vielleicht  «n  Bruchstück  des 
Ennins  bei  Serv.  Aen.  I  254  zur  Erklärung  der  Stelle  verwenden:  Jiippiter 
hic  riait  tempestatesque  serenae  nsci  niit  nnmes  risu  Jovis  omnipotentis,  so  dafs 
risere  bei  Virgil  und  Ennius  gleichbedeutend  erscheint  mit  <ieiii  Begriti",  den 
man  weitläuftiger  durch  'das  Lachen  erwidern'  umschreiben  könnte.  Wäre 
uns  das  Spridiwort  oder  die  Sage,  auf  die  Virgil  so  kurz  und  in  einer  för  ans 
so  anUaren  Weise  anspielt,  befamnt,  wir  wUrdmi  diese  Lfieke  der  Qedanken- 
Terbindnng  sdiwerlioh  so  sehr  Termissen.  Die  alten  ErUSrer  verweisen  auf 
die  Gesduehte  von  HepliaistoB  nnd  dessen  Abenteuer  mit  Atiiena  und  Hera 
(t.  Wilaniowits,  Nachrichten  d  Göti  Ges.  d.  W.  1895  p.  222),  eine  wenig 
probabeie  Erklärung,  da  des  Hephaistos  Gottheit  ebensowenig  jemand  leugnen 
konnte,  wie  seine  Ehe  mit  Aphrodite,  der  schönste  unter  den  Göttinnen.') 

*)  Zn  der  EnriUmong  der  mean  der  OOttnr  nnd  £e  Tcem  das  HoanM  Vm  414  fl  sa 
veq^eiehen,  wo  die  veigOtterte  Semde  daigeiieUt  wiid  luQc  ifmimMa  tfum^i^  Zqvl  ssl 


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AUS  DEM  KLASSISCHEN  SÜDEN. 


Von  Adolf  Holm. 

Daä  unsere  Zeit  nach  einem  berfihmten  Worte  im  Zeichen  des  Verkehrs 
iteh^  beweist  «ach  die  AUertmnswissMiscliait  Seit  Oortiiu  die  lebendige  Anf- 
ÜMituig  dee  Gharaktera  einer  Qegend  wm  integrierend«!  Teile  der  alten 
GtidiMlkte  genteelit  hnt,  ist  dne  Stndiiun  der  Stattet  der  antiken  Bildung  in 

stete  wachsendem  Aufschwung  begviffiBn^  und  zahlreiche  Reisende  haben,  mit 
oder  ohne  Unterstütam^  der  itegiernngen,  die  Gegenden  durchforscht,  die  den 
Freund  d^a  Altertums  interpssieren  können.  Gestiegen  ist  die  Zahl  der  wissen- 
schaftlichen Forschungsreisen,  gestiegen  ist  aber  aiuh  die  der  blofsen  Ausflüge, 
auf  denen  dann  freilich  fast  immer  dieselben  Gegenden  berührt  werden.  Die 
wissenschaftlichen  Institute  erleichtern  jetzt  Studienreisen  auch  den  Gelehrten, 
die  früher  an  derartiges  nicht  denken  konnten,  und  es  wird  jetzt  solchen, 
denen  nvr  die  eigene  Anachaunng  der  alten  Sttttm  fehlte,  um  ÜBr  YoUkommene 
l^er  dee  Altertome  gelten  m  kennen,  die  Brreiehung  dieees  Zides  eo  leicht 
g^maciht  wie  nie  mww.  In  dieser  Hinsicht  ist  das  Kaiserlieh  deutsche  ardilo- 
logische  Institut  in  trefflicher  Weise  vorangegangen.  Ein  sonst  sfthwer  zu  be- 
friedigendes wissenschaftliches  Bedürfriis  befriedigen  jetat  die  griechischen 
R' istn,  die  Dörpfeld  und  Wolters  leiten.  Für  den  Westen  liegen  der  Natur  der 
Sache  nach  die  Dinge  etwas  anders;  hier  kann  der  ein/eine  Gelehrte  leichter  auf 
eigene  Hand  vorgehen.  Aber  auch  hier  ist  durch  jährliche  Htudienfahrten,  die  die 
Btkretüre  des  römischen  Instituts  leiten,  einem  vielgehegten  Wiuiscli  entsprochen. 
Wenn  nun  ein  deutscher  Staat  in  dieser  Richtung  noch  besonders  eingegriffen 
bt,  so  war  das  mit  grober  Freude  an  begrttlseii.  In  der  Hiat  haben  die 
«isienschalUidien  Reisen  hadtschw  Lehrer  mAex  der  Lmtong  von  FachxiAiiiiera 
80  Tiden  Bei&ll  gefunden,  dals  jetst  auch  Ang^Sr^^  anderer  dentsdien 
Staaten  gewflnscht,  und,  soweit  ee  mSglidli  war,  erlangt  haben,  an  ihnen  Teil 
nehmen  zu  dürfen,  und  die  Frttchte  dieser  Reisen  ha>)en  sich  bereite  früher  in 
einzeben  Veröffentlichungen  gezeigt,  populären  und  streng  wissenschaftlichen, 
die  hier  nicht  besprochen  wprdfn  sollen.  Eine  besondere  Frucht  hat  aber 
die  letzte  dieser  Reisen,  die  vom  Jahre  18ÖÜ,  gezeitigt,  das  Werk:  Aus  dem 
lilasäischen  Süden.  150  Lichtdruckbilder  nacli  Originalaufnahmen  von 
J.  Nöhring,  Lübeck.  Text  von  den  Teilnehmern  der  o.  badischen  Studienreise. 
Herausgegeben  mit  Unterstataong  des  CMsh.  bad.  Hinisteriiims  fitr  Justii, 
Kultus  und  UnteiTichi  Labeck  1896.  foL 

Dab  dies  Werk  an  stände  kommen  konnte,  war  die  Folge  mehrerer 
gBnstiger  Umstände.  Es  nahmen  an  der  Rnse  auber  den  Lehrern  und  den 

Xmw  Uhrtttohn:  18M.  X.  9 


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130 


A.  Holm:  Aub  dem  klasaiBchen  Süden. 


leitenden  Professoren  Andere  herromgmde  KflnBÜer  und  Gelehrte  teil,  unter 
denen  wir  nur  Dürrn  und  Meitzer  nennen  wollen.  Sodann  begleitete  sie  einer 
der  besten  Vertretor  der  pliotographischen  Kun.st,  Joli.  Nöhring  aus  Lübeck. 
Wenn  nun  so  die  Bedingungen  für  ein  Werk,  wie  das  voiliegeude  ist,  gegeben 
warcu,  so  ward  Antrieb  zu  seiner  Ausi'üliruiig  der  Gedanke,  mit  einem  Ergeb- 
nisse der  Reise  S.  K.  üoheit  dem  Grroiäherzog  von  Baden,  dem  edeln  Förderer 
aiiüh  dieses  Unternehmens,  «ne  Holdigimg  sa  seinem  70.  Gebnrtsti^  dar^ 
sttbringen.  So  ist  das  Prachtwerk  entstandeiii  das  nns  Gelegenheit  geben  soll, 
ni  aeigra,  wie  mit  seiner  Hfitfe  Stadierenden  und  Freonden  der  Wissenschaft 
und  des  Schönen  ein  Teil  der  Geschichte  des  Westens  im  Altertum  klar  und 
anschaulich  vorgefülirt,  und  wie  Leser  des  Textes  und  Beschauer  der  Tafeln 
Teilnehmer  einer  instruktiven  Reise  werden  können.  Wir  möchten  noch  her- 
vorheben, daÜB  die  Lichtdrucke  den  besten  überhaupt  gefertigten  gleichkommen; 
die  Gegenstände  und  die  Punkte,  von  denen  sie  aufgenommen  wurden,  nind  von 
den  Leitern  der  Reise  gewählt,  wahrend  bei  den  gewöhnlicheu  l'liotographieii 
Italiens  in  der  Regel  nur  der  Photograph  die  Wahl  bestimmt  hat.')  Den  Text 
haben  die  Teilnehmer  der  Reise  Twfiifiif^  untor  ihnen  Ißaner  von  hoher  wissen- 
schaftlicher Bedentni^. 

Sehen  wir  nun,  wie  wir  an  der  Hand  dm  Werkes  uns  eme  Übersicht 
über  die  Eultnigeschichte  eines  wesentlichen  Teiles  des  Alt(>rtums  verschaffen 
können.  Wir  binden  uns  natürlich  nicht  an  die  Reihenfolge  der  Tafeln,  die 
sich  an  den  Gang  der  Reise:  Hom,  Kymc,  Pompeji,  Paej^tum,  Tarent,  Apulien, 
Metapont,  Kroton,  Reggio,  Hi/.ilien,  Karthago,  Cagliari  anachlieÜBt,  und  folgen 
der  geschichtlichen  Entwickeln ng. 

1.  Zunächst  verseUen  wir  uns  in  die  älteste  Zeit,  über  die  keine 
litterarifichen  Zeugnisse  vorliegen.  Es  giebt  in  Sizilien  zahlreiche  Spuren 
davon,  die  audi  schon  seit  lange  sorgiältig  studiert  worden  sind,  niemals  jedoch 
so  systraiatiseh  und  mit  solchem  Srfolg,  wie  in  der  jfingsten  Zeit  Es  haben 
sich  an  diesen  Stadien  au&er  Altertnmsforscihem  auch  Naturforscher  beteiligt, 
denn  die  ältesten  Zeugnisse  dw  Geschichte  der  Insel  sind  Überreste  von 
Tieren,  die  in  Grotten  gefunden  wurden,  Beweise  der  Art  der  Nahrung  jener 
längst  verschwundenen  Stämme.  Dann  kommen  aber  Werkzeuge  und  Waffen, 
ebenMls  noch  in  Grotten  erhalten,  die  den  Menschen,  die  jene  G^^tände 

*)  Hier  mag  eine  aUgememe  Bemerkung  am  Pbixe  seiii.  Ein  namhafter  Arehlologe 
ftnberte  uiu  geftenflber,  wie  schwer  es  sei  für  jemand,  der  lehon  Iftngere  Zeit  Photographien 

in  Italien  gesammelt,  Neues  au  finden,  obschon  sich  die  <;enfon??tande  leicht  besser  auf- 
nehmen Ue£sen,  als  gesckehen  ist.  Doa  Photographieren  ist  eben  ein  Geschäft,  das  von 
einhehniiehm  Fraktikeni  betrieben  wird.  Die  natflriiciien  Sehwierigkeiten,  Aufiuhmen  m 
machra,  lind  fOr  einen  firemdan  Fhotogra|)hen  von  Fach,  der  ein  OcKb&ft  machen  mufit, 
80  grofs,  dafs  solche  sie  fast  gar  nicht  unternehmen,  und  Fremde  fast  mn  als  I.ielthaber 
sn  Privatzwecken  photo^aphieren.  Herr  ^«öbjring  dagegen  hat  als  Mitglied  der  badischen 
Expedition,  gegen  vrddie  die  italieniiche  Begienmg  sich  sehr  eDt^'«'güukamniend  gezeigt 
Jwti  «0  grofse  Erleichterungen  in  jeder  Hinsicht  genossen,  daft;  es  ihm  dadurch  ermöglicht 
wurde,  oline  Rücksicht  auf  die  Konten,  fOr  die  die  badische  Regierung  mm  Teil  ein> 
getreten  ist,  Ausgezeichnetes  au  leisten« 


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Holm:  Ai»  «lern  Utaiitclien  Sddeiii. 


131 


benutzten,  zur  Wohnung  gedient  halxn  müssen,  und  zuletzt  folgen  wirkliche 
Grabstätten,  die  wir  hprcits  hiHtorisch  namhaften  Völkern  7.uschreiben  können. 
Über  dit^eu  Teil  der  aiteäten  üeschichte  Siziliens  giebt  der  von  0.  Schoten- 
mck  rerfi^te  Text  zu  Tafel  89  Auskonft.  Die  Tkfel  stellt  einen  Felsabhang 
dir,  durclilSdiert  Tom  niuähligen  (lrRböfiiiti]ige&  Aber  und  neben  «nander,  un 
Ftnne  CSaaaibüe^  dem  mu  der  Gesdiichte  des  Rflekmgs  d«r  Athour  berOhmten 
EftkyiNurie.  .ibnliche  Grotten  in  Felswanden  finden  eicb  u.  a.  bei  Ftantalicn 
in  der  Nahe  von  Syrakus  und  im  Thale  Ispica.  Diese  Gräber  gehören  der 
letzten  Torgriechischen  Periode  an,  aber  Schötenaack  beschx&nki  sieh  in  »einem 
Text  nicht  auf  sie;  «t  f^itbt  auf  Grund  der  neneaten  Forschungen  eine  zusammen 
fassende  Darstellung  der  ältesten  Grabstatten  Siziliens  überhaupt,  deren  kurzer 
Wiedergabe  ich  nur  wenige  Worte  der  Orientierung  voranschicke.  Die  älteren 
prähistorischen  Forschungen  über  die  Insel  sind  in  meiner  Geschichte  Siziliens 
Bd.  1  resnmieit  worden,  woin  die  italiemsche  ÜbersetBung  nüfadiche  Zowtse 
gemedit  bat,  und  ee  Terdiemt  immer  nocih  bemerkt  m  werden,  wie  viel  im 
vorigen  Jahrhundert  Hovel  durch  SchüdemDgen  and  Abbildungen  fttr  die 
Kenntnis  dieser  Überreste  gethan  hat,  und  wie  viel  in  diesem  Jahrhundert  der 
unermüdliche  Cavallari  und  unser  Schubring,  sowie  für  die  älteste  Zeit  Tom 
Standpunkte  der  Naturwissenschaft  v.  Andrian.  Schötensack  fiifst  besonders 
auf  den  mfthodi«oh  bptrifhpnen  und  von  Erfolg  hegleiteten  Untersuchungen 
von  Orsi,  ileiu  verdienten  Direktor  des  Museums  von  Syrakus,  woselbst  auch 
die  Fundstücke  aus  dem  östlichen  Sizilien  vereinigt  sind. 

Die  in  Grotten  gefundenen  Überreste  der  ältesten  namenlosen  Bevölkerung 
SisQiens  bestehen  aus  Werkseigen  und  Waffen,  die  aus  Kiesel,  Basalt  oder 
Aioefasn  gefertigt  sind,  und  ans  Qefibeii,  die  aus  frsisr  Hand  g^rmt  wnrdoi. 
Dinn  kommen  die  Felsgiiber,  die  wir  im  (Etlichen  Siiilien  den  Beiern,  im 
westhchen  den  Sikanem  zuschreiben.  Sie  sind,  wie  die  am  Cassibile,  fast 
eamthch  an  AbhSogen  angebracht,  so  dafs  man  horizontal  hineingeht,  selten 
im  flachen  Boden,  wo  alsdann  Schachte  hinunterf-Uiren.  Dies  ist  der  Fall  «uf 
den  Halbinseln  Plemmyrion  und  Thapsos  bei  Syrakus.  Die  Zahl  der  un- 
berührten Gräber  dieser  ältesten  Zeit  ist  sehr  gering;  vor  15  Jahren  hatte 
Cavallari  noch  keines  gefunden.  Oräi  ist  dies  Glück  zu  Teil  geworden,  und  so 
hat  durch  ihn  diese  OriLberÜDarsehung  eine  festae  Basb  bdcommen,  als  sie 
mvor  hatte.  SehOtensack  teilt  sie  nach  Orsi  in  drei  Perioden.  In  der  enlm, 
nach  dem  CharsUer  der  gefundenen  G^agenatände  Hissarlik  entspredienden, 
finden  wir  enge  Kammern  mit  einer  backofenähnlichen  Wölbung,  worin  die 
Leiehen  in  hodcender  Stellung  an  die  Wand  gelehnt  waren;  bisweilen  fand  sich 
eine  grofsere  Anzahl  von  Skeletten  in  demselben  Räume.  Das  Gerat  ist  meist 
aus  Stein,  Knochenarbeiten  finden  sich  ähnlich  denen  in  Hissarli]:  Die  Thon- 
gefiifse  sind  noch  ohne  Töpferscheibe  gearbeitet,  xmd  von  zwei  Arten:  1)  nur 
die  rohe  Thonfarbe  zeigend;  2)  mit  einem  gelblichen  oder  roten  FarbenÜber- 
ZQge  versehen  und  mit  geflechtartigen  Zeichnungen  geziert.  Spinnwirtel  fanden 
lieh  ebcnfUls,  und  Knochen  von  Rind,  Sehaf  und  Schwein  zeigten,  wdehe 
Tiere  dem  Volke  nur  Nahrung  gedient  habraL  —  Zioeik  Perioäe,  entsprechend 


1 


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132 


A.  Holm:  Aus  dem  klagslachen  Süden. 


Mykeni^  «kwa  1500 — 800  v.  Chr.  Die  Kammern  werden  geräumiger;  ringsum 
läuft  eine  Bank,  es  finden  nicb  Nischen.  Die  Toten  sind  noch  in  sitzender 
oder  hockender  Stellung;  in  dei-  Mitte  des  llauiaes  steht  oft  ein  groliies  Uefäis, 
wahrscheinlich  Oetriinke  enthaltend,  darum  kleinere  Thongefalse,  wie  zum 
Schöpfen  au»  dem  grol'üeu.  Die  Gefäfse  haben  eingeritzte  Ornamente.  Idole, 
Gefälle  mjkeniächen  Stils,  die  sich  dabei  beluiden,  Brouzegerüte,  Fibeln  waren 
offmbar  nicht  von  der  einhdnusdben  BerOlkenmg  gearbeitet  —  Dritte  Periode, 
entsprechend  der  Epodie  des  geometrischen  StÜs  in  Orieehenland,  etwa  1000 
— 700  ▼.  Chr.  Jetst  werden  die  Kammern  mehr  reehtei&ig;  dar  Kopf  des  amh 
gestreckt  Liegenden  Toten  ruht  auf  einer  Bank  an  der  Wand.  Höchstens 
3  Skelette  befinden  stob  in  einem  Grabe.  Die  einheimische  Keramik  sinkt 
immer  tiefer;  immer  mehr  fremde  Ware  wird  eingeführt,  aber  diese  frenide 
Ware  wird  auch  im  Lande  nachgeahmt.  Die  Vasen  sind  in  geometrischem 
Stil  verziert,  ähnlich  den  Dipylonvasen.  Auch  von  Hülsen  eingeführte  Metall- 
gegenstände, Armringe,  Fibeln,  finden  sich;  es  kommt  schon  Eisen  vor.  Bei 
genauerer  Betrachtimg  der  Tafel  89  vermitteist  der  Lupe  küuu  man,  wie 
Schötensack  bemerkt,  aaeh  die  lUse  an  den  Eingangsthüren  gewahren,  and 
der  Mabstab  ist  durch  die  im  Tordeignuide  eifcennbaren  Personen  gegeben. 
Beim  Nachdenken  Uber  diese  DenkmSler  Kitester  Zeit  taucht  anwillkOrUch  die 
BVage  auf,  inwieweit  hier  auch  phdnistsoher  Einflnfe  anaondimen  sei,  und  wer 
trotz  ulier  Anfechtungen  an  der  Glaubwürdigkeit  des  Thukydides  auch  in  dem 
Punkte  festhält,  dafs  er  seine  bekannte  Stelle  über  die  phönizischen  Nieder- 
lassungen auf  Sizilien  als  eine  Thatsache  betrachtet,  wird  vom  St^indpunkte 
des  Forschers  in  westlichen  Dingen  nichts  gegen  Helbigs  Ansicht  in  seiner  Ab- 
handlung über  die  mjkenische  Frage  M  einzuwenden  huhen,  duls  die  mykenische 
Kiiltur  nach  Sizilien  durch  Phönizier  verbreitet  sei.  Gräber  auf  Thupüos  und 
Piemmjrion  gehSroi  sicherlidi  eher  Phöniziern  an  als  Sikelem;  an  diesen 
Punkten  an  wohnen,  war  nur  für  Kaufleute  natflrlieL  Megara  Hyblaea,  das 
ja  allerding»  aueh  an  der  Kflste  liegt  und  sikeilisch  war,  hat  doch  ganz  andere 
Verbindungm  mit  dem  Hinterhmd,  als  Thapsos  und  Plemmyricm,  die  ftat 
Inseln  sind,  durdi  sandige  Strecken  yom  Festlande  getrennt.  Die  dortigen 
Gräber,  die  uns  schon  im  Jahre  1881  CaTallari  zeigte,  erinnern  überdies  in 
der  Anlage  in  mancher  Hinsicht  an  Gräber  im  westlichen  Sizilien  in  der  Nähe 
von  Palermo.  So  regt  schon  dieser  Beginn  der  Betrachtung  des  Werkes  zu 
mancherlei  Überlegungen  an,  die  hier  eben  nur  angedentet  werden  können.  — 
Das  alte  sikelische  Bergnest  Henna  zeigt  uns  Tafel  90  mit  Text  von  v.  Duhn. 

IL  Wir  kommen  zu  den  Griechen.  Sie  haben  »ich  bekanntlich  früh 
im  Westen  niedergelassen  und  dort  auuBchst  nur  Kttstenpunkle  besetsi  Selten 
sind  sie  in  den  LBndem,  die  sie  fa>Iottisierten|  etwas  mehr  ins  Innere  gegangen, 
und  alle  ihre  Ansiedelungen,  die  nicht  in  nnmittellNirem  Verkehr  mit  dem 
Heere  standen,  sind  Idchter  und  frflher  Feinden  erlegen.  Im  Heere  ruhte  ihre 


')  W.  Heibig,  Sur  la  qoeation  Myc^nienoe.  M^m.  de  l'Acad.  de«  Iiiscript.  XXXV  C. 
Fteia  189«.  Tgl.  v«ii  FritM  ia  der  Berliner  Fhilolog.  WooheDsotaxift  1897  Kr.  18. 


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A.  Bobn;  Aus  disn  MMniBCihfin  Sflctoo. 


133 


Enft;  aie  wtrai  m  Handderolk  wie  die  PhSnisi«',  mit  denen  sie  ftberliaii|ii 
nanche  Ähnlichkeit  hahen.  So  iet  in  Sttilioi  Kesmenei  Tentdiwimden,  Leontinoi 
früh  für  lange  Zeit  Ternichtet  worden,  und  doch  Ug  die  Stadt,  wenn  schon 
im  Innern,  an  einem  damala  bis  Iieontinoi  mäiiffbaren  Flusse;  so  ist  Akragae 
mehrfach  erobert  worden  —  man  konnte  es  eben  zu  Lande  vollständig  ab- 
sperren — ;  so  war  sogar  Gela  gefährdet,  weil  zwischen  der  Stadt  und  dem 
Mft-r  nach  so  viel  Land  war,  dals  sich  daju'lbst.  P^'indt-  fostHttzt  n  konnten.  Am 
blüiieudsten  sind  die  Städte  mit  den  bcöteii  Iläfeu  gevvordeu:  Syrakui»,  Tareiit 
und  Messina.    Messina  ist  steta  bedeutend  geblieben,  Tarent  blüht  wenigstens 
jebft  wieder  auf,  nur  Syrakaa  will  eich  immer  noch  nicht  heben,  trots  seittee 
wanderroUen  Halens.  Über  die  Lage  eben  dieser  Griechenslidte  unterrichtet 
w  mtaer  Werk  in  willkommener  Weise.  Die  älteste  TOn  allen  war  Eyme, 
wenn  wir  auch  nicht  genau  sagen  können,  wann  es  gegründet  worden  ist; 
jedenfalls  geschah  ea  vor  der  Mitte  des  8.  Jahrh.  v.  €3ir.  Für  Ansichten  dieser 
Stadt,  die  von  den  photographischen  Geschäften  vernachlässigt  wird,  weil  nicht 
jeHer  Tonrist  etwas  von  Kyme  weifs,  sind  wir  der  badiscben  Studienreise  be- 
sonders dankbar,  und  ebenso  fUr  den  kurzen  Text  des  besten  Kenners  von 
Kjme,  V.  Dulius.    Die  Griechen  kamen  zur  See  dabin  auf  ihrer  Suche  nach 
«Sern  pausenden  Wohnaitae^  nnd  als  sie  um  Kap  Misen,  dessen  Umgegend  ans 
Ttfd  13  aeigt  (^Text  von  Dom),  gebogen  waren  und  die  lange  fladie  Kflate 
Tor  sich  sahen,  die  sich  bis  QaSta  erstreckt,  da  hielten  sie  an  und  gründeten 
ihre  Stadt  auf  einem  einsamen  Felsen  dicht  am  üfior.  Der  weitere  Strand  log 
de  nicht  an;  er  hatte  keinen  griechischen  Charakter  mehr.    Jetzt  laufen  keine 
Schiffe  von  der  Fremde  bei  Kyme  ein,  der  Reisinde  kommt  zu  Lande  von 
Neapel  dahin     Nachdem  er  die  phleorHischen  (letilch-  durchwandert  und  den 
Avemersitt'  zur  Linken  gelassen  hat,  trreicht  w  ihn  Aico  Fclice,  einen  romischen 
Bogen,  und  öieht  durch  denselben  lien  Felsen  von  Kyme  vor  sich  liegen.  Das 
itellt  imsere  Tafel  14  dar.   Nun  senkt  sich  die  Strafse,  imd  wir  gcnie£sen  den 
vollen  Anblick  der  StStte  der  alten  Chriechensladt  (Tafel  15).    Daa  Land 
zwischen  uns  und  dem  Feben  ist  mit  Wonhorgm  bedeckt;  im  Altertum  ge- 
hörte ea  teilwttse  schon  zur  Stadt,  teilweise  war  es  Ton  Cbaibslitten  ein- 
geaonuxien,  die  si  ii  Jahren  eine  grolse  Aosbeute  besonders  an  Vasen  geliefert 
haben.    Prachtige  Gef&fise  aus  Kyme  zieren  manche  Museen.    In  neuester  Zeit 
h^f  Vif'sonders  der  neapolitanische  Kaufmann  Herr  Stevens  die  Oraher  von 
K)mc  ausgebeutet,  und  v.  Dnhn  schildert,  wie  bei  diesen  Ausgrabungen  häufig 
Vasen  mit  bakcliisrlieu  Darstellungen  zu  Tage  komnit  n,  welche  zeigen,  dals  die 
Gegend  im  Altertum  gerade  so  'weinfroh'  war,  wie  sie  es  jetzt  ist.  Der  eigent- 
liche Burgfdsen,  dessen  Aufgang  uns  Tafel  16  zeigt,  trug  einen  jetzt  ganz  ver. 
scfawondimen  ApoHotempel;  so  werden  wir  daran  erinnert,  wie  die  ersten 
griechischen  Ansiedler  in  einem  neuen  Lande  gerne  dem  Gotte,  dessen  Orakel 
sie  geleitet  hatte,  ihre  Huldigung  darbrachten.   Ebenso  stand  in  Sizilien  am 
Strande  bei  Naxos  (Tafel  64),  wo  die  ersten  Griechen,  die  sich  auf  der  Insel 
nioderliifsen ,  «»gelandet  waren,  ein  hochhL'iHger  Altar  des  ApoUon  Archagetas. 
Kjme  war  der  Hauptaitz  des  griechischen  Einflusses  in  Mittelitalien  und  he- 


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134 


A.  Holn:  Ant  dem  klHusohen  Sfldoi. 


tonden  in  ILunpanieii,  aber  lange  konnte  ee  aieli  nicht  gegen  die  kiiftigerett 
ItaUker  halten,  die  von  üuren  Beigin  liflninter  kamen  nnd  die  grieeluaclie  Stadt 
bedrSngten.  BhhKeMteh  wurde  es  sogar  von  seiner  ehemaligen  Kolonie  Nei^ 
fiberflflgelt  nnd  sank  mdir  nnd  mehr.  Pateoli,  das  einsi  als  Dikaiarcheia  ein 
Kymäischer  Hafen  gewesen  war,  ward  einer  der  bedeutendsten  Handelsplätze 
des  Mittelmeeres,  und  Kjme  horte  überhaupt  auf,  eine  Gemeinde  zu  sein,  aeit 
sogar  sein  Bischof  nach  Aversa  übergesiedelt  war. 

Ahnlich  wie  Kyme,  wenn  auch  nicht  in  so  hohem  Grade,  hat  die  Haupt- 
stadt des  griechischen  Siziliens  den  Wandel  der  Zeiten  erÜEÜiren,  das  berühmte, 
immer  noeh  viel  beeudite  S  jrnkna.  Ea  war  nieht  die  erate  Ißederlaaanng  der 
Gxiedien  m  BitDien;  daa  mr  Nuob,  daa  jetat  Tom  Erdboden  Teraehwnnden 
iai  Wir  aehen  auf  Tafel  64  nnr  aeine  Stiltte:  die  niedrige  Halbinaei,  die  aich 
ins  Meer  erstreckt.  Syrakus  ist  behandelt  auf  Tafel  72—88;  Text  I— Vm, 
historischer  und  beschreibender  Teil  von  Bockel,  IX  Schiffshäuser  von  Oehler 
(Tafel  78\  X  Inschrift  am  Artemistempel  von  Luckenbach  (Tafel  80).  Ich 
möchte  hier  auf  das  so  viel  besprochene  Syrakus  nicht  genauer  eingehen  und 
nur  darauf  hinweisen,  dafs  die  Tafeln  eine  treffliche  Anschauung  des  Wichtigsten 
geben,  was  in  Syrakus  zu  sehen  ist^  und  Böckels  Text  eine  lebendige  Schilde- 
rung der  Schicksale  der  Stadt  im  Altertum  bietet  LmAenbadi  Tersucht  fOr 
die  Inadirift  an  den  Stufen  dea  Ärtemiatempela  «ne  neue  Deutung,  indem  er 
nach  dem  dritten  Worte:  ewlna  nm  ta  ^Fegya  lieat,  nnd  Oehler  hebt  bei  der 
Be^reehung  der  Bettungen  fitlr  die  Schiffishäuser  im  kleinen  Hafen  die  Sehwi«t%^ 
keiten  hervor,  die  aieh  noch  einer  voDaÜndigen  Erklärung  dieeer  Fdaeuuehnitt» 
entg^nstellen. 

Als  Syrakus  gegründet  wurde,  besünid  bereits  eine  andere  wichtige  sizilische 
Griechenstadt,  wenngleich  nur  als  kümmerliche  Seeräuberansiedelung:  Zankle, 
das  spätere  Messana,  die  Stadt  mit  dem  schönen,  durch  eine  sichelf(')nni^e 
Landzunge  gebildeten  Hafen.  Wir  sehen  ihn  auf  Tafel  03  ^Text  von  iiaus- 
ratti).  Wer  dieae  intereaflante  Tafel  Primanern  aeigen  woUte,  würde  vid  snr 
ErUntemng  hinsufllgm  kOnnen:  Aber  die  Bedeutung  der  Heerenge  fttr  den 
Verkehr,  Ober  die  Wichtigkeit  dea  &ifena  von  Mnaaann  ftr  den  Handel  in 
alter  wie  in  neuer  Zeit,  übir  den  Zusammenhang  der  Gemeinde  mit  Italien, 
das  hier  früh  auf  die  iusel  hinüber^n* üt.  /lurst  durch  Anaxilus,  wodurdl 
Zankle  Messana  wird,  nnd  dann  durch  die  Mamortmer.  Die  Geschichte  Messanas 
wird  trefflich  durch  die  Münzen  erläutert;  vielleicht  keine  isizilische  Stadt  bietet 
citr  Numismatik  so  viele  iiitcn  ssante  Probleme,  von  denen  manche  durch  neuere 
Arbeiten  von  A.  Evaus  behandelt  worden  sind.  Es  wäre  femer  hinzuweisen 
anf  den  Antefl,  den  Meaaana  an  iem  Auabruche  dea  ersten  punischen  Krieges 
hatten  nnd  wie  die  Mamertiner  noch  rar  Zeit  Gieeroa  dne  b^nstigte  Stellung 
in  Sudlien  einnahmen.  In  eigentflmHohem  Gegenaata  ra  Meaaana  ateht  Beggio, 
daa  una  anf  drei  Tafehi  vorgeAhrt  wird,  Tafel  60—62,  Teit  ebenfilla  ra 
Hausrath.  Es  ist  stets  von  geringerer  Bedeutung  geweaen,  und  woin  Hausraih 
mehr  darüber  geschrieben  hat,  als  über  Messana,  so  kommt  ee  mm  Teil  daher, 
data  er  einen  Besuch  in  Lokri  mit  hineingeBogan  hat,  daa  wenigen  bekannt 


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A.  Halm:  Am  don  UaMoadiCB  SOden, 


186 


jfll  nod  melir  bekaimi  wa  werd«  vardieni  Schade,  dafii,  aftatl  Reggio  drei 
BJätler  so  widmen,  uns  niekt  eines  flbei:  Lokri  gegeben  worden  ist,  dessen 
kSnlich  entdeidtter  Tempel  nach  von  deatseho:  Seite  Gegenstand  der  Forsehnng 
gewesen  ist  (E.  Petnsen).  Auch  diese  Stadt  bietet  ein  hohes  Inütarhistorischee 
Interesse,  da  der  Geäetsgebang  durch  Zaleukos  eine  ganz  anders  geartete  Kultur 
gegenüberstand,  die  besonders  Baebofen  in  seinem  'Mutterrecht'  geschildert  hat. 
In  politischer  Beziehung  heshind  der  schroffste  Gegensatz  zwischen  Lokri  und 
Rhegion,  wührend  Syrakus  dif  längntf  Zeit  mit  Lokri  befreundet  war.  Wahrend 
von  allen  iinderii  grolsgricohischen  und  •<izili8ehen  Städten  an«»  dem  ö.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  Münzen  vorliegen,  kommen  lokriHcbc  Münzen  merkwürdiger 
Weise  erst  im  4.  Jshrh.  vor,  abgesehen  von  einer  eist  neuerdin|p  bekannt  ge- 
wofd^en,  die  als  Zeidien  des  Bfindnisses  mit  Lokri  im  5.  Jahrh.  in  Heeaana 
geprägt  worden  isi  W*"  <^l)«Mini  ^  einem  griechisch«!  Oemmnwesen  auf- 
fiftUenden  Yenieht  auf  eigene  Priigmig  zu  Grunde  liegt,  ist  noeh  nicht  snf- 
geklürt. 

Betrachten  wir.  der  Zeitfolge  nach,  nunmehr  Taren t  fT.  47.  48,  Text  von 
Oehleri.  Es  ist  auffallend,  dafs  gerade  eine  spartanische  Kolonie  es  sein  mul'ste, 
die  den  einzigen  gnten  Hafen,  den  Süditalicn  besitzt  —  denn  von  Brundisinm 
uu  Osten  bis  in  die  Gegend  von  Neapel  findet  sich  keiner  mehr  — ,  sich  zur 
Niederlassung  erwählte.  Freilich  ist  denn  auch  die  tareutinische  Geschichte 
der  äpartaniachen  so  nnihnlich  geworden,  wie  nur  m6g^cih.  Die  Üppigkeit  von 
Tittent  war  sprichwörtlich,  und  die  Weisheit  des  Archytas  hat  der  tarentiniBehen 
Oesebichte  keinen  anderen  Charakter  ni  geben  rennodit.  Odbler  hat  eine 
reiche  moderne  Littttratur  zitiert;  wir  halten  es  nicht  für  überflüssig,  hier  auÜNT- 
dem  noch  auf  die  musterhafte  Sammlung  von  Thatsachen  in  den  Schriften  von 
Lorentz  hinzuweisen,  und  für  die  Kenntnis  der  Münzen  auf  Evans  Hörnernen'  , 
eme  Arbeit,  wie  sie  nur  ein  Forscher  bieten  konnte,  der  zugleich  Siiniiuler, 
Gelehrter,  Museumsdirektor  und  nnemiüdlicher  Reisender  ist.  Es  ^ielit  wolil 
kein  zweites  Beispiel  einer  ähnlichen  Mannigfaltigkeit  im  Einzelnen  bei  Gleicli- 
heit  der  Grundlage,  wie  die  HChunn  Toa  Tuent,  «of  denmi  der  »i  PSade 
sitsende  Jüngling  wie  der  auf  dem  Delphin  reitende  in  jeder  erdenklidien 
sefa5nen  Bsttong  dargestellt  sind,  wenn  wir  nicht  als  SeitenstQck  auf  die 
VarielSten  der  syTskiuanisehai  Münzen  mit  dem  weiblichen  Kopfe  und  dem 
Gespann  hinweisen  wollen,  unter  denen  auch  so  wenige  identische  sind.  In 
der  Lage  von  Tarent  ist  eine  gewisse  Analogie  mit  Syrakus  unverkennbar,  und 
diese  tritt  auch  in  der  Tafel  47  deutlich  hervor.  Der  Insid  Ortygia,  die  spater 
die  Burg  von  Syrakus  bildete,  entspricht  der  älteste  Teil  von  Tarent,  der 
östlich  von  dem  Eingänge  m  die  innere  Bucht,  das  sugeuannte  Mare  picculo, 
hegt,  das  seinerseits  dem  grofsen  Hafen  von  Syrakus  ähnlich  ist.  Auf  diesen 
Utesten  Teil  Ton  Tarent^  der  in  der  Blftteseit  der  Stadt  ebeniaUs  nur  die  Burg 
derselben  tm^  hatte  sieh  das  moderne  Taranto  lange  Zeit  surftckgezogen,  und 


*)  A.  J.  Evans,  The  'Boneaun'  of  Tuentam,  Ktminnatio  Qnroiude^  III  seriei  vol.  IZ. 
Uadott  1889. 


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186 


A.  Holm:  Ans  d«m  kl— wehen  Sfldui. 


die  Strafst'ii  nind  dort  noch  schmakr,  als  jemals  die  von  Ortygia  geweseo  sind. 
Dieser  Teii  von  Tarent  steigt  gerade  so  vom  Meere  auf,  wie  Ortygia;  die 
eigentliche  Stadt  erstreckte  sich  dann  weit  nach  Osten  hin.  Seiner  Zeit  hat 
Tarent  einen  groleen  Einflnft  auf  GrofBgriechenknd  auageflbt,  und  wenn  ilun 
Hemeher  m  Teil  geworden  idixen,  wie  Syrakus  die  Deinomeniden,  Dionjs, 
AgafboUee  und  der  sweite  Hieron,  würde  ea  aneh  wohl  eine  gebietende  Stdlung 
in  Unteritalien  haben  einnehmen  können;  aber  abgesehen  von  Arehjtaa  bat  ea 
keinen  namhaften  Staatsmann  berrorgebracht.  Nachdem  es  einmal  in  die 
Macbtephäre  von  Rom  getreten  war,  hat  es  sich  mehr  auf  Fremde  verlassen, 
als  auf  die  eigene  Kraft,  und  es  ist  nntrelähr  um  dieselbe  Zeit  wie  Syrakus 
den  Römern  erlegen.  Es  ist  merkwürdig,  dafs  zuletzt  Karthago  sowohl  Syrakus 
wie  Tarent  tu  beeinflussen  versuchte,  aber  seine  Kräfte  reichten  nicht  aus; 
kaum  war  Syrakus  dem  Marcellus  erlegen,  so  ward  Tareut  von  Fabius  Maximus 
eroboi.  Die  bdden  einaigen  tachtigen  Feldberren,  die  Born  daanab  batke, 
baben  nicht  Hannibal  fiberwunden,  sondern  die  awei  grSlsten  QriedienstSdte, 
die  Ton  Rom  an  Karthago  abgefiülen  waroi.  Karthago  selbst  sollte  erst  einige 
Jabie  spftter  durch  Scipio  &Ilen. 

Die  Lage  von  Akragas,  das  zn  seinem  Schaden  keine  unmittelbare  Ver- 
bindung mit  dem  Meere  hatte,  lehren  uns  die  Tafeln  91 — 99  kennen.  Die 
Akrappntincr  haben  nie  daran  denken  können,  durch  lange  Mauern  ihre  Stadt 
mit  dem  an  der  Mündung  des  Flusses  gelegenen  Hafen  zu  verbinden;  war  doch 
Schon  die  Stadt  selbst  von  riesigem  Umfange.  So  sind  sie  nie  eine  Seemacht 
geworden.  Sie  sind  wesentlich  Landmacht  geblieben,  kabeu  aber  als  solche 
Gewaltiges  geleistet.  Ihre  Horscbaft  bat  sieb  scbon  frfib  durch  das  ganze 
Innere  der  ^sel  bis  nadi  Himera  hin  erstreekt,  und  es  ist  wobl  dies^  üm- 
stande  anzuscbreibmi|  dab  dies  Innere  gar  kdne  Gemeinden  von  Bedentong 
sahlte;  alles  wurde  dort  durch  das  Übergewicht  von  Akragas  in  den  Scbatleii 
gestellt.  In  diesen  Gegenden  tritt  im  ersten  punischen  Kriege  nur  eine  Stadt 
als  hoehVudeutend  hervor:  Mytistraton,  das  auf  einem  Berge  bei  Marianopoli 
gelegen  hat  nnd  den  Romern  viele  Mühe  machte,  bis  sie  es  endlich  eroberten. 
Ihr  Arger  Uber  den  langen  W  iderstand  hat  sich  dann  in  grausamer  Behand- 
lung der  Einwohner  Luft  gemacht. 

Von  Sei  in  US  wird  bei  Gelegenheit  der  Tempel  die  Rede  sein;  Tauro- 
menium  zeigen  uns  interessante  Ansiditen,  Tafel  64 — 71  mit  Text  Ton  Aus- 
feld; nadi  Himera  nnd  Kamarina  bab«i  die  Reisenden  niebt  kommen  können. 

Von  griechiicb«!  SISdten  Dnteritaliens  fllbrt  daa  Beisewerk  uns  Heta- 
pont,  Paestum  (Poseidonia)  und  Bü-oton  dadnrdi  Tor,  dafs  es  uns  Bauwerke 
dieser  Städte  zur  Anacbanung  bringt,  die  wir  alsbald  erwähnen  werden.  Meta- 
pont  und  Puestum  waren  wie  Sybaris,  von  dem  jede  Spur  Tcrschwunden  ist^ 
Städte  der  Ebene,  jetzt  von  ungesnnden  Niederungen  umgeben,  Kroton  eine 
Stadt  der  Höhe;  man  könnte  sagen,  dafs  damit  die  Geschichte  dieser  Städte 
sich  in  Übereinstimmung  befindet,  was  besonders  in  dem  Gegensatze  von 
Sybaris  und  Kroton  hervortritt:  Luxus  —  Xraft;  Üppigkeit  —  Athletik.  Wir 
erwähnen  diese  Dinge,  um  zu  zeigen,  wie  an  die  Betrachtung  der  Tafelu  sich 


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A.  Holm:  Aus  dem  klassischen  SQdcn. 


137 


Blicke  in  die  alte  Geschichte,  nicht  blofs  die  äufserliche,  chronologisch  fixierte, 
sondern  die,  welche  den  geistigen  Hintergrund  der  äufserlichen  bildet,  un- 
gerwungeu  anschliefsen  lassen. 

Sehr  wertvolle  Beiträge  giebt  das  Werk  zu  unserer  Kenntnis  der  griechi- 
schen Architektur  des  Westens.    Bekanntlich  ist  nirgends  so  wie  hier  der 
dorische  Stil  in  Meisterwerken  vertreten;  alles,  was  in  dieser  Beziehung  von 
Wichtigkeit  ist,  bieten  unsere  Tafeln  und  der  dazu  gehörige  Text:  wir  kommen 
nacheinander  nach  Paestum,  Metapont,  Tarent,  Syrakus,  Akragas,  Segesta, 
Selinus.    Es  dürfte  kein  Werk  geben,  in  dem  eine  so  schöne  Übersicht  über 
diesen  Zweig  der  griechischen  Kunst  gegeben  wäre.    Und  was  die  Erläuterung 
dessen  betrifft,  was  die  Tafeln  zur  Anschauung  bringen,  so  haben  wir  als 
höchst  wichtige  Beiträge  zur  Kenntnis  der  griechischen  Architektur  die  Ab- 
schnitte, welche  Durra  bearbeitet  hat  (Segesta  und  Selinus),  der  die  Studien- 
reise durch  Sizilien  begleitete  und  auch  auf  10  Tafeln  (A — K)  Gnindrisse  der 
wichtigsten  Tempel  und  orientierende  Kärtchen  hinzufügt,  so  dafs  in  dieser 
Hinsicht  das  Werk  auch  als  wissenschaftliche  Förderung  der  Kunstgeschichte 
einen  über  die  blofse  Anregung  hinausgehenden  Wert  hat.    Es  war  nicht  das 
erste  Mal,  dafs  Durra  die  Tempel  Siziliens  sah,  mafs  und  studierte,  und  bis 
das  erwartete  Werk  von  Koldewey  und  Puchstein  über  die  antike  Architektur 
Siziliens  erschienen  sein  wird,  werden  Dürrns  Beitrage  als  das  letzte  Wort  des 
Fachmannes  über  diese  Bauwerke  zu  betrachten  sein.   Die  Tempel  von  Paestum 
sehen  wir  auf  Tafel  37 — 44  (Verfasser  des  Textes  v.  Duhn  und  Wielandti,  von 
Metapont  auf  Tafel  45.  46  (Verfasser  v.  DuhnV    Interessant  ist  der  Überrest 
eines  dorischen  Tempels  in  Tarent,  Tafel  49  (Verfasser  des  Textes  K.  Dürr). 
Welchen  Kontrast  bietet  das  gewaltige  Kapitell,  das  aus  modernen  Wohnungen 
herausschaut,  wie  der  Leib  eines  riesigen  vorweltlichen  Tieres  aus  dem  Kalk^ 
der  sich  darum  niedergeschlagen  hat.     Das  Bild  vergegenwärtigt  uns  recht 
die  Art,  wie  so  manche  Reste  des  Altertums  in  modernen  Bauten  konserviert 
und  entstellt  worden  sind.    So  war  auch  der  Artemistempel  in  Syrakus, 
den  wir  auf  Tafel  79  dargestellt  sehen,  in  Privathäusern  verborgen,  und  viel- 
leicht steckt  noch  ein  Teil  davon  in  einer  noch  nicht  abgebrochenen  Kaserne. 
Der  sogenannte  Athenetempel   in  Syrakus  hat  in   der  dortigen  Kathedrale 
wenigstens  eine  edlere  Hülle  bekommen,  wird  aber  eben  deswegen  auch  niemals 
von  seiner  Umhüllung  befreit  werden.    Interessant  ist  noch  aus  Syrakus  die 
Abbildung  der  Überreste  des  sehr  alten  Zeustempels  vor  der  Stadt,  Tafel  Hl. 
Später  ist  der  hochberühmte  Tempel  der  Lakinischen  Hera  auf  dem  Vorgebirge 
bei  Kroton  erbaut,  den  wir  auf  Tafel  58.  59  sehen  (Text  von  K.  Dürr\  Er 
hat  manche  Fährnisse  durchgemacht;  zuletzt  hat  ihn  noch,  was  der  Bericht- 
erstatter nicht  erwähnt,  S.  Pompeius  ausgeplündert,  als  er,  bei  Naulochos  an 
der  Küste  Siziliens  von  Agrippa  besiegt,  nach  Asien  flüchtete;  er  brauchte  eben 
noch  etwas  Geld.    Was  sich  gegenwärtig  über  die  Architektur  dieses  Tempels 
sagen  läfst,  hat  Dürr  zusammengestellt.    Der  Tempel  mufs  als  Wahrzeichen 
für  den  Verkehr  im  Tarentinischen  Golfe  von  höchstem  Werte  gewesen  sein. 
Wir  weisen  auf  die  Besprechung  der  Tempel  von  Akragas  durch  H.  Dürr 


138 


A.  Holm:  Aus  dem  klassischen  Süden. 


(m  Tafd  91 — 99)  nur  einfteh  hm,  ohne  auf  das  Einzelne  oinzugelieii,  um 
etwas  fönger  bei  dem  zu  verweilen,  was  Diirm  äber  den  Tempel  von  Segesta 
(zu  Tafel  114  115)  und  über  die  von  Selinus  (zu  Tafel  116—127)  sagt.  Die 
Beschreibung  der  arcbit^^ktonischen  Ei^ent!5mlichkeit<m  de?  Tempels  von  Segesta 
ist  ein  Muster  saclilich  knapper  Durstellung,  au»  der  ich  uur  folgenden  Absate 
hervorheben  möchk':  'Das  Fehlen  jeder  Spur  von  aufsteigendem  Cellamauer- 
werk  läfüt  vermuten,  dafs  dieses  beim  Einstellen  des  Baues  noch  nicht  auf- 
gefOhrt  war,  dab  man  alao  toq  anlfaen  naeh  innen  baata^  wie  das  von  einigen 
TempeUNinteii  bekannt  ist  (s.  B.  Epidanroe),  oder  da&  daa  fguae  Steinmaterial 
der  Gdla  epater  au  Kalk  gebrannt  und  bei  der  H8rtd.bereitang  Terwendely 
oder  für  andere  Bauten  in  s^wterer  Zeit  venchlq»pt  und  verbraucht  wurde.* 
0anz  ausführlich  behandelt  dagegen  Dürrn  die  Tempel  von  Selinus  (sonstiger 
Text  von  Knnzrr\  Er  erwagt  oinfTfliend  die  verschiedenen  Restaurationen,  die 
wir  Serradifaico,  d.  h.  Cavallari  und  andererseits  Hittorf  verdanken,  und  macht 
beim  Tempel  C  wertvolle  Bemerkimgen  über  die  Spuren  von  alten  Thür- 
verschiflsseu  auf  dem  Boden,  die  durch  die  in  demselben  befindlichen  Rillen 
sich  kundgeben.  Er  kommt  nach  sorgfältiger  Erwägung  aller  Möglichkeiten 
an  dem  Eig^bniase  (8.  54),  'dab  die  Steina  welche  die  Rillen  zeigen,  von  einm 
alteren  amtSrten  Heiligtum  berrflliren  und  beim  Baue  des  Tempels  C  eine 
andere  Verwendnng  gefonden  baben.  In  diesem  FUle  liefs  der  Stuck,  weldier 
die  Stufen  und  den  ganzen  Boden  bedeckte,  die  Sinsohnitte  Tenwbwinden'.  So 
läfst  uns  der  älteste  Tempel  von  Selinus  ein  Bauwerk  ahnen,  das  noch  älter 
war  als  er,  also  schon  der  ersten  Zeit  der  Stadt  angehört  haben  mnfs.  Man 
sieht,  wie  die  iStadt  so  schnell  aulblühte,  dals  ein  heiliges  Gebäude  so  früh 
bereits  durch  einen  Neubau  ersetzt  werden  mufste.  'Der  Bau  in  seinen  ge- 
drungenen Verliältuissen,  mit  seinen  eigenartigen  architektonischen  Einzelheiten 
ui^  Profflkrungeu,  mit  seinem  bunt«»  Farben-  und  Figaxtmdaiauk,  mit  den 
furbigen  Ziegeln  und  sehweren  SimabeUeidungen,  giebt  uns  ein  Bild  des 
griechischen  Tempels,  das  nicht  unweeentlidb  von  dem  abweicht,  was  uns  nur 
landläufigen  Vorstellung  eines  solidien  geworden  ist.  Er  war  nicht  so  form- 
Tollendet  wie  die  attischen  Meisterwerke  der  Perikleisthen  Zeit,  sicher  aber 
origineller  und  vielleicht  auch  interessanter'  (S.  55 1.  Wir  köimen  uns  nicht 
versagen,  noch  folgende  Zeilen  Durins  anzuführen,  die  eine  bleibende  Be- 
reicherung der  Geschichte  der  Architektur  enthalten  (S.  561.  'Zeigen  auch  die 
sizilischen  Tempel  nicht  das  vornehme  weiTse  Marmormaterial  und  die  aus 
diesem  sich  ergebenden  Feinheiten  in  der  Formgebung  und  die  optischen  Kunst- 
stftdcchen  der  atttschoi  oder  Unnasiatiscben  Monumente,  so  sind  sie  doch  durch 
ihre  naiveren  Kunstformra  und  ihre  Eigenart  sowie  die  derbere  Behandlung 
des  Drtails  und  oft  auch  Anspruchslorigkeit  uns  vielftch  interessanter  und 
sympathischer.  Sie  sind  nur  aus  dem  gewShnlidien,  oft  sehr  porösen  Kalk- 
st* in,  wie  ihn  der  heimatliche  Boden  gab,  hergestellt,  und  die  Mängel  des 
Materials  verdeckt  durch  einen  feinen  weifsen  mattirüinzenH' n  Stucküberzug, 
der  durch  volle  gany.e  Farben,  bunt  wie  sie  die  südliche  Natur,  Mwär,  Himmel 
und  Landschaft  verlangen,  auJ^gehÖht  war.  Nicht  sehen  wir  an  den  Säulen  das 


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JL  Sola:  Am  don  UaniiclMi  8ttil«n. 


189 


ewig  giltige  Ebenmafs,  das  ein  Iktinos,  Eallikrates  uder  Miiesikle»  geächaffen, 
uidit  die  feine  Aussc^welluiig  neben  der  Veijüngung,  nidii  dm  Geneigtotehen, 
nidit  daa  pjmiiidAle,  ferne  Veijangen  aller  aufMrebMidra  Archifakturteile,  nicht 
den  SebHflf  mid  die  Glitte  dee  Mennoigesteinee,  und  dodi  Iftfiit  die  teefanieche 
Aneflllunmg  nicbia  m  wllitieheii  flbrig  und  eldbl  nicht  mrQek  gegen  die  im 
Miltlerlande,  und  wo  es  darauf  ankam,  durch  Massen  /  i  Nvirken,  haben  die 
Kolonien  das  ersiere  übertrnffen.  Ein  Tempel  wie  das  Zi  uslu-iiigturo  in  Akragas, 
der  schönsten  Stadt  der  Storbliohen,  ein  Riese  wie  der  ApoUotempcl  i  -  in 
Seliuus  erhebt  sich  weder  im  Peloponnes,  noch  in  Attika.'  Sehr  wertvoll  ist 
ferner  der  Abschnitt  Dürrns  über  Campobeiio  {Z\x  Tafel  128.  129*  llifr  waren 
die  Steinbruche  der  Selinuntier,  und  noch  finden  sich  daselbst  Süukntrumtnuln, 
die,  erst  ringsum  aus  dem  Felsen  herausgearbeitet,  mit  der  unteren  Flache 
nodi  am  Boden  hallen.  Hier  gieht  Dann  an,  wie  die  Alten  die  ungeheur«i 
Trommehi  too  dem  Orte,  an  dem  eie  aua  dem  Feleen  geeehnitfceii  worden, 
aaeih  Selinna  gebradit  haben:  sie  wurden  in  hdkemen  Rahmen  wie  nnewe 
Strafsenwahen  bewegt.  Dürrn  zollt  bei  dieser  Gelegenheit  'der  angezeichneten 
Schulung  and  Intelligenz  der  Arbeitskräfte*  seine  Anerkennung,  der  *8icheren 
Handhabung  und  zweckmäfsigen  Ausnutzung  der  einfachen  maschinellen  Vor- 
richtungen, über  welche  die  Alten  verfügten',  welche  zeigen  'wie  sie  Aufgaben 
bewälficrtt  n,  die  auch  mit  unseren  modernen,  vervollkommneten  Arbeitsmaschinen 
nicht,  so  ohne  weiteres  zu  losen  wären'  (  S.  57 1  Die  Tiifeln  126.  127  geben 
zum  ersten  Alale  genügende  Abbildungen  und  eine  ausreichende  Beschreibung 
(nm  A.  Hanmth)  der  Thor-  und  Tempdanlage  anf  dem  weaüiclmn  Htlgel 
jenaeiia  dea  nnaees  Sdinns.')  Der  Tempel,  welcher  in  aeiner  Anlage  dem 
ö.  Jahrhundert  Chr.  angehört,  ist  apiter  umgebaut  worden,  und  a.  B.  ein 
daaelbat  gefundenes  Tonnengewölbe  gehört  wohl  dem  1.  Jahrhmidert  n.  Chr. 
an.  Es  lag  anf  diesen  Hügeln  von  Manicalunga  die  Nekropolis  dis  5.  Jahr- 
hunderts. —  Über  griechische  Festungen  klart  zunächst  Tafel  -SS  nebst  Tafel  J 
auf  Es  !«t  ih'T  Euryalos,  die  vo?i  Dionys  gebaute  Festung,  welche  die  West- 
spitze  von  J5yraku3  schützte,  al«  Endpunkt  der  langen  Mauern,  die  von  Osten 
kommend  den  Nord-  und  Südrand  des  Plateaus  von  Epipolae  umfafsten  und 
dort  zusammentrafen.  Erhalten  ist  besonders  ein  geschickt  angelegtes  System 
TOD  ofiiBnen  Gräben  und  unterirdischen  Gängen,  die  die  Verteidigung  gegen 
einen  Angriff  von  Westen  erleiehtwten.  Es  ist  gewifs  merkwftrdig,  dab  man 
an  diesem  Punkte  die  Hauern  aufUhren  liefe  und  nieht  dne  YiertelBtunde 
weiter  im  Westen  den  Hügel  Ton  BeWedere  mit  in  die  Verteidigungslinie 
hineinw^f  da  man  aber  einmal  den  Schlufs  der  Ummauerung  an  einem  durch- 
aus ebenen  Punkte  machte,  der  allerdings  als  schmaler  Isthmus  unschwer  zu 
befestigen  war,  und  die  dort  angelegte  Festung  sich  gar  nicht  über  d-is  inirsi^re 
Gelände  erhob,  so  war  ein  künstliches  System  von  Gängen  sehr  nützlicli,  durch 
welche  die  Besatzung  die  in  den  inneren  Graben  eingedrungenen  Feinde  noch 
überfallen  konnte.    Wie  der  Verfasser  des  Textes,  £.  Bockel,  richtig  bemerkt, 


*)  jr,  Dom,  Bankmut  der  Grieehea*  8.  SM. 


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140 


A.  Holmt  Aus  den  klaMiaehen  Sfid«». 


ist  die  Festung  selbst  von  den  Bomeru  nicht  erobert  worden,  sie  hat  sich  frei- 
willig ergeben;  sie  wax  also  thataachlich  sehr  gut  angelegt.  Wenn  hier  die 
Tttfeln  nicbte  Neues  bieten,  igl  e»  anders  bei  den  Feetnngswerkeo  tob  SeUnns^ 
die  etat  ror  kiWEeiii  BiiBgegr»beii  sind  und  uns  in  mehreren  AnaiehUm  sowie 
in  einer  kleinen  Pbnekixie  (Taibl  K)  vorfg^Bhii  werden.  Sie  betreffen  mm 
Tdl  die  Sfldoetecice,  ganz  besonders  aber  das  Nordende  der  sogenannten 
Akropolis  von  Selinns,  die  unter  einer  gewaltigen,  immer  noch  nicht  voll- 
kommen beseitigen  Hülle  von  Sand  steckt  (Tafel  119 — 121,  Text  von  0.  Späth). 
Die  Bauten  im  Südosten  sind  ein  neue«?  Beispiel  der  auch  in  Griechenlund  vor- 
kommenden Thoraulage,  wonach  auf  das  äulsere  Thor  eine  Art  von  Hof  oder 
Uaug  t'olt^t,  an  den  sich  dauu  ein  inneres  Thor  anschliefst.  Im  Norden  liegt 
dagegen  ein  System  höchst  eigenartiger  Vorwerke,  die  der  von  der  Natur  in 
keiner  Weise  geschütsten  Nordfront  grdfsere  Widtretindufihigkeit  verleihen 
soUten.  Es  sind  Bnndbnsfcionen  und  tief  eingeschnittene,  tdlweise  unter- 
irdische Gttnge,  die  eine  auffidlende  Ähnlichkeit  im  Prinsip  mit  den  Werken 
des  Euryalos  haben,  im  einxelnen  aber  von  ihnen  abweichen.  Die  Gänge 
sollten  in  Selinus  ebenso  wie  in  Syrakus  dazu  dienen,  die  Besatzung  auf  ge- 
schQtzten  Pfaden  an  bedrohte  Punkte  zu  führen.  Späth  vermutet  mit  Recht, 
dafs,  wie  der  syrakusanisphe  Bau  von  Dionys,  so  der  in  Selinus  von  seinem 
iilteren  Zeitgenossen  Hermokrates  herrührt,  der  ja,  aus  Syrakus  verbannt,  die 
verlassene  Stadt  l)esetzte  und  befeatif;t<'  und  ^egen  die  Karthager  verteidigte. 
Späth  weist  darauf  hin,  dafs  weitere  Ausgrabungen  sehr  wünschenswert  sein 
dfiiftoi,  um  das  System  dieser  Festungsanlage,  die  an  Interesse  mit  der  des 
Euryaloe  wetteifern  kSnne,  vollkommen  Uur  zn  machen.  Das  Interessante 
liegt  bei  beiden  eben  darin,  dab  hier  Punkte,  an  denen  das  Q^knde  sdbst  so 
gut  wie  nichts  bietet^  durch  die  Kunst  verteidigangsfShig  gemacht  worden  sind. 

III.  Die  Feinde  der  Grieclien  waren  in  Sizilien  die  Punier.  Schon  die 
Phönizier  hatten  auf  der  Insel  Niederlassungen  gehabt,  die  sie  nach  Thukydides, 
als  die  Griechen  zahlreicher  nach  der  Insel  kamen,  gröfst^^nt^^ils  verliefsen,  nm 
sich  an  drei  Punkten  zu  konzentrieren:  in  Solus,  Pauormos  und  Motye.  Von 
diesen  i'uiikten  lernen  wir  Solus,  dessen  Ruinen  zu  den  interesnantesten 
Siziliens  gehören,  durch  unser  Werk  leider  nicht  kennen.  In  Palermo  ist  die 
Erinnerung  an  die  puuische  Zeit  durch  keine  Monumente  mehr  erhalten;  der 
Boden  selbst  hat  sieh  so  sehr  geändert,  dab  von  dem  'Allhafen*  kaum  noch 
eine  Spur  vorhanden  isi  Der  oniige  phSnisische  Or^  den  das  Werk  uns  vor- 
fUhrt,  ist  Motye,  wo  wir  die  Trümmer  der  Mauer,  wie  sie  bis  397  v.  Chr. 
bestand,  mit  den  Resten  eines  Thores  in  hohem  Glase  sehen.  An  die  Stelle 
von  Motye  trat  durch  die  Karthager  Lilybarnm,  von  dem  uns  Tafel  190  eine 
Ansicht  vorführt.  Xeben  den  Phöniziern  safs  aber  im  "Westen  Siziliens  noch 
ein  anderer  halb  orientalischer  Stamm,  die  Elvmer  mit  ihren  Städten  Sogestn 
und  Eryx,  wenn  wir  nämlich  Entella  nicht  als  echt  elymisch  gelte  n  lassen 
woUen.  Von  Segesta  Laben  wir  bereits  den  Tempel  kennen  gelernt^  die  auf 
einem  anderen  Hügel  gelegene  Stadt  ist  besonders  durch  die  Reste  ihres 
Theaters  interessant,  das  wie  die  anderen  antiken  Theater  Siiiliens  wesentUeh 


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A.  Holm:  Au  dait*UariwhMi  8fld«a: 


141 


in  dem  Zustande  auf  uns  gekommen  ist,  in  den  es  die  römische  Zeit  versetzt 
hat.    Segest^i  erweckt  manche  geschichtlichen  Erinnerungen;  es  ätnnd  stets  den 
Griechen  Siziliens  ein  wenig  fremd  gegenüber;  war  es  doch  die  Veranlassung 
des  grofsen  Zuges  der  AUimer  n«cli  der  InseL   Sein  YerhSltnis  so  KariliBgo 
war  gu^  00  lange  diee«i  mSditig  wer;  tAter  ab  Karthago  nndi  Rom  in  Konflikt 
mit  «nuder  gerieten,  da  erinnerte  «dli  Seg^sta  seines  angeblichen  trojaniaehen 
ürsprangs,  den  es  mit  Rom  gemeinsam  hatte,  nnd  schlofs  sich  an  die  mächtige 
italiaehe  Stadt  an,  von  der  es  seitdem  stets  gut  behandelt  wurde.  Den  fremden 
Ursprung  der  Stadt  verraten  auch  ihre  Münzen  nn'f  «ler  in »mIc würdigen  Inschrift 
^EPE^TAZIBEMI,  d<*mn  eryciniHche  Münzen  mit  IRVKAIIB  entsprechen. — 
Sthr  dankenswert  sind  die  AnsK-hten,   die  ims  von  der  zweiten  Stadt  der 
Eljmer,  dem  wichtigen  Erjx,  auf  Tafel  132 — 137  gegeben  werden  (erläutert 
TOD  Caspari).   Erjx  war  dme  der  h«rflhmtesten  EoI^ttsAftttna  dmr  alten  Weli 
Bier  finden  wir  das  orientaUsdie  Element  sdiarf  ansgeinfgt;  die  Njeinisehe 
Aphrodite  galt  den  Pmiieni  ab  Astarte,  und  die  GSttin  des  Eryx  stand  in 
engen  Bedehnngen  zum  nahen  Afrika,  wohin  sie,  wie  man  sagte,  jttirlich  an 
bestimmter  Zeit  mit  ihren  Tauben  wanderte^  um  nach  einiger  Zeit  zurück- 
zukehren.   Die  Reisegesellschaft  liat  die  Tauben  nicht  gesehen  —  vielleicht 
des  Sturmes  wegen,  der  oft  dort  braust  — ,  aHer  sie  sind  da;  ebenso  wenig 
waren  die  schönen  Frauen  des  Eryx  den  Reisenden  sichtbar.    Das  ist  nun 
freilich  nicht  zu  verwundem,  denn  sie  halten  sich  nach  sizilisch- orientalischer 
Weise  in  den  Häusern,  zumal  Fremden  gegenüber.   Der  Erjx  spielt  bekannt- 
lidi  eine  bedeutende  Rolle  im  ersten  pnnischen  £ri^,  ab  Stfitspnnkt  des 
Hamilkar  Barkas.   Uan  streitet  Uber  die  mschiedenen  OrÜiehkeiten,  die  in 
Betradit  kommen,  inabesondm,  ob  die,  vom  Tempelbesirk  Terschiedene,  Stadt 
Eryx  an  Stelle  des  jetzigen  S.  Oiuliano,  also  unmittelbar  neben  dem  Tempel 
lag.  der  die  Stelle  der  heutigen  Burg  einnahm,  oder  nicht.  Die  Photographien 
geben  einen  trefflichen  Anhalt  für  die  Erörterung  dieser  Fragen  und  zeigen 
die  einzig  schöne  l.nm>  ries  Ortes,  der,  an  der  West.spitze  von  Sizilien  ueleijen, 
fast  immer  in  Ni  In  1  geliüllt  ist  und  ein  so  feucht  kaltes  Klima  hat,  dal's  die 
Einwohner    eine   ganz   nordisch -rosige   Gesichtsfarbe   haben   und   kaum  wie 
Sizilianer  aussehen.    Natfirlich  war  die  Vorbindnng  von  Eryx  mit  Karthago 
eng,  aber  auch  hier  wnlsten  die  Römer  sieb  die  ümstinde  m  nntse  an 
nachen;  sie  stellten  sich  als  besondere  Besdifitser  der  erycinisdien  Venns  hin, 
der  sie  awei  Tempel  in  Rom  errichteten,  nnd  der  sie  in  Sizilien  eelbst  be- 
sondere Ehre  erwiesen.   Die  Göttin  bekam  eine  eigene  Wachmannschaft,  nnd 
noch  Tiberius  und  Claudius  sorgten  für  die  Instandhaltung  ihres  Heiligtums. 
Vvnnn  war  ja  am  Ende  noch  unmittelbarer  am  Wohle  Horns  beteiligt,  als  an 
dem  panischer  Städte. 

Durch  alle  diese  westsizilischen  Orte:  Solus,  Panormos,  Segesta,  Ervx, 
Motye,  Drepanon,  Lilybaeum,  werden  wir  immer  wieder  auf  die  Stadt  ver- 
wiesen, die  die  Stdtae  des  semitiaeben  Einflusses  auf  der  Insel  war,  bis  ihr 
Born  diesen  Besits  ^trils,  auf  Karthago,  nnd  es  ist  ein  Vorzug  der  Samm- 
lung von  Photographien,  die  uns  das  Werk  bietet,  dab  wir  auch  Ton  der 


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142 


A.  Holm:  AoB  dem  klasaiacben  Süden. 


Lage  von  Karthago  eine  Anschauung  gewinnen  und  in  kurzen  Worten  von 
dem  besten  Kenner  der  Geschichte  dieser  Stadt,  Meitzer,  über  die  Topographie 
derselben  belehrt  werden.  Bei  dem  regen  Eifer,  der  in  neuester  Zeit  in  den 
Forschungen  über  Nordafrika  herrscht,  wird  es  nicht  unangemessen  sein,  hier 
mit  wenigen  Worten  auf  die  Topographie  von  Karthago  einzugehen.  Wenn 
man  bedenkt,  welche  Schicksale  die  Stadt  durchgemacht  hat,  wird  mau  es  be- 
greiflich finden,  dafs  die  Wissenschaft  hier  einer  schwierigen  Aufgabe  gegen- 
übersteht. Die  phönizische  Stadt  wird  von  den  Römern  dem  Boden  gleich 
gemacht;  dann  erhebt  sich  dort  eine  römische  Kolonie,  die  reich  und  blühend 
wird  und  auf  die  Vandalen,  dann  auf  die  Byzantiner  übergeht.  Aber  697  er- 
obern die  Araber  Karthago  und  nun  verschwindet  es  von  der  Oberfläche  der 
Erde,  um  als  Material  für  den  Bau  der  muhamedanischen  Hauptstadt  Tunis  zu 
dienen.  1270  stirbt  hier  auf  seinem  Kreuzzuge  Ludwig  IX.  der  Heilige  von 
Frankreich,  und  jetzt  haben  die  Stätte  des  alten  Karthago  die  Franzosen  inne, 
die  sich  als  Fortsetzer  der  Thätigkeit  der  Römer  und  der  Byzantiner  betrachten 
und  wie  jene  für  die  bürgerliche  Zivilisation  des  Landes  sorgen,  wie  diese  die 
Hoheit  des  Christentums  hervorheben  und  auf  dem  Hügel  der  Byrsa,  dem 
Mittelpunkte  des  alten  Karthago,  neben  der  bescheidenen  Kapelle  des  heiligen 
Ludwig  die  mächtige  Kathedrale  von  Afrika  in  sizilisch-orientalischem  Stil  auf- 
gerichtet haben.  Über  der  Erde  ist  gegenwärtig  wenig  von  dem  alten  Karthago 
zu  sehen;  keine  antike  Stadt  von  solcher  Bedeutung  läfst  so  wenig  von  dem 
ahnen,  was  einst  dort  stand.  Das  ist  aber  erst  die  Folge  der  Plündenmgen 
des  Materials  in  der  neuesten  Zeit;  noch  vor  50  Jahren  bot  Karthago  einen 
imposanten  Anblick.  Aber  von  dem  in  dieser  Zeit  aus  dem  Boden  Hervor- 
geholten ist  das  meiste  aufbewahrt,  und  das  Studium  des  bei  den  Ausgrabungen 
Gefundenen,  verbunden  mit  dem  der  Ortlichkeiten  und  des  Geländes,  hat  manche 
Aufklärung  gegeben,  manche  Frage  zu  lebhafterer  Diskussion  gebracht.  Karthago 
hatte  in  der  Anlage  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  seiner  grofsen  Rivalin  Syrakus 
dadurch,  dafs  sich  an  einen  kleineren  Kern  ein  gröfserer,  weniger  bebauter 
Raum  anschlofs,  der  nur  der  Sicherheit  der  Stadt  wegen  in  die  Festungswerke 
hineingezogen  war.  Was  bei  Syrakus  Epipolae,  das  war  bei  Karthago  Mcgara. 
Das  eigentliche  Karthago  nahm  den  südlichen  Teil  einer  Landzunge  ein,  die 
im  Altertimi  nur  durch  einen  schmalen  Hals  mit  dem  Festlande  zusammen- 
hing; jetzt  ist  das  Land  dort  breiter  geworden.  Die  Stadt  lag  zunächst  un- 
mittelbar am  Meere;  ob  die  Anhöhe,  welche  die  Alten  Byrsa  nannten,  und  die 
jetzt  die  oben  erwähnte  Kathedrale  trägt,  sich  anfangs  aufserhalb  der  Stadt 
befunden  habe,  wie  jetzt  gewöhnlich  angenommen  wird,  ist  durch  v.  Duhn') 
wieder  in  Frage  gestellt  worden.  Die  natürlichen  Einbuchtungen  des  Ufers 
genügten  dem  Handelsvolke  nicht,  und  es  wurden  künstliche  Hafenbecken  ge- 
graben, die  bei  der  Geschichte  der  Eroberung  der  Stadt  durch  Scipio  eine  grofse 
Rolle  spielen,  und  deren  Uberreste  noch  vorhanden  sind.  Hier  ist  nun  die  Be- 
trachtung von  zwei  unserer  Tafeln  sehr  lehrreich,  138  und  139.    Die  letztere 


•)  R«i8ebemerkuniren  aus  Karthago.   Arch.  Anzeiger  1896,  2 


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143 


zeigt  das  Gelände»  des  alten  Karthago,  gesehen  von  dem  Ort«>  Sidi  Bu  Said,  von 
dem  T.  140  eine  Ansicht  giebt,  nordlich  von  der  eigentlichen  ulten  Stadt; 
man  sieht  die  Byrsui  mit  der  Kathedrale,  dahinter  die  Lagune  von  Tunis,  Unks 
die  Überreste  der  altun  Hafenbecken.  Tafel  138  ist  aufgenommeu  vom  Süd- 
abhange  dar  Byna  seibat,  und  man  liat  die  Hafenbeekm  gaiu  nahe  vor  rieh. 
Es  tsi  nodi  wie  im  Altertum:  ein  sttdlielieB  längliches  Beefcen  und  ein  nmdes 
ndrdlicihea,  der  Kriegahafen,  mit  einer  Luel  in  der  Mitte,  anf  der  ein  Torrn 
stand.  Anf  der  H6be  der  Bjna  etand  in  pnniocher  Zeit  der  Tempel  dee 
Eschmnn-AaklepioB.  Die  kolossale  dreifMihe  Mauer  Karthagos  pflegte  man 
irrtümlich  nach  Appian  als  ein  System  von  drei  gleich  hohen  Mauern  auf- 
zufassen; jetzt  nimmt  man  mit  Recht  drei  Werke  verschiedenen  Cliarakters  an: 
eine  innen'  gewaltige  Mauer,  eine  zweite  niedrigere  Befestigung  und  ein  äufseres 
Vorwerk.  Ich  möchte  zur  Unterstützung  dieser  auch  von  Meitzer  geteilten 
Ansicht  darauf  hinweisen,  dafs  noch  jetzt  die  Mauer  von  Konstautinopel  in 
dieser  Weise  angelegt  ist.  Sie  stanuut  allerdings  aus  bjnuntinischer  Zeit 
(447  n.  Chr.),  abw  es  ist  nicht  nnwahrsdieinlicli,  dafo,  wenn  einmal  eine  Stadt 
wie  Karthago  drei  Hanem  hatte,  dieselhm  nadi  dem  gleichen  TMrnflnftigen 
Prinnp  angelegt  warm,  dab  anf  ein  hohes  idm  vtlfoff  nadi  ein«n  mifißoloe 
dn  niedrigeres  i^a  tdxos  folgt  und  dann  ein  9eQOt£{xi6iia,  Brustwehr.  Die 
flbrigen  Banweihe  des  alten  Kartiiago,  von  denen  noch  Reste  vorhanden  sind, 
wollen  wir  hier  nicht  aufzählen,  um  so  weniger,  da  sie  anf  den  Tafeln  nicht 
abgebildet  sind,  auch  nicht  ahm'lu'ldet  werden  konnten,  weil  sie  mmai  nur  bei 
tiefen  Grabungen  zu  Tage  getreten  sind.  Wir  erwähnen  nur  als  originell  und 
grofsartig  die  zwei  gewaltigen  Cistemenan lagen,  im  Westen  und  im  Osten  der 
Bjrsa,  die  wahrscheinlich  erst  aus  römischer  Zeit  stammen,  und  in  die  das 
Wasser  dnreh  den  romisdhen  AqnSdnkt  Tom  Berge  Zaghonan  (Mona  Zengi- 
tsnns)  (Tafel  145)  geflihrt  wurde,  sowie  die  Beste  von  Manem  der  Byrsa  Ton 
gewattigw  Dicke  nnd  eigentümlicher  Eonttmldaon,  und  weism  noch  ganx  knrs 
anf  die  Gräber  hin,  die  aus  allen  Epochen,  von  der  phoniaischen  bis  zur 
romischen,  in  Karthago  aufgedeckt  und  ausgebeutet  worden  sind,  so  dab  wir 
die  Begräbnis  weise  der  Karthager  wie  der  Romer  uns  aufs  beste  vergegen- 
wärtigen können.  Originell  ist  z  B.  die  Art  wie  an  dem  Bir  el-Djehbana  ge- 
nannten Orte  Beamte  des  Kaisers  begraben  wurden.  Alle  diese  Funde  ans 
Gräbern  und  sonst  Entdeckte  «,  z.  B.  eine  Menge  von  Votivstelen  an  Tanit  und 
Baal,  hat  der  gelehrte  und  unermüdliuhe  Pere  Delattre  im  Museum  von  Saint 
Louis  lusammengsetdli  Da  sieht  man  in  Glasschranken  die  Terracotten,  Glas- 
ssehen,  Hoasiken,  Statuetten,  welche  den  Wechsel  der  in  Karthago  gebrftuch- 
lidwn  Kunst  ton  An&ng  an  zeigen,  wo  dann  anerst  ägyptischer  Einflnfs,  dann 
griechischer,  dann  römischer,  endlieh  byamtimscher  sich  geltend  machen,  sowie 
nm  das  Haus  herum,  im  Garten,  Skulpturfragmente  und  Inschriftsttnne.*)  Wir 
haben  jetet  in  Melters  Buch  die  sorgf  Utige  Geschichte  Karthagos^  wie  sie  aus 


■)  So  schildern  das  Mufcum  Csgoat  und  SaUdia,  Vojsge  «a  Tnaiti«:  Paris  18M, 

j.  m—m. 


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144  A%  Bbim:  Ana  den  Uamdieii  flUdm. 

den  alten  Schriftsh'Uern  mit  Hülfe  der  ÜbcrbleibBel  gezogen  werden  kftnn;  die 
Ruinen  und  die  Sammlungen  erläutern  die  Kulturgescbichte  der  merkwürdigen 
Stadt  in  überraschender  Weise,  und  einen  trefflichen  Anhalt  fftr  diese  Studien 
giebt  du  kflnlieli  aroehienfliM  Badi  von  E.  Bttbelon.^) 

IV.  Wir  wenden  uns  cur  riegreiclien  Nebenbuhlerin  SjurÜiegos,  sn  Born 
(Tafd  1 — 12  f  Text  von  Lnekenbadi,  d^  kfiialidi  in  einer  beeonderen  Sdirift 
das  Forum  Romanum  behanddt  bat).*)  Ans  der  gewaltigen  Menge  der 
römischen  Monument©  werden  uns  hier  vorgeführt:  das  Forum  Homanum, 
Tafel  1.  5.  7;  die  Triumphbogen:  Tafel  2  des  Titus,  Tafel  3  dea  Septimius 
Sevenis,  Tafel  4  des  Konstantin;  der  Romulustempel  und  Basilica  des 
Maxentius  Tafel  G;  der  Palatiu  Tafel  S'.  9.  10;  das  Forum  Trajanura  mit  der 
Trajaiissüule  Tafel  11;  das  Forum  Boarium  mit  dem  sogenannten  Vestatempel 
Tafel  12.  Die  römisch-griechiscbe  Knltor  aeigen  uns  die  aus  Pompeji  auf- 
genommenen Bilder,  Tafd  17 — 36  (T»t  von  Scbomaduor  und  Zahn).  Sie 
geben  wiedemm  das  Wichtigste  in  neumi,  sehr  gut  gewShltm  Abbildnugen, 
welche  die  Torhandenen  sonst  ULoflichen  aufe  beste  er^noen.  Eine  Tafel 
dflrfte  für  sehr  Tiele  ganz  neu  sein,  die  Ansicht  des  in  den  letzten  Jahren  aus- 
gegrabenen sogenannten  Hauses  der  Vettii,  das,  wie  der  Text  auf  S.  13  mit 
Recht  ssL^^f  gegenwärtig  den  Hauptanziehungspunkt  Pompejis  bildet 

Einer  späteren  Zeit  als  der  in  Pompeji  vertretenen  gehört  das  römische 
Afrika  an,  mit  dem  sich  nur  wenige  Tafeln  beschäftigen,  das  aber  durch  eine 
längere  Abhandlung  von  Rosiger  in  seiner  Eigentümlichkeit  gut  geschildert 
wird.  Wir  kommen  hier  wieder  auf  den  von  den  franiSsischen  Gelehrtm  be- 
arbeiteten Boden  und  woUen  es  uns  nicht  verBagm,  ^  ee  sich  um  Forachungen 
handelt,  die  in  neuester  Zeit  gemacht  sind  und  noch  beständig  forigeselat 
werden,  hierüber  etwas  eingehender  zu  sprechen,  zumal  da  diese  Entdeckungen 
in  Deutachland  noch  nicht  so  bekannt  sind,  wie  sie  es  verdienen.  Seit  die 
Franzosen  sich  in  Nordafrika  nie(lerg(>lassen  haben,  sind  sie  mit  grofsem  Eifer 
bosehaftigt  gewesHn,  die  Vergangenheit  dieser  Gegenden  zu  erforschen,  und 
einen  neuen  Anstois  hat  in  dieser  Beziehung  die  Stellung  von  Tunis  unter 
französisches  Protektorat  im  Jahre  1882  gegeben.  Frankreich  hat  tieme  Ehre 
darein  gesetai^  das  seinem  Schutze  anvertraute  Land  in  jeder  Hinsieht  zu  heben, 
und  dessmi  arcihSologische  Erforsdiung  ist  mit  grofter  KonsequMu  betrieben 
worden.  Lokale,  von  Fianiosen  geleitete  Behörden  und  wissMischalliUche,  Ton 
Frankreich  ausgehende  Hissionen  wetteifsm  in  der  Erforschung  und  Veröffent- 
lichung der  Altertümer;  Topographie  und  Monumentenkiinde  werden  gleich- 
mälsig  gefördert  Einer  der  begeistertaten  Forscher  in  Tunesien  xind  überhaupt 
in  Nordafrika  war  Charles  Tissot  (geb.  gest.  IJ-^^-l.  zuletzt  französischer 

Botachaiter  in  London,  vorher  Gesandter  in  Marokko  1871 — 187(>;,  einer  der 


^)  K.  Babclon,  Carthage.  Parie  B.  Mit  trefi'licbem  grofHcm  Plane  von  Karthago. 

Da«  Buch  ist  der  zweite  Band  der  Ouides  cn  Altjt'iie  et  en  Tunisie  Es  sind  hier  alle 
<     aeuGsteu  Lokaiforacbuugea  ven^eicimet ;  die  trübere  Litterutur  giebt  Meitzer,  UdK.  2,  ti. 

*)  Luckeabach  und  Levi,  Das  Fora»  Eomanoni.  Karlnr.  1996.  4. 


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A.  Holm:  Am  <l«m  k]«Miteb«ii  8ad«B. 


145 


besten  Kenner  Nordafrikas.  Et  Imtte  längere  Reisen  in  Tunesien  gemacht  und 
?erfolgie  nnablässig  den  Plan,  Auagrabungen  in  Karthago  selbst  zu  veranstalten, 
»bttr  er  hat  üin  nicht  mehr  verwirklichen  können.  Sein  iiaupiwerk'j  ist  nach 
idnem  Tod«  Ton  seinem  onennfldlichea  Mitarbeiter  SaL  Retiiach  herauKgt  g<  L>en 
worden.  TiMot  war  nit  Vorliebe  iDadurifleDfiondier  und  itBiid  mit  KomnMen 
in  freandBchafUidien  Benehnngeii.  Seit  aeinon  Tode  hat  die  Erfoiadiiuig  des 
TÖmiediaii  und  bjzantiniflckett  Afrika  in  jeder  Hinsieht  schneUe  Fortsehritt» 
gjemaehl  leh  brandie  unter  vielen  nur  die  Namen  von  Cagnat  und  Toutain 
zu  nennen,  um  anzudeuten,  mit  welcher  Liebe  und  welchem  Erfolge  jetzt  diese 
Studien  betrieben  werden.  In  neuester  Zeit  ist  die  byzantinische  Epoche  von 
Nordafrika  Gegenstand  der  eingehendsten  Forschung  von  Oharies  Diehl  geworden. 
Eme  »chöne  kurze  Übersicht  der  Altertümer  Tunesiens  gieht  P.  üauckler.*) 

Quellen  unserer  Kenntnis  der  Zustände  den  römiBchen  Afrika  sind  nun  die 
Obeneete  aller  Art,  Graber,  Triumphbogen,  Tempel,  Zisternen,  Meilensteine, 
SMeen,  Brficken  o.  s.  w.,  und  daneben  Inschriflen,  wie  sie  in  solcher  Fülle 
woU  in  keiner  anderen  tSmischen  Prorina  an  Tage  getreten  sind.  Das  Land 
iik  eben  seit  dem  7.  Jahrlinndert  n.  Chr.  der  Barbarm  Ter&Uen  gewesen,  nnd 
M  haben  Inschriflen  und  Monumente  vom  Sande  bedeckt  und  teilweise  er- 
halten werden  können.  Wo  niekte  Neues  gebaut  wird,  läfst  man  die  alten 
Steine  ruhig  liegen;  die  Trümmer  von  Karthago  werden  erst  jetzt  gründlich 
vernichtet,  wo  man  in  der  Gegend  wieder  n^^ue  Bauten  aufführt  Steine 
sammeln  ist  hier  eine  Beschäftigung,  die  Geld  einbringt.  Durch  die  Inschriften 
sind  uns  sowohl  Leben  nnd  Verfassung  der  Bürger  Afrikas,  wie  auch  die  Ver- 
hältnisse der  Soldaten  iu  ikreu  Lagern  klar  geworden,  so  dafs  schon  ein  Bild 
des  idmisdien  Afrika  fiBr  das  grolbe  Publikum  dnreh  Boissier')  hat  gegeben 
werden  können.  —  leb  habe  hier  absichÜich  nur  die  fransSsisehen  Forscher 
geaaant,  von  den  denteehen  werde  ieh  noeh  am  Sehhisse  dieses  Anfrataes 
sprechen.  Ein^  Bigebiiisse  der  Forschungen  hat  im  Texte  unseres  Werkes 
Bdiiger  bei  Gelegenheit  der  Besprechung  der  Taleln  145 — 147,  welche  Utika 
betreffen,  in  anq[»rechender  und  lebendiger  Weise  zusammengestellt.  Da  Algerien 
50  Jahre  früher  in  französischen  Besitz  gekonunen  ist  als  Tunesien,  so  sind 
über  jenes  Ai  :m  iten  möglich  gewesen,  welche  den  Gegenstand  haben  mehr  er- 
schöpfen können,  und  wir  haben  von  zwei  Orten,  welche  in  den  Bereich 
Algeriens  fallen,  abschliefsende  Schilderungen  dieser  Ait,  von  einem  römischen 
befestigten  Lager  and  einer  rein  bürgerlichen  Stedt:  Lambaeeis  und  Thamugadis. 
IHese  beiden  Orte  lagen  nahe  bei  einander,  nSrdlich  Tom  Auresgebirge.  Lam< 
bsMis  war  das  Stendkger  der  3.  Legion.  Wir  besitMn  aber  dieeen  Ort  eine 
knne  Schilderang  ans  der  Feder  des  Pkt>f.  K.  Schnmacher  in  Ksrlsruhe,  eines 

'i  Ch  Tiasot,  Geographie  onntparfe  de  U  pcovinee  lomauie  d'Afrique.  8  vol.  in  4. 

Puis  1^84.  1888. 

*)  B.  Cagnat,  L'amte  ramaiae  d'Aftique.  Peris.  4.  J.  Toutaia«  Lei  eiUs  lOiiiBin«* 

de  la  Tutüaie.   Fun'«  1896.  Ch.  Diehl,  Ii'AlUqne  bTiantine.  Paris  1886.  P.  Q&nckler, 

L'wchöologie  de  la  Tunisie.    Paris-Nancy  lf<96 

*t  Q.  Boissier,  L'Afrique  roinaiue.   Paria  1896. 
Xiw  «alAttobof .  im.  h  10 


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A.  Holm:  Am  dem  UMnidin  8lld«D. 


der  Teilnehmfr  der  badiscben  Reise'),  die  ab  Zusatz  zu  dem  Werke,  das  wir 
besprechen,  betrachtet  werden  kann.  Schumacher  ist  einer  der  Leiter  der 
lamesforschung,  und  so  war  ihm  die  Besichtigiing  der  römischen  Grenzanlagen 
besonders  wicihtig.  Du  ÜBste  Lager  toh  LsmliMsift  liat  eine  Ansdriinnng  ton 
500  :  420  m.  Es  hai  Tier  Thörey  Ton  denen  vier  StrnfiMO,  die  mit  FoMejgen 
▼ersehen  sind,  anskufni.  Im  Hiitelpankt  sfeeht  ein  grolkee  GebSnde,  des  einen 
olfonen  Hof  enthalt;  das  ist  das  Praetoriom,  oder  richtiger  nach  Schumacher 
der  Mittelbau  von  dessen  Hanptfin^ade.  Bekanntlich  bheben  die  römischen 
Soldaten  lange  im  Di(!nste;  so  war  das  Lager  ihr  dauernder  Wohnsitz,  und 
es  u^ulsten  sich,  /nmal  da  hiV'  Familien  gründeten,  daran  Voranstaltuntjen  für 
die  Befriedignr.ij;  alier  Leben-i'  diii  fnis.se  anschliefsen,  die  sugeiiunnten  camibaey 
aus  denen  dann  ätädte  geworden  sind.  So  hat  sich  auch  in  Lamhaeais  neben 
dem  Lager  eine  bürgerliche  Stadt  gebildet,  von  der  noch  manche  Reste  Tor- 
banden  sind,  n.  a.  ein  schSner  Trimnphbogen  an  Ehren  des  Septtmins  Severns 
nnd  ein  Doppelfinrnm.  In  der  Mühe  ist  nahe  dem  Oipfiel  eines  Htigds,  von 
dem  man  «ne  sefaSne  Aaasidkt  ftber  Stadt  und  Lager  bat,  eine  QneOe,  daa 
erste  Lebensbedürfnis  in  jenen  Gegenden.  Die  Schildenmg  von  Thamugadis, 
(Iber  das  Cagnat  ein  Prachtwerk  herausgiebt'),  würde  hier  nicht  am  Platao 
sein.  Man  macht  mit  R-eclit  darauf  aufmerltsam,  dafs  es  Städk'  wie  Thamu- 
gadia  mit  Monumenten  aller  Art  vielleicht  hundert  im  römischen  Nordatrxka 
gegeben  hat,  so  dals  am  Ende  die  alte  Behauptunjr,  die  Zeit  der  sogenannten 
guten  Kaiser  ^Nerva  bis  M.  Aureiius)  sei  die  glücklichste  Zeit  des  Menschen- 
geschlechtes gewesen,  in  der  Hinsicht  nicht  unbegründet  ist,  da£s  niemals  ein 
allgemeinerer  Friede  auf  weiteren  Strecken  gehemcbt  bat  nnd  die  H^ischeii 
sich  memals  der  Befriedigung  ihrer  Bedttrfiusse,  die  sidi  in  geistiger  Hinsiebt 
aHerdii^  besonders  aul  eine  angenehme  Bedeknnat  bwwhTÜnkten,  in  grOfiMrer 
Robe  haben  hingeben  können,  als  damals. 

Wir  nähern  ans  nnn  dem  Ende  der  klassischen  Zeit,  von  der  unser  Werk 
handelt.  Aber  wer  in  Sizilien  reist,  kann  sich  dem  Zauber  der  arabigch- 
normannischen  Periode  nicht  entziehen,  und  m  bietet  aucb  nrxsar  Werk  Ansichten 
und  Schilderungen  aus  Palermo  und  Umgegend  (Tafel  llKj — 113,  Text  von 
Rech,  Sadee  und  Leonhard),  z.  B.  die  Dome  von  Palermo  und  Monreale,  die 
Kirche  S.  Giovanni  degli  Eremiti  mit  ihrem  Kreuzgang  und  die  Martorana. 
Die  AiiM«li*An  fltnd  teilweise  von  sonst  nndit  beachtettti  Punkten  an^etumunen 
nnd  erginien  die  sshlreichen  vorhandenen  Photographien  anfii  beste.  Den 
Normannen  folgen  in  Siailien  nnd  Unterttalien  die  Hohenstaofen,  nnd  da  hat 
sich  die  badische  Expedition  ein  Verdienst  um  die  Kenntnis  der  Kulturgeschichte 
jener  Zeit  erworben,  indem  sie  ein  Werk  des  grofsen  Friedridi  das  Schlofo 
auf  dem  Berge  (Gastel  del  Monte)  bei  Andna  in  Apnlien,  in  awei  Ansichten 


')  K.  Schauftcher,  In  Lager  der  dcittaii  aftikaauMbea  L^fion.  Beihge  der  A%. 

Ztg.  1897  Nr  29 

')  Timgad,  Une  cit^  africaine  eoua  l'empire  romaiu,  par  ßocawillwald  et  Cagnat. 
In  4.  Paris,  bin  joUt  8  Liefemngen.  A.  Ballu,  Qoide  de  Timgad.  Far.  1897. 


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A.  Uolia:  Aus  dem  klassischen  Süden. 


147 


zur  DarstoUimg  bringen  liefs  (Tat  1  :')6.  67),  wozu  Prof.  Schmitt  eine  tarefFliche 
ürlSotenuig  gesckrieben  bat.  Er  macht  es  «ahraGlMMBÜch,  dafs  das  stolze  Bau- 
werk, von  dem  in  den  Historikern  kaum  eine  Spur  vorkommt,  ein  Jagdschlofs 
gewtsi-n  ist,  und  liuch  das  Innere  mul's  des  niiu  litit^en  Kuificrs  würdif:^  gewesen 
»f-in.Vi  Es  wird  nicht  unpassend  sein,  hier  darauf  hinzuweiaeu,  dafsi  Friedrich  II. 
iiii»of«ra  doch  noch,  trota  seiner  nordischen  Herkunft  (von  Schwaben  und 
Nennamieii)  ein  Vertreter  des  Uemidien  Sfldene  als  er  die  antike  Kunst 
▼oflkommen  m  solifttMu  wnbte.  Seine  Goldmtbuten,  die  Angostalea,  «ind  wohl 
die  MlionBle  Eneognii  der  mittelalterlichen  F^Agokmuit  in  der  «n  daa  Alterhun 
neb  anlehnenden  Weise.  Sowohl  die  Kop^ite  wie  die,  welche  den  Adler  trigt^ 
erinnern  an  antike  Münzen,  und  es  ist  auch  fttr  die  Kenntnis  des  Altertums 
nicht  unangebracht,  hier  darauf  animerksam  zu  machen,  dafs  die  gründlichste 
mit  Abbildungen  versehene  Behandhinp  des  Gegenstandes  die  des  verstorbenen 
Ed.  Winkelmann  int,  der  auch  dieser  Thätigkeit  seines  Helden  seine  AnfTnerk- 
samkeit  gewidmet  hatte.*)  —  Das  Wiederaufleben  des  Klassizismus  in  der 
Renaissance  stellt  ein  Palast  in  Bitonto  (Tafel  55)  uns  vor  Augen,  in  derselben 
Gegend,  aas  der  uns  auch  ans  Bari  sowie  ans  Bitonto  sellwfc  interessante  Denk- 
Bttier  der  chiistlichen  Baukunst  frflherer  Zeit  (Dom  nnd  8.  Nicola  in  Bari, 
Dom  Ton  Bitonto)  geselgt  werden  (Tafd  50 — 54,  Text  Ton  Leonhard). 

Wir  haben  an  zeigen  versucht,  wie  man  an  der  Hand  des  Werkes,  das 
TOD  Künstleni  nnd  Gelehrten  mit  Liebe  und  ohno  Anspruch  auf  die  Vor- 
fähmng  neuer  wissenschaftlicher  Ergebnisse  zusammengestellt  wurde,  einen 
rberblick  über  eiuua  kleinen,  aber  wesentlichen  Teil  der  alten  Kulturgeschichte 
gfewiuneu  kann,  und  deswegen  besonders  hervorgehoben,  was  durcli  flie  ge- 
wöhnlichen Studien  dem  Freunde  des  Altertums  weniger  klar  hervortritt:  die 
prShistorisdien  Altertümer,  die  Architektur,  die  Topographie  und  die  Ver- 
teidigungskonit  der  Griechen,  die  Altortflmer  der  Pnnier,  endlich  die  Über^ 
bleäMol  des  romischen  Afrika.  Wir  möchten  mit  einttn  Wnnsche  adiliefsen. 
Wenn  Belsen,  wie  die  badiachen,  ihrer  Natur  nach  ksüie  «igentlieheo  Forsdier^ 
rasen  sein  können,  so  kSnn«i  sie  doch  nicht  nur  dadurch  nütaeo,  dafii  sie  den 


Seitdem  obige«  gewliriebea  worde«  nnd  NachrichtoD  Über  Ftmobiingea  ani  Licht 

^"{tHpti,  die  viVior  den  Urspninp  dos  apuliadirn  CaHlcl  del  Monte  einige  \iifr''r>runf»  geben. 
Kmile  ßertaux,  ein  französischer  Forscher,  bespricht  in  seinen  Monomeuti  Uclla  iiegione 
4el  Tntture,  Nupoli  1897  (Supplement  'XTapoU  nobübibaa*)  aneh  diei  Kaitell,  da« 
hMui  wahrscheinlich  von  Philipp  Chinard,  einem,  ans  C^pem  etammcndon  FraniOBen,  der 
Hilter  Friedrich  nnd  Manfred  in  Unteritalipii  eine  fjrof^e  Rolle  gespielt  hat,  geschaffen 
worden  ist    Von  denuelben  Architekten  scheinen  daa  Ca«tel  Maniace  in  Sjraku«, 

und  dei  CSstel  Orrini  in  Calania  (1240)  m  «ein.  Dm  Cartel  del  Monte  ist  1S40  begonnen 
worden.  Auf  diese  Forschungen  wäre  in  einer  neuen  Aufluge  de-  ri'xt*>s  Kütksirht  zu 
nehmen;  ebenso  auf  Meltserft  nonierkuapen  mr  Topo^aphio  von  Kartbu^,"),  Nt'uc  Jahrl» 
för  PhiL  1887,  &.  fi.  So  liciso  sich  in  einer  neuen  Auflage  noch  manches  nachtragen, 
•inigee  verbeeeetn,  nnd  beeonden  ndcblea  wir  raten,  dae  onbeqneme  Foliofomtnt  dee 
Textes  durch  ein  handliches  Oktav  zu  eneiMn. 

'  E  W  i  n  k  e  I  m  a  n  n .  Die  Goldprägxuigen  Kaiser  Fziedriebe  U.  Miiteilnngen  det  Instiinte 
für  Österreich.  Geachicht^oracbong,  Üd.  XV'. 

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148 


A.  Holm:  Aug  dem  klassischen  Boden. 


höheren  Unterricht  beiruchten;  sie  können  auch  den  Mitgliedern  Antrieb  geben, 
selbst  in  diesen  Dingen  weiter  zn  forschen,  und  wenn  dann  ein  bestimmtes 
Gebiet  sieb  als  passendes  Objekt  darstellt,  wanun  sollten  nicht  auch  in  weiterer 
Folge  streng  wisaenschafllicbe  Arbeiten  aus  solchen  Anregnngen  hervorgehen? 
So  wie  Österreich  auf  den  Orient,  so  ist  Westdeutschland  iu  dieser  Hinsicht 
auf  den  Westen  des  rOmiscben  Reidiii  ab  suf  an  naftflzlidiM  ÄrlwililiBld 
hiugtwiMeii.  Di«  Arbeifan  der  FnuuuMen  füm  Afrika  mehren  eich,  aber  ee 
ist  dort  nodi  viel  an  fhun,  wobei  die  Deiiteohen  sehr  gut  mitwirkaa  kannten, 
mehr  als  es  jelafc  geeehiehi  Die  Insehriftenforsdning  hat  sdion  swei  tOchtige 
Qelebrte,  die  sich  gerade  Afrika  gewidmet  hatten,  zu  früh  scheiden  sehen 
müssen:  G.  Wilmanns  und  Job.  Schmidt.  Neuerdings  haben  wir  eine  wertvolle 
Arbeit  über  die  Besitzverbilltnisse  Afrikas  in  römischer  Zeit  von  Ad.  Schulten 
bekommen.')  Wir  erwarten  nicht,  dafn  b?id!«cbe  Expeditionen  den  ganzen 
römischen  Westcju  durchwandern,  aber  warum  boilte  man  nicht  an  den  badiachen 
Universitäten  und  Schulen  auch  fernerhin  dem  btudium  des  Altertums  im 
Westen,  in  Gallien,  Italien  und  zumal  in  Afrika,  eine  besondere  AnfinnlaHUBi- 
keit  mwenden? 

*)  A  Schulten,  P-c  ri'mf-rl^f'n  fJnindherrschaften  Weimar  1896.  Dif  SJehrift  ist 
reich  an  guten  Bemerkungeui  ich  erwähne  nur  die  Kleinigkeit,  dafs  der  saltuarius  nicht 
«m  'ftreatier*  ist,  lOiidera  der  bitenda&t  des  Ovtes  (nltos).  [Daxa  neuerdings:  J.  Toataui, 
L'inseription  d'HencUr  MetUch.  Tn  nouveau  document  sur  la  ptopri^t^  agricole  dani 
TAfrique  Pari--  i^dt)  and  A.  Schalten,  Di»  Lex  MMMiana,  eine  efrikaniache  Domlnen» 
Ordnung  (Berlin  lbi>7).] 


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DIE  WALLFAHRTEN  DES  MITTELALTEBS  UND  IHB  EINFLUSS 

AUF  DIE  EULTUB. 

Yoa  GvOBO  Lora. 

'Wir  sind  nicht»;  was  wir  suchen,  ist  alles':  das  Wort  Hölderlins  kemi- 
aeichnet  einen  dem  dentachen  Wesen  tiefeigenen  Zag,  die  Neigung  über  die 
Wirklichkeit  hinaus  zu  streben,  die  Quelle  des  spekulativ  -  mjstischen  Triebes 
irie  des  Dcmnge»  in  di«  Feme,  die  mit  pu»  andwer,  geheimnisvoller  Medit 
dem  Menaolien  der  Yei^ngenheit  gegenfiber  etamd  als  der  Gegenwart.  Denn 
nihrmd  nns  die  Fremde  nur  Gegenstand  der  Veri^ehnng  mit  eehon  ge- 
wonnenen Vorstellungen  ist,  war  sie  früher  das  Wunderbare  schlechthin.  War 
doch  bis  an  die  Schwelle  der  Neoieil  der  Ereis  der  bekannten  Welt  nur  klein, 
and  die  Lücken  der  Kenntnis  suchte  man  wie  auf  anderen  Gebieten  nicht  auf 
dem  mühseligen  Wege  der  Erfahrung,  sondern  ilurch  Spekühitinn  und  PhantHsie 
anzufüllen.  Dazu  kam  die  Achtung  vor  der  Autorität  dea  Altertums,  der  man 
bis  zu  den  Entdeckungen  des  15.  Jahrhunderts  eigenen  Erwerb  nicht  gegen- 
Qber  xa  stellen  hatte.  So  werden  denn  von  den  Schiffermärchen  der  Odyssee 
aad  der  wunderbaren  Reise  Lucians  bis  aar  Sage  Ton  Hersog  Emst  von  einer 
Generation  anr  anderen  ftberlielini  die  Beridhte  TOn  den  FabelgeachSpfen,  denen 
uoeb  biten  des  14.  Jabrbnnderts  i^wissenbalt  ibre  Wobnmise  anweiseQ,  von 
den  Meeren  aus  Baumharz  und  von  undurchdringlicher  Dunkelheit  bedeckt. 
Rechnen  wir  dazu  die  Schwierigkeiten  dos  Verkehrs  selbst  in  bekannten 
Ländern,  so  wir*!  »»«  nicht  wunder  nehmen,  dafs  unter  den  Genüssen  das 
Reisen  einer  der  jüngsten  ist;  das  moderne  Tonristentum  entötammt  er^t  dem 
voripen  Jahrhundert,  «eine  ersten  Spuren  reichen  nur  bis  in  das  sechzelinte 
zurucL  Durch  grolse  Entdeckungsreisen  hatte  sich  in  nie  geahnter  Weise  der 
Krri«  der  bekanntMi  Welt  gedehnt,  das  bisher  Fbme  sehnnnpfte  ausammen 
dagegen,  nnd  der  Phantasie  wie  dem  Begehren  wurden  ganz  neue  Ziele  geateekt. 
D«r  Erweiterung  des  iolberen  Gesidit^reiaea  gii^  eine  solche  des  inneren 
zur  Seite  in  der  litfeeranschen  Bmaissance,  deren  TiSger,  die  Humanisten,  un- 
itite  Wandematoren  waren.  Der  Unprung  der  modernen  Bildung  blieb  lange 
mafsgebend  auch  für  die  Neigungen  der  Reisenden.  Wie  die  römische  Kaiser- 
zeit, dif^  einzicjp  die  vir.  Tonristentum  L^rkannt,  einzig  den  durch  historische 
uder  litt»  1  ai  idche  Merkw  ürdigkeit  ausgezeichneten  Punkten  ihre  Aufraerksam- 
keii  zugewendet  hatte,  so  blieb  Bildung  auf  lange  hin  der  Hauptzweck  der 
Beisen  und  Anleitung  dazu  der  Inhalt  der  Beisehandbflcher.  Der  erste  Ter- 
beter  dieses  Tjpuä,  des  Oratolo  De  r^imme  Uer  agenOim  vd  e^ptUum 
reükm  vd  nmi  vA  emu  im  fhttta,  1562  au  Basel  herausgegeben,  trSgt  schon 


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150    6.  Liebe:  Die  WaUfUirten  des  Hitielalten  und  ihr  Büuflnfi  auf  «Ue  KuUiir. 


denselben  Charakter  wie  Köhler-Kinderlin^s  178R  zu  Magdeburg  veröffentlichte 
'Anweisung  zur  Reiaeklugheit  für  juuge  Gelehrte,  um  Bibliotheken,  Münz- 
kabinette u.  8.  w.  luit  Nutzen  zu  besehen.*  Dem  Menschen  wurde  mehr  Auf- 
merkaamkeit  geschenkt  als  der  Natur,  deren  SchatKong  sicli  der  Antike  an- 
■ddofiiy  »n  der  die  neue  Ästhetik  geoSlirk  irar.  Der  idyllieche  Charakter  wnrd^ 
ungleiek  dem  keatigMi  Empfinden,  dem  diamatisdien  Torgecogen.  Wenn  Konmd 
Celtee  Tom  Hane  sagt:  *In  engen  ThUem,  beim  Tosen  Über  Felsen  herab- 
schäumender  Oiefsbiche  gewiuiit  die  matt  erlenehtete  Gegend  das  Ansehen  der 
Unterwelt*,  so  erkennen  wir  dieselbe  Ansehauung  in  den  Worten  Immermanns: 
'Ich  kann  nur  mit  der  Nütur  Freundschaft  schliefsen,  der  ich  ansehe,  dafs  der 
Mensch  leicht  und  frei  auf  sie  einwirken  kann.'  Das  moderne  Naturemptinden 
als  Flucht  vor  der  Kultur  datiert  erst  von  Rousseau,  und  durch  Goethe  wurde 
der  Begriff  des  Romantischen  in  die  Litteratur  wie  die  Emptinduug  eingeführt. 
Seine'  italienisdie  Reise  hat  einer  neuen  Art  der  Darstellung  Bahn  gebrochen, 
für  die  nicht  die  Fülle  der  gesebanten  Objekte,  sondeni  die  Snbjektinttt  des 
Sehanenden  im  Kittslpiinkte  stehi^ 

Haben  die  DeotsdiMi  tot  Eintritt  dieser  mit  dem  16.  Jahrhnndot  ein- 
setsenden  Entwickelung  das  Reisen  als  Selbstzweck  nicht  gekannt,  so  ist  es 
ihnen  dodi  vorbedeutend  geblieben,  dafs  sie  als  Wandernde  in  die  Geschichte 
eingetreten  sind.  Eine  rastlose  Beweglichkeit  hielt  einen  grofsen  Teil  des 
Volkes  auf  der  Wanderschaft,  auch  nachdem  die  auf  Besiedelung  des  Ostens 
gerichteten  Züge  ins  Stocken  geraten  waren.  Mochte  die  Fremde  durch  Un- 
sicherheit uud  Rechtlosigkeit  den  Namen  rechtfertigen,  der  heute  mit  anderem 
Sinne  fortdauert  —  das  Elend  — ,  aus  ihrem  Dämmerlichte  winkte  alles,  was 
dem  Menschen  begehrenswert  ersdiien:  Eriegsruhm,  Reichtum,  Bildung,  die 
anch  den  Niedriggeb<Mrenm  an  Ffiratenrsng  sn  erheben  veimodkte,  und  himm- 
lischer Lohn  der  Glaabenssehnsnchi  FOr  gewisse  Ersdi^ungen  wird  die 
Beweglichkeit  zur  typischen  Eigenschaft,  die  sich  in  der  Benennung  ausprägt. 
So  wird  der  Krieger  nun  Reisigen,  der  pere/frimis  snm  Pilger,  der  SchOkr 
zum  Vagant<?n,  der  als  Grundsatz  seines  unstäten  Ordens  aussprach:  (htm  in 
orheni  ururersum  thrnnfniur:  Ite,  sacrrdofes  ambulant,  currunf  comobitaf.^  \  Die 
beiden  gewaltigsten  Leideuschaften  de«  Mittelalters,  die  kriegerische  und  die 
religiöse,  haben  die  weitesten  Ziele  gesteckte,  beide  veieint  die  stärksten  Massen- 
bewegungen hervorgerufen  in  den  Kreuzzügen,  die  dem  Abendland  zwar  zwei 
Millionen  Menschen  gekostet  haben  adlm,  aber  anf  seine  geistige  nnd  wiri- 
schalUiche  Hebung  den  tiefiaten  Einflnfs  Qbten. 

Die  Sehnsucht,  geheiligten  StKtten,  Tor  allen  den  dardi  den  Fnh  des 
Herrn  geweihten,  Verdinmg  zu  beeeigen,  hatte  y<m  jeher  auf  das  deutsche 
Ctomfit  eingewirkt,  seit  es  sich  der  christlichen  Lehre  zugewandt  hatt^;  sie  er- 
reichte ihre  höchste  Macht  im  späteren  Mittelalter  mit  Ausbildung  der  kirch- 
lichen Lehre  von  Reliquien  und  Ablafs,  um  mit  dieser  durch  die  Reformation 
den  vernichtenden  i:>chlag  zu  empfangen.    Zahllos  war  die  Menge  der  Orte, 

Canaina  Uurtina  ed.  Schmeller  S.  251. 


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0.  Uelw:  Di«  WaUftlut«!!  des  Kittolaltm  «nd  ihr  Einlhtb  ftnf  die  Knltor.  151 

doren  Besuch  den  Glaubigen  filr  verdienstlich  galt;  aus  ihnen  heben  sich  drei 
hervor  von  internationaler  Bedeutung:  das  heilige  Laiu),  Rom  und  San  Jage 
di  Comp  (Stella.  Jahrhunderte  laug  ist  der  Pilger  eine  ebenso  typische  Er- 
schemung  der  Landstrafse,  wie  der  Kaufmann,  der  fahrende  Schüler,  das 
gehrende  Volk,  —  den  Kaufmann  mit  seinem  GiuUi,  Pilgrime  und  den  gemeinen 
wmdenideii  Mum  nennen  nk  MdmfabedÜrftig  die  I«ndfriedenanrknnden.  Es 
itl  enimielimen,  dalii  Ton  diesen  Mengen  nur  ein  Tdl  wirklich  Ton  gläubiger 
SclinAieht  getrieben  wurde.  Fflr  viele  war  die  Falirt  eine  aoforlegte  Boise;  so 
mnlste  1487  ein  Diener  des  Herzogs  von  Sachi^n,  der  im  Nürnberger  Franen- 
haus  einen  Bürger  erstochen,  eine  Fahrt  nach  Rom  und  Aachen  thun  und  der 
Mutter  des  Erstochenen  fun&ehn  Gulden  geben.*)  Reinere  Charaktere  suchten 
Erlösung  vom  Drucke  eines  Zweifels,  wie  <ler  Braunschweiger  Uans  Pomer, 
der  1418  übers  Meer  fahrt,  weil  er  gesündigt  wider  die  heilige  Kirche.  Ihn 
quälte  der  Zwiespalt  der  PHichtea,  weil  er  im  Rat«  das  finanzielle  Interesse 
der  Stadt  gegenüber  dem  Klerus  wahrgenommen  hatte. Nicht  zuträglich 
kMin  es  der  Grundidee  der  Sitte  gewesen  sein,  dafe  sich  das  Prini^  der  Btell- 
Tertretnng  einbtkrgerte.  Bin  ostfriesiseher  Häuptling  trifl  1461  teetamentariaehe 
Beslimmimg^  dab  seine  Erben  tHr  ihn  einen  PUgrim  nach  Bom  senden  sollen'')^ 
und  zum  holigen  Blut  von  Wilsnack,  dessen  Verehrung  vom  Ende  des  14  bis 
Mitte  des  16.  Jahrhunderts  blOlkte,  kamen  jähAich  zwischen  Ostern  und  Pfingsten 
200 — 300  Polen  und  Ungarn,  ausschliefslich  gedungene  Leute.  ^)  Bei  derartiger 
Zusammensetzung  der  Pilgermassen  ist  sicher  anzunehmen,  dafs  eine  grofse 
Zalii,  wie  einst  ein  Teil  der  Kreuzfahrer,  rein  durch  Wander-  und  Abenteuer- 
lust, durch  den  Drang  nach  einem  ungebundenen  Leben  in  Bewegung  ge- 
setzt wurde. 

Die  Häufigkeit  und  der  periodisdie  Charakter  der  Filgeifthrten  ftthrte 
firtth  sa  Einrichtungen^  die  eine  Erlelchtwmng  besonders  für  die  Anneren  hieton 
scdlien.  Die  Verpfliehtong  au  gastlicher  AnfiMkhme  lag  mnichst  den  dOstsm 
oh,  in  deren  Rechnungsbfichem  die  Ausgaben  für  den  Pilgern  gewahrte  Ter- 
pflegong  und  Zehrpfennige  einen  standigen  Posten  bilden.  Die  Städte  hatten 
zu  diesem  Zwecke  die  sogenannten  Elendenherbergen,  in  der  Regel  milde 
Stiftungen,  deren  einr«  zu  Frankfurt  a.  M.  nach  dem  Ziel  ihrer  Qäste  den 
Namen  das  Composteii  tühite.  Selbstverständlich  bildete  das  Zusammenströmen 
grolser  Massen  eine  Art  Fremdenindnstrie  aus.  Vom  Dorfe  Wilsnuck  berichtet 
der  Chronist,  es  seien  'vor  etlichen  Häusern  tabulae  petkubileSf  hölzerne  Tafeln, 
dazan  mancherlei  unterschiedliche  insignia  oder  Zeichen  gentalet  gewesen,  wie 
in  grolsai  Stadien  hei  f&mehmen  Wirtddlnsem  brIncUich  is^  an  einer  langen 
Stengen  ausgehaagen  gewesen*.*)  Zu  bittet  1460  ein  Wirt  den  Bat^ 
ifihrend  der  Daner  der  Aachener  Heiltumsfiihri  für  die  Pilger  auf  der  Strafse 
vor  seinem  Hause  eine  Garkflclie  einrichten  an  dfirfen  wie  TOtmala.*)  Nicht 

*)  Deatoohe  Stftdteehranikeii  X  884.      ")  Zsttidir.  d.  Ter.  f.  Niedertadia.  1874. 

•)  OBtfrieBischt'ä  Urkuudenbuch  Nr.  774. 

♦l  Märkische  Forschungen  XVI  143.       '  156. 

*j  Zeitachr.  d.  Aachener  UeschichtsvereiüB  XVIU  368. 


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152     0.  Liebe:  Die  Walli'ahrten  des  Mittelalters  und  ihr  Einflufs  auf  die  Kultur. 

zum  mindesten  war  die  Geistlichkeit  der  Wallfahrtsstätten  bemüht,  den  durch 
die  Opfergaben  für  sie  ertragreichen  Zuflufa  zu  erhalten  und  zu  steigern.  Eine 
ganze  Litteratur  von  Pilgerbüchlein  bemühte  sich,  die  Schatze  jedes  Gnaden- 
ortes und  den  dort  zu  erhaltenden  Ablafs  anzupreisen.  Solchem  Zwecke  und 
vielleicht  noch  dem  eines  Amulets  diente  das  Pergamentblattchen  mit  gedruckter 
Beschreibung  der  Reliquien  zu  Oviedo,  das  um  1500  von  einem  Heimgekehrten 
der  St.  Annenkapelle  zu  Goslar  wie  anderes  Pilgergerät  geschenkt  wurde.  ^) 
Aber  auch  eine  gewisse  Kontrolle  über  die  Ausziehenden  behielt  sich  die  Kirche 
vor  durch  die  Forderung  ^ines  von  ihrem  Pfarrer  auszustellenden  Erlaubnis- 
scheines. 

Das  genossenschaftliche  Prinzip,  welches  das  gesamte  soziale  Leben  des 
Mittelalters  beherrschte,  machte  sich  auch  bei  diesen  Unternehmungen  geltend. 
Besonders  nach  nicht  zu  weit  entfernten  Zielen  pflegten  die  Pilger  in  Scharen 
gesellt  zu  wandern.  Zu  Hildesheim  wurde  die  alle  sieben  Jahre  unternommene 
Fahrt  nach  Aachen  durch  einen  Schildbaum  angekündigt  bis  1545.')  Aber 
auch  die  Fahrten  übers  Meer  nach  dem  heiligen  Lande,  für  die  Venedig  den 
Ausgangspunkt  bildete,  wurden  auf  nur  diesem  Zwecke  dienenden  Schiffen  nach 
Art  heutiger  Gesellschaftsreisen  unternommen.  Auch  die  Fürsten  huldigten 
dieser  Sitte,  und  ihr  Gefolge  wuchs  durch  Edelleute,  die  sich  ihnen  an- 
schlössen, oft  zu  erstaunlicher  Hohe  an.  So  zählte  die  1461  von  Herzog 
Wilhelm  von  Thüringen,  Graf  Günther  von  Schwarzburg,  Graf  Heinrich  von 
Stolberg  u.  a.  unternommene  Jerusalemfahrt  gegen  hundert  Teilnehmer  und  die 
Kurfürst  Friedrichs  des  Weisen  und  Herzog  Christophs  von  Baiern  1493  nicht 
viel  weniger.')  Solche  Unternehmungen  verschlangen  grofse  Summen,  um  so 
mehr,  da  die  Fürsten  sich  nur  in  Palästina  durch  vorsichtiges  Inkognito  gegen 
Schätzungen  zu  sichern,  sonst  aber  glanzvoll  au&utreten  pflegten.  Den  höchsten 
bekannten  Betrag  erreichen  Herzog  Wilhelms  auf  66700  Thlr.  geschätzte  Aus- 
gaben. Kosten  und  Unsicherheit  lassen  es  als  Ausnahme  erscheinen,  wenn 
1330  der  niedersächsische  Edelherr  Wilhelm  von  Boldensele  im  Vertrauen  auf 
Schutzbriefe  des  Sultans  von  Ägypten  mit  einem  kleinen  bewaffneten  Gefolge 
den  Orient  durchzog.*)  Die  Häufigkeit  der  nach  einem  bestimmten  Ziel  ge- 
richteten Reisen  führte  früh  zur  Ausbildung  fester  Routen,  über  die  eigene 
Bädeker  entstanden,  wie  der  1518  zu  Braunschweig  gedruckte:  De  overen  utide 
mcdddeti  Straten  von  Brunswygh  to  Sünk  Jacob  in  Galicien.^)  Die  gröfste 
Regclmäfsigkeit  bildete  sich  natürlich  für  die  weiteste  aber  verdienstlichste 
Wallfahrt  nach  dem  heiligen  Lande  aus.  In  Venedig,  wohin  der  Pilger  über 
den  Brenner  durch  das  Puster-  und  Ampezzothal  zu  ziehen  pflegte,  konnte  er, 
wenn  ihn  nicht  Armut  in  ein  Kloster  wies,  in  einem  deutschen  Gasthaus  Auf- 


')  Zeitachr.  d.  Haravereins  XIII  320.      »)  Beitr.  z.  Hildefih.  Gesch.  ID. 
*)  Jakobs,  Graf  Heinrichs  z.  St.  Meerfahrt  (Zoitschr.  des  Harzvereins  I  173);  Röhricht 
u.  Meissner,  Hana  Hundt«  Rechnungsbucb  (Neues  S&chs.  Archiv  IV  37). 
*)  Grotefend,  Zeitschr.  d.  bist.  Ver.  f.  Niedersachsen  1852  S.  232. 
•)  Böhricht,  Deutsche  Pilgerrcisen.  l»ö'J 


G.  Ia«be:  IKe  WalUdntea  dw  mtMalton  und  ihr  Sinlhift  mf  die  Kultor.  158 


nähme  finden;  das  beliebteste  hieCs  *Znr  F15te'.  Auf  dem  Marknsplatze  fand 
er  bald  einen  SchifGapatron  und  schloß  mit  ihm  den  stehend  gewordenen  Kon- 
faaUy  der  jenem  die  Sorge  für  Tnmapoii  und  Anfenilwlt  in  lUSelins  nntor 
Iwfa'inmten  Bedingungen  flberirog.  Die  Koetoi  weien  aebr  Tereehieden;  man 
aUie  auf  den  langnmeren  Segelachifien  8 — 10  Dukaten,  auf  den  schnelleren 
fleleeren  das  fünf-  bis  sechsfiMihe^  ohne  Verpflegung  enteprediend  weniger.  Die 
mn  VerdrufB  der  Pilger  immer  mehrere  Wochen  wahrende  Wartezmt,  bis  der 
Patron  seine  Zahl  von  Passagieren  hatte,  verbrach^  sie  mit  Vorbereitungen. 
8if  stiiHierten  Beschreibungen  des  heiligen  Landes,  kauften  Matratzen  fHr  die 
I  ii  !  fahrt,  Proviant  und  Arzneimittel  und  1»  {.'t^^n  die  Pügertracht  an.  Allgemein 
btsUud  diese  aus  einer  grauen  Kutte,  8chwaiz,cm,  breitkrampiü:em  Hut  und 
langem  Stab;  als  Abzeichen  diente  den  Jerusolemfahrern  ein  tütttfaches  rotes 
EieoEf  den  meh  Si  Jago  Wallenden  die  aogenannte  PügcrmuscheL  Die  Ab- 
Uui  geeehaih  in  fbierlidier  Wciae,  nachdem  neben  dem  St  Marknsbanner  die 
POgarfUue  mit  don  roten  &euB  in  weiftem  Felde  gehiJkt  war,  nnter  gamein- 
Nmem  Gebet  nnd  Anetimmnng  der  FlUgerlieiier.^)  Der  weitere  Verlanf  der 
Fibrt,  die  sich  meist  an  den  Efleten  entlang  bewegte,  entsprach  freilich  dem 
weihevollen  Anfimg  selir  wenig.  Beständig  wiederholen  sich  die  Klagen  Uber 
den  Lärm  der  zusammengepferchten  Menge,  das  unluHtige  Essen,  die  grofsen 
Ratzen  und  anderes  üntjpziefer.  Dazu  kam  dio  Langeweile,  die  den  alten 
deutschen  Lastern  der  Trunksucht  und  Spiebsucht  Vorschub  leistete.  Eine 
wenig  erfreuliche  Unterhaltung  bildete  die  Ausschau  nach  Seeraubern,  häufig 
Kbildem  die  Berichte  die  entstandene  Aufregung,  obgleich  die  kontraktmäfsig 
bewiAieten  Fügenehülb  in  der  Regel  nnangefoditen  blieben.  H9diat  anaeban- 
Udi  heeehreibt  ein  goistiiebw  Begleiter  Oiaf  Heinricha  tob  Stolberg  in  dem 
Berieht  Aber  die  mit  Heraog  Wilhelm  Ton  Thflringen  ontemommene  Beiae  die 
Toi^nge  beim  Nahen  eines  verdächtigen  Schiffes.  Bruder  Wilhelm  —  denn 
f&r  alle  Pilger  galt  dieser  Name  vrie  das  gleiche  Kleid  —  teilt  allen  umsichtig 
ihre  Aufgaben  zu;  die  Geistlichen  sollen  etwa  durch  Schüsse  entstandene  Lecke 
stopfen.")  Der  Ankunft  in  der  Hafenstadt  Jaffa  folgte  eine  höchst  lüstige 
Kontrolle  seitens  der  türkincht  n  Behörden  und  die  meist  auf  Eaein  zurtick- 
gelegt«  Landreise,  beachwerlicli  durch  Tücken  der  Tiere  und  ihrer  Treiber.  In 
Jerusalem  boten  das  Zionskloster  und  das  Johanniterspitai  Unterkimft.  Waren 
nach  einem  meiat  ▼mnehn  Ti^e  wShrenden  Aufenthalt  die  heiligen  Stttten 
belacht,  wobei  Ehrgeizige  Tom  Gnaxdian  dee  genannten  Xloetere  den  Bittw- 
aeUag  in  der  OnbeBkurdie  empfimgen  konnten^  eo  maehte  ein  Teil  der  Pilger 
noeh  Abateehor  nach  dem  Norden  dea  Landes  oder  nach  Ägypten.  Die  Bflck- 
bbr  erfolgte  meist  auf  demselben  Wege,  selten  über  Konstantinopel.  ^) 

Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  dafs  die  Jahrhunderte  hindurch  nach  festen, 
zum  Teil  weit  entlegenen  Zipl'  n  fortgesetzten  Wallfahrten  eine  bleibende  Ein- 
wirkung auf  alle  Seiten  des  JbLuiturlebene  äuüsem  muisten,  eine  Einwirkung,  die 


*)  Röhricht,  Deutliche  Pügerreiaen. 

*)  Jakobs,  Graf  Heiohcha  z.  St  Meerfahrt  (Zeitschr.  des  Harzvereina  I  178). 


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154     0,  Liebe:  Die  Wallfidixien  de»  Mitteklteit  uttd  ihr  Binfliib  anf  die  Kultur. 


um  80  stärker  war,  je  beschränkter  der  äuTsere  Qesichtskreia  des  mittelAlterlichen 
Henaehen,  je  klainor  der  Kreis  der  Ideen  wer,  denen  er  flberhanpt  eich  sa-^ 
gpbigüch  erwiea.  Den  weemCIiciiisten  NiederBcUag  ibrer  EindTlIoke  bilden  die 
beeonden  toh  Jeraiekmpilgem  in  grofMr  &bl  entwoifoien  Bejeebeechreibaiigeii; 
hänfig  Unförmige  Itinerare^  geben  sie  doch  durch  zerstreute  Bemerkungen  Kunde 
von  dem,  was  ihre  Verfasser  salien,  seltener  wie  eie  ee  sahen.^)  Am  stärksten 
tritt  in  ihnen  der  n-lifriös*'  Einflufs  hervor;  die  genaue  Aufzahlung  der  heiligen 
Stätten  und  ihrer  Entfernungen  bildet  das  Gerippp  nuch  des  dfirftigsten  Be- 
richte«, und  gewissenhaft  dazu  gemalte  Kreuze  veiküiiden  den  ÄblulH,  den  jede 
spendet.  Ein  greifbares  Zeugnis  der  gewonnenen  Gnade  stellten  die  mit- 
gebrachten Reliquien  dar:  Domen  und  Sterne,  von  gmihtoi  Sttttm  lot* 
geachmtteii  und  -gebroefaen,  Agnas-Dei-Medaillen  und  Jordanwaeeer,  Übt  deeaai 
Hitnahine  Knrfünit  Friedrich  der  Weise  3S  Bleefaflasehen  aakrafte.*)  In  Willi- 
nach  erstanden  die  Pilger  nun  Abschied  aas  Blei  gegossene  Zeichen  in  Gestalt 
einer  Hostie  mit  drei  Blutstropfen,  die  sie  an  ihre  Hfite  hefteten.')  Die  grofae 
Menge  besonders  der  gewerbsmäfsigen  Wallfahrer  liels  schliefslich  die  Ein- 
führung schriftlicher  Certifikate,  von  den  Geistlichen  der  beauchten  Orte  aus- 
gesttdlt,  als  angebracht  erscheinen;  von  ihnen  —  den  com}>ostelas  —  erhielt 
San  Jago  seinen  Beinamen.  Noeh  im  17.  Jahrhundert  hat  der  Uuardiun  des 
Klosters  auf  dem  Berge  Zion  eine  prächtige  Pergamenturkunde  aasgestellt  zum 
Zeugnis,  dafii  Tristan  von  Amstedt  die  anfgeifthlten  örtlichkeiten  der  heiligen 
Stadt  besucht  habe.  Dab  die  in  Snfteren  Zeichen  ansgedrfiekte  Sicherheit  der 
erworbenen  Sehitee  an  Ablab  nnd  Cbade  gerade  in  der  BlQtewit  der  Wall- 
fiihrten  den  nieistm  Pilgera  wichtiger  war  als  die  innere  ErHchfltterung,  wird 
zur  Gewifsheit,  wenn  wir  die  schon  von  Zeitgenossen  gelegentlich  nicht  zu 
hoch  geschätzten  sittlichen  Wirkungen  betrachten.  Ft5r  die  kürzeren  Pilger- 
fahrten brauchen  die  oft  recht  unerfreulichen  Folgen  —  es  sei  nur  an  che  Be- 
teiligung beider  Geschlechter  erinnert  —  nicht  n'äher  erörtert  zu  werden',  sie 
macheu  sich  noch  heute  in  katholischen  Gegenden  bemerkbar  genug.  Aber 
auch  bei  weiteren,  die  ein  grSlaeree  Mais  ▼on  Anstrengung  und  Kosten  «t- 
forderten,  macht  sich  hiiifig  eine  AnffiMSong, geltend,  die  wo,  desn  Zwecke  wenig 
an  passen  seheini  Die  häufige  Betmligiing  von  grolBen  Herren  ist  hier  ▼<»! 
keinem  guten  Einflufs  gewesen;  in  vielen  IVllen  waren  bei  ihnen  touristische 
Neigungen  mafsgebend,  wie  bei  den  unteren  Standen  ein  idealisiertes  Land- 
streicherleben. Schon  oben  wurde  des  heiteren  Lebens  auf  den  Pilgerschiffen 
Meldung  n:f'than.  Die  Reisebegehreibung  Graf  Heinrichs  vrm  Stolhf>rg  1461 
erwähnt  melirtach  Schmausereien  mit  Musikbegleitung,  und  dais  Bruder  Wilhelm 
—  der  Herzog  von  ihüringeu  —  am  Ptuigstabend  vier  grofse  Gläser  Wein 
gewinnt,  die  gemeinsam  vertrunken  werden.  Auch  das  Rechnungabuch  Aber 
die  Reise  Friedrichs  des  Weism  1403  fllhrt  Posten  auf  Uber  Geld  sum  Spiel 
verabll%t  und  als  Iiohn  fDr  mumkaUsohe  und  Tanaaufftthrungen  in  JerusaUoL 


*)  TgL  BObricbt  u.  MeimieT,  Denfewhe  FOgeirriMn. 

^  Baal  Hwidie  Beduraagtbuefa.     •)  VMA.  Fora^  ZTI 14«. 


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6.  Uebe:  I>to  WtlUUulen  dM  llittelidtew  «ad  ihr  Burihib  Mf  die  Koliur.  155 

Unter  eeiner  zuklruichen  Begleitung  befindet  sieb  auch  Hensel,  der  Narr.  Sehr 
anterriehteiid  iai  di«  B^dmnng  fiW  die  1518  von  QnS  WiDttla  IV.  tob 
Heniieberg  untenuunnieiiie  POgmeise  nadi  M<nit  S.  Miohel  an  der  Kttste  der 
Nionoaiidi«,  eiiMm  in  Deutschland  weniger  übliehen  Ziele.*)  Ein  gewnltiger, 
liefl  ablüleuder  Felekegel,  tom  Stande  vor  Zeit  der  Ebbe  trocknen  FnAee^ 
aber  gefahrvoll  zu  erreichen,  daher  Möns  S.  Michaelis  in  perioolo  nwrui  ge- 
nannt, hat  verschiedenen  Epochen  als  Heiligtum,  Festung  und  Geflngnis  ge- 
dient  Dorthin  begab  sich  1518  Graf  Wilhelm  zu  Pferde  mit  4  Dienern.  In 
seiner  Rechnung  kehren  mehrfach  die  Ausgaben  für  Spiel  wieder,  auch  mit  den 
geladenen  Frauen  von  Strafsburg.   Auch  einer,  'der  aus  einen  Tanz  pfiff',  wird 
bedacht  und  einer,  'der  vor  uns  Mordsprung  thät*.    Wie  auch  die  geringeren 
Wall&hrer  ihr  Vergnflgcn  fanden,  davon  giebt  ein  ESlner  Bericht  1584  Knnde^ 
uafa  welchem  zur  Zeit  der  Aachener  HeiltnmafUirt  Ungarn  mit  Tansbinn 
«ncUenen.')  Für  die  Vornehmen  waren  die  Pi^prfiüirlen  gewifii  inm  groben 
Teil  dasselbe  wie  die  späteren  Kavalierreisen.    Dem  entspricht  auch  die  Sikk», 
den  Wappenschild  in  der  Grabeskirche  aufzuhängen  nnd  in  das  Wappen  anf 
die  gemachte  Fahrt  bezügliche  Beizeicben  luifzunehmen,  wie  Graf  Heinrich  von 
Stolberg  1231  die  Pilgermnstliel,  IJitter  Droi8fke  von  Kröcher  1311/21  einen 
PalniTiweig.^j    In  dieaen  Krei»eu  macht  sich  auch  schon  früh  eine  kritische 
Auffassung   heiliger  Statten   bemerkbar.     Wilhelm   von  Boldeusele,  firüher 
Oominikaner,  der  vom  Pabst  für  seinen  Austritt  Dispens  empfing,  weiXs  schon 
1336  daa  Wnndnr  der  weinendtti  SSnlen  an  Jeruaalem  au  erUftran  jger  mt^islnt 
mnenüia  eameribeiUe»  nach  dem  Grtmdaafa:  «te*  nakm  tHfj/kU,  nm  ett  ad  nma- 
oAm  recmrmdmt.*)  Die  Anlaemng  Eaiaer  Friedriche  II:  *Hltle  Gott  daa 
ichdne  Land  Neapel  gekannt,  so  würde  er  seinen  Sohn  nicht  in  don  elenden 
steinigen  Palastina  hiiben  hemiedersteigen  lassen',  äie  klingt  in  verschiedenen 
Urteilen   wieder.     Anfang  des  14.  Jahrhunderts   beglückwünscht  der  Studfc- 
schreiber  von  Wismar  den  Lübecker  Syndikus  Johann  Selege,  quod  de  terra 
pessmu,  mortis  mnua,  itieohwic^^  rfdiistisJ')    Bekannt  ist  die  von  Luther  über- 
heferte  Auikeruug  Graf  Bothos  von  Siolberg,  dals  er  dem  gelobten  Lande  die 
goldene  Ane  Tonidbe.^    Eine  ihnlioli  nfldhftenie  Anffittanng  dboibart  arin 
Biehrgenannker  Vater,  Ghraf  Heinrich,  wenn  er  Ton  dem  aar  Eontrolle  dienenden 
flewidbe  in  Jaflh  ensihlt:  'darein  treibt  man  die  Brfider  ab  die  Schafe  und 
zahlt  sie  wieder  daraus.'    Selbstverständlich  fehlt  es  auch  nicht  an  verzückten 
Aulserungen,  besonders  beim  eraten  Anblick  der  heiligen  Stadt,  aber  die  viel 
(ach  wie  bei  den  Krenr.zügen  zu  Tage  tretende  küble  Beurteilung  der  Wall- 
fahrten bUdet  doch  den  Übergang  zum  Zwpif>!  an  ü^rcr  Zuträcrl'Vlikeit  über- 
haupt.   In  der  That  hat  es  nie  an  Männern  gefehlt,  die  durch  du   H  'traehtung 
der  Persönlichkeiten  und  ihr  oft  ungeistlich^  Leben  zu  Abmahnungen  be- 

')  Von  mir  heransgegeb«  n  in  den  Neuen  MitfeflUoilg.  d,  ThAling.'fliclii.  VereilM,  Bd.  XTUI. 

*)  Buch  W.'iiifh.'ry  eil   HöliU.anm  I 

*)  Abbüdg.  in  li^geata  ätolbergica  u.  Urk.-Buch  der  v.  Kröcher. 

*i  ZeitMhr.  d.  bist  Ter.  f.  KiedefMdüen  lau  8.  m. 

^  HeeUealnixg.  Vik.-Ba€k  T  Nr.  1760.     •)  ZeitKhr.  d.  HanveieiBS  I. 


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156    0.  U«be:  Di«  Wallfiduten  de»  Mittdalten  und  ttir  Einflnlii  anf  die  Knltar. 

wogen  wurden.  Schon  ein  ongenanntar  KSIner^Eledkery  der  1338 — 48  einen 
Teil  YordeiMieiie  iMnisle,  berichtet  sehr  off^n:  *lie  gehen  Belrl^{er  in  dem 
LaadA  mit  Eisen  gebunden  und  besohmiedsfc,  die  d»  epMehen,  dale  ei«  ihr 
Yater  und  Kutter  han  gelStet,  ile  hier  in  diesem  Lande.  Es  gehn  da 
Pilgrime,  die  zu  den  heiligen  Stttten  gehn  und  Blinde  mit  Hunden,  die  bitten, 
dafs  sie  in  Pilgrims  Weise  mögen  gehn  als  hier*.^)  Mit  der  ganzen  Macht 
seiner  flammenden  Energie  und  Beredtsamkeit  erhob  sich  Bertold  von  Regens- 
burg gegen  die,  welche  durch  Wallfahrten  Frau  utid  Kinder  daheim  in  Not 
nnd  Schulden  bringen:  Wem  fündc  M  Kunipmieiic ,  dö  du  dm  haeim'f  Sant 
Jakoben  Iwubet!  Das  ist  gar  guot,  duz  tat  ein  toten  hein  und  ein  toter  sdiedd, 
da»  beiger  teü  ist  dd  te  himek.  Sage  an,  toa»  mmfetf  düi  Ms  htime  <m  tBme 
AoMffAns»  9$  em  jpnesier  metae  m  der  hMm  smgeif  DA  vkidett  dA  wdtm  ffot 
mde  wdreii  menschen  mit  dem  ffeteaUe  unde  mit  der  kraft  als  er  in  dem  kimd 
ist  Übet  sSk  h^Oigm  und  Uber  eOs  engdis?)  Der  haftige  Strait  fiher  das  Wils- 
nacker  Wunderblut,  dar  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  ausbrach,  vexan- 
lafste  den  Angnstinerprovinzial  Johannes  Ton  Dorsten,  eine  Consultatio  gegen 
das  Wallfahren  zu  erlassen.  Man  solle  die  Versuchung  zum  Wandern  durch 
Ocbct  fiberwinden,  Eltern  und  Herren  das  junge  Volk  von  ihrem  Vorhaben  ab- 
bringen, jeder  aber  mit  den  an  der  Krankheit  des  thörichten  Laufens  Leidenden 
Mitleid  haben.  Überhaupt  bemerken  zeitgenössische  Quellen  mifsfällig  den  Zu- 
lauf gerade  von  jungem  Volk  nach  Wilsnack.')  Ist  doch  auch  1457  von 
deutschen  Kindern  eine  Sehar  Ton  Hundnien  nadi  Hont  S.  Michel  gepilgert.*) 
Lnflier  hat  unter  den  SchSden  der  Kirdie  die  WaHfahrtan  nicht  Tei^^essen  nnd 
in  der  gewaltigen  Streitschrift  *An  den  ehristliahen  Add  detttsdiffl>  Nation' 
einen  grimmigen  Ausfall  dagegen  gethan:  'So  meinen  sie  (die  Bischöfe),  es 
sei  göttlich,  heilig  Ding,  sehen  nicht,  dafs  der  Teufel  solches  treibt,  den  G«is 
zu  starken,  falsche,  erdichtete  Glauben  aufrichten,  Pfarrkirchen  zu  schwachen, 
Tßbemen  und  Hurerei  zu  mehren,  unnütz  Geld  und  Arbeit  verlieren  und  nur 
das  arme  Volk  mit  der  Nase  umführen'.*)  Kurz  und  schlag  lul  i  at  der  Volks- 
witz diese  Anschauungen  in  Sprichwörtern  ausgeprägt:  Wallfaiirt  bringt  kein 
Wohlfahrt}  Wer  oft  wallfahrten  thut,  wird  selten  gut  Selbst  der  Araber 
Hnte  dich  vor  jedem  Jerusalemfidirer.') 

Ausgedehnter  und  jedenfidls  erfrsnlichur  als  anf  das  G«n&tsl»ben  hat  auf 
das  geistige  die  fortdauernde  BeriÜurung  mit  der  Fremde^  snmal  mit  dem  Orient^ 
gewirkt.  Es  war  die  F<»rtsetBang  des  märchenhaften  Eindruckes  aus  den 
Zeiten,  da  die  Erensafige  znjn  entenmal  den  kindlich  erstaunten  Blicken  der 
Abendlander  die  schimmernden  Pforten  einer  Wunderwelt  erschloasen,  nicht 
mehr  so  Überwältigend,  aber  anhaltender,  weil  die  Persönlichkeiten  aufnahme- 
und  urteilsfähiger  geworden  waren.  Der  Meister  Troiigemund,  dem  zweiund- 
siebzig  Lande  kimd,  wie  er  in  einem  Kätselgedicht  des  14.  Jahrhunderts  auf- 

*)  Hera\i!<^eg:Qbcn  v.  Röhricht  n.  Meissner,  Zeifschr  f  dentlohe  Phll(d.  XIX  SO. 
•)  ed.  Pfeiffer  I  460.  Mnrk  ForRcb.  XVT  253  278, 

Deutsche  Städtechroaiketi,  Augsburg  lü  l.:7.  Mark.  Forsch.  XVI  SÖO. 

«}  BOhrioht,  FilgeneiMa  B.  S6. 


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O.  Liebe«  Die  WeUfthitai  im  HttMalten  und  üu  EiBÜnb  auf  die  Kidtor.  157 


tritt,  ist  nichts  anderes  als  die  Übersetzung  von  Dragomaii;  auch  Troczelman 
wird  er  genannt  nach  dem  italienischen  hu^nunu//)  lu  des  Stoibergers  Jeru- 
salemfahrt  tritt  ein  solcher  unter  dem  Namen  Jakob  Landfahrer  auf.  Die  G«- 
fltalt  6m  ftbrenden  Mumee,  der  wof  die  wimder1»istni  IVagen  Antwort  weift, 
hat  tJlüaad  bedentaam  aa  die  Spitse  aeincr  VoUadiederBammlniig  geateUt;  tie 
ivird  jelit  ein  Ttp**"*  AUwdiiigp  sind  die  Bemeikimgeii  Ober  dai  geaahene 
Nene  derartig  in  den  Beimbeschreibungen  Teratreut,  dafs  es  nicht  mSglich  ist, 
ein  abgemndetes  Bild  von  dem  Stande  der  solchergestalt  gewonaenen  Kennt- 
nisse zu  entwerfen.  Es  ist  eine  Aufnahme,  wenn  der  oben  genannte  Kölner 
Änonviniis  es  verstanden  hnt,  «eine  BeoD.irlitiinrrpn  zu  einer  sachlich  geordneten 
Darsivlluiii;  der  anthropologischen,  geiseUscbaiLlichen  uti<l  imturgeschichtlichen 
Verhältuisae  dea  Orients  zu  verarbeiten.  Dafür  haben  jene  vereinzelten  Be- 
merkungen den  Beiz  unmittelbarer  Beobachtung,  d^  sie  aus  dem  Zusammen- 
hang geriaaeu  TerliereiL  Einer  bis  ins  Torige  Jahrhimdert  hemdiend  ge- 
bliebenen Bicbtong  gemilii  erweckt  der  Maisch  grOlseren  Anteil  aüs  die  Katnr. 
Ton  biito!rische&  Anachamingen  ntaeben  sich  nur  Beaiduuigen  auf  antike 
Segen  bemerkbar.  'Aus  der  Insel  ist  vor  Zeiten  Helena  geführt  von  Paris 
gen  Troja,  darum  dann  Troja  zerstört  ward',  schreibt  im  Angesicht  von  Ce- 
rigo  der  Stoiberger  Berichterstatter,  Von  modernen  Verhaltnissen  sind  es 
neben  auffallenden  Sitten  und  ijHeidungen  der  Orientalen .  den  Gärten  von  Da- 
maskus und  den  Pyramiden  vorzugsweise  V'enedig  und  Khodus,  die  das  höchste 
Intereaso  erwecken,  im  besonderen  wieder  ihre  militärischen  Anstalten,  fdr  die 
ja  ein  gro£aer  Teil  der  Pilger  sehr  kompetent  war. 

Den  Henog  Williehn  und  se^ne  nankballerea  Be|^ter  ladt  der  Soaunan- 
dant  Teneaianischer  Strei^aleeren  vor  CSandia  auf  sein  Schiff,  bewirtet  sie  und 
*thnt  HoBstar,  d.  i.  Hnstening^  mit  Bflclisen,  Spieben  und  mandierlei  Gewdur*. 
So  bucht  auch  der  Graf  von  Henneberg  eine  Ausgabe  'fUr  ein  Morgensnppen 
denen,  die  uns  des  Königs  yon  Frankzcddi  Meerschiff  weisen*.  Der  Tier-  und 
Pflanzenwelt  gegenüber  geht  das  Interesse  vornehmlich  auf  die  Herkunft  schon 
bekannter  Dinge,  so  wenn  der  Stoiberger  Bericlit  von  einer  Tii«el  bei  Cepha- 
lonia  schreibt:  'Da  wächst  das  Gran  (granumj  damit  man  lii*  S(  liarlacbtücher 
färbt  —  er  meint  das  unechte  Cochenille- Insekt  — ,  auch  wächst  da  wepasse, 
d.  L  getrocknete  Beeren,  iiosiueu,  sonst  auch  Meerträubleiu  genannt.*  Die 
FUIe  der  neuen  Erscheinmigen  su  bat  sich  nur  der  KSlner  Ano- 

nymna  bemflbt  und  so  die  erste  Natnrbeacbreibnng  dea  Oriente  muammen- 
gebracht,  i^ichxeitig  mit  der  eraten  deutschen  dea  Eonrad  ▼on  Megenbeig» 
In  der  Regel  ist  nur  das  Intereese  der  Korioaitit  vorhanden.  Mehr  aU  die 
abgerichteten  Elephanten  and  die  Giraffen,  die  er  übrigens  gut  und  anschaulich 
beschreiht,  bewandert  Wilhelm  von  Boldenaele  in  Ägypten  die  Hfibnerbrat- 
ansUüten. 

Mannigfidtig,  wenn  auch  nicht  sonderlich  tief^  sind  die  künstlerischen  lan- 


')  Jcniaalcmfahrt  des  Peter  Rpamau  Q.  Ulrich  v.  Tennstidt  (1886)  ed.  AOhricht,  Zeitidir. 
d.  B«rliiier  Üeselkcb.  f.  Erdkuado  IStfl. 


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168     0.  LieU:  Di«  Willfthrtoii  des  MitMalten  uad  flir  BbfliiJs  auf  dia  Koltnr. 

tlüsse  der  Pilgerreisen  gewesen.  Den  Hauptanteil  hat  die  Architektur.  Nach 
dem  Muster  der  Grabeskirche,  von  der  auch  Modelle  angefertigt  wurden,*)  er- 
riditete  man  EapeUen,  denen  man  ihren  zentralen  Typus  gab.')  So  erbaute 
IViedrieh  Weise  nadh  eeiner  Bflekkehr  m  Torgau  die  hl.  BjreadaqMlIe.') 
Eine  in  die  chriBtUchen  Kirdten  ans  antiken  Vorbildern  tthes|{egangene  Fob- 
bodenverzierung,  die  in  Mosaik  angeleckten  Labyrinthe,  fflb  Anhifii  zn  einer 
Sitte,  die  im  Volksglauben  eine  Jerusalemfahrt  ersetzen  sollte.  Mau  durch- 
wanderte nämlich  ihre  Irrginge  unter  bestimmten  Gebeten  oder  rutschte  mich 
auf  den  Knieen,  daher  sich  in  iVunkreich,  wo  sie  allein  noch  erhalten  sind, 
der  Name  chemins  de  JirKsalrm  (iafür  festsetr^te.*)  Entferntere  Beriehnnpen 
walten  ob,  wenn  Ortschaften  dalicim  biblische  Namen  beigelegt  wurden,  oder 
der  Biforter  Fatriiier,  Otto  Ziegler,  aein  Haue  anm  Beibstock  nannte  naeh 
einer  Bebe,  die  er  1447  ans  PalSatina  miigebraehi')  Die  PUuitik  erfahr  die 
bedentendBle  Einwirkung  in  den  Galnaienbergen  mid  Staüonewegen,  die  man 
in  den  an  Ort  nnd  Stelle  abgeschrittenen  Entfernungen  anzulegen  liebte.  Der 
bertthmteste,  von  Adam  Kraft  an  N&mberg^  bei  dem  ein  Haus  am  Tier^rtner- 
tor  als  Wohnung  des  Pilatus  angenommen  mirde,  ist  nach  den  Angaben  des 
Bürgers  Martin  KfirA  hergestellt^  der  die  erwähnten  Mai'se  auf  «finfr  ersten 
Pilgerfahrt  verloren  hatte,  von  der  zweiten  sie  aber  glücklich  mitbrachte.*)  Die 
Malerei  wurde  yielfach  benutzt,  um  die  Erinnerung  an  das  Geschaute  fest- 
zuhalteiL  Es  ist  überliefert,  dafs  Friedrieh  der  Weise  Lukas  Eranach  auf  seine 
Beiae  mitnahm,  am  von  aUen  heiligen  Orten  ^Aofrifs  nnd  Vwaeiehnang*  zn 
maehen.  Nieht  von  ihm  rfihren  swei  Gemilde  in  der  Galerie  an  Gotha  her; 
daa  eine  atellt  dm  Enrfibnten  im  Pilgergewand  dar,  das  andere  deneelbai 
knieend  nebst  dem  Pilgerschiff  und  Jerusalem  mit  Rom  aus  der  Vngelpwepek- 
tive.')  Dafs  das  Kunstgewerbe,  z.  B.  die  Stickerei,  vielfach  Stoffe  diesem  Ge- 
biet entnommen  haben  wird,  ist  nicht  zn  bfzweifeln,  aber  bei  der  Zerstreutheit 
und  Vergänglichkeit  der  Objektt'  schwer  nachweisbar.  So  hat  sich  iu  Hannover 
ein  Kästchen  mit  Darstellungen  in  farbiger  Strohmosaik  erhalten,  dessen  Deckel 
einen  Wallfahrtsberg  mit  einem  Kreuz  aufweist,  den  eine  Nonne  xu  ersteigen 
im  Begriff  k%  wilumid  eine  andere  ihn  TmUi  Wohl  in  einem  EIoaEar  Ter- 
fertigt,  enthält  ea  daa  Wappen  des  Enrfliraten  Georg  Ludwig  (leit  1698).*) 
Vom  grObten  Einflnlb  mfiiaen  in  dieeer  Hinaiehi  die  aoa  dem  (hient  mit» 
gebrachten  GegenstSnde  der  dortigen  entwickelten  Kunstindustrie  gewesen  sein, 
wie  solche  das  Rechnungsbuch  Friedrichs  des  Weisen  zahlreich  aufzahlt.  Es 
finden  sich  dort  Edelst^une,  Teppiche,  Hchleier,  Frutienschnhe  und  aus  Italien 
*gegosaeue  Angesicht'  d.  h.  Bfisteu  und  'heidnische  Misch'  d.  h.  Messing, 


^)  Nach  IKJhricht  a.  a.  U.  ä.  76  in  Weimar,  Stuttgart,  dem  Berliaer  Hobenzollcra- 
Mnaeoni. 

*)  Ott«,  Handbuch  d.  kirchlichen  Eonstarchuologie  S.  86. 
•)  Mencken,  Script  TT  rm.       *)  Otto  a  a.  O  S  7S 

Härtung,  Häuser- Chronik  der  Stadt  Erturt  «.  247.      *;  Utte  a.  a.  O.  S.  907. 
*)  Vgl.  Bakrieht,  Eialeitoim  ni  Bau  Himdta  Bedumiigslmeh. 

Zdtwbr.  d.  Ter.  f.  Gesdi.  NiedemdMem  18(5  8,  881. 


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Q.  IiMi«:  TU»  WallfiihrtMi  dM  Ifittdilian  lud  üir  Einflnfii  anf  di«  Knltiir.  150 

Bronzen.*)  Auch  die  mehrfach  in  Kiruhen  teils  Paritäten,  teils  als  Re- 
Uqoiarien  aufbewahrten  Straufseneier  und  Büffelhorner  —  diese  für  Greifen- 
knOeii  ai^feaeiieii  —  aind  wohl  meiBi  r<m  Pilgern  mitgebnushi*) 

Wie  ftUe  die  YolkMeele  mächtig  «rgreifenden  Bewegungen  haben  «nch  die 
Wdlfthrten  in  der  Littantur  acharf  amgepiigte  Spuren  hinierlMMO.  Ah  vn- 
mittelbare  2^ugnis8e  der  Pi!g:cr  selbst  sind  neben  den  ziihl reichen  von  Heim- 
gekehrten entworfenen  Außseichnungen  die  Lieder  anzusehen^  deren  Gesang  die 
Deutschen  anderen  als  rühmenswrrten  Vorbild  mschoinpii  lit'fs.')  Das  beliebteste 
war  die  Kreuzleise:  In  Gottes  Namen  taiirt-n  wir,  seiner  Gnaden  begehren  wir.*) 
Die  gewaltigste  Ballade  df-.  \  uiksliedes  hat.  im  Tannliäuser  den  zu  liom  Ver- 
gebung suchenden  i'iigex  zmn  Gegeustand.'')  Fast  tragikomisch  wirkt  ein  Lied 
Tom  £nde  des  15.  Jaliriinnderta,  daa  die  Leiden  der  nach  St  Jakob  WaUenden 
sebüderk  'sa  einem  Stern  heilet  Finster*  (Kap  Finiaterre)^): 

Wer  das  Elend  bauen  will, 

Der  heb  sich  auf  und  sei  mem  OeaeU 

Wohl  auf  Sankt  Jakobs  Strafsen. 
Zwei  Paar  Schuh  bedarf  er  wohl. 
Ein  Schflasel  bei  der  Flaschen. 

Und  weiter; 

80  siehn  wir  dnreh  d«r  armen  Jecken  Laad^, 

Man  giebt  uns  nichts  denn  Apfettraal^ 

Die  Berge  müssen  wir  steigen. 
GUb  man  mis  Apfel  und  Hirn  genug, 

Wir  iür  die  Feigen. 

Daneben  fehlt  es  nicht  an  zeitgenössischen  stimmen,  die  der  satirischen 
Neigung  des  Mittelalters  Auadmck  geben.  Gewöhnt,  auch  vor  dem  Heiligsten 
nicht  Halt  zu  muclieii,  wie  die  grotesken  Darstelluiigeu  un  Chorgestiilil  und 
Ei^tileo  der  Kirdiea  beweiaen,  mnbte  diese  Neigung  in  der  Rnläeren  Werk- 
heiligkeit Tieler  WaU&hrten  raieiUiche  Nalirang  finden.  Daa  YolkaUed  lUat 
den  galanten  Abentenrer  im  Kleide  dea  Pilgrima  aafbrefean.')  Sine  Priamd 
zahlt  unter  Gegenstanden  nnnützen  Kopfzerbreehens  auf:  Ob  Znnkvr  attfiMr  sei 
den  Gallen,  ob  Tan/^en  nfltzer  sei  denn  Wallen,  —  da  die  Antwort  anf  Ramtliche 
Fragen  ja  lautet,  ist  die  Absicht  deutlich  genug.")  Pauli»  Schimpf  und  Emst'-*) 
erzählt  von  einem,  der  ein  lange  aufgeHchobcnes  Gelübde  nach  St.  Jakob  er- 
füllen wollte.  'Da  er  aber  zwei  oder  drei  Meilen  gekommen  war,  blieb  er 
stehen  auf  der  Strafse  und  streckte  beide  Arme  aus,  einen  gegen  St.  Jakob, 
den  anderen  gegen  sein  Dorf  und  schrie:  Zieh,  Jäklein,  ziehl  Zieh,  Metz^ 
tielit  Aber  die  Meta  sog  mehr  denn  Jakob,  kehrte  nm  nnd  ging  wieder 
hriatf  joA  ward  daa  ^sidhwort  waihr,  dab  einer  Franen  Haar  mehr  ai^t  denn 


>)  Hondts  Rechnungsbuch.      ■)  Otte  a.  a.  O.  8.  IM.      ^  BShridit  a^  a.  0. 

*)  Vgl.  R^5Lricht  a.  a.  0. 

*)  Uhland,  Alte  hoch-  und  niederdeutsche  Volkslieder  Nr.  297.  808.      ^}  Anna^aken. 
^  Uhland  a.     0.  Kr.  10.      •)  Alte  gute  SehwAake  ed.  Keller  Nr.  1. 
*)  ed.  Dfikmar  Nr.  86. 


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160     0-  Liebe:  Die  Wallfahrten  den  Mittelalters  und  ihr  Einflufs  auf  die  Kultur. 

ein  Glockenseil'.  Die  Dichtung  ist  es  gewesen,  die  unserer  Vorstellung  die 
Gestalt  des  Pilgers  lebendig  erhalten  hat,  nachdem  wenigstens  Wallfahrten  in 
ferne  Lander  zur  seltenen  Ausnahme  geworden  waren.  Hauptsächlich  trug 
dazu  die  Romantik  bei,  die  so  viele  Schatten  des  Mittelalters  wieder  mit  dem 
Blute  dichterischen  Lebens  erfüllte.  Am  ausfuhrlichsten  ist  der  Vorwurf  be- 
handelt in  Arnims  wenig  bekanntem  Drama  Halle  und  Jerusalem,  Studenten- 
spiel und  Pilgerabenteuer,  dessen  bizarre,  aber  niemals  unschöne  und  oft  rührende 
Phantastik  zahlreiche  lebenswahre  Züge  wie  des  Studentenlebens  so  aus  den 
Pilgerfahrten  aufweist.  Eine  rein  menschliche  Verklarung  fand  die  mittelalter- 
liche Idee  in  Uhlands  Waller,  den  der  Tod  auf  der  Schwelle  von  S.  Jago  von 
Gelübde  und  Schuld  erlöst,  und  Eichendorff  verstand  es,  sie  zum  Bilde  seines 
inneren  Lebens  zu  gestalten.') 


')  Ausgabe  1837  S.  374. 


1896.  BB8TB  ABTEILUNO.  DRITTES  HBVT. 


Abb.  1  Janas  auf  ainem  rOm.  UtnMM 
(M«h  Momaara,  Uiai.  da  1«  aoBB. 
na.  tnä.  pat  to  Om  4a  BImm  pL  T). 

TgL  an. 


RÖMISCHE  QÖTTEBBILDER. 

Von  Oboko  WnaowA. 
TortlVff,  gehalten  vor  der  44.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulutunuer  in  Dresden. 

'Der  Mann,  der  zuers^t  dem  Volke  Bilder  von  den  Göttern  machte,  hat  die 
Gottt'stuix'ht  vernichtet  un«!  eine  Quelle  des  Irrtums  geschaffen.'  So  urteilte 
luit  tadelndem  Hinweise  auf  die  Veraufserlichung  des  (lottesdienstes  seiner  Zeit 
M.  Terentius  Vano,  indem  er  hervorhob,  dal's  die  Kömer  der  Vorzeit  mehr  als 
170  Jahre  lang  ihre  Götter  ohne  jedes  Bild  verehrt  hätten.  Die  präzise  Zahlen- 
logüie  libt  denlilidi  erkennen,  dab  der  grobe  Oeldirte  die  EinfUbning  des 
BiUerdienstee  in  Rom  an  ein  beetimmtee  hiatoriechee  Ereignis  knflpfUy  und  die 
Finge,  weldies  Ereignis  er  gemeint  bnbe^  ist  lingst  angeworfen  nnd  antreffend 
b€antwortet.  Nach  der  landläufigen  Chronologie  der  römischen  Urgeschichte^ 
welcher  auch  Varro  folgt,  fällt  das  Jahr  170  d.  St.  in  die  letzten  |UgiemngS- 
jahre  des  fünften  Königs  Tarquinius  Priscus,  dieser  König  aber  war  es,  der 
nach  der  eignen  Angabe  desselben  Varro  den  Bau  des  Juppitertempels  auf  dem 
Kapitel  unternahm  und  einen  etruskiscben  Künstler,  Voicas  vtm  Veji,  mit  der 
Anfertigung  der  Tbonstatue  des  .Tuppiter  für  dieses  Heiligtum  beauftragte. 
Dieser  lufjgüer  fidüis  war  also  nach  Varros  Ansicht  das  älteste  Kultbild  in 
Sem,  nnd  seine  Anffimnng  findet  flure  ToUe  BestiUigung  in  der  Thatsaohe,  dafs 
tlbttslly  wo  im  r8misdi0n  Bitaal  das  Götterbild  einen  notwendigen  und  weeent- 
Üchen  Anteil  an  der  religtOsen  Handlung  ha^  es  sich  entweder  nm  den  Dienst 
des  kapitolinischen  Jnppiter  selbst  oder  nm  den  spater  in  Rom  eingeführter 
CietÜieiten,  insbesondere  solcher  griechischer  Herkunft  handelt.  Bei  bestimmtem 
Anlasse  wird  das  Bild  des  Juppiter  0.  M.  selbst  lebendig;  an  dem  stolzesten 
Tage,  den  ein  Römer  erleben  kann,  wenn  er  als  siegreicher  Feldherr  im  Triumphe 
durch  die  jubelnde  Stadt  nuch  iKui  Kapitol  /itbt,  stellt  der  Triumpbator  das 
Abbild  des  Juppiter  dar:  die  gestickten  Purpurgewänder,  die  ihn  umhüllen,  das 
^  einem  Adler  bekrönte  £lfeubeinszepter,  das  er  in  der  Hand  trägt,  die 

VtMJaktMehw.  ISN.  I.  11 


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162 


0.  WiRBOwa:  Römische  Ofttterbilder. 


goldene  Krone,  die  ein  Sklave  über  seinem  Haupte  halt,  sind  dem  Tempel- 
schatze des  Kapitols  entnommen,  ja,  um  dem  Bilde  des  Gottes  ganz  zu  gleichen, 
färbte  der  Triumphator  in  früherer  Zeit  das  Gesicht  und  die  unbekleideten 
Teile  des  Körpers  mit  Zinnober  hochrot,  weil  die  Thonstatue  im  Tempel  eine 
derartige  Belebung  durch  farbigen  Anstrich  zu  erfahren  pflegte.  In  demselben 
i'runkanzuge  erscheint  auch  bei  den  grofsen  römischen  Spielen  der  leitende 
Magistrat;  denn  diese  Spiele  bildeten  ursprünglich  den  zweiten  Teil  der  Triumph- 
festlichkeit, indem  der  Triumplizug,  nachdem  der  Triumphator  seinen  Lorbeer- 
kranz auf  dem  Kapitol  vor  dem  Bilde  des  Juppiter  niedergelegt  hatte,  von  da 
nach  dem  Zirlnis  hinabstieg,  wo  Wagenrennen  die  Feier  beschlossen.  Als  später 
die  Spiele,  vom  Triumphe  losgelöst,  ein  ständig  wiederkehrendes  Jahresfest 
bilden,  bleibt  der  festliche  Zug  zum  Zirkus,  die  pompa  circensis,  ein  Hauptstüek 
der  Feier:  in  diesem  Zuge  aber  erscheinen  als  Gäste  des  kapitolinischen  Juppiter, 
um  dessen  Festtag  sich  die  Spiele  gruppieren,  auf  altertümlichen  Prunkwagen 
oder  auf  Tragbahren  die  Bilder  der  Götter,  wohl  nicht  die  Kultbilder  selbst, 
sondern  Puppen,  die  mit  Kleidern  und  Schmuck  aus  dem  betreflPenden  Tempel- 
schatze entsprechend  dem  Tempelbilde  kostümiert  waren:  aber  nicht  die  alt- 
einheimischen Götter  waren  es,  die  man  hier  erblickte,  Janus  und  Vesta,  Consus 
und  Faunus  und  wie  sie  alle  heifsen,  sondern  Gottheiten  griechischer  Herkunft, 
die  in  Kom  eine  neue  Heimat  gefunden  hatten.  Der  einzige  Gewährsmann,  der 
uns  von  der  pompa  circensis  eine  ausführliche  Beschreibung  giebt,  Dionysios  von 
Halikarnass,  findet  in  ihr  eine  wichtige  Stütze  für  die  Grundthese  seines  Werkes, 
dafs  die  Römer  nicht  etwa  ein  zusammengelaufenes  Barbarengeaindel,  sondern 
von  guter  hellenischer  Abkunft  seien:  wie  wäre  es  sonst  möglich,  so  fragt  er, 
dafs  sie  bei  einer  so  feierlichen  Gelegenheit  wie  beim  Zirkusaufzuge  unter  Ver- 
nachlässigung ihrer  eigenen  Gottheiten  alle  die  Götter  im  Bilde  aufführen,  die 
in  Griechenland  Tempel  und  Heiligtümer  haben,  nicht  nur  Zeus,  Hera,  Athena, 
Poseidon  und  die  übrigen  grofsen  Zwölfgötter,  sondern  auch  Kronos  und  Hhea 
und  Themis,  Nymphen,  Musen  und  Chariten,  Dionysos,  Herakles,  Selene,  Pan 
und  so  weiter  in  endloser  Reihe?  Wir  können  dieser  ganz  bestimmten,  auf 
eigener  Anschauung  beruhenden  Angabe  den  Glauben  um  so  weniger  versagen, 
als  auch  bei  einer  anderen  Gelegenheit  ausschliefslich  griechische  Gottheit4?n 
es  sind,  deren  Bilder  bei  einer  öffentlichen  Kultschaustellung  mitwirken.  Ich 
meine  die  Lectisternien.  Als  im  J.  399  v.  Ch.  während  des  Entscheidungskrieges 
nnt  der  mächtigen  Nachbarstadt  Veji  eine  schreckliche  Seuche  Rom  heimsuchte 
und  alle  menschliche  Kunst  sich  unfähig  erwies,  die  Gewalt  der  Krankheit  zu 
brechen,  beschlofs  der  Senat  auf  Rat  der  sibyllinischen  Bücher,  auf  ganz  neue 
Weise  den  Zorn  der  Gottheit  zu  versöhnen:  durch  8  Tage  hindurch  lud  man 
sechs  bestimmte  Götter  zum  Mahle  ein,  indem  man  ihnen  auf  offenem  Plat/A- 
den  Tisch  deckte  und  kostbare  Polsterlager  rüstete,  auf  denen  die  Bilder  der 
geladenen  Gottheiten  ruhten  und  wie  lebende  Gäste  mit  Speise  und  Trank  be- 
dient wurden;  das  Volk  schaute  dem  Göttennahle  zu  und  nahm  auch  selbst  an 
der  Tafelfreude  teil,  denn  überall  standen  in  den  Häusern  der  wohlhabenden 
Bürger  bei  weit  geöffneten  Tliüren  reich  besetzte  Tafeln,  an  denen  jedermann. 


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Q.  Wiasowa:  Bömiache  QOtitorbüd«r. 


163 


bekaant  wie  unb^uinty  willkommener  Qast  war.  Daa  iat,  wie  jeiiit  wohl 
niemand  melur  besweifelty  von  Anfan^^  bis  SU  Ende  grioebiseher  Branehy  eine 
n^Ttragoi^  der  ^eo^via,  wie  sie  uns  in  v^radbiedenen  Kalten,  u.  a.  denen  der 
Dioskuren  und  des  delphijitlun  Apollo  begeprit»!!;  ausnahmslos  griechisch  sind 
auch  die  Gottheiten,  die  in  Rom  bei  diesem  ersten  Leetistemium  und  seineu 
nächsten  Wiederholungen  beteilip^  sind:  Apollo  mit  seinen  Kultgenossimien 
Artemis  und  Leto,  Herakles,  iiermes  und  Poseidon,  griechisch  natürlich  auch 
die  zur  Schau  gestellten  Götterbilder.  Das  AofBerordentlicbe  der  Caerimonie 
lag  darin,  dafii  Hier  eine  Mebrcahl  yeraciuedenar  Gottheiten  znm  gemeinaamen 
Simtlidien  Sebmauae  geladoi  wurden,  allein  und  im  eigenen  Tempel  haben 
lüe  meistai  rSmlaeben  StaatagOtter  grieehiaeher  Herkunft  ihren  Speiaetiadi 
and  ihr  Polsterlager  gebäht,  auf  dem  sie  entweder  an  bestimmten  Festtagen 
oder  auch  den  grofsteri  Teil  des  Jahres  hindurch  öffentlich  tafelten.  Auch  in 
den  kapitolinischen  Kult  ist  dieser  Branch  Hn^edrnngen.  Am  Stiftun^stage 
des  Tempel-^,  der  /uj^leieh  den  Mittelpunkt  der  Ituii  Bomnni  bildet,  naeldier 
auch  am  ent»pre(  henden  Ta^e  der  jüngeren  liuli  phhrii,  findet  im  Tleiligtume 
ein  Fest«chmaud  statt,  zu  dem  der  ganze  Senat  geladen  ist,  dessen  Haupt* 
jftmnm  aber  die  GHStter  dea  Eqpitols  aelbat,  Juppiter,  Juno  und  Hinem  abd: 
ihre  Bilder,  gesalbt,  fiiaiert  und  feaÜich  gekleidet,  werden,  gana  wie  beim 
Leetiateminm,  mit  erleaenen  Speisen  bedient,  nur  darin  ist  d&n  romiaehen 
ScbicklichkeitsgefQhl  eine  Konzession  gemach^  dafs  die  beiden  Göttinnen  nicht 
wie  Juppiter  auf  dem  Polsterbett  liegen,  sondern  auf  Stühlen  sitzen. 

Den  aufgeklärten  (iesehmack  der  Ciceronischen  Zeit  muteten  derartige  Schau- 
stellungen begreiflicherweise  sonderbar  und  befrenidlich  an,  und  man  glanbtp 
eine  Entschuldigung  nur  in  dem  unvordenklich  hohen  Alter  ditser  Hräuebe 
finden  zu  können:  Cicero  z.  B.  hält  den  Festschmaus  des  Juppiter  für  eine  Ein 
richtung  des  Numa,  mit  anderen  Worten  für  einen  Bestandteil  der  römischen 
Vrreligion.  ThatsBehlieh  aber  kann  man  sich  kaum  mnen  adiro&ren  Gegen- 
mli  denken  ala  den  dar  in  den  geaehilderten  Gberimonien  sich  anaqpreehenden 
Änsdiauung  und  der  Oedaaken,  von  denen  die  altwte  Bdigion  der  Rtoer  be> 
herrscht  wird.  Wie  in  Athen  die  Ufju  ttctquc  und  ^nid-^ra  gesonderte  Kreise 
bUden,  so  scheidet  das  römische  Sakralrecbt  sebarf  zwischen  den  altansässigen 
lind  den  neu  aufgenommenen  Göttern,  den  dt  indigetes  und  di  nwensides:  haben 
auch  beide  gleiches  Bürgerrecht  im  röiuischen  Staate,  so  gilt  doch  nur  den 
ersteren  das  altrömische  Caerinionialger<et7,  nur  ihre  Festtage  sind  in  die  bis 
auf  Caesar  gültige  Kalenderurduuug  als  Feiertage  aufgenoiumen,   nur  ihnen 

weihen  die  Plrieateraehaften  alter  Ordnung,  der  Opferkönig  und  die  flamines, 
4iie  Fetiaien  und  die  Salier,  die  heiligen  Jungfrauen  und  die  Wolfigilde  ihren 
IKenaL  Katttrlidi  ist  audi  diese  Slteste  Götterordnung  niehi  an  einem  Tage 
geschaffen,  sondern  das  Ergebnis  jahrhnndertlangev  Entwickehmg:  aber  es  kam 
'  Zeit,  WO  sie  als  abgeseblossen  g;ilt  und  alles  das,  was  an  religiösen  Vor- 
!»U;Uungen  neu  zuwuchs,  als  anders  geartet  so  zu  sagen  in  einen  äuiseren  Kreis 
v(>nrie<?en  wurde,  und  dieser  Zeitpunkt  trat  ei?i,  bevor  die  Verehrung  des 
icapitolinischeu  Göttervereines  in  Horn  Eingang  fand.    Die  Grenze  zwischen 


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1G4 


0.  WiNOwa:  ROnusdie  OMterbilder. 


dem  alten  und  dem  neuen  Odtterkreiie  war  eine  feate  nnd  imverrfld:lMre,  nnd 
auch  die  allergrGlkle  thataichliehe  Bedeutung  vennodite  den  Jnppiter  O.  If. 
oder  die  Diana  vom  Aventin  ebenso  wenig  in  die  Reihen  der  di  indigetea  Ober- 
xttltthren,  wie  etwa  C.  Marias  oder  Cn.  Pompetua  durch  ihre  Triumphe  and 
ihre  Machtstellung  aus  Plebejern  zu  Patriziern  werden  konnten.  Dieser  streng 
abgesflilosHPin'n  alten  Götterordnung  ist  abt'v  personliche  Vorst<>lhing  von 
den  Gütterti  durchaus  fremd.  Schon  die  Namen  beweisen  das,  die  in  vielen 
Fällen  nicbt  peis<)nliche  Bildung  zeigen,  sondern  identiseh  sind  mit  den  Be- 
zeichnungen derjenigen  Dinge,  die  man  durch  den  Gott  vertreten  oder  in  denen 
man  jenen  wirkaam  ^ubte:  Janua  der  ThorbogMi  und  Veata  der  Herd,  Tellua 
das  Saaifiald  nnd  Opa  der  Eratesegen,  Fona  die  Quelle  und  Tmnintta  der  Grensp 
stein  bieten  aehlagende  Beiapiele  lllr  dieaea  Znaammenfidlmi  dea  GStkamamena 
mit  dem  AppeUatiTum.  Solche  Götter  haben  nicht  nur  keine  bildliche  Ver- 
köi-perung,  sondern  sind  auch  an  keine  fef^te  Kultstatte  gebunden:  jedea  Saat- 
feld und  jeder  Orens^tein  bieten  Gelegenheit,  Tellus  oder  Terminus  anzurufen 
nnd  zn  verehren,  und  wenn  Janus  nnd  Vesta  feste  KulistStten  am  Forum  he 
8it/('ii,  so  folgt  das  nur  aus  der  Notwendigkeit,  aus  der  unbegienrtfn  Mcniru 
von  Tborbögen  und  Feuerstätten,  an  denen  allen  Janns  und  Vesta  wnk^Hiuu 
sind,  ein  Staatsthor  und  einen  Staatbherd  herauszuheben,  an  denen  die  Gemeinde 
ala  Ganzes  diesen  Göttern  dieadbe  Verehrung  darbringt,  wie  jeder  Hauavater 
an  der  ThQr  oder  am  Herde  aeinea  Hanaea.  Aber  audi  wo  sieh  dar  Name 
dea  Gottes  Tom  Ckigenatande  loegelSat  und  an  umlSmeiiderar  Bedeutung  eni- 
wiekelt  ha^  bleibt  jede  paraSnliche  YorateUung  £01*,  nnd  der  fikitt  ist  eine  mit 
der  Erscheinung,  in  der  man  seine  Wirksamkeit  erblickt:  dem  Griechen  sendet 
Zeus  mit  kräftiger  Hand  den  Blitz,  der  Römer  verehrt  Juppiter  Fulgur,  nicht 
den  Blitzschleuderer,  sondern  den  BHtz  selb.st;  vti  ixh>  l>  Zevg  sagt  der 
griechische  Dichter,  'Vater  Zeus  läl'st  es  regnen*,  dem  Kömer  «»teilt  sieb  der 
Gedanke  in  anderer  Form  dar:  luppitcr  H  lad^)  desccndet  plKnmua  nntne,  'der 
ganze  Himmel  kommt  hernieder  im  Regen';  aus  griechischer  Anschauung  heraus 
läfst  Virgil  den  Juppiter  die  Venus  liebkosen  *mit  dem  Antlitz,  dessen  Lächeln 
Himmel  und  Wetter  aufhellt*,  voUa  q¥ö  eadum  tetnimiatesgue  mmait,  rSmiaeb 
redet  Horai^  wenn  bei  ihm  der  abgah&rtete  Weidmann  anahanrt  aub  Jbae  firigido 
'unter  kaltem  Himmelaatridie*.  Sine  aoldbe  Anadhannng,  die  den  Gott  nur  in 
der  Natur  und  in  den  Gegenatanden  seines  Waltens  sieht,  schliefst  den  Ge- 
danken an  einen  Bilderdienat  aua;  sie  kann  den  Gott  nicht  im  Bilde  neben  die 
Sache  stellen,  in  der  er  wirksam  ist.  Ja  seihst  die  Verehrung  der  Gottheit  in 
Symbolen  ist  der  altrömisehen  Religion  fremd:  freiheh  hfinii  wir  von  dem 
heiligen  Feuerstein  des  Juppiter.  einer  Versinnbildlichung  des  Donnerkeil»,  und 
von  Sciiild  und  Lanze  des  Mars;  aber  es  sind  dies  nicht  Gegenstände  der  An- 
betung, sondern  AusrüütungsstQcke  der  Priester,  wenn  sie  im  Namen  d^ 
Gottes  ihren  Dienst  thun:  dann  tragen  die  Salier  bei  ihren  Tineen  Sdiild  and 
Speer  dea  Mars,  und  die  Fetialen  eracUagen  beim  Bundeaopfer  daa  Opfertier 
mit  dem  heiligen  sHex. 

Wie  lange  dieae  Anschauung  Ton  nnpersfinliehen  nnd  unvoratellbaren^  den 


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G.  WiMows:  ROmiflclie  GOtterWlder. 


165 


Menschen  überall  und  allezeit  umgebenden  göttlichen  Gewalten  in  voller  Rein 
heit  lind  AusschliefBlichkeit  den  römischon  Gottesdienst  beherrscht  hat,  läfst 
sich  nicht  mehr  bestimmen;  nur  soviel  dürfen  wir  getrost  sagen,  dafs  die 
170  Jahre,  die  Varro  dieser  Periode  der  rdnuBcheii  Beligionsgescbichte  mweis^ 
f&r  die  TManBBuaeiKende  Entwicikelung  nicht  entfernt  aosreichen,  und  dala  eich 
•Iw  Midi  hier  die  bereite  Ton  Niebuhr  genuiehie  Beobachbing  beslfttigt)  dafe 
dw  fiberliflferle  Chronologie  der  KSnigsaeit  mit  viel  %a  kleinen  Zahlen  operiert. 
Am  Ausgange  der  Konigeieit  und  in  den  ersten  Jahr/ohnten  der  Rtpublik 
führt  des  starke  Kindringen  griechischer  Gottesdicnnte  in  Korn  eine  tiefgehende 
Umwälzung  im  Kultus  wie  in  den  religiösen  Vorstellungen  herbei:  die  alte 
Kulturstätte   Cuiuae,    die    wiclitigste   Vermittlerin    griecluKclier  Bildung  für 
lUiien,  entsendet  ihren  Apoll  ),  im  Gefolge  de?  sizilisehcn  (»etreidehandels  er- 
scheinen einerseits  Demeter  mit  ihren  Kultgenossen  Dionysos  und  Kor^  anderer- 
seits Hermes  in  Rom,  aus  den  frfih  dem  griechischen  Emflusse  erschlossenen 
NschlMigemeiiiden  Tibnr  und  Tnscnlum  werden  Herakles  und  die  Dioekuren 
sn^ieiioiDOUHi.   All  diese  neuen  Gottesdienste  bringen  griechische  Knltfonnen 
und  teflweise  «ocb  griechisebe  Priest^  mit,  griechisch  sind  die  Kaltlegenden, 
griechisch  die  Götterbilder:  der  im  Bilde  persönlich  auftretende  Gott  verlangt 
ein  Wohnhaus,  daher  tritt  für  diese  neuen  Kulte  an  Stelle  der  früher  üblichen 
Haine  und  offnen  Altäre  das  Gotteshaus .  der  Tempel.    Der  alte  Gottesdienst 
eriäiui  zunächst  weder  in  seiner  fieltunir  noeh  in  seinen  Formen  irgend  welche 
Verändertmg:  noch  immer  erJiffiu  t  <[i  i  Priester  des  alten  Juppiter  die  Wein- 
lese, indem  er  ein  Lamm  schhielitet  und  die  erste  Traube  schneidet,  noch 
immer  wird  Anfiang  und  Knde  der  Kriegazeit  durch  die  altertümlichen  Sühn- 
tika  und  Tfaise  der  Salier  geleiert^  nach  wie  tot  halten  alljährlich  im  Februar 
die  Luperci  ihren  sQhnenden  Umlauf  um  die  alte  Fiaktbstadt  und  sieht  aur 
Zeit  der  Sommeragliit  der  Flamen  Qoirinalis  hinaus  vors  Thor,  um  an  der 
Grenze  der  römischen  Feldmark  dem  Gotte  der  Rostkrankheit,  Robigus,  einen 
Hund  zu  opfern  und  um  Fembleiben  der  Krankheit  von  den  Getreidefeldern 
lu  bitten:  das  ganze  Jahr  hindurch  begleiten  die  (yaerimonien  des  alten  Kultus 
die  ländliche  und  kriegerische  Thätigkeit  der  Gemeinde.    Aber  daneben  stehen 
die  Jüngeren  und  fremden  Gottesdienste,  die  ja  in  gewöhnlicht  n  Z«  itlanflen 
nicht  »ehr  hervortreten  und  aufser  dem  üblichen  St^tataopfer  am  Ötiftungstage 
des  Tempels  nur  die  Huldigungen  eines  engeren  Kreises  von  Verehrern  er- 
listten,  die  aber  sofort  in  den  Vordergrund  treten,  sobald  Seuche  oder  Mifs- 
irach^  Kri^unglfick  oder  Bttigwswist  oder  andere  Heimsuchungen  den  Staat 
twffen,  oder  in  Zeiten  der  Aufregung  außergewöhnliche  Naturerscheinungen  auf 
das  BeTorstehen  schrecklidier  Ereignisse  hinzuweisen  scheinen:  dann  greift  man 
nidit  mehr  zu  den  abgenfiteten  und  bescheidenen  Sflhnmitteln  des  alten 
Caerimonialgesetzes,  sondern  su  den  sinnfälligeren,  das  ganze  Volk  zur  Mit- 
wirkung aufrufenden  Riten  der  neuen  rioitf-sdienste:   h'asten,  Kollekten  zur 
Stiftung  von  Weihgeschenken  und  Götteri)iidern,  Götterschmnnsc  und  Volks- 
Wwirtungen,  Bitt-  und   i>Hiiki)i o/essitnitu  mit  Instrumentalmusik  imd  Chor- 
gesang, Zirkus-  und  Bühnenspiele,  stellenweise  sogar  Menschenopfer,  das  sind 


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Wifliowa:  Bemiiche  CHMsierbilder. 


diV  Mittel,  die  eines  das  ander«'  fihcrbiottMKl  und  verdrängend  zur  Abwendung 
des  (TÖtt<>r7.ome8  angewendet  werduu,     l'nd  je  häufiger  diese  Mittel  sich  als 
wirksiiui  und  erfolpfreich  erwiesen,  um  m  mehr  verblafsten  die  unpersönlichen 
Götter  des  alten  Glaubens  vor  den  farbenreichen  und  sinnfälligen  Schöpfungen 
der  helleniBcheu  Phantasie.   Der  alte  Ootteedienst,  deeaen  VeraaehfiisBigung 
oder  Umgestaltung  die  strenge  Qewissenliaftti^eit  d^  BSmer  in  rdigiSaen 
Dingen  nicht  xoliefo,  erstarrte  vielfiMsh  in  der  Hand  der  Priester  nir  inhalt- 
losen und  onverstandenen  Form,  weil  die  grofse  Mehrzahl  der  GHSabigen  unter 
dem.  Einflösse  der  griechischen  Auffassung  in  den  alten  Göttern  etwas  ganz 
anderes  zu  sehen  begann,  als  das,  als  was  sie  ursprünglich  gedacht  waren,  und 
an  ihnen  nur  in  so  weit  festhielt,  als  sie  im  stände  war,  sie  in  die  greifbare 
Persönhclikcit  ffriechischer  Göttergestaltung  zu  übersetzen.   Dem  wurde  wirksam 
Vorschub  ^[eleistet  durch  die  Thatsache,  dafs  uin  Teil  der  griechischen  Götter 
bei  ihrer  Aufnahme  in  den  römischen  Staatskult  auf  Grund  einer  wirklichen 
oder  venneintliehen  Wesensrerwandtsdiaft  die  Namen  atfar&mMchsr  Gkittheitea 
anneiktiert  hatte  und  sidi  so  bald  völlig  an  ihre  Stelle  setate:  Geres  nnd  Xaber, 
Neptnnns  und  Bona  dea  sind  Gtötter  der  alten  Religion,  abor  nachher  nsnr- 
pievten  Demeter  und  Dionysos,  Poseidon  und  Damia  diese  Namen,  und  der 
Romer  etwa  dw  Zeit  der  Samniterkriege,  der  m  Ceres  betete,  dachte  dabei 
gewifs  nicht  mehr  an  das  gestaltlose  rmmen,  das  nach  dem  alten  Glauben  über 
dem  Wachstum  der  Saaten  wachte,  sondern  an  die  gleichnamige  Göttin,  deren 
Bild  jedermann  im  Tempel  beim  Zirkus  sehen  konnte,  d.  h.  an  die  griechische 
Demeter;  ebenso  sind  die  zwar  nicht  altrömisehen  aber  altlatinischen  Knlte 
von  Diana  und  \'enus  zugleich  zu  Trägern  des  griechischen  iVrtemis-  und 
Aphroditedienstes  geworden,  und  so  erkßrt  es  sich,  dafs  im  Tempd  der  Diana 
auf  dem  Aventin,  deren  Bikaal  nicht  das  griechische,  sondern  das  «nheimiaehe 
war,  ein  altertOmliches  Schnitsbild  verehrt  wurde,  das  dem  in  Ibssilia  anf- 
gestellten  Bilde  der  Artemis  glich  d.  h.  die  Güttin  in  dem  bekannten  Typus 
der  ephesischen  Artemis  darstellte.   Zunächst  waren  es  die  groTssn  Götter  der 
Griechen,  die  sich  solchergestalt  erst  des  Namens  und  dann  anch  mehr  und 
mehr  des  Wesens  ihrer  romischen  Gegenbilder  bemächtigten;  in  dem  religions- 
geschichtiich  bedeutsamen  zweiten  Jahre  des  llannibalischen  Krieges,  als  uach 
der  Niederlage  am  trasimenischen  See  die  schwere  Not  der  Zeit  zu  mancherlei 
Neuerungen  auch  auf  religiösem  Gebiete  trieb,  hielt  man  zum  ersten  Male  eine 
Oötterbewirtung  ab,  die  Aber  den  Kreis  der  bisher  bei  di^em  Brauche  ver- 
tretenen €k»ttheiten  weit  hinausging;  auf  sechs  Polsterlagem  mhten  sechs 
Paare  von  Gottheiten,  Jnppiter  nnd  Juno,  Neptunus  und  Minerva,  Mars  und 
Venus,  Apollo  und  Diana»  Volcanns  nnd  Vesta,  Merenrius  und  Ceres:  das  sind 
nach  Auswahl  und  Anordnung  die  zwölf  grofsen  Götter,  wie  sie  manchenorts 
in  Griechenland  als  auserlesener  Kreis  verehrt  wurden;  aber  die  Namen  sind 
rÖTTiiücli.  der  griechische  Brauch  und  das  griechische  Götterbild  hatte  sich  auch 
(lottheiti  ii  t  roV)ert,  die,  wie  Mars,  YolcanuB,  Vesta,  zu  den  alten  di  indigetes  der 
Vorzeit  gehörten. 

Das  Streben  nach  bildlicher  l>arstellung  hat  aber  bald  über  den  Kreis 


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G,  Wiaaowii:  RAmivcbe  GOttorbildex. 


167 


derjt'uigen  GrSiter  hinausgegriffen,  fOr  die  aich  eine  mehr  oder  weniger  ein- 
leuditendfi  Okiebung  mit  einer  griechischen  Gottheit  und  damit  die  HSgUch- 
keit  o^by  das  Bild  der  lefesteren  einlach  so  fihemehmen,  es  hat  auch  die- 
jenigen Gotter  erfafst,  die,  eigenartig  römischer  Anschauung  entsprungen,  ihres 
gleichen  im  griechischen  Olymp  nicht  ohne  weiteres  &nden.    Zwar  nicht  alle 
Götter  des  alttu  Glaubens  haben  die  Waiitkliinfj  aus  unpersönlichen  Begriffen 
zu  körperlicher  Gestaltung  uiitifemacht,  manch  einer  ist  in  Verfressenheit  ge- 
raten, ehe  er  zur  bildlichen  Ausprägung  kam;  aber  die  Mehrzahl  von  ihnen 
erhielt  im  Laufe  der  Zeit  Tempel  und  Tempel- 
bild. Das  letztere  neu  zu  schafi'en,  war  keine 
leichte  An^be,  denn  die  altrömisdie  Rdigion 
hat  keine  Mythologi«^  sie  kennt  keine  Gdtter- 
dien  nnd  Gdtterkinder,  keine  ErzShlongen 
TOn  Theten  nnd   Leiden   der  Götter;  man 
konnte  also  im  Bilde  nicht  das  Leben  nnd 
Handeln   des  Gottes   wiedergeben,   denn  er 
batto  nicht   gelobt  und  gehandtüt,  sondern 
war  darauf  angewiesen,  aus  dem  griechischen 
Typenvorrat  die  DarsteUmig  eines  Gottes  von 
aQiiäiierud  ähnlicher  Bedeutimg  und  Wirk- 
isiokeit  anssawahl«!  nnd  dann  den  Besonder- 
heiten der  rSmisehen  Anschaunng  durch  Bei- 
gabe von  nenen  Attributen  oder  sonstige 
Mo^fikationen  zu  ihrem  Rechte  zu  verhelfen. 
Natürlich  gelang  die  Lösung  dieser  Aufgabe 
nicht  überall  mit  gleichem  Glück.     So  ist 
eine  der  häufigsten   Darstellungen   die  der 
Kompitallaren  j  die  uns  als  jugendliche  Ge- 
'talten  mit  lockigem  Haare  entg<>gentreten, 
in  hochgeschürzter  Tunika  mi  iau:i8chiitte 
suBschreitend  und  mit  der  hochgehobenen 
Rechten  aus  dnem  Trinkhom  in  die  in  der 
anderen  Hand  gehaltene  Schale  emschenkend  (s.  Abb.  2);  obwohl  die  erhaltenen 
BenknüUer  erst  späterer  Zeit  angehören,  können  wir  doch  das  Vorkommen 
dieser  Darstellung  bis  hinauf  in  die  Zeit  des  Naevius  verfolgen,  der  in  seiner 
Komödie  Tunicularia  einen  griechischen  Maler  Theodotus  verspottete,  'der  in 
mner  Klause,  ringsum  von  Vorhängen  verdeckt,  auf  die  Altäre  7,ur  Knmpitalieu- 
i'eier  mit  dem  Ochsenschwanze  die  tanzenden  l^arcn  nnilt'.    Das  noeli  naeh- 
wpi^harc  Vorbild  haben  bakehisehe  Darstellungen  unteritalischer  Kunstiibung 
gfbottD,  die  Veranlassung  die  Laren  gerade  in  solchem  wein-  und  tauzfrohen 
Goaren  darzustellen  gab  der  Gedanke  an  die  frohe  und  ausgelassene  Fesf^ 
ftisr  dw  «ncta  Cvmp'Ualia\  der  Geesmtwirkaamkeit  der  Laren  aber,  in  denen 
Börner  die  göttlidien  Wftditer  seines  Grundstttclras  sieht,  wird  das  Bild 
wenig  gerechi   Bafs  die  Versinnlichung  der  alten  Götter  im  Bilde  erst  su 


Abb.  I.  Taiurnclt<r  Liir.  BronxMtatlMtU  Un 
KoBMmlonBruiMat  KVnnuU  A.  Ihm.  IWI 
Ut.  d'kgg.  K). 


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168 


G.  WisMwa:  Römische  Göttarbildor. 


einer  Zni  erfolgte,  in  der  die  Fühlung  mit  der  alten  Religion  schon  merklieh 
gelockert  war,  zeigt  das  Bild  des  Dius  Fidius.  In  ihm  stellt  sich  eine  beson- 
dere Seite  des  Himmelsgottes  dar:  der  Himmel,  überall  sichtbar  und  alles 
sehend,  ist  der  berufene  Zeuge  bei  Eid  und  Versprechen,  Dius  (=  Diovis) 
Fidius,  von  den  Griechen  trcfiFend  mit  Zivg  IIiöTiog  übersetzt,  ist  Juppiter  als 
Schützer  von  Treue  uud  Bündnis.  Die  Statue  des  Gottes  aber,  die  —  inschrift- 
lich gesichert  —  wr  einer  Beflie  von  Jahren  m  Tage  kwn  (s.  Abb.  3),  ist 

eine  jener  mit  anliegenden  Obenmnen  nnd  rechte 
winkdig  Tmrgeatredkten  ünterannmi  ateif  da- 
stehenden nackten  Jflnglingsfignren,  welche  die 
archaische  Kunst  der  Griechen  im  menschlichen 
Kreise  für  Siegerstatuen,  im  göttlichen  für  Apollo- 
darstellungen verwendet:  die  Thatsache,  dafs 
Apollo  an  vielen  Orten  (iru'chenlands  als  Sch^vur- 
tmd  BünduiBgott  verehrt  wurde,  bestimmte  die 
Wahl  dee  Bildes  und  lieb  ea  TÖllig  vergessen, 
dab  d^  rdmische  Gott  doch  eine  Sondcrfonn  dea 
Jnppitw  ivar.  Daa  grieehische  Vinrbild  dnr  Diua 
Fidina-Statoe  mofs  etwa  dem  An&nge  des  5.  Jahr- 
hunderts angehört  haben:  da  im  J.  466  v.  Chr. 
Sp.  Postumius  den  Tempel  des  Dius  Fidius  auf 
dem  Quirinal  weihte,  könnte  man  geneigt  sein, 
die  Schöpfung  des  Bildes  mit  der  Gründung  des 
Tempels  in  Verbindung  zu  bringen,  aber  ein  der- 
artiges Verkennen  der  alten  Natur  des  Gottes, 
wie  sie  sieh  in  der  Wahl  des  ApolloiTpus  aiia- 
BfNriehl^  ist  mit  dner  so  frflhen  Entstdrang  kanm 
Tereinher;  jedenfalls  sind  die  meistm  sonst  be- 
kannten Kultbilder  altrömischer  Gottheiten  erst 
im  3.  Jahrb.,  im  Zeitalter  der  punischen  Kriege, 
nnd  weiterhin  entstanden;  auch  die  tanzenden 
Liiron  des  Theodotus  werden  etwas  Neues  gewesen 
Kein  zu  der  Zeit,  als  Naevius  sich  über  ihren 
Schöpfer  lustig  machte. 

Aach  fttr  die  Bildung  eines  anderen  alten 
Gottea  hat  dar  griediisdie  Apollo  die  Vorlage  abgegeben:  im  Tempel  dea 
Totengottes  VcgoTis,  dor  192  t.  Chr.  in  der  Kinsatteinng  swisdum  Kapitol  und 
Burg  erbaut  wurd^  stand  ein  altertümliches  Schnitabild  aus  Cjpressenhola,  ein 
jugendlicher  Gott,  Pfeile  in  der  Hand  haltend,  eine  Ziege  ihm  zur  Seite.  Übel 
angebrachte  Küsterweisheit  erinnerte  sich  an  die  Ziege  Amaltheia,  die  das  Zeus- 
kind  genährt  hatte,  nnd  erblickte  in  Vejovis,  auch  dem  Namen  nach,  einen 
kleinen,  jugendlichen  Juppiter;  Verständigere  aber  verkannten  nicht,  dals  das 
Bild  einen  Apollo  darstellte,  als  Todcsgött  aufgefafst  und  darum  mit  den  ver- 
derbenbringenden Pfeilen  ausgestattet;  die  Ziege  aber  ist  romische  Zuthat,  denn 


Abb.  S  Diai  I'idiaa,  M anniiritatue  im 
T*tlkAii(Aui»Ud.  laiviMd  Uv.d'afg.  A). 


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G.  Wiesowa:  RömiBche  Götterbilder. 


169 


nach  römischer  Vorstellung  gebort  sie  den  Unterirdischen  an,  und  der  Flamen 
Dialis,  der  Priester  des  Himmelsgottes,  der  keine  Leiche  und  kein  Grab  sehen 
darf,  darf  auch  eine  Ziege  weder  anrühren  noch  auch  nur  den  Namen  des 
Tieres  nennen. 

In  der  Beifügung  derartiger  Attribute  zur  genaueren  Bezeichnung  des 
Vorstellungskreises,  in  dem  die  Bedeutung  des  dargestellten  Gottes  zu  suchen 
ist,  liegt  eine  Eigenart  und  Stärke 
der  römischen  Sakralkunst.  Eine  be- 
sonders glückliche  Schöpfung  dieser 
Art  stellt  das  Bild  des  Genius  dar: 
ursprünglich  durchaus  an  die  P e  r  s  o  n 
gebunden,  ist  der  Genius  die  Kraft, 
die  im  Hausvater  zeugend  Uber  dem 
Fortbestand  der  Familie  waltet,  dann 
weiterhin  die  Vertretung  alles  Kraf- 
tigen, Energischen,  Genufsfreudigen 
im  Manne,  der  ins  Göttliche  über- 
setzte Romer  selbst:  diese  Vorstel- 
lung wird  treffend  verkörpert  durch 
das  Bild  eines  römischen  Bürgers 
im  Staatskleide,  der  Toga,  der 
mit  Ober  das  Hinterhaupt  herauf- 
gezogenem Gewände  aus  einer  Schale 
die  Opferspende  ausgicfst,  während 
er  im  linken  Arme  ein  Füllhorn 
hält  (b.  Abb.  4);  dieses  Füllhorn, 
das  redende  Symbol  der  genialis 
copia^  erscheint  als  unterscheidendes 
Attribut  dieses  Gottes  auch  bei  allen 
sonst  vielfach  abweichend  gestalteten 
Bildern  von  Genii  der  Städte,  Kor- 
porationen, Truppenkürj)t'r  u.  s.  w. 
Silvanus  ist,  wie  sein  Name  sagt, 
zunächst  der  Gott  des  Waldes  und 
der  Wald  weide,  der  silvatica  pasiio, 
dann  aber  stellt  sich,  als  der  Wald 
mehr  und  mehr  der  Kultur  weicht, 
auch  die  an  die  Stelle  des  aus- 
gerodeten Waldes  tretende  Farm,  die  villa,  unter  seinen  Schutz:  von  alle- 
dem redet  das  typische  Bild  des  Gottes,  das  uns  auf  zalilreichen  Denkmälern 
entgegentritt,  deutlich  und  vernehmlich.  Ein  älterer  Mann  mit  wallendem 
Haar  und  Bart  —  ein  Zeustypus  scheint  zu  Grunde  zu  liegen  —  trägt  auf 
dem  Kopfe  einen  Kranz  von  Pinienzapfen  und  im  Arme  ein  Stück  Wald,  einen 
kräftigen  Baum  oder  Baumast;  aber  das  gekrümmte  Gärtnermesser  in  seiner 


Abb.  4.    Sog.  0«dIui  AaRtiiti,  Mumorttatne  Im  Vatikün 
(naob  OrlgiiuüpbotogrBphie). 


170 


G.  Wiuow»:  SOmiMlie  GOtterliUder. 


Abb  f<  SiWauui,  Toa  eioam  Beliof  dos  Mu«eo 
•rch«oL  In  inonu  (MiU.  4.  lOm.  huA.  I  Tat  VIU). 


Rechten  und  der  mit  Erflehten  aller  Art  gefüllte  Fellschurz,  der  ihm  um  den 
Hais  luing^  »eigen,  dab  er  bereits  die  Gartenkultur  kennf^  and  sor  Seite  sitii 

ihm  der  Hnnd,  der  treue  W&chter  des 
Chnmdstllcks  (s.  Abb.  5).    Eine  solche 

Häufung  von  Attributen  mag  künstlerisch 
belraehtet  ihre  Bedenken  haben,  ftir  die 
80  ZU  sagen  logische  Auffassung  des 
Römers  über  ist  sie  sehr  charakteristisch: 
er  verfährt  hi-i  der  13<'ifiiguiig  von  Attri- 
buten zu  einem  Götterbilde  genau  ebenso, 
WM  warn  er  in  der  %mM»he  eben  &ib- 
stantiTbegrifFdiiroli  eine  Reihe  atfaribniiTer 
A^jektink  einengt  und  prisisiert  Bei- 
spiele ftlr  dieses  Vorgehen  lassen  sich 
namentlich  aus  dem  in  Rom  so  reich 
vertretenen  Kreise  von  göttlichen  Per- 
sonifikationen abstrakter  Begriffe,  wie 
Libertas,  Pietas,  Aeqiiitas  u.  s.  w.  in  Menge 
beibringen;  ich  müclit<'  mich  damit  be- 
gnügen, hier  noch  auf  einen  besonders 
lehireichen  Flsll  hinsnweisen.  Sulla  fiÄrte  bekannüidi  das  unwandelbare  Glfick, 
das  ihm  in  allen  Lebenslagen  treu  blieb,  auf  die  Chinst  der  Venus  zurftck;  wie 
er  selbst  sieh  Sulla  Felix  nannte,  so  Terehrte  er  die  GOttin  als  Venus  Felix 

und  Q))ersetzte  seinen  Beinamen 
griechisch  mit  'EnaipQodirog, 
Die  Schutzgöttin  ihres  Gründers 
nahm  die  Sullanisrlir  Kolonie 
"^^•jM  Pompeji,  oder  mit  vollem  Namen 
^Vr_  ,.  V  Colonia  Veneria  C<mielia  ,  als 
kßx'^'^i  StadtgSttin  an,  und  diese  Venus 
Pompeiansvergegennrärtigen  uns 
dne  Reihe  von  Wandbildern 
(s.  Abb.  6):  als  Venus  durch 
ihre  ganze  Haltung  und  Klei- 
dung und  durch  den  neben  ihr 
stehenden  Amor,  der  ihr  einen 
Spiegel  hinhält,  kenntlich,  wird 
sie  durch  das  beigegfbi  ne  Steuer- 
ruder, das  gewöhnliche  Attribut 
der  Tyche-F<Mrtaiia,  als  eine 
sehidsaklenkende  Gtottheit  cba- 
rakterisiert;  als  StadtgSttin  trigt  sie  auf  dem  Haupte  eine  Zumenkrone,  als 
Venus  Felix  einen  Ölzweig,  den  ramus  fdids  cUvae,  um  mit  Virgil  zu  reden; 
dafs  dieser  Ölzweig  geradezu  als  eine  Übersetzung  des  Beiwortes  Felix  in  die 


Abb.«. 


i  Pomp«  i  HCl,  \ 
(Monum.  d 


lut.  m  6»). 


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6.  Wiaoow»:  BOtniiche  Qatt«rbflder. 


171 


Sprache  der  Kunst  aufzufassen  ist,  zeigen  Münzen  Hadrians,  die  laut  Umschrift 
(\iv  Koina  Felix  darstellen  und  auf  denen  sich  das  Bild  der  Göttin  Roma  von 
den  sonstigen  Darstellungen  nur  durch  die  Hinzufügung  des  Ölzweiges  unter- 
Bcheidei 

Das  Götterbild  ist  in  Rom  auf  dieselbe  Weise  mtstanden  wie  daa,  was 
neb  Ar  rdmiscbe  Göttersage  ansgiebt,  sekandSr  auf  dem  Wege  der  IteAexion 
und  Kombination,  dureh  Herfibemalime  griechisdier  Vorbilder  und  mehr  oder 

minder  geschickte  Anpassung  derselben  an  rtnnische  Nam«'n  und  Vorstellungen. 
Griechen  und  griechisch  gebildete  Römer  haben  den  Römern  ebenso  ihre 
GöttererzahlunppTi  wie  ilire  Oottt  rhilder  gemacht,  alt<'inheiTnif»<*ho  Göttertypen 
giebt  es  ebenso  wenig  wie  eine  altromische  Göttei  !sa|ie.  Air  Ii  wer  diu»  im 
allgPTneinen  zuzugestehen  geneipt  ist,  pflepi  doch  eine  Ausnaluiu»  zu  niüchcn: 
die  doppelgesichtige  Bildung  den  der  römischen  Religion  eigentümlichen  Gottes 
Jana»  gilt  als  unbestreitbareB  Eigentum  der  Römer  oder  Italiker,  etwa  als  eine 
nimflllige  Verkörperung  des  Himmels,  8^  «tfir^  ifpoQä  xocl  9tdif^  ixaxoi&u. 
Aber  die  Gründe  und  Zeugnisse  fibr  das  hohe  Alter  und  die  ifaliscbe  Her- 
kunft des  Janusbildes  halten  vor  einer  eingehenden  Prüfung  nicht  stand.  Die 
oiaite,  nie  von  ihrem  Platse  verrückte  Knltstatte  des  Gottes  ist  der  iamts 
geminus,  das  Doppelthor  am  oberen  Forum:  dafs  dieses  Thor  von  HaiiR  aus 
als  Durchgang  diente,  ist  allf^rmeine  Überlieferung  und  gewifs  nicht  zu  be- 
zweifehi,  damit  ist  alier  der  Gedanke  an  eine  innerhalb  der  ThoröflFnuug 
stehende  Statue  des  Gottes  als  mit  der  Bestimmung  der  Baulicbkeit  im  Wider- 
spruche stehend  ausgeschlossen.  Eine  solche  Statuo  stand  freilich  dort  am 
Ausgange  der  Republik,  und  zwar  stellte  sie  den  Janua  als  Gott  des  Jahres 
dar,  und  es  wsven  an  ihr  die  Finger  beider  ffibide  so  kunstreich  gruppiert^ 
iMk  sie  nisamnMi  in  Zahheichen  die  Ziffer  965,  die  Zalil  der  Tage  des  Jahres, 
mdibiideten:  glaubige  GemQter  hielten  das  Bild  IQr  eine  Stift unn;  des  Numa 
und  stiefsen  sich  bei  dieser  freigebigen  Datierung  weder  an  die  Ungeheuerlich- 
keit, dafs  ein  Künstler  jener  f»muen  Vorzt  it  dies  raffinierte  Kunststück  der 
Fin^errechming  zum  Ausdruck  gobracht  haben  sollte,  nmh  an  die  Thatsache, 
dal's  das  bürgerliche  Jahr  der  Ifömer  erst  f<eit  der  Küleiiderreform  Caesars 
365  zählte.    Lassen  wir  diese»  apokryphe  Denknmi,  wie  ea  sich  gebührt, 

aolier  Rechnung,  so  finden  wir  den  bftrtigat  Doppelkopf  des  Janus  suerrt  auf 
der  iltesten  lömisch«!  Eupferprägung,  wo  er  bekanntlich  die  EtnbeitsmOnse^ 
den  As,  beaeiehnet  (a.  Abb.  1  8. 161).  Die  Kontroverse  der  Numismatiker 
Iber  das'  Alter  dieser  ältesten  Kupferprägung  ist  sur  Zeit  noch  unentschieden, 
es  fiifst  sieh  daher  auch  nicht  mit  Sicherheit  ausmachen,  ob  der  unbärtige 
Doppelkopf  auf  den  Kupfermünzen  einiger  etmskischen  Städte  (vor  allem 
Volaterrae)  eine  modifizierte  Nachahmung  der  römischen  Prägung  d;ir'<t<^lU 
oder,  wofür  mir  gewichtige  Gründe  zu  sprechen  scheinen,  von  ihr  unaohangij^' 
i«t  Aber  unter  allen  Umständen  scheint  es  mir  vorsclimdl  und  willkürlicdi, 
aus  dem  Doppelkopfe  der  Münzen  auf  eine  römische  Kultstatue  des  Janus  zu 
ichlieben,  der  das  Mttnzbild  nachgeahmt  sei:  wer  sich  vor  Augen  Ullt,  wie 
■usgemiehnet  sich  der  Doppelkopf  sur  AusfiSllung  des  Münaundes  eignet,  au 


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172 


G.  WiNOwft:  BOmiwlii  CKHMader. 


welch  unlnsbareo  Schwierigkf  it^-n  dagegen  der  Versuch  führt,  oino  Kultstatue 
in  ganzer  Figur  mit  einem  Körper  und  doppeltem  Gesicht  zu  bilden,  der  wird 
Bich  dem  Schlüsse  nicht  entziehen  können,  dais  zuerst  uiir  der  Doppelkopf 
eiistieite  und  die  onorgamaohe  BQdung  einer  Ganzfignr  der  geschiklertNi  Ali 
ni  Tentehen  ist  nur  unter  d«r  VonuiasetgEang^  dab  der  Doppelkopf  das  Frfihere 
und  Gegebene  mr.  Dals  die  Rdmer,  die  fllr  die  Teiletaeke  dee  Ab  grieehieehe 
66tterköpfe  fZeus,  Athene,  Herakles,  Hermes)  w&hlten,  den  Wnnpcib  hatten, 
das  erste  Nominal,  den  As,  mit  dem  Bilde  des  Gottes  zu  beieichnen,  von  dem 
bei  ihiieu  der  Satz  galt  j>tncs  lanum  sunt  primae  ist  begreiflich;  war  aber  die 
ÄiiftTHbc  sr(>Kfe11t,  das  nach  Osten  und  Westen  schauende  Doppeltlior,  deu  innufi 
fft minus,  ins  Menschlicli -figürliche  zu  übersetzen,  ho  bot  sich  der  Doppelkopf, 
der  ja  auch,  männlich  uiul  weiblich,  bärtig  und  jugendlich,  der  älteren  griechi- 
schen Münzprägung  keineswegs  fremd  ist,  ungezwungen  als  leicht  verätäud 
lidiee  Symbol  Also  nicht  ftr  den  Gotteediens^  meine  idi,  londem  ek  Hflns- 
ceichen  ist  der  Doppelkopf  zuerst  erfimden  worden:  als  dann  im  J.  260  der 
Sieger  von  Hylae,  C.  DnUins,  den  ersten  nnd  eimngen  Tempd  des  Janus  in 
Born  erbaute,  mag  man  hier  zum  ersten  Male  den  dqipelgesiclittgen  Gott  in 
ganxer  Figur  als  Kultbild  dargestellt  haben;  wie  es  »ich  fSr  den  Gott  des 
Einganges  gehört,  trug  das  Bild  die  Abzeichen  des  Pförtners,  SchlQssel  und 
Stab.  Augustus  aber  stellte  in  diesem  Tempel  eine  von  ihm  aus  Ägypten  mit- 
gebrachte Statue  des  lanus  pater  auf,  von  dor  man  nicht  genau  wnfste,  ob  sie 
von  Praxiteles  oder  von  Skopas  herrührte:  flüls  weder  der  eine  noch  der  andere 
ein  Standbild  des  JauuB  machen  konnte,  bedarf  keines  Beweises,  es  war  ein 
griedusebes  Gottivbild,  wahrsdieinJieh  eine  DoppeUmme  des  *EQn^g  öixttpuXogf 
das  hier  aum  Janus  umgetauft  wurde.  Denn  das  ist  die  letete  Etappe  auf 
dem  Siegessnge  des  griedusdien  •  Götterbildes  durch  die  rBmisdie  Religion^ 
dafo  nunmehr  ohne  R&eksidht  auf  die  alte  Bedeutung  des  r&nisehen  Gottes 
das  Bild  eines  vermeintlicfaen  griechisclun  Verwandten  sich  an  seine  Stelle 
setzt  und  ihn  verdrangt,  wenn  nicht  im  Kultus,  so  doch  in  der  Poesie  und  in 
der  Vorstellung  der  Gebildpt<^n  Der  alte  Gott  der  Herden  und  der  Befruch- 
tung FiinmiH  hat  mit  dem  griechischen  Pan  von  Haus  aus  nichts  gemein,  als 
den  verwandten  Wirktingskreis;  als  man  das  Bedürfnis  empfand,  an  der  alten 
Stätte  des  Gottes,  am  Luperkal,  ein  Bild  aufzustellen,  bildete  mau  ihn  genau 
SO,  wie  seine  Priester  am  Luperkalienfeste  au£Eutreten  püegteu,  als  nackten 
Hann  mit  einem  um  den  Leib  geschlagenen  Ziegenfell;  eine  Hischgestait  ans 
Mensch  und  Tier  su  verehren  war  IDr  den  nflehtemen  Sinn  der  ROmer  eine 
ünm^lichkeii  Aber  selbst  dem  Horas,  der  sonst  auf  reUgi6sem  Gebiets  sieh 
Tiel  mehr  als  seine  Zeitgenossen  im  römischen  Gedankenkrei  (  bewegt,  ist 
Faunns  der  JSjfmpkainm  fkgimUum  amator,  und  bei  Lukrea,  Virgii,  Ond  ist 
der  Gott  zu  einem  gehörnten  und  bocksfursigcn  Gesellen  geworden,  der  auch 
in  der  Mehrzahl  als  Gattungsbegriff  unt*>r  dem  snnirleum  pccits  des  bakchiThf^u 
Tbiasos  erscheint.  So  vollzieht  sich  unter  i\rm  hellenisierenden  Eintiusse 
der  Augusteischen  l'oesie  eine  völlige  Umwertung  der  Begriffe,  unter  deren 
Einflüsse  noch   heute   unser  Sprachgebrauch  und  unsere  YorsteUung  steht: 


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173 


wer  heateutage  von  einem  'fiumiBchen  Lächeln*  oder  Ton  dem  *J»no8gesidit 
der  gegenwärtigea  Pfditil^  redet,  der  denkt  nidit  dAran,  dalii  er  ftle  ab« 
gegrifliHie  Mflnse  Ntmen  au  einein  Terediollenea  Odttorkreiie  gebraucht^  deeien 
fleilillen,  anpeidkdicli  und  kOiperloa  gedadit,  in  denuelben  9fabe  Ton  ihrem 
inpribi^iehen  Gehalte  verlieren  mnliiteti,  in  welehem  rie  einnlicsh  greifbar  im 
Bilde  benummtretoii  etrebften. 


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CICERO  UND  TERENTIA. 


Von  Otto  £duaro  äcBxnyT. 

GiceroB  Ehe  mit  Temitia  verdient  unser  besonderes  IntereeBe,  auch  abgeeehen 
Ton  den  beteiligten  Pereontiebkeiten,  sebon  aus  einem  äufeerlicben  Qnmde:  sie 
ist  die  einzige  Ehe  des  Altertums,  deren  Wesen  wir  aus  einer  authentit^chen 
Überlieferung  wirklich  zu  »  ikennon  vermögen.  Was  wollen  die  Aiifi9cblüs.s<>, 
die  unf  z.  R  die  Inschriften  über  eheliche  Verhaltnisse  bieten,  wie  wertvoll 
sie  an  und  für  sich  sind,  bedeuten  gegenüber  den  24  Briefen  Ciceros  an 
Terentia  im  XV.  Buche  der  Episteln,  zumal  du  uns  die  gleichzeitigen  Ergüsse 
des  Briefachreibers  an  Atticus  und  an  andere  Freunde  auch  das  wiederhnden 
lassen,  was  zwischen  den  Zeilen  verloren  gegangen  zu  sein  scheint!  Dort,  in 
den  Insdiriften,  spiegelt  sieb  in  der  Regel  «n  einziger  Moment  wieder,  der 
des  Verlostes,  in  oft  rflbrenden  Lauten  der  Gatteoliebe;  aber  gerade  dieser 
Moment  yoU  sebmenlidier  Sehnsucht  nach  einem  entsehwundenen  Glfick  ist 
geeignet,  die  Wirklichkeit  xu  idealBsierai:  hier,  in  Gieeros  Briefen,  sehen  wir 
beide  Gatten  am  sausenden  Webstuhl  der  Zeit  stehen  in  den  frischen  Farben 
des  Lebens,  ein  echtes  und  wahrhaftiges  Bild  wirkend  ihrer  selbst  in  Oeschaft 
und  Hube,  in  Freude  und  Trauer,  in  Liebe  und  Erkaltung;  unser  Beobachtungs- 
gebiet aber  erstreckt  sich  —  wenn  auch  mit  iiiolseii  Unterbrechungen  —  über 
22  Jahre,  von  ö8 — 47  v.  Chr.  Eine  kurze  Darleguuir  d^  r  Beziehungen  Cieeros 
zu  seiner  ersten  Frau  scheint  mir  aber  auch  aus  dem  Urunde  der  Mühe  wert 
zu  sein,  weil  die  darüber  verbreiteten  Meinungen  nicht  ganz  zutreffend  sind. 
Dflife  wir  bei  Dnunann  trots  aller  äuiserlicben  *WiBsensehaftlichkeit*  kein  ob- 
jektires  Urteil  über  Cieeros  Ehe  finden  kOnnm,  wird  niemanden  ttberrasdien, 
der  die  isolierende,  räsonnierende  und  scbliefidich  karikimnde  Weise  seiner 
Darstellttng  kennt.  Drumann  schildert  Terentia  als  eine  Heroine,  neben  der 
Cicero  eine  klägliche  Rolle  spielt:  *Sie  konnte  ihn  mit  seiner  ganzlichen  Mut- 
losigkeit nicht  übertragen  und  wurde  in  sein  Schicksal  verwickelt  .  .  .  FQr 
ihn  war  ein  Glück,  dafs  eine  solche  Gattin  ihm  zur  Seite  stand  und  eine 
Schande,  düls  er  sie  verstiefs '  Al)ei  iinch  in  d»  ri  Werken  von  Männern,  denen 
son»t  keine  Einseitigkeit  des  Urteils  anhaftet,  wird  die  Scheidung  Ciceroe  von 

Di«  8  Seiten  DmmniuadieD  Textei«  die  swisdien  den  beiden  sitieiten  Stellen  «tehen 

uml  hier  diirdi  Punkte  angedeutet  «ind,  «ind  voll  von  s-chit  fini  nud  gehilHsigen  l'rteilen, 
die  in  der  Verdrehung  Idarer  o«I«;r  doch  wenigRtcnH  begreii  licher  Llmstünde  da«  Ungeheuer- 
Itebsle  leisten.  Ich  werde  hier  uud  da  in  den  Anmerkungen  auf  den  Kontrast  einer  ge- 
«uaden  Inteipvetatien  mit  dieiier  AfteigdehiiaiDkeit  anfinerkMun  machen. 


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0.  £.  Schmidt:  Ci«eio  und  TeMnti». 


175 


seintr  Ghttui  mehr  oder  minder  liaii  Tenuieüi  So  leten  wir  z.  B.  in  den 
BSnuBehen  Priwtaltertflmem  ron  Marquardt  I  S.  70  Anm.  376:  *Anch  Cicero 
whied  sieh  Ton  seinen  beiden  Frauen  ohne  besondere  Veranlassong*,  und 
M.  Schneidewin    Antike  Hnntaniti&t'  S.  179  f.)  mildert  zwar  den  Vorwurf  für 

Ciceros  Person,  indem  er  seine  Handlungsweise  ai»  tjpisch  für  seine  Zeit  hin- 
stellt, betont  aber  doch  den  grellen  Kontrast  der  Lage  Terentias  als  einer 
vprstofwnen  Frau  mit  dem  Heldengeist  und  dem  thatkraftigen  Opfermut,  womit 
si''  ftttVnbar  in  ileii  schlimmsten  Zeiten  ihre  Aufgabe,  eine  Lehen sjjefährtin 
tiftros  zu  pein,  durchgeführt  hatte,  und  findt't  in  (li«'ser  Scheidung  einen  'nicht 
wegzutilgenden  Schatten*  auf  der  antiken  HiuuumUit.  iler  durch  die  Gleich 
gültigkeit^  mit  der  Cicero  die  Gesdufte  der  Scheidung  regelte,  nicht  gemildert 
werde.  Diese  Fassung  des  Urteils  steht  der  Wahrheit  etwas  näher  als  das 
Dnunannsehe,  aber  man  yermitst  doch  auch  hier  einen  Hinweis  auf  die  be- 
sonderen Verfaaltnissey  unter  denen  die  Sdieidung  «rfolgte,  allzu  sehr,  um  das 
Urteil  gerecht  zu  finden.  Deshalb  erlaube  ich  mir,  liier  zunächst  einmal  die 
Akten  filn  r  die  £he  und  Ehescheidung  Ciceros  und  der  Terentia  vorzulegen; 
vielleicht  gelingt  es  uns,  auch  hier  das  Unbegreifliche  in  das  Bereich  des  Ver- 
Btändlichen  und  des  Menschlichen  zu  rucken. 

Terentia  war  ans  b«  triiterter  Familie  und  besafs  selbst  ein  beträchtliches 
Vermögen.*)  Genaueres  über  ihre  Herkunft  und  die  Zeit  ihrer  Verehelichung 
mit  Cicero  wissen  wir  nicht;  doch  durl"  man  vermuten,  dafs  die  I kirnt  sjiätestens 
etwa  im  J.  77,  nach  Ciceros  Heimhehr  aus  Asien  erfolgte.^  Wichtig  i:it  es, 
die  Art  der  EheschlieHaung  su  erkennen:  sie  geschah  nidit  durch  eine  der  drei 
iltnen  Formen  der  eoirfarreaHOf  des  ttsus  oder  der  eoen^Üa,  durch  die  die  Frau 
asmt  ihrem  Vermögen  in  die  manne  des  Mannes  fiberging,  sondern  durch 
die  moderne  Form  ohne  manus,  l*«  i  der  die  Frau  mit  ihrem  Manne  nicht  in 
Ofltergemeinschafl  lebte,  sondern  ihr  V^enuÖgen  selbst  verwaltete  oder  durch 
ein.'Ti  Prokurator,  der  zugleich  ihr  Vertrauter  und  Katgeber  war,  ver- 

üeis.  Der  Beweis  dafür,  dafs  Terentia  diese  lockere  Form  der  Ehe  tnit 
Cicero  gewählt  hatte,  liegt  in  dvr  Summe  der  unten  zn  hcsprechenden  Brief 
stellen,  aus  denen  mit  vollster  Deutlichkeit  hervorgeht,  dais  Terentiaa  Vermögen, 


')  Ad  Attic.  II  4,  r>  {ente  HältW  April  5»;  vgl,  Sternkopf,  Fleck.  Jahrb.  1892  ä.  713  f.^: 
Tmntiae  «oAu«  perspesimu».  Quüi  quam»?  praeter  quermm  Dodonaeam  nihil  deaideramut^ 
fttmfmu  JS^MTIMR  ipsam  pomidere  rideamur.  Plut.  Cic.  8:  ipufvt^  rt  TfQtvriai  rijf  yvvaixbf 
»(•offjjA'fTo  ux'QiüStüv  dt'xci  .  .  driiagltov;  endlich  gehörtf  dir  Terentia  t-in  ricux,  v^'l  Kp. 
XiV  1,  8.  Woher  aber  Drumaiui  (VI  6'.»."l  i  Rchliefst,  tUUa  die  einträglichen  Uäuaer  und 
Boden  Cieero«  anf  dem  Aventln  und  ArgUctora  d«r  Tereatiu  gehörten  —  «ie  brachten 
jUurlich  HOOOO  Seflt«ncen  ein  — ,  int  mir  anerfindlicb.  Die  pnudia  dotaHa,  deron  Rinkilnft« 
nach  !tfl  Affir  XV  ift,  4  für  den  jungen  ('ici'ifi  vrrwcnrlrf  wcrflcn  «ollen,  «iml  (Inrh  oHVnlmr 
lÄuUIiche  tiruadstücke,  also,  wenn  sie  von  Torcutiu  und  nicht  von  PubUlia,  der  »weiten 
OcnaUiu  dcerOK«  herrfllirten,  etwa  gleiehbed«at«id  mit  dem  oben  «rwAhnten  aaltiu, 

'  Tallia  wurde  im  ^therbat  «7  mit  Piao  veriobt  (vg^.  ad  Attic.  I  8  fln.  mid  Stera- 
kopf,  Cicero?  Korrespondenz  6H  —  GO  v.  Chr.  S  T  ,  und  narh  Kndr  (3:5  \v:ir  sie  verheiratet 
i^gl.  Cic.  Catil.  IV  3).  War  sie  im  J.  76  geboren,  «o  war  we  damab  etwa  14  Jahre  all, 
«M  diurefaatts  den  römischen  Verh&ltni«8en  entaprach. 


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176 


0.  E.  Schmidt:  Cicero  und  Terentia. 


gesondert  von  dem  ihres  Gatten,  der  Obhut  ihres  P'reigelassenen  Philotimus 
anvertraut  war.  Warum,  so  fragen  wir,  hatte  Terentia  diese  Form  der  Ehe 
gewählt  in  einer  Zeit,  wo  sie  zwar  bereits  sehr  verbreitet,  aber  doch  keineswegs 
die  ausschliefsliche  war  (Marquardt,  Rom.  Privataltertümer  I  62)?  Diese  FVage 
führt  uns  auf  Terentia«  Charakter. 

'Das  Charakteristische  der  römischen  Frau  ist  die  austeritas,  sie  ist  sittlich 
makellos,  aber  ihr  fehlt  die  Grazie  der  Griechinnen  und  die  heitere  Liebens- 
würdigkeit, die  das  Glück  des  Mannes  ausmacht.  Ist  sie  dabei  von  altem 
Adel  oder  erheblichem  Reichtum,  oder  verdankt  sie  auch  nur  ihrem  Manne  eine 
hervorragende  Stellung,  so  ist  sie  anspruchsvoll,  hochmütig  und  prunksüchtig. 
In  reichem  Schmucke  einherzugehen,  Gold,  Purpur  und  in  späterer  Zeit  Perlen 
zu  tragen,  eine  Equipage  zu  halten,  Sklaven  und  Sklavinnen  zum  eigenen 
Dienst  zu  haben  und  Handwerker  aller  Art  für  ihre  eigenen  Zwecke  zu  be- 
schäftigen sind  die  römischen  Damen  immer  geneigt  gewesen;  und  wenn  es 
gleich  zu  allen  Zeiten  glückliche  Ehen  gegeben  hat,  so  läfst  sich  nicht  allein 
aus  den  stehenden  Scherzen  der  Komiker,  die,  obgleich  den  Griechen  entlehnt, 
doch  auch  in  Rom  grofsen  Anklang  fanden,  sondern  aus  einzelnen  überlieferten 
Notizen  ein  Bild  einer  römischen  Frau  entwerfen,  in  welchem  herrschsüchtiges 
Streben  nach  dem  Regiment  des  Hauses,  unfreundliche  Strenge  und  Bewufat- 
sein  des  eigenen  Wertes  die  Hauptzüge  sind.") 

Das  hier  entworfene  allgemeine  Bild  pafst  —  abgesehen  von  der  nicht 
besonders  bezeugten  Putzsucht  —  fast  Zug  für  Zug  auf  Terentia:  das  be- 
stätigt Plutarch*)  und  noch  glaubwürdiger  der  Ehemann  selbst.  Terentia 
stand  also  der  Geistesrichtung,  die  für  ihren  Gemahl  charakteristisch  ist  und 
den  innersten  Kern  seines  Wesens  bildet,  der  Humanität,  fremd  gegenüber. 
Schon  ihre  Herbheit  und  Schroflfheit  bildete  einen  scharfen  Gegensatz  zu  dem 
weichen  und  rücksichtsvollen  Wesen  des  Mannes,  der  natürlich  Milde  und 
Zartheit  auch  bei  der  Lebensgefährtin  suchte.  Hier  war  die  Basis  für  zahl- 
lose Verstimmungen  gegeben. 

Gröbere  Konflikte  konnte  die  der  Terentia  eigene  starke  Betonung  ihres 
Sondereigens  und  die  Sucht,  es  zu  vermehren,  heraufführen'),  die  gröbsten 
lagen  in  der  Natur  ihres  Prokurat<jrs  und  Vertrauten  Philotimus.  Cicero 
mufs  wohl  gewichtige  Gründe  gehabt  haben,  diesem  gewandten,  aber  unlauteren 

>)  Marquardt  a.  a.  0.  I  69  f. 

•)  Cic.  20:  'Und  auch  im  übrigen  tcar  sie  nickt  von  sanftem  odfr  zaghafUm  Charakter. 
Standern  eine  ehrgeizige  Frau,  die,  tcie  Cicero  aelbst  sagt,  mehr  an  den  Staatsgeschäften  ihres 
Mantics  teil  nahm,  als  sie  ihm  Anteil  an  den  Familien-  und  Vermögensangelegeyiheiteti  ge- 
stattete. Vgl.  Cic.  Ep.  XIV  4,  ö.  1,  1  u.  6.  Im  J.  47  scheint  Terentia  auch  ihren  Prokurator 
Philotimus  auf  eigene  Faust  nach  Alexandria  zu  Caesar  geschickt  zu  haben,  um  die  damal.s 
befürchtete  Konfiskation  von  ihrem  und  Cicero«  Vermögen  abzuwenden,  vgl.  Ep.  XIV  8. 
24   23;  ad  .\ttic.  XI  16,  6.  19,  2.  23,  2.  24,  4. 

IMularch  Cic.  41:  TtQ&rop  {ilv  yü^  antn{yi^)uxo  zt)v  y^vatittt  Tfptvriav  ccfitlri^ti^  i>jT 
uvTfjS  rta{>u  rbv  Ttöltfiov,  man  xul  xtbv  ävayxaimv  itfoiiav  iv8(i}s  öitoarvelffPat  xal  ^r^d* 
Sxt   xurr)(*M'  av^ii  tlf  'Iruliuv  Tv^itv  tvyvifiovos  .  .  .  dlXit  nal  rijv  olniav  xü  KtTtiffcafi 


V 


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0.  E.  Sehmidt:  (Hoero  und  T«r«iitia. 


177 


Mannd  zu  mifatrauen,  denn  seine  Aussprachen   über  l'hilotimus  dem  Atticus 


Tereotw  flbenrorieilt  sa  haben,  viellndit  m  Chmslen  dieees  Venndgens,  Tiel- 
kadit  «ber  meh  auf  eigene  Bechnung;  er  betrieb  aolehe  nnbmtere  Manipiü»- 
tioneiL  bemmdere,  wenn  ibm  Cicero  nidit  auf  die  Finger  aehen  komitei  So 
•cbreibi  Cicero  am  15.  Oktober  50  aus  Athen  ad  Aitic.  VI  2:  yta^fpvlc^ov, 
si  m  tanaa,  «00  ^pufrfvoo  tpikoti^lav  (Anspielong  auf  Philotunus')  Namen) 
Gvx6xar«:  .  .  procura,  quanfiäantnqtte  rsf,  Vrcdanam  hreditatem  prryrmis  ille  ne 
atbtifjat.  Dices  (sc.  Philotimo)  nummos  mihi  opus  esse  ad  upjiaratum  triHniphi  ete. 

Am  1).  Dez.  5<)  (aU  Attic.  VIT  3,  7)  beHchuldigt  Cicero  den  Prokurator 
geradezu  des  Betrugs  und  beschliei'st,  kfinfüg  kein  Geldgeschäft  mehr  durch 
ihn  besorgen  zu  lassen:  De  Fhüotimo  fadem  egpUdem,  tU  mones.  Sed  ego  mihi 
«fr  tOo  Htm  roHene»  exapeetabam,  quas  tAi  edidii,  venm  id  fdi^um,  quod  ipge 
m  lksaäano  me  rrfem  m  commmkariim  mea  mam  wimi  guoätpte  idm  m 
Am  mSki  mn  mam  aer^pAim  äeäilt:  id  »  praettani,  qumhm  mihi  am»  tditm 
tm  Hbi  eätdU,  tantum  et  plus  etiam  ^p&e  mUd  deberd.  Sed  in  hoc  genere,  » 
modo  per  rem  puMicam  Ucebü,  nm  accuscämmr  posthac,  neque  herade  atUea 
ntgUgmU's  fuimus,  sed  amicorum  multitudine  ocatpati.  Trotz  dieser  Gesinnung 
ihre.«  Mannes  gegen  Philotimus,  die  ihr  doch  nicht  verborgen  bleiben  konnte, 
trennte  sich  Terentia  nicht  von  ihr  m  Prokurator,  und  Cicero  besafs  kein 
Mittel,  sie  dazu  zu  zwingen.  —  So  war  also  von  vornherein  in  dem  Wider- 
streit der  hutnanitctö  Ciceros  und  der  austerikui  der  Terentia,  femer  in  der 
lockeren  Font  der  übe,  die  der  Terentia  eine  ibrem  Weaen  entspredieade 
FSiderang  ibres  Sonderngens  ermöglichte,  endlieh  in  dem  unlanterm  Weeen 
Jm  in  Oeldeaohen  xwiedien  Mann  nnd  Fran  atehenden  Ptrokoiaton  Fhilotirnns 
die  Wonel  tie%^«nder  Konflikte  gegeben.*) 


'i  Auf  Pbilotimas  bezieht  sich  auch  eine,  wie  ich  meine,  bisher  noch  nicht  richtig?  er 
kl&rle  Stelle,  ad  Attic.  VIT  1,  9:  redeamus  domum.  Diiungere  tue  ab  illo  wlo:  mirun  est 
fvftttris,  germanu«  Lartiäius.  Hier  wird  Lartidius  von  allen  Herauagebem  als  E^eimame, 
ib  VuM  daea  berObrnten  ^itabnben,  anfgeAM.  Iba  hat  das  Wort  togar  glekli  Laertiad» 
tetsen  wollen.  Aber  dem  widerspricht  doch  germanut,  das  einen  Oattungsbegriff  fordert, 
OTid  auch  der  Parallclisniu«  rxi  qpvperrj?;  lartidius  int  vielleiclit  eine  Bildung  von  lar», 
yrmamts  larUdms  —  'dar  reine  Lord',  dem  das  Geld  zwischen  den  Fingem  zeriinxit. 
Q«ade  fBr  PUlotiBnis  iife  Gicera  mit  interenaateB  Wmibfldimgeo  bd  der  Baad.  Ad  Attic. 
Xn  61  (44),  8  ist  von  einer  Kriegsflunkerei  des  Philotimus  die  Rede  und  überliefert:  Sokt 
omnino  esse  fulvi  master  M,  da?  löse  ich  auf:  fulminasUr  'BUtikerl',  ein  Kerl,  der  es  bUtsen 
läfftt,  vgl.  Vergii,  Creorg.  IV  ö6l  f.:  Caesar  ßUminat  hello. 

*)  Dnunaan  hat  di«ie  «iafWeheB  aad  Uam  TbatMU^en  eatweder  nicht  erkannt,  «der 
absichtlich  verschleiert.  Was  er  über  Philotimus  sagt,  sind  mjsteriOse,  einander  wieder- 
Bprecheiuie  Anifahen,  geeipnet  den  Leser  irrezuführen,  während  sich  doch  mit  zwei  Worten 
das  Verhältnis  dieses  Mannes  zu  Terentia  klarstellen  Ueüt.  Statt  dessen  sagt  Dnuuann 
TI  MS:  'Fhilotimiu,  weldier  da«  GSeadAft  aicht  bewwgea  nad  da«  Oeld  nicht  ▼«nedinea 
soIHe,  wal  Cicero  an  seiner  R*>dlichkeit  zweifelte;  mehr  sagte  er  nicht  (?),  da  er  den  Mann 
schonen  mufste  (warum?:'  H.  689:  'Cicero  entzog  dem  betrügerischen  Philotimus  aus 
Gründen,  welche  ihm  nicht  zur  Ehre  gereichten  (?),  die  Verwaltung  nicht.* 
Kot  jrsUMsbsK  ina  l  12 


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178 


0.  R  Sohinidt:  Cicero  und  Terenli«. 


Xmincriim  war  die  Ehe  (.'ict'ros  mit  Terenüa,  wenn  es  auch  uiclit  an 
'vorfi'betgaheiideii  Yeistiimiraiigcn  gefehlt  haben  nuig,  lange  Zeit  eine  glfiek- 
Hebe.  Cieeroa  wnfleB  Natardl  ertnig  die  HSrIen  der  Gattin  geduldig,  Terenti* 
war  sofirieden  Aber  das  Aaftteigen  des  GemaUs  bis  vom  hddisteii  Stsatsamte, 
an  dessen  Ehre  doch  auch  sie  in  gewissem  Habe  teilnahm'),  and  Philotimiis 
hatte  weniger  Gelegenheit,  seine  Einmischung  fHhlbar  zu  machen,  so  lange  sich 
die  BesitzTerhältnisse  beider  Gatten  glücklich  entwickelten.  Allerdings  bestteen 
wir  kein  Rchriffcliches  Zeugnis  ans  dem  ersk-n  Jahrzehnt  der  Ehe,  um  so  zahT 
rffehere  aus  dem  zweiten.  Das  älteste  ist  eine  teilnehmende  Aiifseruni:  ;ius 
dem  November  an  Atticus  (ad  Attic.  I  .">,  X):  Terendio  hat  nrtje  (jcimk- 
schmereetif  sie  liebt  Dich,  Deine  SchtvcsUr  und  Mutter  gam  lesomlers  utid  Ui/st 
Dich  herzlich  grüfsen,  ebenso  die  Meine  TuUiaf  unsere  Wotme.  Glückstrahlend 
trota  ihrer  Küzae  ist  auch  die  Anaeige  der  Geburt  des  jmigen  Msreos:  Wme, 
daß  mir  tmfar  dem  EmuMb  da  L.  JMuu  Oaetar  und  de»  C  Marems  F^idm 
ein  Sohn  gimm  vorden  «si  TermÜa  lefkM  akh  imiU.*)  Sogsr  in  der  vierten 
Catilinaria  (§  3)  gedenkt  Cicero  der  Gattin  vor  dem  ganaen  Senate:  'Gar  oft 
lenkt  das  Bild  der  geangstigten  Gattin  meine  Gedanken  nach  Hause.'  Und 
3  Jahre  später  (am  20.  Jun.  60,  ad  Attic.  I  18,  1)  klagt  er:  So  veriasam  bin  ich 
von  aüen  guieii  Frrnnden,  daß  m^iy^r  rivzlge  ErJiolung  die  Zeit  ist,  die  ich  mit 
meinem  Weibe,  meiner  Tullia  und  ntetmtn  vtV/Jfm  Cieero  tm^hringe. 

Besonders  die  Trennung  iiefs  die  Flecken  an  Terentias  Charakter  in  Ciceros 
V  orstelluug  zeitweilig  völlig  verschwinden  und  verklärte  iki  Bild  zu  dem  einer 
heilhgaliebteii  Fran;  das  seigte  sidi  wihrend  des  Exils  ^f&rs  68  bis  Angost  67). 
Am  29,  April  58,  als  sich  dar  Verbannte  Ton  BmndiBinm  nadi  Thessalmiich 
einscihiille,  schrieb  er  an  Terentia  (Ep.  XIV  4^  1):  Wmn  diese  Zualände  dauernd 
werden,  eo  wiU  ich  Dich  sobald  als  mSglich  sdien  wnl  m  Bemm  Armen  steinten  . . . 
and  am  Schlufs  des  Briefes:  Meine  Terentia,  Du  mein  getreues  und  gutes  Weät, 
und  Du  meine  teuerste  Tochter  und  Du  mein  Solm,  auf  den  ich  meine  Hoffnung 
setze,  lebet  wohL  In  jener  Zeit,  als  die  Bauden  des  Clodius  das  Haus  Ciceros  auf 
dem  Pnlatin  niederbrannten  und  feine  herrliehen  Villen,  namentlich  das  Tnscu- 
lanum,  ausplünderten  und  zerstcuten i ,  erregte  Terentia  mit  Recht  Cicero»  Be- 

')  In  Cicero«  Haus«  wurde  in  der  Nacht  vom  3./4.  December  63  das  FpRt  der  Bona 
Dea  gefeiert  Dabei  geschah  e«,  dab  das  sohon  erloschene  Feacr  des  Altars  plötzlich  noch 
enunat  hoeh  «nfflammte.  Darin  eikaanten  die  Vettaltinieo  ein  günstigM  Zdehen  fBr  das 
Torhaben  de«  Konsuls  gegen  die  Catilinarii-r  und  lit-uufil ragten  <!ii>  Torentia,  ihrem  Oenalil 
zu  melden,  daT«  ihm  die  Qöttiii  dnreh  diesM  helle  Licht  Sieg  and  ttahm  verheitet  vg^- 
Plat.  Cic  20. 

*)  Ifitteht  dner  willkftrlicheii  Ibtertwetatioii  wird  in  den  Ausgabe  diemi  BriefdieB 

ins  Jahr  65  gesetzt,  and  demnach  gelten  die  genannten  Konmhi,  die  im  J.  64  amtierten, 
hier  als  deaignati.  Auf  dip^f  Anslef^ung  ist  man  fjfkommcn,  ■wfil  die  folpond«')!  Rätzc  d<"> 
Briefes  ad  Attic.  I  2  sich  allerdings  durchaas  auf  das  Jahr  Ou  beziehen.  Daraus  folgt  aber 
laehMB  Braehteni  mir,  dab  in  ad  AUac.  I  S  na«  S  ftlieh  verdnigte  Briefe  Toriiegenx  di« 
selbctindige  Geburtsanzeige  bis  zu  den  Worten  saha  fermUia  (ad  Attie.  I  t)  nnd  der  mit 
Ahs  te  iam  diu  yuhil  litterarum  beginnende  RnVf  ad  Attic  I  'Ja  aus  dem  Sommer  C6  v.  Chr. 
Als  Uebori^ahr  dea  jüngeren  Cicero  hat  demnach  64  v.  Chr.  zu  gelten. 
■)  Cie.  pro  Bett  64;  pott  r«dit  18;  Ascon.  p.  10  etc. 


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0.  E.  Sdunifli:  Cie«M  und  Tereatia. 


179 


wunderunp;  durch  die  männliche  Entschlossenheit,  mit  der  sie  die  Trüiumer 
seines  Venuögens  und  ihre  eigene  Habe  zu  rettou  suchte.  Sie  flüchtt-te  mit 
ihren  Kostbarkeiten  zu  den  Vestalimieu,  mul'ste  es  sich  aber  gefallen  lassen, 
4ls  m  vor  da«  Tribunal  gefordert  wurde,  das  an  der  tabula  Valnb,  emam 
WndgeiBllda  der  Com  Hoatilia,  gelegen  war,  vtmntlich  um  flir  BoeitBrecht 
in  dm  gnetteten  Gegenatinden  naehanweiaen.  Die  airtUehaten  Eoaeworte  werden 
ilir  fifr  daa,  waa  aie  geduldet  bat  und  waa  aie  auf  aicb  nimmt,  an  teil:  «nea 
kUf  mtum  desiderium  .  .  .  tnea  mta»')  Tor  allem  aber  besebwort  sie  Cicero, 
ihre  tut»  Glesnndbeii  zu  schonen.  Tag  und  Nacht  steht  mir  Dein  Bild  vor 
Av{}en:  ich  sehe  es,  icie  Du  nUe  Beschwerden  auf  Dich  nimmst,  ich  fürchte,  äafs 
Du  es  nidä  niishältst.  Mit  derselben  Wärme  spricht  sich  <  'icero  gegen  andere 
über  Terentia  hus,  so  z.  B.  gegeti  s«  i:ien  Bruder  Quiutus  {hd  Quint.  I  3,  3): 
Ick  habe  nidfi  vinnud  du:  lififLedutuj  meiner  tiefunplüekliehefi .  getreuen  Gaftin 
mgenmmen,  damit  es-  jemanden,  in  liotn  yebe,  der  die  Trümmer  aus  unserem 
SddffbmA  «Nti  mtere  gemmmamm  Srndar  leatMitm  kStmie.  Dieaea  aehSn« 
TeiUlfaiia  Cioeroa  an  aeiner  Gemablin  blieb,  wie  die  folgenden  Briefe  dea 
UV.  Boehea  beweiara,  trota  ▼«nrObagdiender  Trftbongen  beatehen,  bia  weit 
über  die  Zeit  binan^  in  der  man  Im  ima  die  ailbeme  Hocibaeit  an  feiern  pflegt 
B«i  der  Heimkehr  ans  Cilicien  im  J.  50  soll  ihm  aeine  süfse  und  heifsersehnts 
Tavrüia  bis  Brundisium  enigegenreisen'*);  ebenso  Bpricbt  rührende  Sorge  f&r 
Tereutia  aus  den  Briefen  XTV  18  und  14,  die  Cicero  nach  Ausbruch  des  Bürger 
kriej^  am  nnd  23.  Janiinr  4!^  von  Funniae  und  Mintumae  aus  geschrieben 
W;  dieselbe  (arsmnung  üudeu  wir  in  Ep.  XIV  7  vom  7.  Juni  49,  dem  Briefe, 
lu  dem  er  sich  vou  Terentia  und  TulHa  bei  seiner  Abfahrt  nach  Osten  zu  Pom- 
pejus  Terabschiedet.  Ja  dieser  Brief  enthält  sogar  einen  zwar  kleinen,  aber  doch 
Mfcr  ebarakteriatiaelien  Zag  Ten  aarter  RflekaiditnAhme  auf  Terentia,  anf  den 
■nwidiiigia  Scbneidewin*)  anfioerkaam  gemaebt  bat:  Cicero  hat  aicH  Bngat  von 
dnn  Baiven  Glauben  an  die  'GOtter*  nnd  von  der  'bürgerlichen  Religion*  dea 
Biba*)  nur  philoaopbiadien  Anachanung  der  Gottheit  anfgeecbwnngen,  nidit 
80  Terentia.  Wom  nun  aber  Cicero,  von  schwerem  ünwoblaein  durch  ein 
Gallcnbrechen  genesen,  Ep.  XTV  7, 1  acbreibt:  xol^v  ßxQarov  nocAi  eirci.  siatim 
^ta  sum  levatus,  ui  mihi  drus  aliquis  medicinam  fedssr  rhiratnr,  cui  quidem  tu  (iff>. 
^emadnwdum  soUs.  pie  et  caste  satis  facies%  m  nimmt  er  in  zarter  Weise  auf 
den  religiösen  Staudpunkt  seiner  Gemahlin  Rücksicht. 

Aber  es  war  auch  das  h'tzte  Mal,  dals  Cicero  mit  so  ziirtliclier  Empfindung 
■a  seine  Gattin  schrieb.  Der  nächste  uus  erhaltene  Brief,  Ep.  XIV  6  vom 
15.  Juli  48  aus  Dyrrhndiium,  zeigt  TfilUg  Texindttten  Ton.    Oft  fehU 

aa  «aem  SHrfbdm,  oß  an  Stoff'  sum  Sehnibm.  Aus  Deinem  laMoi  Bir^e 

')  E)t.  XTV  2,  2  vom  5.  Oct.  68  auB  Thessalomeh. 
*)  A.  a.  O  §  2  u  .1.       »;  Kp  XIV  6,  8. 

Die  antike  Uumaaität  8.  182  f. 
*i  Vgl  SSeliaild,  Cieero  im  Wandel  der  Jabrlniiiderte  8.  80  t 

*)  Vgl.  damit  Ciceros  ÄuTBenuig  Ep.  XIV  4,  l:  quomam  neque  dii,  qms  <i»  eaatiuim 
<oMai,  MgiM  JkOMiMMt,  piAw  «go  etmper  mvioi,  nobte  grulMm  nUtiknuU. 


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180 


O.  E.  Sdinudt:  (Scam  und  Taiiotia. 


ersehe  ich,  dajs  suh  keim  imirwr  Landgüter  Jiat  verkeuifm  lassen.  Deshalb  seht 
SM,  wie  der  befriedigt  tcerden  kann,  dessen  Befriedigung  ich,  wie  Ihr  tcifsi,  bringend 
ietttudte.  Wenn  ThOKa  I>w'  Dank  sa^,  m>  vmnderi  mSA  nidti,  daß  Dk  JKA  m 
um  sie  wrdieiü  madui,  de^  sie  Dir  fSr  em  «pMUuA«»  VenUeiui  Datüb  sagm 
Jumitey)  SdUe  FoUex  nodk  mtkt  äbgenisi  mm,  w  keibe  ühN  Mäigsi  äasu. 
Sarge  für  Deine  GesmdheiL   Am  15*  JuU. 

Jedor  Unbe&ngene  wird  mit  uns  erkennen,  dafs  dieser  Brief  aus  einer 
«i^nz  anderen  Gesinnung  Ciceros  gegen  Terentia  geschrieben  ist  als  alle  früheren 
Briete:  an  Stelle  der  Warme  ist  Kalte,  an  St-olle  der  Liebe  und  Verehrung  ist 
kaum  verhüllter  Tadel  und  nur  selil<H-}tt  versteckte  Irt>nie  t^etreton.  Und  es 
handelt  sich  dabei  iiitht  um  eine  augeiibiickiiche  VersÜLumuug  Ciceros,  sondern 
dieser  frostige  Ton  bleibt  nun  durch  alle  Briefe  bis  zum  £ude  der  Korrespondenz^ 
die  demnaeh  in  ewei  ganz  verschieden  getönte  Hälften  (a:  XIY  4.  2.  1.  8.  5. 
18.  14.  7  und  ht  6.  12.  19.  9.  17. 16.  8.  21. 11.  15.  10.  13.  24.  23.  22.  20)  mt- 
fiUlt.*)  ^t  sich  etw»  Gieeros  Ghurakter  90  |£h  vetSadert?  Dm  ist  nidit  ao- 
xnnehme&y  da  er  dodi  in  smner  Oenrnnrng  gegen  SMne  Kinder,  die  Freund^ 
gegen  das  Vaterland  nach  wie  Tor  dieselbe  Humanität  bethatigte.  Also  mufs 
er  wohl  schwerwiegt'ude  Gründe  gehabt  haben,  gerade  der  Gattin  gegenflber 
sein  Verhalten  so  auffallend  zu  ändern.  Leider  reicht  das  uns  in  einzelnen 
brieflichen  Andeutungen  überlieferte  Material  nicht  aus,  um  mit  vollkommener 
Sicherheit  alles  das  festzustellen,  was  sich  damals  kältend  und  trennend  zwischen 
ihn  und  Terentia  stellte,  aber  es  genügt  doch,  um  zu  erkennen,  auf  welchem 
Gebiete  die  Vergehungen  oder  sagen  wir  lieber  die  gegen  Terentia  erhobenen 
Beschuldigungen  lagen:  es  handelt  sich  um  Geld  und  Gut,  um  eine  eigen- 
nfitzige  Ffirsorge  Terentias  fflr  das  eigene  Vermdgen  und  eine  dabei 
hervortretende  Hersiosigkeit  gegenfiher  der  finanBiellen  Not  des  Ge- 
mahls und  namentlich  gegenüber  der  unglficklichen  Tochter  TuUia. 
Diese  war  mit  Dolabella  verheiratet.')  Diese  Ehe,  die  dritte  Tullias,  war  im 
wesentlichen  das  Werk  der  Terentia;  Cicero  wurde  von  der  Verlobungsnadi- 

')  Dieses  Lob :  ^itod  nostra  tibi  gratUu  agit,  id  ego  no»  miror  U  mcrert,  ut  ea  Ubi  merito 
liH>  groHa*  og&f  fouH  iit  wobl  vom  VetÜMMr  dei  Brirfei  absiehllieh  auf  Sduraabeu  ge^ 

■teilt  worden  und  soll  natürlich  das  Gegenteil  ansdnicken:  den  starken  Zweifel,  daf« 
Terentia  wirklich  7.\\  TTilHas  Gunsten  gchiindL-lt  hiUM-  Dor  Gedanke  Oicpros  würde  eigent- 
licli  so  lauten:  <^uod  nosim  tibi  gratüut  agit,  id  ego  iwn  nuror:  iliud  miror  U  meren,  wt  m 
Hin  mtrÜ»  tue  ^atin  agere  poBtit,  U(i^dli«rwena  lelirieb  aii^  CksM  m>  und  die  Stdie 
ist  durch  falsche  ZiMMnmeinielnmg  veEdeibea,  wahwchehtlfoher  ist  mir  die  abdehtUohe 
Geschraubtheit. 

Man  vergleiche  namentlich  Kp.  XIV  12,  gescluieben  bald  nach  Cicero«  Rückkehr 
nach  Italien:  Wmn  Du  DiA  firmut,  daß  idt  gumtä  naA  Italien  gdboatmm  Mi,  «»  wt$u(ke 
ich,  dafk  Deine  X^rmde  dauere.  Aber  ich  fürchte,  dafs  ich,  sciimerelieh  betrübt  umd  bdeidigt, 
etu-as  unternommen  hnftf ,  tcns  ich  nicht  leicht  durchführen  kann.  Deshalb  untfrstütre  mich, 
totcctt  Du  kannst;  wie  Du  das  aber  könntest,  das  fällt  mir  nicht  ein.  Dich  xu  solcher  Zeit 
imf  die  Jttte  (nach  Bnudiiiiiin)  n»  nocAeii,  in  hrin  Jnk^i  die  Beiee  in  lamg  mmI  gifSkr-' 
KÄ,  itmd  «dk  «eibe  meltt,  «nm  mir  Deine  Ankm^  nätten  kännte.  Lebe  wöU.  Bnmditinm 
am  4.  Nov. 

Vgl.  meinen  Aufsatz  'TuUia  und  Dolabella'  in  Flecketsens  Jahrb.  1897  8.  696—  000. 


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O.  B.  Sebmifltt  Geaeo  veaA  Tenntia. 


181 


rieht  Hin  3.  Augiist  50  in  Sida  fibeiruschi^l:  doch  er  seine  Einwilligung, 
in  der  Hoffnung,  der  h'ichtfertigc  .Jüngling  wt-rde  sich  zu  einem  tüchtigen 
MantiP  abklären.  Schwicrigkt}it4^u  bereitete  sofort  nach  Ausbruch  des  Bürger 
icricgs  die  Betichafi'ung  der  festgesetzten  Mitgift,  die  in  mehreren  iiaten  gezahlt 
werden  sollte.  Dieses  Geld  war  nötig  euunaly  dunit  TnUi»  selbst  die  nStig^n 
Sabiisleiiziiutiel  liabe,  sweiteiui,  um  ihr  nicht  Verlegenheiten  Ton  eeiten  des 
GesBshls  m  bereiten.  Trotsdeoi  hatte  sieh  Twentia  in  Abwesenheit  ihres  Oe- 
asUs  erlsaht^  e%enmSchtig  60000  Sesterzen  ftr  ihren  eigenen  Bedntf 
zunehmen.  Deshalb  sah  Cicero  mit  hangtr  Sorge  dem  1.  Juli  4^^  entg^n,  an 
dem  die  zweite  Rate  der  Mitgift  fällig  war.')  Er  schickte  auch  ein  liesonderes 
Mahnschreiben  an  Terentia  dureh  Pollex,  alle  vorhandenen  Mittel  sollten  für 
TuUia  verwendet,  unter  Umstanden  eines  seiner  Güter  verkauft  werden.')  Aber 
gut«  dem  Schreiben  Terentias,  auf  das  der  oben  mitgeteilte  Brief  Ep.  XIV  ü  ant- 
wortet, war  hervorgegangen,  dafs  sie  oder  ihr  Prokuratur  Philotimus  wiederum 
TuUia  nieht  in  der  von  Cicero  gewOnscfatem  Weise  nnterstfitst,  sondern  den 
agSDsn  Vorteil  höher  gehalten  hatten.  Unter  dieser  Voranssetaang  verstehen 
vir  erst  die  bonie,  die  in  dm  oben  ftbersetaten  Worten  Aber  Terentias  'Ver- 
dienste' vm  ToUia  «ithaUen  isi  Aber  das  nmnlltterliohe  Verhalten  gegen 
Tullia  in  Sachen  der  Hitgift  war  nicht  der  einzige  Vorwurf,  den  Cieero  gegen 
Terentia  erhob:  er  selbst  anch  entbehrte  in  Kpirus  wie  in  Brnndisium 
der  notigen  Snbsistcnxmittel,  ohne  dafs  Terentia  •'inLM-iff':  so  mufst«  er 
sich  70(KX)  Sesterzen  vom  Gutsverwalt^r  des  Atticus  boi  </> n  H.i  p  fwechsel  S.  189} 
lind  konnte  verwundert  fragen,  was  denn  eigentlich  aus  den  Einkünften  seiner 
1-iindgüter  werde.*)  K^klamierte  er  aber  eine  bestimmte  Summe  für  sich,  so 
mulistc  er  sich  einen  eigenmächtigen  Abstrich  durch  Terentia  gefallen  lassen. 
Am  6.  Angost  47  hören  wir  ans  Bmndisinm  folgende  bittere  Klage  ^):  MU 
Temäa  —  kk  laue  oMe  die  iibrigen  uiuSM^em  JMxgen  hei  Seile,  die  iA  gegeik 


*)  Bpw  ni  IS,  9:  JS^  vero  veUm  mihi  Tuüiae(pie  mmt . . .  pn^pere  mwmn«  ea,  fium  me 

meitftte  facta  amU  a  mein.    Vf?l  ad  Attic  V  '.'1  11 

*)  Ad  Attic  U  8,  2  (Mitte  März  48):  De  doU  quwl  srribü,  per  omttes  dws  ie  obtesUyTf 
«f  Ms»  ma  tmeifiM  et  «Beia  «MMitM»  «wa  «a^  et  negUgentia  iiuare  meit  opibug,  si  qua» 
«Ml,  Ihm,  fuAm  übt  moUttum  mm  0rit,  flunUtMmtf  eiU  qmdem  deane  omnia  quod  scriUit, 
ptiH'cw  te  Höf«  pati;  iv  fjwm  mim  mmptm  abanU  /ru-rtus  prardiomm?  Tarn  (IIu  IfS  LX  qtuu 
Ktibui  nemo  mihi  unquam  dixit  c.c  dutc  t»>ie  dftracta;  numqmm  enim  esacm  pasaus.  Oed  hatc 
mmwm  td  ex  ü»  immiit,  quaa  accepi,  de  qu^m  ad  U  dolor«  d  hermii  »eribere  peMbeor, 

€idpa,  deren  rieh  Cicero  hier  selbst  anklagt,  bestand  wohl  darin,  dafe  er  dem  Pom- 
pqTis  eine  grofse  Summe  geborf:ft  'O.  E.  Schmidt,  Briefwechsel  CicProB  S.  188  f.),  die  ruglegentia 
darin,  dafs  er  im  Vertrauen  auf  die  breue  Fürsorge  der  Qattin  ihr  wohl  auch  die  Verwaltung 
•anM  eigenen  Vermögens  wfthrend  der  Zeit  sdner  Ahweianheit  mit  Cberixtgea  hatte.  Die 
im  litstea  Sstae  gensaateD  iwiariae  ktaaea  aar  «nt  Tenntia  «ad  ihrem  FMkarator  Fhüo- 
tisns  auct^-'p^'n^rn  sein. 

*}  Vgl.  0.  £.  Schmidt,  Briet wech«el  Ciceron  S.  im  und  Ep.  XiV  6:  FiMicem,  si  adhuc 
NOH  profectm^  qyuan  primum  fac  ejdrudat.  llaa  darf  an  dieier  Stelle  sdUMiben,  dafr 
Folln«  der  ad  Attte.  XI  S  aa  Attiois  flbecbtaebte«  auch  einen  Brief  an  Terentia  bei  sieh 
lUirte,  der  noch  vor  dem  1   Juh'  in  Rom  ointraf 

<}  Ad  Attic.  XI  2,  2.         Ad  Attic.  XI  24,  8. 


183 


0.  JS.  Sofamifit:  GSoero  und  TarentU. 


sie  erh^ten  Jcönnte  —  hat  es  jetzt  den  Gipfel  erreidd.  Du  Jiattcst  mir  geschrieben, 
ieh  aoUie  mir  (in  Brundisiiun  vom  Bankier)  IMOOO  Sestersm  gAen  lasse»,  somd 
dm  BSbergeU  übrig.  TermHa  aber  hd  (dem  Bankier)  Mir  XOOOO  ge- 
sdtidd  und  erüärt,  nur  soviel  sei  neck  da.  Wenn  sie  mir  nm  m  läeinm  sogar 
eine  so  Jdmsfe  Summ  härtt,  so  hegrmfA  Du  wtOdf  im»  ns  es  tm  großen  gebriAen 
hat.  Eine  dritte  Reihe  von  Vorwürfen  knüpft  sich  an  Tereatiea  Testament. 
Sie  entstammen  aber  einer  Zeit,  in  der  die  Entfremdimg  svisclien  beiden  Gatten 
schon  eingetreten  war;  sie  haben  also  die  Kluft  nicht  geschaffen,  sondern  nur 
erweitert.  Eine  schwerere  Erkrankung  Terentias  im  Juni  47  (Ep.  XIV  8;  21) 
legte  den  Gedanken  nahe,  wie  Terentia  ^■^vf^r  den  obwaltenden  Umstanden 
testieren  würde,  vgl.  ad  Attic.  XI  16,  5:  Exircinnm  est,  qnod  te  oretn.  si  jmias 
rectum  os&c  et  a  le  mucipi  posse,  cum  CamiUo  comtnunices,  ut  TeretUiam  nioneatis 
de  kstammto:  tempora  monent,  ut  videat,  ui  saHrfaeial  guibu»  debeL')  Audiiim 
ex  JPMhtim  est  eam  scetenUs  gmedam  facere.  Oredibäe  vix  est,  sed  eerk,  si  quid 
est,  qnod  fkri  possü,  promdsniinm  est.  Ale  Cicero  diese  Worte  am  3.  Juni  47 
eehrieb,  war  FlulotiBiiie  nidit  bei  ihm,  wie  man  nach  dem  iwdiihMi  es  PWfetfMNO 
Teimatea  Mnnte^  aondem  in  Asien;  Gieero  hatte  also  die  Nachricht  eam  scdercUe 
quaedam  facerc  entweder  viel  früher  von  Philotimus  erfahren  (Ciceros  Brief- 
wechsel S.  228)  oder  durch  einen  Mittelsmann.  Worin  bestand  das  'Verbrechen* 
der  Terentia,  das  sie  in  ihrem  Testamente  plnnf«'?  Wir  sind  auf  blofse  Ver- 
mutungen angewiesen,  jedenfalls  aber  kann  man  sagen,  dals  sie  wahrscheinlich 
ihre  und  Ciceros  Kinder  Tullia  und  Marcus  gar  nicht  oder  doch  nicht  in  erster 
Linie  berücksichtigen  wollte.  DaTs  sit;  ihren  Eukül,  den  kleineu  Lentulus,  deu 
Sohn  DolabeUas  nnd  der  TuUia,  spater  bevorzugte  —  im  Sommw  47  war  er 
noeh  gar  nicht  geboren  kann  man  vielleioht  ans  Gieeros  Wortnt  in  ad  AttieL 
xn  18a  achlieben:  Ikibo  mesm  testamenkun  legendum  eui  vduarit;  inteU^  non 
jwliMMe  konorifieenOua  a  me  fieri  de  nepoie,  quam  feeerim.  Im  Jahre  47  konnte 
es  sich  nur  darum  handeln,  dafs  Terentia  Tielleicht  Glieder  ihrer  eigenen 
Familie  vor  ihren  Kindern  bevorzngen  wollte.  Überdiea  hat  Cicero,  obwohl 
er  che  Verhandhing  über  das  Testament  durch  Attiens  nnd  Camillus  eröfliien 
liefs,  doch  auch  selbst  der  Terentia  seinen  WiUcn  kundg<>than,  ziirrs't  T^p.  XIV  21: 
Da  operam,  ut  convalescas.^  Quod  opus  crif,  ut  res  tempusquc  postuiat,  promkaa 
atque  adminuitres  etc.,  dann  mehr  indirekt  Ep.  XIV  11:  Graviore  etiam  s%tm 
dolore  adfectus  nostra  factum  esse  neglegcntia,  ut  kmge  cUia  in  forUina  essei 
(Tnllis),  atque  eim  pisbas  ae  d^fnitas  poMkAat,  £p.  XIV  15  (fom  19.  Jnm'  47): 
Quid  vdimus  et  qmd  hoc  tempwe  putemus  opus  esse,  ex  Sicca  poleris  cognoseere 
und  endlich  Ep.  XIV  10  (Tom  9  Juli  47):  Qunä  fieri  placeret,  seripei  ad  Farn- 


')  Diese  Worte  hat  Boot  falsch  t>rklart  'quemadmodom  creditorilius  sui«  colvat'.  Dm 
debet  bezeichnet  hier  eine  moralieche  Verpflichtung,  für  die  Kinder  Tullia  uud  Marcus  zu 
sorgen,  vgl.  ad  Attic.  XI  26  fin.,  wo  er  eine  AuseinandetsetKung  aber  die  Notlage  der  Tullia 
mit  dea  Wtwieik  absefaliebt:  Haec  eliam,  si  viddrihtr,  eum  TerenHa  Utpure,  «rfwMMt  opporUtne 
(t.  S.  183  Anm.  2i. 

*  Mnnen  Erachtens  iDterpoogiert  iuer  MoidelsMliD  falsch,  wenn  er  aaeh  coMvakaeot 

nur  ein  Konuua  seist. 


j  .  d  by  Google 


0.  fi.  Solmiclt:  Cieero  und  TcMBtia. 


188 


p(mmm  serius  quam  oporiuit:  cum  eo  st  locuta  eris^  inteüegeSf  qmL  fieri  vdim; 
oferUm  MnK  awhmoin  ad  «Umim  darifmnm,  iHcene  mm  /ML 

Was  Cioero  mit  diewn  Worlan  meiiite,  ergiebt  neh  «u  dem  «mig»  Tige 
frBb«  (am  5.  Juli  47)  an  Attieos  gwehriebenen  Briefe  XI  S5, 3:  Qmd  ad  I» 

iam  pridem  de  ttttamento  scripsi,  *  *  apud  aliquem,  cuius  fortuna  extra  periculum 
tU,  vdim  tU  ponU  admvan.^)  F^o  huim  miserrifnae  (sc.  TuUiae)  facuitate  confeäa 
cmfltäor  ...  Te  oro  lU  in  perditis  rebus,  si  quid  cogi,  canfici  potest,  quod  sU  in  tuto, 
ex  argento  atque  satis  tnidta  ex  supellectile ,  df^  opprnw :  iam  mim  mihi  videtur 
adesse  extrcmtim  nec  ulla  furr  conditio  jmis  eaqin  .  'iu<u:  s'inf,  rhiim  shw  adrersario 
perihtra.  Uaec  etiam,  sl  tnd<hitur,  cum  Tvrmtid  loqmrf'.  uinuuu  iq^pot iuac'  i.  höh 
ijpieü  i/mtüu  saribere.  Cicero  wiluscht  also,  Jaih  Tereutiu  zu  Uuuäieu  der  Kiuder 
UH/isuBf  das  Testamttit  aber  tmd  wohl  auch  die  bewegliche  Habe  bei  ttnem 
Ibune  aiifhebe,  dessen  YermSgen  wedmr  durch  Konfiskation  noeh  dordi  die 
Bandm  des  Dolabel]%  Trebellins  oder  Antonios  bedroht  ist  Ebenso  soU  Atlkas 
das  siHienie  Gerät  vnd  den  kostbaren  Hnnsrat  Cieeros  an  sieh  nehmen,  ehe 
Ciceros  HauB  von  den  genannten  Banden,  deren  Unruhen  tmd  Kämpfe  gegen* 
einander  bis  in  dun  Herbst  fortdauern,  geplündert  werde  (vgl  Lange,  BduL 
Altert,  in  431  f.). 

Was  das  Ergebnis  allor  dic-^cr  V»>t  l  aiidlungen  und  Mahnungen  in  betreff 
des  Testamentes  und  der  VermögenseriiHltung  gi'wcöen  ist,  wiaäcn  wir  nicht. 
Charakteristisch  ist  aber  doch  das  tiefe  Milstrauen  Ciceros  gegen  Terentia,  das 
80wohl  aus  ad  Attic.  XI  25,  als  aaoh  aus  dem  in  der  Anmerkung  aitierten 
^«fe  ad  Att  XI  24  spricht  Atlicus,  dem  in  Bom  Termüas  Gebarra  und 
QeichiftsfShnmg  vor  Angen  war,  seheint  dieses  Ißfetranen  g^tfnlt  an  haben.  Es 
macht  nneh  ein«i  sonderbaren  Eindroek,  dafe  CicMO  in  dem  frostigen  Billel^  mit 
dem  er  der  Gattin  seine  bevorstehende  Übersiedelung  auf  das  Tusculanura  an- 
letgt,  ansdrficklich  von  ihr  verlangt,  dafs  sie  dort  eine  Wanne  im  Badeiimmar 
tmd  tcas  sonst  für  Leben  und  Gesundheit  nötig  sei  besorge  (vgl.  XIV  "JO,  vom 
1.  Okt  47).  Cicero  hat  bei  seiner  Rückkebr  ^Mu-h  Rom  nicht  nur  seine  Ver- 
mogensverhältniflse,  sondern  auch  seine  Villen  und  sein  Haus  in  desolatem 
Zustande  vorgefiinden.  Terentia  mnf»  ihm  geradezii  Geld,  Gut  und  Hausgerät 
rerontreut  habeu.   Das  ist  der  Siim  einer  zwar  knappen,  aber  doch  beredten  Aus- 


*)  Die  Überliefenmg  hmtei  allerdingB  ganz  anders:  apud  epUkku  itdim     jmwmh  cn(> 

irrsiiM  Aber  hinter  djNld  ist,  Mrie  ich  iiH  iiu',  eine  halbe  oder  ganze  Zeile  ausgefullen,  in 
epistolaa  steckt  r-rfr,i  prricnhm  ttit  und  die  Er^'Iinzung  ist  vorzunehmen  nach  ad  Attic.  XI 
ti.  2:  Vide  ^taa^o  eiiamnunc  <ie  Ugtamento,  quod  tum  /actum  est  cum  iUa  (Terentia;  ruere 
(/pumn  M  mav  O.  E.  Sdunidt)  eoeperta.  Kon,  endo,  U  eonwowt  fwfiie  emei  rogavil  ne  me 
fuidem;  ted  qwui  iUt  titj  qttoniam  in  sermonem  iam  venisH,  poteris  eam  monere,  ut  nlicui 
tommiti»t,  cuiu^  extm  pericnht  m  hnius  InUi  fortnn-i  sil.  Equidem  tttt  jWtMtt'WXm 
mIhn,  ri  idem  ilia  t^'I uliia»  vtht,  quant  quuieia  cclo  miseram  me  hoc  timere. 

'i  loquere  tu  opportutu  M,  ebemo  aUe  Ausgaben;  aber  der  sweifelnde  Znsats  «>  «HleMhir 
viderffpricht  doch  dem  loquere  opportune;  der  Erfolg  Ufst  sich  doch  nicht  befehlen,  und 
tu  ist  vdUig  überflüssig.  Wiihrächeinlich  ist  tu  aus  einem  misverstandenen  Siegel  ftlr  utimm 
entitandea.  Der  leise  Zweifel  am  Erfolge,  der  in  utinam  opportune  liegt,  pafst  vortrefflich 
■nf  die  Sitnation. 


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184 


O.  E.  Schmidt:  Cic«ii»  «nd  Tarentiik 


Bpnche  gegen  den  Cn.  Flaneiiu.  Dieser  lialAe  ilun  lu  Anfung  des  Jalirea  46 
SU  seiner  sweiten  Ehe  mit  Publilia  Glfick  gewOnsclii  Damnf  erwidert  Cioero 
Sp.  IV  14^  8:  Wum  D»  wir  jw  dem,  was  iA  ffeOum  habe,  GWek  wimsi^at,  w 
weiß  ich  tcofd,  daß  Du  es  gut  memst.  Aher  ich  wäre  sidnuUck  M  «wer  so  un- 
^likMichen  Zeit  nicht  auf  eine  neue  Verbmdmig  bedcuM  gewesen,  wenn  ick  nidU 
hei  mcimr  liikJcJcdir  mein  Hauswesen  in  ebenso  schlimmem  Zustande  angetroffen 
hätUt  wie  dm  Staat.  Denn  gerade-  difjmigen,  denen  mein  WM  und  me-in  IVr- 
mögcn  wegen  der  zahllosen  Wohlthalen,  die  icii  iiinm  erwiesen  iialm,  am  teuersten 
iUütc  sein  soüen,  Juihen  es  durcJi  Uite  verbredi&rische  Handlungsweise  soweii  ge- 
brachtf  daß  mir  in  meinen  vier  Wänden  nkkts  mäur  «ufter,  ntc^  mAr  nn- 
gefahrdd  war.  BeskaXb  Raubte  iek  miok  dim^  die  Treue  eines  neuen  EMbmdes 
gßffm  die  ünireue  des  aUen  sMgen  jn»  nmeten.  Bin  seharfes,  eiber  wohl  nicht 
gsoa  unbereehtigtes  Urteil  Ulber  Terentb  und  FhilotiniQB!  (V^  &  176  Anm.  3.) 
Wie  war  es  gekommen,  dafs  Terentia,  ehedem  die  fhetbiflige  Erhalterin  des 
Familieiigutes,  jetzt  als  die  Verwfisterin  von  Ciceros  Verminen  eraobeint? 

Ich  glaube  nicht,  dals  Terentia  in  ihren  rtnferen  Jahren  einem  plötzlichen 
Hang  zur  Verschwendung  erleben  ist;  sie  war  wohl  vichuehr  darauf  be- 
dacht, bei  den  schweren  Eiubulscn,  die  üur  und  Ciceros  Vermögen  durch  den 
Bürgerkrieg  erlitt,  vor  allem  ihren  Besitz  zu  öichem  und  zwar  auf  Kosten 
des  Gatten.  Phüotimus  war  dabei,  wie  es  bcheint,  ihr  büäcr  Dämon. 'j  Aber 
die  Charaktergnmdlage,  auf  der  sich  ihr  selbstsfichtiges,  ja  betrügerisches  Ver- 
ehren entwickelte,  war  doch  eben  eine  €msteriiae,  die  die  Selbetiherrlicihkeit  des 
Weibes  und  das  VennSgen  fÜm  das  Glflek  des  Gatten  und  der  Kinder  stellte.  — 

Das  ist  ei^  was  sich  aus  den  Akten  herauslesen  lalsi.  Natürlicih  geben  sie 
nur  ein  einseitiges  ffild.  Um  awisdien  den  beiden  Gatten  den  richtigen  Stand- 
punkt einzunehmen,  müfste  man  auch  Terentias  Gegenrede  hören:  sie  würde 
vermutlich  ihren  Gatten  einer  schlechten  Wirtschaftsführung  bezichtigen  und 
manche  üirer  Mafsii ahmen  würde  in  etwas  milderem  Lichte  erscheinen.  Aber 
bei  dieser  Sachlacrt  k.i m  man  doch  nicht  sagen,  da£B  sich  Cicero  'ohne  be- 
sondere V  crauiaääuug  von  ihr  getrennt  habe,  oder  gar,  dals  die  Scheidung 
'eine  Sdbande'  für  Cicero  gewesen  sei.  Wer  wül  denn  behaupten,  dafs  die 
Scheidnng  nicht  aaeh  der  Neigung  Termtias  entsprochen  habe?  Wenn  ihr  aneh 
Cicero  den  8ch«debrief  schickte,  die  Situation,  die  dam  führen  mnCite,  war 
doch  groJjMiteils  durdi  Terentia  geschalbn  wordm.  Freilieih  wire  ee  edkr 
gewesen,  wenn  Cicero  nach  30jShriger  Ehe  non  auch  noch  den  Rest  des  Da- 
seins neben  Terentia  ausgeharrt  hätte,  wie  es  unser  christliches  Empfinden  ver- 
langt. .Vber  Hchliefslieh  mnfs  doch  jede  Zeit  mit  ihrem  Mafsatabe  gemessen 
werden:  bei  der  aügemeineu  Lockerung  des  ehelicken  Bandes  in  seiner  Zeit 

*)  Im  Jahre  47  hatte  Tereatia  (vgl.  S.  176  Anm.  H)  diesen  Philotimus  uttch  Alexandrien 
SU  Cmmt  getehiekfc;  er  brachte  «iain  gOastigea  Brief  Caesan  u  CSoero  mit,  der  ihm  die 

EThaltimcf  von  Gut  und  Rlut  garantierte.  Es  könnte  zu  Gunsten  TerentiM  sprechen,  dafs 
■ie  ihren  Prokurator  mit  dieser  wichtif^n  Mission  betraute,  wenn  man  nicht  den  Neben- 
gedanken hegen  müfste,  dafs  es  ihr  in  erster  Linie  dabei  um  die  Sicherung  liires  Besitzes 
«n  tiran  gewesea  sei. 


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0.  E.  Scfaniidt:  &CUO  and  T«MBti». 


185 


spricht  äcliou  die  lange  Dauer  äeiuer  erateu  Ehe  uiid  die  Fügsamkeit  imd  Ge- 
duld, mit  der  er  dreifsig  Jahre  lang  die  Hirten  eeiner  Gettiii  etüngy  »i  eetnen 
OnnateD.  Audi  lodrte  ihn  nicht  ekmz  ein  'Johennislrieb'  m  neuer  Verbindung^ 
•ondeni  ledi^di  die  gebieterisehe  Not:  die  FOreorge  fBi  eeinen  Ruf  —  denn 
«r  elend  yot  dem  Benkeroli  —  und  die  Liebe  m  eeinen  Kindern.  Seiner 
TuUia  glaubte  er  die  Mittel  zu  standesgemärsem  Leben  in  Boin,  ennem  Sohne 
die  Mittel  zu  einem  Studienaufenthalte  in  Athen  gewahren  mflseen.  Über- 
dies verfuhr  Cicoro  auch  in  der  Konflikt.szoit  gegen  TiTcntia  mit  i-iner  gewissen 
Köcksicht.  Er  fTppivrte  ihr  harte  Yor^vtlrfe,  er  hielt  es  für  schimpflich,  seinen 
Sekretären  Einbluk  in  seine  scklimmen  ehelichen  Verhaltnisse  zu  gewähren, 
deshalb  verschweigt  er  in  den  Briefen  an  Atticuü  vieles,  beschränkt  sich  auf 
Andeutungen')  oder  schreibt  mit  eigener  Hand.  Er  war  auch  bei  der  Scheidung 
nidit  gleichgültig,  wie  Sdineidewin  S.  180  mit  Unrecht  behauptet^;  yielmehr 
bewehrte  er  der  OemnUin  eeiner  Jagend  ein  wehmflt^{ee  Andenken,  wie  es 
nemeBtUch  in  den  Briefen  ans  dem  Jehre  45  nur  Breeheinnng  koniml^  be- 
londert  ad  Attic.  XU  27  (22),  1:  Wenn  Du  mir  die  ganze  Last  i»  Verhandiung 
mit  Terentia  outfbürdest,  so  erkenne  ich  darin  nit^t  Deine  sonst  gegen  mich  geübte 
Nachsicht:  denn  das  sind  gerade  die  Wunden,  die  ich  ohne  tiefes  Seufeen  nicht 
berühren  Jcann.  Endlich  begleitete  ihn  die  Soriro  dar\un,  dafs  ihr  die  Mitgift 
in  zuTorkommeader  Weiae  heraoagezaliit  werden  solltei  bis  nahe  an  sein  Ende'). 

>)  Z.  B.  ad  Attic.  XI  «6  Ib. 

Schneidewin  hat  die  Worte  Quod  9enbi$  TerenHam  de  (^mignatoribus  mei  tettametUt 

hqtti,  pn'mum  tibi  per.madc  mf  intn/T  non  curare  ne/iut  CKtf  qnicquam  aut  pnrrae  atrae  aut 
novat  loci  einemits  au»  dem  ZusammenhaDg  des  Briefe«  ad  Attic.  XU  23  (Ida;,  2  heraus- 

fwiiMii,  mimntiU  in  lUacib«  Beleabhtiaig  gvrtdrt.  Sie  bosieheB  sieh  aidit  auf  di« 
Bdieidtmg,  »ondera  anf  den  wuh  mwb  d«r  Schddiiag  nod»  forttbncrndeii  Streife  um  das 
Teitament  beider  Gatten. 

*)  Ad  Attic.  XVI 6, 3:  Terentiae  vero,  quid  tgo  dicami^  Etiam  ante  diem,  M  jM)tea;  vgl.  16, 6. 


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DIE  SOZIALE  DICHTÜNa  DER  ÖBIECHEN. 

(FortMtsang  und  Scblob.) 
Von  BOBBRT  FÖHUunm.  * 

An  littinunscher  BerttbmÜieit  ftbem^  fireilicli  diese  gsiue  Litteniur  ein 
anderer  Kosnan  aue  derselben  Zeit:  Die  *heilige  Chronik*  Jeiwypa^pif^ 
worin  Euhemeroe  von  Meeeana  seine  lunwabenden  Ideen  tber  die  05tler- 
welt  und  Aber  die  bürgerliche  Gesellschaft  niedergelegt  hat;  ein  Werk,  das 
anch  für  uns  eine  besondere  Bedeutung  besitzt,  weil  es  der  erste  Staatsronian 
ist,  aus  dem  uns  die  Tradition  eine  Schilderung  der  wirtsehaftlidieB  nnd 
sozialen  Rechtsordnung  erhalten  liat. 

Euhemeros  erzahlt,  dal's  or  auf  einer  der  grolsen  Keiscn,  die  er  im  Auf- 
trage seines  Freundes,  des  Königs  Kassander  von  Makedonien,  unternommen,  von 
dem  'glücklichen'  Aiabien  aua-j  in  das  südliche  Weitmeer  verschlagen  worden 
und  nach  vieltägiger  Fahrt  zu  einer  Gruppe  von  Inseln  gelangt  sei,  deren  ost- 
liehste,  Fanchla»  Indien  so  nahe  lag^  dafs  man  von  ihr  ans  das  indisdie  Feslr 
land  erblicken  konnte.  Hier  hauste  inmitten  einer  fippigra  Natur  ein  (^ück- 
seliges  Volk  unter  der  Herrschaft  einer  priesterlidben  Aristokratie,  die  in  dem 
heiligen  Beoirk  des  pracfatroUai  Zeilstempels,  secbsig  Stadien  von  der  Haupt- 
stadt Panara  entfernt,  zusammenwohnte.')  Diese  Priester  hatten  die  oberste 
Entscheidung  in  allen  wichtigeren  Angelegenheiten  des  öffentlichen  und  privaten 
Lebens,  wenn  auch  neben  ihnen  weltliche  Beamte,  ja  sogar  Könif^c  genannt 
werden/)    Was  die  soziale  Organisation  des  Volkes  betrifft,  so  erscheint 

*)  Es  ist  uDibegreiflkli,  dab  Eleinwtchter  in  letner  Gewfaiehte  der  8taataM»iMne  da« 
Werk  des  Euhemeros  nicht  einmal  nennt.  Auch  der  Verfasser  der  'Schlaraffia  politica* 
(1892)  ^ebt  nur  eine  kurze  Andeatong,  keine  geaduchtUche  Wflrdigaiig  des  hier  dar- 
gestellten Gesellachaftsideals. 

*)  Es  ist  das  heutig«  Temen,  das  in  Aleianders  Zeit  jenen,  thaUAcUidi  gaas  nnm- 
treffenden,  Namen  erhielt,  weil  sich  an  diese  für  Alexanders  Flotten  noch  unzugunglichco 
Kflsten  die  alten  Vorstellnn^n  von  dem  glücklichen  Land  am  Südrand  der  Erde  aasetMn 
kooateo,  wie  £.  Schwartz  (Oriech.  Korn.  8.  luij  richtig  bemerkt  hat 

^  Ober  diese  noveHistische  Btnkleidiuig  s.  Kohde  8.  MO  ff.  vnd  Sehwarts  8.  109  f. 

*)  Diese  sind  allerdings  nur  Teilfürsten.  Doun  die  bedeutendste  Stadt,  Panara, 
die  unmittelbar  unter  der  Pchut7.h()lieil  des  Zeus  Triphylios  steht,  bat  keinen  Könip, 
sondom  drei,  jährlich  neu  erwählt«,  republikanische  Pi^ideuten,  'Archonten'  (Diodor 
V  49).  —  Wie  sieh  Euhemeros  das  gegenseitige  Terhlkltnis  und  die  Kompetenaen  dieser 
verschiedenen  Gewalten  dachte,  wird  nicht  recht  klar.  Nur  von  den  Archonten  Panaras 
heifst  en,  diiri  sie  alles  selbstiLndig  entscboidcn,  und  blofs  das  Wichtigsti',  z  R  das  U«cbt 
über  Tüil  und  Leben,  den  Priestern  vorbehalten  sei.  Über  die  Stellung  der  letzteren  zu 
d«n  Königen  eriidiren  wir  ans  Diodor  gar  nichts. 


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B.  PdUnuuui:  Di«  ioiikle  IMchtnag  der  QneehMi. 


187 


es  nach  den  verschiedenen  Berufinweigeii  in  besondere  (korporativ  oirgaui- 
nerte?)  Abteilungen  gegliedert  Neben  dem  Prieetortom  etebt  ab  sweite  sdb- 
ifindige  Kteeee  die  d«r  AdEerbaner,  ab  dritte  die  der  Kri^$er.  Eine  Gliede- 
mngy  dM  —  rein  änüeerlidi  betreditet  —  eine  gewiaae  Ahnliehkeit  mit  den 

ständischen  GreseUschaftsordnnngen  des  Orients  zu  haben  scheint,  in  Wirklich- 
keit aber  schon  darin  eine  gaoa  abweichende  Tciulcn/.  zeigt,  dufs  sie  dem  Nähr- 
etand keineswegs  einen  niedrigeren  Rang  anweist,  als  dem  Wehrstand.  Auch 
sonst  kommt  in  Panchaa  die  Ehre  der  Arbeit  in  hohem  Mafse  zur  Ocltimg. 
Die  Vertreter  der  Künste  und  Handwerke  bilden  eine  Unterul)teilung  der  ersten 
Klasse,  stehen  also  in  gewisser  Beziehung  unmittelbar  nel)cn  den  Priestern. 
Ebenso  ist  bezeichnender  Weise  derselben  AbLeüung,  der  die  Krieger  au- 
gdioren,  eine  wirteehaftlielie  KJassej  nämlich  die  der  Hirten,  zugewiesen, 
die  also  g^eieh&Us  eine  dnrehane  geachtete  Stellung  einnmimt.*) 

NSheree  Aber  die  Organisation  nnd  das  gegenaeit^  YerhIltDis  dieser  ver- 
sdiiedenen  VoIksalitMlangen  erfikhien  wir  nicht  Wir  sind  eben  nur  auf  den 
kmen  imd  nichts  weniger  als  geschickten  Auszug  angewiesen,  den  Diodor  in 
seinem  Gesdhichtswork  aus  dem  Roman  gemacht  hat.  Immerhin  läfst  schon 
dies  Wenige  erkennen,  weleh  ein  Geist  in  dem  Verfassungssyst^  in  des  Ideal- 
Ftaats  des  Euhenierns  waltet.  Dai's  der  Autor  einem  Staate,  den  er  in  den 
indischen  Orient  verlegt,  Institutionen  zuschreibt,  die  an  Braelimanentuni  und 
Kastenwesen  erinnern -j,  lag  im  Interesse  der  dichterischen  Illusion.  Dus  gab 
dem  ganzen  Bilde  erst  die  rechte  Lokalfarbe.  Dafs  aber  Sinn  und  Tendenz 
dieeer  Inatitationen  weeentlidi  von  der  ihrer  orientaliadken  Vorbilder  abwich, 
leigt  schon  die  Beruftgliederong  der  PanchSer;  am  wenigsten  aber  wollte  nnd 
komite  ein  Atheist,  wie  Enhemeros,  ein  theokratisches  oder  hierokratisdiee 
Ideal  aufstellen.  Dazu  war  er  schon  viel  zu  sehr  das  Kind  einer  Zeit^  der  der 
aufgeklarte  Despotismus  ihr  Gepräge  gegeben  hat^  und  die  vor  allem  von  dem 
Bistrrbcn  erfüllt  war,  die  Fesseln  zu  1)e8eitigen,  die  die  freie  Bethätigung  der 
Intelligenz  imd  des  Talentes  ersthwiren  konnten.  £»  ist  die  Zeit,  die  das 
Naturrecht  des  Talentes  und  des  Wibseu«  auf  die  Leitung  der  Völker  prokla 
raiert  hat.')  Und  was  ist  es  anders,  als  der  Ausdruck  dieser  Zeiteuiptindnng, 
wenn  Euhemeros  die  Entstehung  der  Götter  zum  guten  Teil  auf  eine  Apotheose 
des  Geniea  BarttekfHhrt,  wenn  nadi  seiner  Ansicht  viele  GStter  ttrsprOnglich 
nichts  anderes  waren,  als  mensclilielie  Geistesgröfsen,  die  durch  die  Mitteilung 
gemeinnfltsiger  Erfindungen  einen  solchen  Ehrenplats  im  Glauben  der  Völker 
gewonnen  hatten?    Auch  die  Hochachtung  ror  der  Weisheit  Igyptiadier 


Diodor  Y  4Ui,  3:  tt}p  1t  ««UnliR*  f^oiMr  vfific^,  xal  «päroy  i)7iö.^%n  ftio^f 

Tcrp'  etiroTg  rh  t&v  IfQiav,  ■rTOOtrxfinh'mv  nrfror?  rmv  rtxvir&v,  dtvti^  dl  itui^%ßl  vdh» 

*)  Bitte  SioflUlende  Yerwandta^iift  zeigt  Abrigen«  PaneUto,  wie  idioit  Rohde  sah 

i'8.  223),  in  dicMB  Punkte  auch  mit  den  Schildenin^'on  «Kh  glflcUichen  Arabiens,  wo  man 
<>iii>-  nholtche  gsographiach-stbidiBdie  Dreiteilttog  des  Volkea  ^«fr^T",  8.  Stnbo  XVI 4,  Sö 

p.  783. 

*)  S.  meitt  Buch  Aus  Aliertnm  «ad  Ctagenwart  8. 187  f. 


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188 


Ü,  PöhlmBim:  Die  Bosiftle  Dichtung  der  Griechen. 


FirieBter  and  indischer  Bradunaoen,  die  fttr  die  Zeit  so  dtarakterietiech  wik, 
beruhi  weaentUch  daranf,  delii  man  in  ihnen  eben  die  Summe  des  Wiaeena 
und  der  Lebenaweiaheit  einer  oraUan  Kvlfair  verkSTpert  aali,  Sie  repiiaentieren 
redii  eigenÜidi  daa  Ideal  der  Zeit:  die  Herrschaft  der  Intelligenz.*)  Und  daa 
iat  ea  denn  andi,  was  Eahemeros  im  Auge  hat,  wenn  er  die  Priester  sn 
Regenten  seines  Idealstaat^s  macht.  Das  Priestertum  war  eben  die  Form,  in 
der  auf  orientalischem  Boden  in  Wirklichkeit  daa  Geschleeht  der  'Philosophen* 
einen  entscheidenden  Einflttfö  auf  das  staatliche  Leben  gewonnen  hatte. 

Gerade  weil  die  Priesterherrschaft  hier  !iirht^  bedeutete,  als  eine  Kultur- 
aristokratie, eine  Hierarchie  der  Kapazitäten,  snid  ihr  auch  die  Künstler,  Tech- 
niker, Gewerbetreibenden  zugeteilt,  diejenigen  Klassen  der  hellenischen  Intelligenz, 
die  durch  Alexander  und  seine  Nachfolger,  durch  die  zahllosen  Stadtegründungen, 
dnroli  den  gewaltigen  Anftdiirang  Ton  Indnatrie,  Handel  und  intenBmtknwIem 
Vorkehr  «nea  der  wichtigsten  Fermente  der  neuen  Welikultar  geworden  waren. 
Sie  konnten  von  einer  KkuMe,  welche  Tor  allem  die  Intelligenz  ▼erlrat,  nicht 
avageaehloBBen  worden. 

Wird  doch  toh  den  prieaterlidbtti  Regenten  Fanchiaa  adbii  ein  nicht 

geringes  Mafs  wirtschaftlichen  Fachwissens  und  wirtsehaflJicher  Erfidirong  Ter- 
langt!  Zwar  sind  die  Panchaer  nicht  der  Ansicht  unserer  modernen  Mandati- 
schen  Sozialdemokratie,  dafs,  wenn  der  Staat  als  'Repräsentant  der  ganzen 
Gesellschaft'  von  den  Produktionsmitteln  im  Namen  der  Gescllschfift  Besitz 
ergriffen  hat,  der  'politische  Apparat'  überflüssig  geworden  i-A  und  lu  Stelle 
der  Regierung  von  Personen  ausschliefslich  die  Verwaltung'  von  »Sachen,  die 
Leitung  von  Produktionsprozessen  tritt'.*)  Die  Panchaer  wisaen  vielmehr  recht 
gut,  dafii  selbst  bei  ümen,  wo  tMÜm  Haus  und  Garten  allea  Ganeingot  iat*), 
die  Peraonen  ao  wenig  einer  Begienmg  entbehren  können,  wie  die  Sachen. 
Allein  inao&m  entsprechen  doch  ihre  Begienmgahehörden  dem  Ideale  dea 
modernaten  Soaialiamua,  ala  dieadben  sogleich  apeaifiach  Okonomiaehe 
*Verwaltungskollegien'  sind,  die  sich  'mit  der  besten  Einrichtung 
der  Produktion,  der  Distribution,  der  Festsetzung  der  notwendigen 
Vorrate  u.  s.  w.  zu  befassen  haben*.*)  Was  der  Platonische  Staat  seinen 
Üieoretiach  nnd  praktisch  gleich  geschalten  Staatsmännern  ala  eine  Haupt- 


*)  So  erkl&rt  z.  B.  HekaUkos  bei  Diodor  I  73  das  der  Bgjrpüflehen  Priester 

neben  ihrer  relipiÖKen  ÄutoritSt  vor  allem  9uc  t6  nlflcrrjv  evvMiv  tohs  &v8Qceg  rovtovs  ^« 
«ladtias  tlmpifto^ai.  VgL  auch,  was  z.  ß.  Megasthenes,  Oneaikritos  imd  Nearcb  über 
BkaduBaaen  uad  indisehe  Bdfter  berichteten  (Strabo  XV  l,  89  ff.  p.  708  n.  6$  ff.  p.  716 ; 
bes.  64  die  einoa  indiBchen  BflAer  in  den  Mund  gelegte  Äuraeruug:  'das  wird  für  die 
Welt  <1'^r  j^TÖMe  Segen  sein,  wenn  die  einsichtig  werden,  welche  die  Macht  haben,  die 
Gefügigen  durch  Überredung  zur  Vemonft  und  Selbsterkenntnis  zu  bringen,  die  Wider- 
spenstigen XU  zwingen.')  Ab  Atasandttr  Tflhnt  der  Weiie,  dah  er,  ein  so  mAchtiger  Henscber. 
aaeh  Weitheit  begehrt,  daTi  er  'in  Waffen  pUloeofliiert'  {iv  Salei«  ^«locoyeeim). 

*1  Fr.  Engels,  Die  Entwickehing  den  Sozialismus  von  der  rt<>pie  7v.r  Wissenschaft  S.  4S. 
M&iXov  yccf  oidiv  isxiv  tÖif  xnjaaa-frat  srXqy  oixUtg  nal  niptw.    Diodor  V  Ab,  6. 

')  Bebel,  Die  Frau  S.  817. 


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B.  FsUinanB:  Vi»  mmmI«  Duthtang  der  Oiic^q, 


189 


pflicht  an  »  ilerz  legt,  die  R^^erung  des  WirtschaflalebenH'j,  dieselbe  Auf- 
gabe ist  den  prieatOTliehen  Staatsmännern  Panchaaa  gestelli 

Was  aon  disse  koinmimistiseh-sosjalistiselie  Wirtsehaftsordnimg  settisk  he- 
tritt,  so  leliiit  flieh  dar  Rcmian  aadi  hier  tmvwksunhar  an  wirUidiie  oder 
llberlieferte  Thalsachen  des  orientaliadben  Volkslebens  an.  Man  wuiste  damals 
bereits  aus  dem  bekannten  Seiseberiehta  Nearchs,  daf»  in  gewissen  Gegenden 
Indiena  ein  agrarisehar  Kommunismus  herrschte,  dalk  das  Land  gemeinscliHft' 
lieh  Ton  Familiengmppen  bebaut  wurde,  die  sieh  in  die  gwmteten  Früchte 
teiltt'ii*);  und  von  oiner  ähnlichen  (f fiterc^i'iii'nn-chaft  patriarchalischer  Familien- 
Verbände  erzählten  Berichte  aus  (ieni  glückiiehen'  Arabien, /Vlso  ganz  das 
Milieu,  in  welches  das  im  Angesichte  Indiens  wohnende  Kümmunistenvölkchen 
der  Panchäer  vortrefflich  hineinpalste. 

Andererseits  ist  nun  frailidi  Snhemeros  weit  da^on  entfanit,  die  primi- 
tiven  Formen  des  Gemeinbesitses  nnd  der  genossensahalllicihen  Prodaktum  ein^ 
iadi  in  seinen  Idealstaat  herttber  an  nehmen.  Er  mib  sehr  wohl,  dafii  diese 
für  eine  intensivere  Entfidtung  der  prodoktiven  Krifle  ein  nnflberwindlichea 
Hiadeniis  bilden  würden.  Sein  Panchaischer  Sozialismus  berfihrt  sich  zwar  in 
eini]een  Qrundzügen  mit  jenen  älteren  Fomen  kollektivistischer  Wirtschaft,  im 
übrigen  aber  gestaltet  er  denselben  ganz  nacTi  der  Ansicht  des  modernen 
Sozialismus,  dafs  eine  Form  der  wirtschaftliclitii  Organisation,  die  einer  ent- 
wickelten Volk'^wii  tsi  Irnft  gegenüber  ;ils  lia^  Höhere  und  Vollkommenere  er- 
ädieinen  soU,  uiciit  an  einen  urwüchsigen  Kommunismus,  sondern  unmittelbar 
aa  die  Produktion  der  Gegenwart  anknüpfen  mala.  So  ist  swar  in  FanchBa 
aUea  Aekai^  nnd  Weideland  Gemeingut,  abw  die  agEariaoha  Pjrodnktionsweiae 
iifc  nicht  kommnnistiseli.  Es  wird  an  der  EinaelwirtHfaaft  sdbatSndiger  Klein- 
betriebe festgehalten,  die  ja  selbst  der  modenie  Soaialismns,  wenn  aneh  nnr 
ab  ÜbergangBstofe  bis  zur  schliefslichen  Zusam!n>  rf  l^'ul1^r  aller  Betriebe,  in 
seinem  ZukunfLstaat  zulassen  mufs.  Andererseits  bebaut  zwar  der  Einzelne 
das  ihm  überlasscne  Stück  Land  als  Funktionär  der  Gesamtheit,  aber  diese 
höher«*  Einh^^it  bilden  nicht  privat^:',  sich  selbst  genügende  und  isolierte  Sonder- 
gruppeii^  sondern  die  gesamte  Volksgemeinschaft,  eine  einheitliche  nationale 
Wirtschaft,  wie  sie  unter  der  Herrschaft  jener  älteren  Gemeinschaftsiormen 
fiberbuupt  noch  nicht  existierte.^) 

Anf  dieaer  brateren  Basis  ist  dann  freilidi  das  koUektiTistische  System 
m  weitem  Umfimg  dnrehgeftQiri*)   Daa  Organ  der  Volkagemeinschaft,  der 

')  S.  Bd.  I  8.  3Ö4  tt.  m.  G.  deB  ant.  KonuQ. 

*}  Stcabo  XV  1,  66  (777):  n«^'  illoti  lutrii  ovyyittiav  noirg  lovi  xecfitovi  igjaaa- 
jifcwc»  imitv  Kymif— air,  aÜfUidm  ^pofftUp  fiMMvo»  tl;  Buttfo^^  rsS  ImWi  (DXtp 

')  Strabo  XVI  4,  26  (783):  «<mW|  »t^o*«  £at«ai  rolg  «vyyeyiffi,  nvffiog  di  i  9tftcpvtl^' 
fiu  ih  Tud  yvr^  näei*  .  .  .  dti  ««1  ndm§s  iiiUpol  ndwtmw  »Uiv  %tL 

Sehen  dämm  iifc  es  gaas  vofdilt,  wem  Lavdeye  meint«  dab  der  KoBunttaiaut»  des 

Eahemeros  die  echten  Tü^c  der  jiriinitivcii  AjiT'anerfaRsuiip;  an  Mich  tragi-. 

*}  Ein  ganz  fal»cbeB  Bild  erweckt  ei,  wenn  tiuaetuihl  (,Litteratur  der  Alexandrinerzdit 
I  iliij  die  'VerfMsung'  Panchäas  eine  'leiae  kommuniatiflch  angehauchte*  nennt. 


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190 


FHUmaiui;  Di«  «all«  Diditaiig  d«r  Gtiediflii. 


Staat,  erscheiub  hier  als  eine  Öffentliche  wirtschaftliche  Umsatz-  und 
Zuteilnngtanstalt,  welche  im  Intereefto  tii5gliehst  ergiebiger  Oesamt- 
herTorbringung,  vollkommeniter  OaterTereorgang  und  Verteilung 
auf  der  Basis  des  siaaUicben  KoUekti zeigen tnms  am  Boden  die  ver- 
scbiedenen  Wirtschaftssweige  zn  einem  einheitlichen  Gänsen  Ter- 
hnfipfi  Genau  so  wie  der  moderne  KollektiTisaias  in  seinen  Gedanken  über 
den  Zukunftstaat  immer  wieder  die  Neigung  zur  xentralistischen,  rein  poli- 
tischen AuHgestalfrurg  goTieigt  luit,  so  st-hcn  wir  schon  hier  den  St;iat  die  Volles^ 
Wirtschaft  unmittelhnr  in  sich  aufnehmen.  Die  Volkswirtschaft  ist  hier  eine 
staatliche  Funktion,  wie  Justiz  u.  s.  w.  es  sind.  Ja  man  hat  schon  den  Ein- 
druck, als  oh  der  Staat  vor  allem  als  Volkswirtschaft  tjedacht  wäre.  Es  ist 
ein  zeiitralistischer  staatlicher  Kollektivismus  mit  streng  autoritären  Amtern 
nnd  Ordnungen  für  die  Frodnktion,  Zizknlation,  Abliefernng  nnd  Taxierung 
der  wirtsdiaflilichen  Güter  nnd  Aibeitdeistangen. 

Da  der  Stsat  Eigsntltaner  an  den  Pfodnktionnnitteln  der  Landwirtsohaft 
ist  nnd  die  in  ihr  BesdiSftigten  im  unmittelbaren  Volksdienst  itshen,  also 
nicht  für  sidi,  sondern  für  die  Gemeinschaft  produzieren,  so  sind  andi  die 
Konsumtionsmittel  Gesamteigentum.  Alle  Feldfrüchie  müssen  von  den 
Ackerwirten  in  die  öffentlichen  Magazine  abgeführt  werden. '1  Ebenso  hahpn 
die  Viehwirte  alles  nötige  Schlachtvieh  auf  finind  einer  sorgfältigen  Taxierung 
nach  Zahl  oder  Gewicht  an  den  Staat  abzuiiefcru.'j  Und  der  Staat  ist  es 
dann,  der  durch  seine  Organe,  die  Priester,  die  Verteilung  des  Prodnktions- 
ertrages  an  die  einzelnen  Bürger  vornimmt.  So  regelt  sich  hier  diese  Ver* 
teüang  nicht  nach  den  Gesetsen  des  freien,  nck  seibat  ftlmlassenen  Markt- 
▼erkehrsy  sondern  nadi  streng  antoritatiT  durchgefohrten  Gesichtspunkten:  den- 
selben,  welche  noch  heute  den  Sosialismus  beschäft^en,  so  weit  er  überhaupt 
das  Vertoilungsproblem  ernstlich  ins  Auge  hSaL 

Der  Bericht  Diodors  be/^eichnet  das  in  Panchäa  geltende  System  der 
Gdterrerteilnng  dahin,  dafs  die  Priester  jedem  das  ihm  Zukommende  in 
gerechter  Weise  zuteilen  (rh  i:tißal^ov  txdöra  Sixcct'u)^  istoviiiovöiv). 
Diese  Worte  sind  vieldeutig.  Wollen  sie  sagen:  'Jedem  kommt  derselbe  An- 
teil zu',  und  besteht  demnach  die  Gerechtigkeit,  die  hier  gemeint  ist,  darin, 
dafs  von  der  Verteilungsbehörde  einfach  diese  Mileichheit  nach  Köpfen'  (^teort,^- 
xax  u^i^^iov)  gewahrt  wird,  oder  handelt  es  sich  hier  um  die  sozialistische 
Formel,  an  der  sich  die  Sozialdemokratie  tot  der  Annehme  des  Manisdisn 
Standpunktes  bekannte:  *Jedem  nach  Verdienst'  {laötrig  mn^  ä^ütv),  Güter* 
Zuteilung  an  die  Einxelnen  nach  Verhalbiis  Ton  Menge  und  Wwt  ihrer  Arbeits* 
beitri^?  Glücklicherweise  findet  sich  bei  Diodor  noch  eine  Angabe,  wdldie 
uns  etwas  klarer  sehen  läfst.  Darnach  erhalten  in  Panchäa  bei  der  Verteilung 
der  Frü(bte  diejenigen,  welche  sidi  als  die  besten  Landwirte  erwiesen  haben, 

')  Diod.  T  45,  4t  ol       ytagyal  tijv  ytjv  iQyttZ6\ttvot  TO^  «opivoi;  &vttifii^o%>ei9  ttg  th 

%Olvov  xrX. 

KIhI  :  nuQcirtlriaims  6i  rovrot;  na}  ol  voniT^  rd  re  ifffffa  %al  tÜJm  Mm^adtd6K9t9  ttg 


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R.  FQUnwiui:  Dte  «male  Diditnng  der  Griedun. 


191 


Ehrenpreise  im  voraus,  deren  im  ganzen  in  bestimmter  Reihenfolge  zehn  vw 
geben  werden,  *zur  Aufmunterung  der  Übrigen'.*)  Demnach  weiis  man  in 
Pudiift  Belir  wohl,  daOi  eine  ganz  gleidunjUeige,  die  Yendhiedeiiheit  in  den 
Ldetongen  der  am  Prodoktionaproieb  Beteiligten  röUig  ignorierende  Veiv 
teiluig  dee  PlrodnktiooseHarageB  die  mSdittgete  Triebfeder  Termchten  wflide, 
die  den  Einzehien  beetixnint,  auch  wirklich  nach  dem  Habe  seiner  LeistongB- 
fikigkeit  sich  zu  bethiftig^.  Neben  ideellen  Motiven  wird  auch  das  materielle 
Selbstinteresse  in  Bewegung  gesetzt  durch  ein  Piüinirnsystera,  welches  die 
Forderung  dos  'Einkommens  nach  dem  Verdienst'  wenij^stf ns  bis  ym  einem 
gewissen  Grade  verwirklicht.  Andererseits  zeiijt  f^hf^v  gerade  dieses  l'rämien- 
sr-item,  dals  flir  die  Masse  der  Produzenten  Gleiciiheit  des  Einkommens  und 
liituiit  der  Lebensbedingungen  üherlnmpt  angenommen  wird*  und  dasselbe  er- 
giebt  sich  ans  der  weiteren  Angabe,  dab  Prieirter  bn  der  Verteilung  der 
Plrodiikte  doppelt  ao  viel  erhalten,  wie  die  Hbrigen  Volkagenoaaen,  wae  eben 
flIr  dieee  ein  emheitliebee  NormalmaCi  notwendig  Toraneaelst.^  Im  grofiMn  and 
gimen  bekennt  eich  hier  'also  dnr  Staat  —  jene  beeonders  qualifizierten 
Kleaittite  ausgenommen  —  zu  der  Idee  der  Gleiehwertigkeit  der  Individuen, 
und  er  will  daher  auch  für  sie  alle  der  Urheber  gleich  groferai  Olflckee  sein. 

Weitere  Schlufsfolgeningen  gestattet  die  Bemerkung  Diodors,  dafs  es  in 
Panchäa  auiser  Haus  und  (iarten  kein  Privateigentum  giebt  und  alle 
'Erzengnisse  und  Einkünfte'  an  die  Priester  abzuliefern  sind.')  Daraus  geht 
unzweifelhaft  hervor,  dafs  hier  das  gewerbliche  Kapital,  die  Produktiuubmittel, 
wie  die  Erzeugnisse  der  Industrie,  ebenso  verstaatlicht  sind,  wie  die  der  Land- 
wirteefaaft.*)  Auch  der  Handweiker  mnia  die  Fkodnkte  aeinee  FleUkea  an  die 
BebSrde  abliefern,  von  der  aie  dann  —  etwa  wie  in  der  Utopia  des  Moras  — 
an  die  einaslnen  Bürger  sn  ihrem  nnd  ihrer  Familie  Oebrandi  verteilt  werden. 
Wenn  aber  die  Übermittelnng  der  Waren  von  dem  Produzenten  an  den  Kon- 
samenten Terstaatlicht  war,  so  bedurfte  es  in  PanchSa  auch  keines  Zirkulationa- 
mittels  und  keines  Zwischenhandels.  Es  hat  hier  gewifs  so  wenig,  wie  in 
Utopien  Knnflente  und  ein  Geld  gegeben. 

andere«!  können  wii-  wenigstens  Vermutungen  wagen.  Diodor 
«chw(  igL  sieh  völlig  aus  über  die  gi'undlegenden  sozialen  Ordnungen  der 
fiuuilie,  Ehe  u.  a.  w.  und  stellt  un»  damit  vor  die  Frage:  Hat  Euhemeros 
aadi  hier  den  kommnnistischen  Oedanken  durchgeführt  und  in  den  Bahmen 
Ntnes  Gesellsehafiaideales  ansh  die  Idee  der  Frauen-  und  Xindergemeineeh^ 


xoi  oCTis  UP  ttixdiv  doxy  ftdiuertt  j't/coi^jrijx^vat ,  iu(t(iuvH  y(gug  tiuifftrov  iv  ry 

ii*a  ngoTQonfjS  fpfx«  räv  üllav. 

*)  Dai)  (Tleirhf>  ^It.  offenbar  für  die  den  Soldaten  zugeteilte  (Natural ?^l0hiiaiig,  x&s 
lUfUfieiiivag  ovvxüitis,  wie  Diodor  46,  1  sich  ausdruckt. 

*'i  Die  Ifipf  eiripr  VcrstaathVhiin«?  flor  Tndnstrio  war  jäi  nicht  neu.  Man  denke  an 
Ph^eas  Tou  €baikedou!       üd.  I      266  ni,  U.  d.  ant.  Konini. 


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192 


B.  PBIihnuui:  Dt»  loilale  Biditniig  d«r  OnedieB. 


autgenommeu,  die  iäugst  vor  ihm  in  diti  kommunistiäche  Theorie  und  bald 
nach  ihm  auch  in  den  StaaUrunrnn  Eingang  fand?  Die  Frage  wird  wakr- 
■duinlidi  lu  Teraemeii  nin.  Enhemeros,  dur  ha  all  a^ein  Skonomitdieii 
BadikBÜflmiis  eine  gewiaae  Mäbigung  and  Nllehternh^t  tiieht  Tcrlengnet,  der 
jedem  BUrger  einen  eigenen  Bereidi,  eine  abgeeehloeeene  Hwnililte  und 
eigmen  Hausstand,  Torbehalt,  in  welchem  sein  individuelles  Dasein  Wurzel 
fassen  und  sich  ausgestalten  kann*),  —  der  konnte  doch  schwerlich  die  Chtund' 
bedingung  einer  derartigen  privaten  Existenz,  die  Einzelfamilie  völlig  zerstören! 
Auch  wäre  in  diesem  Falle  das  Schweigen  Diodors  iniinorhin  auffallend.  Zwar 
ist  seiner  elenden  und  oberflächlichen  Berichterstattiu  f;  illes  zuzutrauen.  Wer 
aber  dem  Unterhaltungu-  und  Sensationsbedflrfhis  des  grofsen  Publikums  so 
sehr  Rechnung  trägt,  wie  er,  der  würde  doch  schwerlich  gerade  einen  der- 
artigen Zog  fibergaugen  hnbtti,  den  Diotfor  doeh  aonsfc  i.  B.  bei  JemlralM  lier- 
Tomdieben  nicht  vergifst. 

Schwieriger  ist  bei  der  Dürftigkeit  des  erhaltenen  BomanfragmenleB  ein 
ürteU  fiber  den  fleaamteharakter  vnd  die  al^eneine  Tendenz  des  Bemuui. 
Zwar  so  viel  sieht  man  dentlidi:  Li  dem  Kommunismus  Panchaas  prägt  sieb 
denelbe  Geist  den  Rationalimns  aus,  in  dem  die  religionsgeschichtlichen  An« 
schamingen  des  Euhemeros  wurzeln.  Die  Gliederung  der  Bürgerschaft,  ist  eine 
durchaus  künstliehe  und  schablonenhafte  und  erinnert  auffallend  an  das  Gesell- 
schaftsideal des  Stadtebaumeisters  TTippodamos  von  Milet,  der  dieselbe  gleich- 
mäläige,  rein  rationale  Dreiteilung  der  Bevölkerung  vorächlägi.  Ks  gilt  daher 
auch  von  Euhemeros,  was  man  Uber  diesen  'auf  der  Schwelle  des  griechischen 
AnfUimngBieitalters'  stehenden  Staatatheoretiker  gesagt  hat:  'Der  ganxe  Fku 
ist  scheinbar  ein&di  nnd  mag  dem  gesunden  HensdienTerstand  ohne  weiteres 
einlenehten,  aber  in  Wahrheit  ist  er  nnnatflrlidb  nnd  thnt  den  Teradhiedenen 
lokalen  Verhältnissen  und  Bedfir&issen  entschieden  Zwang  an.*')  Auch  die 
Art  und  Weise,  wie  Eahemeros  mit  seiner  Lösung  des  wirtschaftlichen  Pro- 
duktions-  imd  Verteilungsproblems  die  Forderungen  der  Gleichheit  und  Ge- 
rechtigkeit und  zugleich  das  Produktionsinteresse  befriedigen  zu  können  glaubt, 
mag  den  Vorzug  der  Einfachheit  und  Verständlichkeit  für  sich  haben.  Dafs 
aber  eine  derartige  mechanische  Lösung  MeiiHtlien  und  Dinger  \siiklich  gerecht 
werden  könne,  kann  nur  ein  ungetichichtlicher  und  rein  doktrxuurer  Kationalis- 
mns  ftr  mSglich  halten.  Ein  Doktrinarismus,  den  übrigens  noch  der  modernste 
*von  der  Utopie  inr  WissenBchnft'  fortgeschiittene  Soatalismnt  mit  seinem 
antiken  VorgPbiger  teilt 

Ist  es  aber,  wird  man  fragen,  Enhemeroe  mit  seiner  geseUsdiBfllielian 
Utopie  fiberhanpt  Emst  gewesen?  Ist  es  ihm  wirklich  um  eine  Kritik  der 
bestehenden  socialen  und  wirtschaftlichen  VOThaltnisse  an  thnn,  nm  die  Anf- 

^)  Übrigea»  wäre  ja  itogar  der  periodiiM:hti  W'oliuutigawechsel  uud  die  periodische  Neu- 
verlosoair  Hftiuer,  woleh«  in  PandiB»  dank  das  Eigentoiii  am  Haute  atuigeMliIoneii 
ist,  mit  dem  Institat  der  Eüudftmilie  vernnbwr  geweitn,  wie  die  YeiliKltaSMe  in  der 

Utopia  des  MoniH  liewcison 

*)  Arifltuteles  Polit.  II  4,  &  p.  1267  b        ")  Ziegler,  Thumati  Murus'  Utopia  XXI. 


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B.  PlOiImami:  Di«  ■oiial«  Diditoi^  der  QrioelMD. 


193 


Stellung  eines  Ideals?  Oder  i»t  dieser  Kommuniatenstaai  nur  ^dm  phantastische 
Spiel  eber  fumiiischenden  Stunde'^  ein  Produkt  des  Witees  eines  geistreichen 
Kopfes,  der  damit  nur  der  Zmtmode  einmi  Tribai  eatrichtei? 

Eine  dnrdunis  befriedigende  Antwort  auf  diese  Frage  iritoe  nor  mdgliefa, 
wenn  wir  entweder  den  Roman  selbst  oder  eme  genfigende  Charakteristik  der 
Sozialphili^^ophie  besafaen,  die  in  demselben  zum  Ausdruck  kommt.  Zn  einer 
solchen  Charakteristik  war  aber  unser  einziger  Berichterstatter  über  den  Roman 
nicht  im  stände.  Für  Diodor  ist  ja  Panchäa  ein  historisches  Land,  giebt 
also  Eubemeros  Thatsachen,  nicht  Ergebnisse  seines  sozialtheoretiscben 
Denkens.  Ist  daher  schon  das  Programm,  welches  hier  der  Wirklichkeit  als 
Ideal  gegenübergestellt  wird,  nur  unvollkommen  gezeichnet,  weil  eben  als 
solches  gar  nicht  erkannt,  so  ist  noch  weniger  die  Rede  von  den  ethischen 
Nomen,  denen  das  Programm  Geltung  verschaffen  soll.  Wir  bdren  einiges 
Ton  dem,  was  der  GrOnder  Panchäas  wollte,  nicht  aber,  vrarnm  nnd  au 
weldiem  Zwecke  er  es  wollte.  Was  labt  sidi  nnter  diesen  Umständen  Aber 
die  eigentiiehe  Tendens  des  Romans  sagen?  Dals  derselbe  nicht  ein  blofses 
Spiel  der  Phantasie  sein  kann,  das  ist  ja  allerdings  kanm  zweifelhaft.  Ifan 
bat  längst  bemerkt,  dafs  bei  Euhemeros  die  Fabolistik  nicht  Selbstzweck,  son- 
dern nur  dazu  da  ist,  um  'emsthafter  Belehrung  die  Stätte  zu  bereiten*.')  Er 
hält  seine  Erzählung  durchaus  frei  von  allem  rein  Märchenhaften,  Übernatilr 
Uchen,  'Teratologi sehen',  womit  sonst  die  griechische  i'liantasie  gerade  den 
Orient  ansznscbmüeken  liebte.  Die  Menschen,  die  er  schildert,  unterscheiden 
»ich  durch  keinerlei  überirdische  und  geheimnisvolle  Klüfte  und  Eigenschaften 
TOD  der  übrigen  Menschheit  Sein  Soxialismus  mutet  ihnen  z.  B.  nicht  «oA- 
fctnt  eine  so  weilgehende  Entsagung  zu,  wie  etwa  derjenige  Piatos.  HfHihrMid 
une  der  Gmndbedingaogen  des  Platonischen  Soaialstaatee  die  möglichste  Yw- 
Dindmmg  aller  Bedflrfbisse  ist,  nnd  an  dem  Zweck  ganie  Prodnktionsawdge^ 
wie  z.  B.  der  Weinbau,  die  Kunstgewerbe  o.  s.  w.,  in  ihrer  Entwickehing  künst- 
bek  b^cbränkt  werden,  preist  Euhemeros  an  Panchäa  gerade  seine  Ergiebig- 
keit an  Produkten  des  Weinbaues  nnd  anderen  Luxuskulturen,  den  Reichtum 
semer  Bergwerke  an  Gold,  Silber,  Zinn  und  Erz,  dessen  Ansammlung  und 
technische  Verarbeitung  noch  tiazu  durch  ein  iilisohites  Ausfuhrverbot  gefördert 
wird,  die  Gröfse  und  Pracht  der  technischen  und  baulichen  Sehäpfungen 
Paochäas,  die  ganz  an  die  Leistungen  der  hellenistischen  Fürsten  und  Städte 
eiinnert.  Aach  von  den  Institutionen  PanchSas  kann  man  nicht  sagen,  dab 
ne  dsm  gemeinen  HenschenTerstrad  von  Toniberein  nnausfWbrbar  erscheinen 
unbten.  Man  wird  also  die  Möglichkeit  nicht  bestreiten  dOrfen^  dafs  Euhemeros 
«snigstens  gewisse  Grundprinzipien  seines  Sosialstaates  PandAa  ebenso  ftr 
reslisierbar  halten  konnte,  wie  später  der  *  Vater  des  modernen  Sosialismua' 
die  grundlegenden  Gedanken  seiner  Utopia. 

Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dafs  der  Freund  Kassanders  in  einer  Zeit 
lebte,  nach  deren  Anschauungen  es  für  die  herrschende  politische  Macht,  für 


*)  S.  Rohde  H.  224.  Vgl.  Block,  Eoh^mero  S.  57  fi. 
■«»  JaInMtalw«.  llNi  L 


IS 


194  POhlmaiui:  Die  sonaJ«  Dichtiiag  dw  QriecheD. 

die  gua  von  CSbMriatiaeheiii  Geist  erfüllte  Monarchie  kanin  etwas  gab,  was 
ihr  nicht  möglidi  gewesen  wire.  Wie  oft  hatte  man  es  erlebt,  dab  der  seit 
dem  vierten  Jahrhimdert  fiberaQ  in  der  hellenisehen  Welt  emporkommende 

Abeolntiamiu  den  Anstofs  an  sosialen  Umwälzungen  gab,  die  alles  Bestehende 
ein£Mh  Aber  den  Haufen  warfen  und  aus  dem  Ruin  der  alten  eine  ganz  neue 
bürgerliche  Geeellschafk  entstehen  lieisen.^)  Was  hatte  vollends  die  Monarchie 
Alexanders  und  seiner  Nachfolger  zerstört  oder  neu  goschaffcn!  Wer  in  solchor 
Zeit  einen  Fürsten  für  hIc-Ii  gewann,  der  ilurfto  sich  in  der  That  berufen 
glauben,  auch  scheinbar  Utopisches  mögiicli  zu  machen.  Dafs  sich  aber  das 
neue  Fürstentum  grofsen  Reformgedanken  zugänglich  erweisen  würde,  war  in- 
Bofinn  sehr  wohl  denkbar,  als  es  ja  selbst  seinem  Ursprung  und  Wesen  nach 
revoltttion&r,  nieht  dnrdi  die  Fesseln  der  Tradition  gebnnden  war  and  in  der 
That  den  Sisat  mS^ehst  ids  'Ennstwerk'  und  nach  rein  rationellen  Gesichts- 
pnnklen  gestaltete.  Auch  hat  ja  dieser  an^ekGurte  Absolntismns  die  Sorge 
für  die  materielle  Wohlfiihrt  aller  Unterthanen,  selbst  der  Geringsten,  das 
'Wohlthun',  wenigstens  zur  offiziellen  Regierungsmaxime  gemacht');  und  er 
legte  andererseits  Wert  darauf,  seine  Gewalt,  die  der  stärksten  Stütze,  der 
Legitimität  entbehrte,  vor  der  höchsten  moralischen  Autorität,  vor  der  Geistes- 
bildung der  Zeit  zu  legitimieren.  Die  Philosophie  ntid  ihre  Vertreter  gewinnen 
eine  ehrenvolle  Stellung  an  den  heliemstischeu  Hofen,  und  der  Cäsarismus 
verzichtet  hier  wenigstens  in  seinen  besten  Repräsentanten  vor  diesem  Forum 
auf  die  einseitige  Betonung  seiner  Rechte  und  erhebt  eich  zur  Anerkennung 
seiner  Pflichten,  ja  sogar  bis  aar  Anfhssnng  des  Forsten  als  des  ersten  Dieners 
des  Staates.*)  Kein  Wunder,  dab  der  ^FOrstenspiegeP  in  dieser  Epoche  eine 
stehende  litterarisehe  Erscheinung  wird,  dals,  wie  die  aahlreiehen  Titel  philo- 
sophischer Werke  'über  das  Königtum'  noch  jetzt  erkennen  lassen,  die  ver- 
schiedensten Schulen,  Akademiker,  Peripatetiker,  Megariker  und  Stoiker,  sich 
wetteifernd  bemühten,  die  neuen  staatlichen  Gewalten  in  den  Dienet  ihrer 
Ideen  7m  stellen. 

Es  if<t  gcwifs  kein  Zufall,  dafs  diese  Epoche  di  r  I  irstenspiegel  zugleich 
die  der  Staatsromane  ist.  Wiederholt  sich  dutli  genau  dieselbe  Erscheinung 
in  der  Zeit,  die  den  modernen  Staatsroman  er;^eugt  hat.  Man  hat  mit  Recht 
darauf  hingewiesen,  dafs  gleichzeitig  mit  der  Utopia  des  Thomas  Morus  Uacchisr 
Tellis  *F{brBt'  und  des  Eranuus  'Lehrbuch  för  den  christiiehen  Fttrsten*  ver- 
fidbt  ist,  dafs  das  Zeitalter  ttberhaupt  eine  ganze  Litteratur  der  Art  aufweist 
ünd  man  hat  an  dieses  Zusammentreffen  die  Vermntnng  geknfipft,  dafs  wohl 
beide  Litteraturgsttungen,  der  Staatsroman  wie  der  Fürstenspiegd,  denselben 
Zweck  verfolgt  haben  werden,  dafs  auch  jenem  mit  die  Absicht  zu  Grunde 
lag,  den  Fttrsten  au  aeigen,  wie  eigentlich  regiert  werden  sollte.^) 

V  S.  Aua  Altertum  uud  Gegenwart  S.  283  f. 

*)  S.  die  diarBklerbtiidie  Inftemng  in  dem  Papyrni  SS  dei  Louvre,  Notiees  et  ezliaits 
des  manuscrita  de  la  bibliöth^ue  hnp.  XVlii  9  p.  861  C  col.  8,  94.  Dazu  Schwarte,  Bhein. 

Mu8.  40,  ^56 

*)  8.  Aus  Aitürtum  und  Gegenwart  S.  2(^8.       *}  Kautaky,  Thoma«  More  u.  ».  Utopie  S.  %3G. 


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Rb  BMilinaaii:  Di«  aotiale  Diefatang  der  Griedien. 


195 


Et  ist  Mhi*  wohl  möglich,  daXs  die  aosiale  Utopie  des  £uhemero8  eine 
SJuJiehe  Tendenz  gehabt  hat,  nicht  bloft  *sa  den  hergebrachten  PronlcBtfldeett 
der  Beieeromane  gehört'.^)  Wie  das  Ideal  dee  Morus  im  Kopfe  eines  Fflrsten, 
des  HeffOB  Eponymos  seiner  ^fieUichw  Insel,  entsprungen  ist,  so  geben  auch 

die  mnricihtungen  Panchäas  auf  einen  ESnig  zurück,  der  dann  als  Zens 
Triphjlioe  göttlicher  Verehrung  geniefHt,  ganz  ähnlich  wie  die  Fürsten  des 
TlellenisTnus.  Ihm  verdanken  die  Panchaer  die  priesterliche  Geistesariatokratie, 
dit'  die  Seele  des  ganzen  kunstvollen  Organismus  ihres  Gemeinwesens  i-jt  Er 
bat  sie  aus  Kreta  nach  Panchäa  gebracht  und  ist  eben  damit  der  Sehöpfer 
ihres  Sozialstaatcs  g^'worden.  Dieser  monarchische  Ursprung  des  PaueliiÜschen 
Soziahsmus  ist  gcwiik  nicht  bedeutungslos.  kommt  in  ihm  die  Überzeugung 
mm  Ansdmek,  dafs,  wenn  nur  sin  Ffixst  wollte,  die  VerwirUiehung  des  Somal- 
■taatas  auch  möglidi  wSre.  Dabei  brandit  man  keineswegs  aasnnehmen, 
EnhemeroB  hStte  geglaubt,  dafii  gerade  einer  der  lebenden  Machthaber  geneigt 
mn  kSnnt^  auf  derartige  Ideen  einmgeben,  etwa  wie  Gsmpsndla  das  Pktgekt 
seines  Sotit  rr  tnates  dem  König  von  Spanien  unterbreitete.  Er  war  ein  za 
nüchterner  Kopf,  &h  ilafs  er  dem  fascinierenden  Reiz,  den  das  Emporstreben 
der  nenen  Weltmächte  auf  einen  phantusievollen  Geist  wohl  ausüben  konnte, 
in  dem  Grade  erlegen  wiirp,  wie  der  Dichterphilosoph  der  Renaissanw».  Auch 
hatte  der  Freund  Kassanders  wohl  allzu  reichliche  Geh'genheit,  zu  sehen,  wie 
sehr  sich  oft  die  praktische  Bethätigung  der  Gewalt  von  der  theoretischen 
Anffinssuiig  unterschied,  zu  der  sich  die  helienistische  Monarchie  offiziell  be- 
kiunte.  AUein  trotadem  kann  es  ihm  mit  der  Aufstellung  seines  Gesellsdiafts- 
idesls  bis  an  einem  gewissen  Qrade  wenigstens  Emst  gewesen  sein.  Ancb 
Moros  gesteht,  dais  sich  im  Gemeinwesen  der  Utopia  gar  mandbes  fKnde^ 
demen  Verwirklichung  'in  unseren  Staaten'  nicht  za  erwarten  sei.  Dennoch 
spricht  er  gleichzeitig  den  Wunsch  aus,  dafs  es  einmal  Terwirklieht  werden 
mochte.  Jedenfalls  sei  vieles  so  gut  geordnet,  (lar>*  es  zur  Bcrichtipning  der 
falschen  /  unsere  Gesellschaft  beherrschenden Lebensanschauunireii  dienen  könne.') 
Und  dabei  ist  Morus,  der  in  seiner  Utopia  überhaupt  kein  Privateigentum  an- 
erkennt, noch  ungleich  radikaler,  als  der  Verfasser  der  Panchäa,  wo  der  einzelne 
wenigstens  Haus  und  Garten  sein  eigeu  nennen  darf. 

Wie  gemäfsigt  ersclieint  ToUends  das  GeseUsobaftsideal  des  Eubemeros  im 
Verideieh  mit  dmn  kfihnen  Radikalismus,  wie  er  uns  m  emem  anderen,  kaum 
nel  sp&ter  entstandenen  Staatsroman  entg^ntritt,  in  dem  Sonnenstaat  des 
Jambaloa,  der  in  der  rllektichtBlosen  Dnrchf&hrung  des  kommunistischen 
Gedankens  nicht  nur  EuhemeroB,  sondern  auch  einen  Morus  weit  überbietet. 

Der  Yerfiftsser  dieees  loteten  uns  bekannten")  Staatsromans,  der  überhaupt 


0  Wie  Behwwrts,  Yottrii^  Uber  den  griechiBclien  Roman  8. 109,  «asimmt. 

^  El  kflnnen  daraus  exempla  in  corrigendis  harum  .  .  .•noMomisi  erroHbtu  üeitta 

tttDOmmeB  werden  (S.  12  in  Michelf^  und  Zieglers  AiisiraTicV 

*)  Die  Sdulderung,  die  Ludan  in  seiner  'Wahren  Uescbichte'  II  ö — 29  von  der  Insel 
der  Sfllifan  eatwiift,  irt  bekanntlieh  mir  eiiM  Satire  auf  die  ethnographiiche  FabeUitte- 

18» 


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196 


E.  POhltnann;  Die  soziale  Dichtong  der  GriecheiL 


den  HShepunlii  des  diehtorisclien  UiopinniiB  der  Oneohmi  luww^nftt,  üd  ein 
Bosialokonomischer  Jules  Verne  £r  giebt  einen  Bnaebericlit  im  Stile  der 
Abenteuer  Simbads  des  Seefifthrers'),  indem  er  uns  nach  einem  wundersamen 

Märohenlaiule  entfrihrt,  das  in  seiner  grotesken  Ausstaffierung  uns  gnnz  wie 
Prnspero.s  Zaiibennsel  anmutet,  die  WohnsUitte  eines  glückseligen  Menschen- 
gesciilecht«*,  dem  alles  physische,  sittliche  und  soziale  Elend  der  übrigen  Welt 
fremd  ist.  Diese  novellistische  Einkleidung,  die  selbst  den  Beifall  eines  Luciaa 
fand,  hat  offenbar  zu  der  Popularität  des  Romans  kaum  viel  weniger  bei- 
getragen, ab  der  souBÜBtieche  Kern,  den  das  phautealiaehe  FUbelwerk  mnninkt 
und  ftst  flb«rwacshert.  Auch  Diodor,  deaaen  kurzem  Anszug*)  wir  die  Eenntnia 
des  Jambaloe  Terdanken,  hebt  diese  Seite  des  Romans  besonders  herror.  Die 
Entdeckungsgeschichte  der  Sonneninael,  an  deren  Realität  er  übrigens  ebenso 
glaubt,  wie  an  die  Panchäas,  giebt  er  ausführlich  wieder;  ebenso  die  Fabeleien 
über  die  Naturwunder  des  Inselreiches,  während  er  sich  über  die  sozial- 
ökonomischen Zustände  weit  kürzer  fafst.  Jedenfalls  ist  die  novellistische  Ein- 
kieidnng  so  bestimmend  für  den  ganzen  Charakter  des  Riomans^  dais  auch  wir 
sie  nicht  völlig  ubergehen  können. 

Der  Verfasser  berichtet:  Von  Jugend  auf  der  Bildung  beflissen,  habe  er 
naeh  dem  Tode  seines  Vatos,  eines  Kaufinanns,  ebm&lls  in  Kan&iaana- 
geadUUEten  dne  Reise  naeh  Arabien  und  nach  dem  Gewtbsland  (Somal)  untw- 
nommen.  Hier  aei  er  sroerst  lUinbem  in  die  H&nde  gefidlen,  dann,  nadidem 
er  einige  Z»ii  als  Hirte  gedient  mit  dnem  seiner  QefiliTten  von  den  Äthiopen 
^fengen  worden,  die  eben  damals  eines  Sühnopfers  bedurften,  wie  sie  es  alle 
sechshundert  Jahre  nach  uralter  Sitte  dem  Oaean  darzubringen  pflegtm.  Uaa 
gab  ihnen  ein  kleines  Fahrzeug  und  hiefs  sie  nach  Süden  fahren,  wo  sie  ein 
glückliches,  von  wohlwollenden  Menschen  bewohntes  Eiland  finden  wfirrleTi. 
Nach  einer  Fahrt  von  vier  Monaten  gelangten  sie  zu  einer  Insel  von  runder 
Gestalt  und  einem  Umfang  von  fünftausend  Stadien,  deren  Bewohner  die  Fremd- 
linge freundlich  aufnahmen.  Sie  gehörte  zu  einer  Gruppe  von  sieben  Inseln, 
alle  ungeföhr  gleich  grofs,  gleich  weit  von  einander  entfcnit  und  alle  ron 
Menschen  bewohnt,  d«en  Sitten  und  Lebensnnriehbmgen  sich  durefaans  lachen. 
Man  be&nd  sich  hier  unmittelbar  am  Äquator.  Tag  und  Nacht  warm  immer 
?on  gleicher  Länge,  und  am  Mittag  warf  kein  Gegenstand  einen  Schatten.  Die 
Sonne,  allezeit  im  Zenith  stehend,  bethatigte  hier  uneingeschränkt  die  Fülle 
ihrer  segenspendenden  Kräfte,  ein  Moment,  das  auch  im  Kultus  der  Insulaner 
zum  Ausdruck  kam.  Sie  verehrten  die  Sonne  als  ihre  htichste  Gottheit,  ihr 
waren  die  Inseln  und  deren  Bewohner  geweiht.^)    Daher  auch  die  unerschöpf-* 


ratur,  woraus  sie  die  einzeliien  Züge  zusammentrügt  und  die  sie  grotesk  übertreibt,  um 
lie  zu  patodieteu. 

*)  über  diese  Einkleidung  und  die  üttcrargeMhichtlicheii  Ftagen,  die  neb  aa  den 
Boman  knüpf«  n,  vgl.  Bdide  S,  224  C 

*;  Ii  öö— 60. 

*)  Diodor  II  A9,  7:  ti^  Ijjktiav  fds  f t  Mfomv  lucl  ienttig  jfQoa«f09»69uaut.  Außerdem 
werden  aufsh  der  Himmel  und  alle  Btmmelkliditer  verobrt,  und  die  Siebeniahl  der  In«dn 


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R.  Pöhlmann:  Die  somle  Dichtuog  der  Griecbea. 


197 


liehe  Pradnktionakraft,  die  die  Natur  in  dieser  eonn^eii  Welt  aasxeichhete. 
Die  Bfi"n*^  trugen  hier  stets  reife  Früthto,  wie  im  ILdiurischen  Phäaken« 
Imd.    Der  Boden  brachte  unbestellt  Nahrungsmittel  in  überreicher  Ffllle 

hervor,  ebenso  0]  nnd  Wein  und  rannoli  seltsame  Pflanzen,  unter  denen 
besonder«  rin  Rohr  hervorgehoben  wird  mit  erbscrmrtigon  Frfichten,  die  in 
Wüiiäer  gelegt  aufquollen  und  zur  Bereitung  eines  süiscn  Brot«s  verwendet 
mirden. 

In  solchem  Ueichtum  der  Natur,  der  übrigen»  die  Bewohner  nicht  hinderte, 
in  wohl  geregelter  MaTsigkeit  zu  leben,  gediehen  auch  diese  in  nrsprOng- 
lidier  Kraft  und  Schdnheii  An  LeibesgrSbe  nnd  I^ebensdnuer  ttbemgten  sie 
«Mt  das  gew51inlidhe  Mab  der  SterbUdien.*)  Von  Krankheit  meist  Tench<m1^ 
duldeten  sie  auch  nichts  Krankhaftes,  Yerlorfippeltee,  Verfiftllendee  unter  sidu 
Wer  an  unheilbarem  Sieditom  oder  an  kdrperUchen  Gebrechen  litt,  mnlkte 
Mnem  strengen  Gesetz  gemäfs  sich  selbst  den  Tod  geben.  Ebenso  war  es 
Sitte,  dafs  alle,  die  eine  ^e\ns?e  Altersjjrenze  überschritten  hatten,  freiwillig 
ihrem  Leben  ein  Ende  machten,  indem  sjie  sieh  auf  eine  Pflanze  lagerten, 
deren  betäubender  Duft  durch  einen  sanften  Schlaf  unvermerkt  in  den  Tod 
hinüber  leitete.  Wus  Jambulos  Honst  über  die  wundersamen  physischen  Eigen- 
schaften und  Fertigkeiten  der  Menschen-  und  Tierwelt  fiibuliert,  können  wir 
fibergehen.  Nur  der  wunderbaren  abgeriebteten  Vögel  sei  hier  gedaeht,  deren 
sich  die  Insulaner  bedienim,  um  Hut  nnd  Kraft  Uurer  Kinder  wa  prOfisn.  Bald 
ssdi  der  Geburt  wird  lüimlieh  jedes  Kind  auf  einen  solchen  Vogel  gesetst  nnd 
disser  dann  fliege  gelassen.  Die  Kinder,  die  den  Flug  aushalten,  werden 
sll%eM^en  nnd  so  die  Kasse  stets  kräftig  erhalten. 

Diese  in  der  Schilderung  der  Landessitte  hervortretenden  Eigentümlich- 
keiten werfen  auch  bereits  ein  heUes  Licht  anf  die  grundlegenden  Prinzipien, 
auf  denen  sich  das  ganze  Gemeinwesen  aufbaut.  Dm  Sozial prinzip,  das 
Geraeinschaftsint^resse  ist  hier  die  aUbeherrscheiide  tiruudnorm  des  öffentlichen 
uiid  privaten  Lebens,  der  sich  da»  Individuum,  sei  es  unter  dem  Druck  des 
Gesetaes,      es  in  freier  Ergebnng,  unbedingt  unterordnei 

Waa  sdion  Flsto  als  höchstes  Ideal  für  den  besten  Staat  angestellt  hat» 


•nri»  ihre  kreiifilniiige  Gestalt  Uogt  offenbar  mit  dem  Plsaeleadieovi  sotaaimen,  ebeaio 
die  eifrige  BeacbMltigiuig  d«r  buulaner  mit  der  Sternkunde.  Auch  in  ameren  Sonalromanen 

findet  sich  diese  Beziehung  7ur  Sonne.  7  K  in  (\om  'Sonnen«?taat.'  Campanellft"»  'ind  in  df>r 
Gtaduchte  der  Sevarambier  von  Vairasae.  Hier  wird  der  äonnenkult  damit  motiviert,  data 
er  ^ben  die  ursprflnglidute  und  allgemeoiMte  aller  Religiooen  geweeen  sei.  —  MOglidi» 
dafg  auch  Rcliun  für  Jambulos  dieHer  Gesichtt^punkt  mit  bestimmend  war,  dafs  ihm  der 
SonnenkuU  uls  dif  'natürlichste'  Religion  am  besten  fnr  neaellBchaftsideal  zu  passen 
ichiea,  weicht;«  ja  iuuglich«t  das  NaturgemäDse  verwirklichen  aoilte.  —  Den  urBprünglichen 
A&knfipfungspunkt  gab  allerdinge  die  Lage  dieser  und  anderer  glfldneliger  Inseln  (vgL 

Soenenstrom  Pnnchäas  bei  Diod.  V  44)  in  dem  nach  griedtiicher  Aneehanang  der 
Spime  xun&cbst  gelegenen  'äufseren'  Meer*» 

')  übrigens  ist  hier  Jambulos  weniger  phantastisch,  ab  sein  moderner  Nachahmer 
OiaiiitneUa«  deina  Sonnenbürger  nieht  wie  ^e  des  Jeabttlos  IM,  sondern  gar  800  Jnhre 
•beeiden. 


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198 


R.  Pöhlmauu:  Die  »ozialo  Dichtung  der  Griechen. 


die  möglichste  Yerallgemeineruug  des  kollektivistischen  Gedankens,  hier  ist  ee 
zur  That  und  Wahrheit  geworden.  Der  ganze  Sonnenstaat  ist  eine  grofse 
kommunistische  Genossenschaft  oder  vielmehr  ein  str»Mig  schemati*ch 
gegliedertes  System  solcher  (iPiioi^^fMischaften  {avaxii(iutu)^)y  deren 
Zweck  nichts  Geringeres  ist,  als  eine  vol Ikoinim  n  koiiiinunislische  Rege- 
lung des  gesamten  wirtschaftlichen  und  ^uziulen  Lebeu».  Daher  »teilt 
jeder  dieser  Verbinde  zunächst  eine  sozialistische  Organisation  der  Arbeit 
dar,  ein  System  geseUsehafilidier  Arbeit,  das  Hunderte  tüo.  Hensdien  —  jede 
Omppe  säüilt  Tierhondert  Cdpfe  —  zu  g^einaamm  planmätkigea  Znsainmen- 
wirken  Terbindei  Nach  dorn  Grundsata:  Gleiche  Arbeitspflicht  fttr  alle, 
gleiche  Beteiligung  eines  jeden  an  jeder  Art  von  Arbeit!  lösen  sich 
die  einaelnen  GenoHsen  bei  aller  Thütigkeit  gegenseitig  ab,  sodafs  jeder,  wie 
es  in  unserem  dQrftigen  Berichte  heifst,  'abwechselnd  die  anderen  bedient,  Fische 
fangt,  Handwerke  oder  Künste  ausübt,  öffentlich»'  C«'Hchäfte  besorgt'  u.  s.  w.') 
Erst  das  Grcisenaiter  entintulet  von  dieser  allgeniemcn  Dienst-  und  Arbeits- 
pflicht. Eine  Wirtschaftsorguinsation,  die  natürlich  andererseits  das  KoUektiv- 
eigentuiu  uu  sämtlichen  Produktiunämitteln  voraussetzt,  an  Grund  und  Boden 
ebenso,  wie  am  Kapital,  d.  k  an  Werkstätten  nnd  VoEratshinsem,  Werkzeugen 
nnd  Gttaten,  an  Arbeits-  nnd  Nutatieren,  an  allen  fttr  die  Produktion  nötigen 
Stoffsn  n.  8.  w.  Auch  die  Eonsmnmittd  sind  offenbar  Gemeingni  Denn  cihne 
VerstBatUchnng  der  Eonsnnunittel  mm  die  KoIlehtiTprodnktion  der  Güter  in 
der  geschilderten  Form  gar  nicht  durchführbar  gewesen,  und  noch  weniger  die 
systematische  Regelung  des  Konsums,  die  sich  mit  dieser  Organisation 
der  Arbeit  verband.  Denn  'all  das,  was  sich  auf  die  Eniiilirung  bezieht,  bat 
hier  ebenfalls  eine  bestimmte  Ordnung'.  Wie  alle  der  Reihe  nach  gleichartig 
produzieren,  hü  sollen  nuch  alle  gleicharti^r  genielsen.  Es  ist  für  die  Ein- 
nahme der  Mahlzeiten  eine  bestimmte  Zeit  durch  das  Gesetz  vorjj;esehrieben, 
ebentio  ist  für  jeden  Tag  nur  eine  bestimmte  Gattung  von  Speisen  gestattet,  so- 
dals,  offenbar  im  Interesse  einer  möglichst  naturgemaisen  Ernährung,  ein 
regelmalsig«-  Wechsel  von  ▼egptabüisdier  nnd  Eleischnahnmg  stattfindet. 

Es  ist,  als  ob  die  Bfliger  des  Sonnenstaates  ihr  Gemeinwesen  nach  dem 
Programm  geordnet  Imtten,  das  die  soaialistische  Arbeiterpartei  Dentsdüands 
1875  an^gestellt  hat.  Was  hier  für  die  Zukunft  gefordert  wird,  haben  sie 
längst  irerwirklicht!  'Der  Gesellschaft,  d.  h.  allen  ihren  Gliedern,  gehört  das 
gesamte  Arbeitf]>rodukt  l)ei  allgemeiner  Arbeitspflicht  nach  gleichem  Rech^ 
jedem  nach  seinen  venmuftgemälsen  Bedürfiiissen.*  —  'Die  Befreiung  der 
Aibeit  erfordert  die  Verwandlung  der  Arbeitsmittel  in  Gemeingut  der  Gesell- 
schaft und  die  genossenschaftliche  Hegelung  der  gesamten  Arbeit  mit  gemein- 
nütziger Verwendung  und  gerechter  Verteilung  des  Arbeitsertrags'  (Gothaer 


•)  Sie  erinnern  an  die  Phylarcbien  der  ütopia,  die  nsuKiiiieu  der  Sevarambier. 
*)  Diodor  II  69, 6:  ivaUä^  di  scitovg  xoif^  fikv  iUrikmi  diaxovtip,  tovs  8k  aluveiv,  tovg 
9k  «isl  ««»  rigfag  ffvcn,  SiXovt  M        £UUe  x&v  xon^H^^^  i:<fxoltIa9ttt,  tovs  i"  in  ift(n6999 


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fi.  PoUinaiui:  Die  «oxiale  Diehlnng  der  Orieclum. 


199 


Programm  §  1).  Selbst  liif  Ik'ijcluiiir  des  Kiuisuiuü  bedeutet  keinen  prin- 
zipielleu  Unterschied  gegenüber  dem  mudeiiien  Zukunftstaat.  Deuu  auch  in 
diesem  beetimmt  die  geeellsohafUiche  Behörde  das  Ausmafs  der  Bedar&iese 
«nee  jeden,  daa  als  'teniiinftgeniife'  anausehen  tat 

JamboIoB  geht  in  der  konaequenten  Ihirdifllhmng  dea  Kommiinianiiu 
logv  noch  weiter,  ala  die  aeinoi  Sonnenataat  unbewnlat  kopierenden  Qothan:. 
Er  dehnt  den  KomniuniHmus  auf  ein  Gebiet  aus,  vor  dem  deren  'Kompromiia' 
Programm'  noch  Halt  macht.  Wie  es  numliili  im  Sonnenataat  keine  geson- 
derten wirtschaftlichen  Betriebe  giebt,  so  fehlt  auch  die  sozialökonomische 
Organisationsform .  die  «lern  Souderbetrieb  entspricht,  der  Einzelhauslmlt ,  diV- 
eine  Ökonom i.^it- he  Einheit  bildende  Familie  Der  Soniu  nstaat  duldet  innerhalb 
der  grofsen,  iille  umfassenden  Qemeiiiischult  nichts,  was  irgend  ein  Sonder- 
intereääe  erzeugen,  die  (iemeiuschai'tgei'ühle  abbchwüchen  könnte;  er  verwirft 
daher  andi  grnndsitalicsh  daa  Inatitnt  der  Einaelehe  und  tna  aieh  an  Kon- 
aequenzen  ana  dieaem  Inatitat  eigiebi  *Die  Franen  sind  allen  gemeinaam', 
wie  Diodor  lakoniach  beriehtei^  ohne  ein  Wort  zur  niheren  Gharakteriatik  hin- 
tosofllgeii.^)  Doch  ergiebt  aich  fUr  uns  wenigstens  Sinn  und  Tendens  dieaer 
FVauengemeinschaft  zur  Genüge  daraus,  dalls  es  eben  das  Gempinschaftintereaae 
ist,  nicht  das  Genufsstreben  des  Einzelindividuums,  dem  sie  ihren  Ursprung 
verdankt.  Wir  haben  hier  ja  ein  Volk  vor  unn,  das  «jerade  durch  weise  Selbst 
beschränkung,  durch  MafHhaltfn  im  Genie&en,  dureh  sittliche  Reinheit  den 
schrofi'sten  Gewnsjitz  zu  dem  moralischen  Verderben  unserer  Kulturwelt  dar- 
ätellt  und  dalier  nicht  einmal  die  beiden  aus  dieser  bösen  Weit  stammenden 
Fremdlinge  auf  die  Dauer  unter  sich  dulden  will,  in  der  Besorgnis,  es  könnten 
dareh  sie 'Keime  des  Böaen  verpflanst  werden.  Jambuloe  tuid  aeitt  Begleiter 
mflnen  nach  sieben  Jahren  unfreiwillig  daa  Land  verlaeaen,  weil  sie  unheilbar 
vardarbt  seien  und  die  in  d^  alten  Oeaellachaft  eingeimpften  Sitten  nidbit  mehr 
ablegt  könnten.*)  Die  Frauengemeinschaft  eines  solchen  Volkes  kann  nicht 
10  gestaltet  geweeen  sein,  daCs  bei  ihr  möglichst  die  Sinnengier  des  Indivi- 
duums ihre  Sättigung  fand,  d.  h.  es  kann  sich  nicht  um  die  Anerkennung  des 
Grundsatzes  gehandelt  haben,  dafs  jeder  Mann  aller  Weiber,  jedes  Weib  aller 
Männer  genief^en  soll,  aondem  eben  nur  darum,  dafs  kein  Mann  ein  Weib, 
kein  Weib  einen  Mann  eich  eigen  nenne,  damit  diis  Le)jeiis])rinzip  des  Ganr^n, 
der  Geist  der  Eintracht  und  Brüderlichkeit,  nicht  gefährdet  werde.  Diesem 
Pnnzip  zu  Liebe  weiden  auch  die  Kinder  ala  'KinÄer  der  Oemeinachaft'  ge- 


Diod.  n  60, 1:  Ag  ntauiiffovs  %eA  now^ftts  i^t«fuX9  <w>wtdy«tjylr»pg.  —  Nebenbei  be* 

mihtf  trä^  hier  Jambulos  dieselbe  Lehre  vor,  wie  Hennann  Bahr  in  teinem  Drama  'Die 
n«iifn  Menschen'.  Das  SchickBul  des  .Tambnlos  im  Sonncnland  beweiat,  dafs  ea,  um  mit  Bahr 
>u  reden,  nie  glücken  wird,  die  Menschen  der  alten  Zeit  neuen  VerhlUtiussea  ausupauen, 
vom  nicht  vosher  Mhon  unter  den  alten  yerbUtiÜMwn  neue  Heasehen  henmgebfldet 
werden.  Die  Memsohen  stocken  zu  tief  in  all  dem  Alten.  Sie  vcrmOgen  nicht,  aich  ^nz- 
lich  davon  loaznngen;  und  je  stolaer  aie  sich  eine  Zeit  lang  darfiber  arhobeo,  desto  h&rter 
iat  ihr  Fall 


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200 


R.  Pöhlmann:  Die  soziale  Dichtung  der  Griechen. 


meinsain  erzogen  und,  um  ein  gleichmäfsiges  Wohlwollen  aller  gegen  alle  zu 
erzielen,  sogar  die  Mütter  im  ungewissen  über  die  eigenen  Kinder  erhalten, 
was  man  dadurch  erreicht,  dafs  eine  öftere  Vertauschung  der  Neugeborenen 
von  Seiten  der  Wärterinnen  stattfindet! 

So  kennt  man  in  der  That,  wie  Diodor  am  Schlüsse  seiner  kurzen  An- 
deutungen über  den  Gegenstand  bemerkt,  bei  diesen  Menschen  kein  ehrgeiziges 
und  selbstsüchtiges  Sonderstreben.  Allgemein  ist  als  höchstes  Gut  die  Ein- 
tracht anerkannt,  und  in  ungetrübter  Harmonie  verfliefst  ihr  Dasein.*)  Das 
Ideal  eines  wahrhaft  sozialen  Lebens  ist  hier  Wirklichkeit  geworden,  eine 
Gemeinschaft,  in  der  die  Zwecke  aller  von  allen  gleichmäfsig  in  brüderlicher 
Übereinstimmung  verfolgt  werden. 

Daher  fügen  sich  auch  alle  in  die  strenge  Unterordnung  unter  die  starke 
einheitliche  Leitung,  ohne  welche  ja  die  ganze  Organisation  überhaupt  nicht 
durchführbar  gewesen  wäre.')  Der  Kollektivismus  des  Sonnenstaates  ist  ein 
streng  autoritärer.  Für  die  soziale  Wirtschaftführung  seiner  kommunistischen 
Genossenschaften  besteht  ein  Zentralorgan,  ein  'Hegemon',  dessen  Machtvoll- 
kommenheit eine  lebenslängliche  ist  und  daher  von  Diodor  mit  der  monarchischen 
Gewalt  verglichen  vrird. ')  Er  ist  offenbar  der  Organisator  der  Arbeit  für 
die  ganze  Genossenschaft.  Auch  wird  dieses  Amt  nicht  durch  Wahl  von 
Seiten  der  Genossenschaftsmitglieder  besetzt,  woraus  Rivalität  und  Parteiung  ent- 
stehen könnte,  sondern  der  jeweilig  Alteste  der  Genossenschaft  ist  auch  ihr  Leiter.*) 

Das  Glück,  das  die  Bürger  dieser  Hingebung  an  die  Gemeinschaft  ver- 
danken, ist  ein  grofses,  es  ist  die  Befreiung  von  dem  Übermafs  des  Arbeits- 
druckes, der  auf  der  übrigen  Menschheit  lastet.  Was  Thomas  Morus,  Cam- 
panella und  Marx  von  der  Beseitigung  der  kapitalistischen  Produktionsform 

*)  n  68,  1 :  Siöntg  {iridtni&g  naQ  ainoTs  '/ivo(i{vTie  tptloxtfiiag  itnatnämovs  xal  rijv 
6u6votav  JTfpi  TtlfLarov  Ttoiovfiivovg  diartltlv. 

*)  Auch  die  planmärtfige  Produktion  der  kommuniBtischen  OeselUchafl  des  modernen 
MarxismuH  ist  ja  nicht  möglich  ohne  absolute  Aufhebung  der  Freiheit  der  Arbeit. 

')  II  f)8,  6:  inäerov  at>art](iaTos  6  jtQeaßvrtQOs  asl  rijv  rjYfftoviav  Ixit,  xoc^dwfp  rif 
ßueiXtvs,  %al  xovxm  Ttuvra  Ttii^ovrai. 

*)  Was  die  Frage  nach  der  Regierung  des  Gesamtstaates  betriflft  ,  von  der  wir  nichts 
erfahren,  so  nimmt  Rohde  (S.  240)  an,  dafs  'alle  übrigen  Verhilltnisse  des  Leben»  in  keiner 
Weise  geregelt  und  in  bestimmte  Ordnungen  eingeschlossen'  gewesen  seien.  Alles  gehe 
hier  so  zu,  wie  es  sich  bei  einem  Verfolgen  der  primitivsten  Naturtriebe  in  einer  durchaus 
noch  unorganisierten,  durch  die  glücklichsten  Naturverhältnisse  aber  vor  wilden  Ausbrüchen 
der  Not  und  Selbstsucht  bewahrten  Menschenmenge  ganz  von  selbst  machen  würde,  ein 
Zustand,  der  völlig  dem  Ideale  entspreche,  wie  es  Cynismus  und  Stoa  aufgestellt  hatten.  — 
Ich  will  meinerseits  die  Möglichkeit,  dafs  das  ganze  ideale  Gemeinwesen  nur  als  Komplex 
friedlich  nebeneinander  lebender  Genossenschaften  ohne  einheitliche  Spitze  gedacht  ist, 
nicht  in  Abrede  stellen.  Doch  geht  Kohde  insofern  zu  weit,  als  er  von  einer  'noch  durch- 
aus unorganisierten  Menschenmenge*  spricht  Davon  kann  doch  angesichts  der  Kollektiv- 
wirtschaft der  Sonnenbürger  nicht  die  Rede  sein.  Diese  sind  überhaupt,  wie  ja  auch 
ihre  wissenschaftliche  Betbätigung  beweist,  in  viel  höherem  Grade  Kulturmenschen,  als  es 
bei  Rohde  den  Anschein  hat.  liohde  verftlllt  hier  in  denselben  Irrtum,  wie  die  meisten 
modernen  Beurteiler  der  Utopier,  in  denen  sie  auch  viel  zu  sehr  die  'Naturkinder*  sehen, 
wie  Dietzel  la  a.  0.  Vierteljahrsschr.  III  S.  396)  mit  Recht  bemerkt. 


B.  Pdhhiuuui:  Die  lOEiale  Dicbtong  der  Griechen. 


201 


erwarten,  die  Besehränkting  des  Arbeitstages  auf  die  notwendige  Arbeit,  der 
Konimunistenstaat  des  Jambulos  hat  es  bereits  in  idealer  Weise  verwirklicht. 
Jene  gleichmafsige  Verteilung  der  Arb<»it  unter  alle  werkfähigeii  «ilieder  der 
Gesellschaft,  von  der  der  Marxismus  t  int'  su  giofue  Abkürzung  der  Arbeitszeit 
erhofft,  sie  h&tte  nicht  radikaler  durchgefabrt  sein  k5nnen.  Hier  war  M  von 
fonberein  ansgeedilossen,  dab  'eine  GeeellBchaftschidit  die  Natuntotwendig- 
keit  der  Arbeit  toh  eidi  aelbat  ab-  und  eineac  anderen  Sehidii  znwalaen  kann*. 
Hier  wnrde  daher  andi  nieht,  wie  nach  der  Marxechen  Anaidit  in  dnr  kapi- 
tdiafeischen  Gesellschaft,  'freie  2ieit  für  eine  Klasse  produziert  durch  Verwand- 
lung aller  Lebenszeit  der  Masse  in  Arbeitszeit'.*)  Da  im  Sonnenstaat  alle 
nützlich  beschäftigt  sind,  also  keine  Arbeitskraft  ungenützt  bleibt,  da  anderer- 
seits die  üppige  I'rodiiktivkiafl  der  Landesnntur  den  Arbeitsbedarf  vermindert, 
90  ist  hier  in  der  Thut  der  zur  iiiatpriellcii  Produktion  notwendige  Teil  des 
gesellscluiftlifhen  Arbeittages'  ein  aufserordeiitlicli  geringer,  der  Tür  freie 
geistige  und  gesellschaftliche  Hethütigung  der  Individuen  eroberte  Zeitteil  um 
so  gro&er*.  IMe  Möglic^eit  geistiger  VerroUkornnmiing,  der  freien  Ent&lhmg 
der  Yemunll^  woranf  hier,  ganz  wie  in  der  Utopia,  der  grölate  Wert  gelegt  wird^, 
ftoht  jedem  offim,  der  Lnst  und  Talent  dasu  hai  Und  ebenso  erfrenen  eidi 
alte  limttiigliiJi«'  Mulee,  nm  sich  einer  edlen  Geeelligkelt  und  den  PVenden 
eines  idyllischen  Natiirgenussea  hingeben  an  können,  die  an  das  Leben  in  den 
eljsischen  Gefilden  erinnert. 

So  hat  der  Sonnenstaat  längst  das  vorweggenommen,  was  der  Marxismus 
nach  zwei  Jahrtausenden  als  Ergebnis  neuester  sozial  theoretischer  Erkenntnis 
rühmt:  'Indem  sich  die  Gesellschaft  zur  Herrin  der  sämtlichen  Produktions- 
mittel macht,  um  sie  gesellschaftlich  planmäfsig  zu  verwenden,  vernichtet  sie 
die  bisherige  Knechtung  der  Menschen  unter  ihre  eigenen  Produktionsmittel. 
IMe  OeuUadiaft  kann  aieb  nicht  befreien,  ohne  dab  jeder  Einzelne  befreit 
wird.  Die  alte  Produktionaweiae  mofs  alao  von  Grand  aus  umgeDrofait  werden, 
und  namentiidi  muia  die  alte  Teilung  der  Arbeit  yenchwinden.  An  ihre  Stelle 
muCs  eine  Organisation  der  Produktion  treten,  in  welcher ...  die  produktive  Arbeit 
statt  Mittel  der  Knechtung  Mittel  der  Befreiung  der  Menschen  wird,  indem 
sie  jedem  Einzelnen  die  Gelegenheit  bietet,  seine  sämtlichen  Fähigkeiten,  körper- 
liche wie  rjeistii^e.  nach  allen  Richtungen  hin  auaanbilden  und  su  bethätigen, 
und  »o  aus  « r  Last  eine  Lint  wird.'') 

Der  Gedanke  einer  solchen  Befreiung  des  Individuums  lag  ja  gerade  der 
Epoche  den  Hellenismus  ganz  besonders  nahe.  Jene  harmoniäche  Vereinigung 
von  öffentlichen  und  priTatwirtschaftlicher  Thätigkcit,  jene  Teilnahme  aller 
Borger  am  politischen  Leben,  die  im  demokratischen  Stadtstaat  den  Einzelnen 
immer  wieder  Aber  den  engen  Kreis  seiner  privaten  Existenz  hinausgehobm 
hatte,  sie  war  im  Rahmen  der  neuen  Monarchien  in  diesor  Weise  nicht  mehr 

')  Marx,  Kapital  1*  541. 

M  ittQoloYucg  ml. 

*)  fngeli,  Anti-DOhring  &  816  f. 


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202 


B.  FOUnuttni:  IHe  8(wi«le  Diehtang  d«r  Grieoheu. 


möglich.  Im  Qrofsstaat  dea  Hellenismus  sind  diese  Beziehungen  Kwischen 
Individuum  und  Staat  zerrissen.  Der  Einzelne  kann  sich  nicht  mehr  als  der 
Bttrg^  eines  toh  ihm  mitregierten  Oemeinwefleofl  fBhlen  und  siebt  sich  mehr 
tmd  mehr  auf  sieh  selbst  surflekgewies^  Überhsupt  erseheint  die  ganse  Ibit> 
wiekelmig  des  Hellenismus  in  Politik  und  Verwaltung  wie  im  sooddkononu- 
sehen  und  geistigen  Lehen  auf  eine  Steigerung  dieser  individualistischen  Tendenz 
angelegt.  Mit  der  technischen  Durclibildung  der  Administration^  mit  dem  tech- 
nischen Fortschritt  in  allen  Zweigen  der  Volkswirtschaft  machte  die  Arbeita- 
teilnng  weitere  gewaltige  Fortschritte.  Wer  sich  in  dieser  vielfach  ganx 
modernen  Gesellschaft  durchringen  und  behaupten  wollte,  niufste  auf  eine  mög- 
lichst iiidividuellü  Ausbildung  bedacht  sein.  Die  Soudcrung  der  Berufe,  der 
Individualitäten  wird  eine  weit  intensivere  als  bisher.  *Mau  ist  nicht  mehr  in 
erster  Linie  Mensch  und  Bürger,  sondern  erst  Soldat,  Beamter,  Gelehrter  u.  s.  w.' 

Aber  die  tief  im  bdlenisdiwi  Geistesleb^  wuxselnde  Sehnsndit  nach  hax- 
moniseher  Entfidtung  Persönlichkeit  ist  damit  nidkt  beseitigt.  Im  Gegen- 
teil, sie  wird  um  so  lebhafter,  je  mehr  die  Schwierigkeiten  sunebmen,  die  ibr 
die  Yerluhltnisse  entgegenstellten.  'Dahw  das  Ibiteresse,  das  man  jetat  an 
andern  Berufen  nimmt,  das  Interesse  an  andern  scharf  ausgepragi<?n  Indivi- 
dualitaten, wie  wir  es  in  der  Kunst  dieser  Zeit  finden.  En  ist  der  Trieb,  das 
einseitige  Selbst  aus  Fremdem  zu  ergfinzen'.*)  Und  ans  der  tiefen  Empfindung 
für  diese  Einseitigkeit  erwächst  dann  ganz  naturgemiils  ein  Gesellschaftsideal, 
das  die  Ausbildung  des  ganzen  Meiisjcben  proklamiert  und  zwar  im  Sinne  mög- 
lichst allseitiger,  geistiger  und  köi-perlicher  Bethätigung. 

Denn  auch  in  Bezug  auf  diese  letztere  Seite  menschlichen  Wirkens  ist  in 
der  Lebensanschanang  des  bdlenistischen  Knltnrmensdien  ein  merkwOrdiger 
Wandd  erkennbar.  Wir  befinden  uns  in  der  Epodie  dar  Grols-  und  W^t- 
sttdte,  wo  politische  Zentralisation,  Welthandel  und  Industrie  die  stidtisdie 
Kultur  SU  höchst»  Entfiiltung  brachten,  wo  daher  audi  bald  die  MühstSnde 
an  Tage  traten,  die  grofsstadtische  Menschcnanhaufung  und  das  Raffinement 
qMlifisch  stadtischer  Kultur  immer  zur  Folge  haben.  Eine  neue  Einseitigkeit, 
die  auch  als  solche  empfunden  wurde  und  jene  modern  sentimentale  Sehn- 
sucht nach  der  Natur  und  der  'Unschuld'  der  Natur  hervorrief,  wie  sie  uns 
in  einer  neuen,  für  die  Zeit  recht  eigentlicii  t  liarakteristischen  Litterafcur- 
gattung,  im  bukolischen  Idyll  entgegentritt.  Diu  Berufe,  die  den  Menschen  in 
unmittelbarer  Berührung  mit  der  Natur  erhalten,  das  Leben  von  Landleutcu, 
Hirtel,  Jägern,  Fisdient  in  seiner  genügsamen  Ein&ehheit,  Friedlichkeit  und 
'NatOirlicbkeit*  gewinnt  für  den  kaltnrflber^ttigten  Stidter  einen  eigenartigen 
Beis.  Aus  diesem  Erdse  entnimmt  das  Idyll  Tomelimlich  seine  Stoflb;  und 
die  Kunst  schlie&t  sieb  diesem  Zuge  an,  wie  die  aahlreidien  Hirten«  und 
FischwdarsteUungen  beweisen,  die  auf  diese  Periode  curflckEufHlireii  Bind.f) 


Nadi  der  treffenden  Bemeikiiuif  vou  Fortwingler  in  niaeoi  Batwaif  einer  QeMüdchte 

der  Genrcbildncrci  hei  den  Qriccboii  iDcr  Domauszieher  und  der  Kbsbe  nüt  der  Gans)  8. 60. 
*)  Foitwänglcr  u.  a.  0.      *;  Ebd.  S.  67. 


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R.  PöUmum:  Die  MMÖale  Dichtung  der  Griechen. 


808 


So  ist  denn  nur  diu  letzt«  Konse(iut>ii/.  einer  weitverbreiteten  Zeit- 
Stimmung,  wenn  in  dein  Sunnenstaat  des  Jambulos  wirklich  Ernst  darait  ge- 
macht wird,  den  dem  hellenistiichen  Grofsstädter  verloren  geengt  neu  Zu- 
sammenhanir  mit  der  Natur  in  radikalster  Weise  eben  dadurch  herzuätellen, 
d&ßi  auch  der  Gelehrte  abwechselnd  ein&cher  Arbeiter,  Landmaim,  Fiadier  a.  w. 
vird.  Diiait  ist  zugleich  der  Gegenssts  Ton  Kultur  und  Natur  oder  von  Stadt 
und  Land  beseitigt.  Denn  das  *  Leben  auf  Wiesen'^  dessen  sieh  nach  der  An- 
deatong  IModors  die  Bttrger  des  Sonnensiaates  erfreuen^),  ist  ohne  eine  T^lige 
Ansgleichung  dieses  Unterschiedes  nicht  denkbar.  Li  diesem  Ergebnis  berührt 
giich  flbrigens  der  Sonnenstaat  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  mit  dem 
modernen  SozialisT'm«  der  ja  ebenfalls  durch  eine  Vpreinigimg  dor  gewerb- 
lichen mit  der  ländiahea  Arbeit  dm  Gegensatz  von  Stadt  und  Land  möglichst 
zu  beseitigen  wünscht. 

Hat  Jambulos  wohl  selbst  im  die  Möglichkeit  geglaubt,  dai's  die  Institutionen 
dieätiü  seligen  Sonnenreiches,  deren  rein  utopischer  Charakter  für  ein  klares 
ond  nQchtemes  sozialdkonomisches  Denken  keinen  Angenblick  zweifelhaft  sein 
ksnn,  die  YerpÜanzung  in  die  Wirklichkeit  vertn^n  könnten?  Ist  die  märchen- 
hafte NatuTi  in  die  er  seine  Sonnenbflrger  Tersetst,  nnd  der  Tollkommme 
IfenichentTpns,  den  sie  repiSsentierai,  die  nnenÜkdirlidie  Yoransseknng  ihrer 
idealen  Wirtschafts-  und  Gesellschaftsordnung,  und  dah«r  diese  selbst  von  ihm 
auch  nur  ab  dn  reinem  .Märchen  gedacht^  wie  die  ganxe  Erzählung  in  die  ihre 
Schilderung  eingefiigt  istV 

So  viel  ist  ja  klar:  in  den  VVundergeschiclitcn ,  die  Jambulos  von  t^einer 
glückliehen  Insel  auftisclit,  zeigt  er  ^ieh  unverkennl)ar  als  der  Fabulist,  der 
um  jeden  Preis  ein  senstitjonslüstemes  Publikum  zu  befriedigen  sucht.  Allein 
andererseits  ist  auch  zu  bedenken,  dafs  so,  wie  nun  einmal  der  Reiseroman 
ttdi  entwickelt  hatte,  jedes  spätere  Erzeugnis  dieser  Gattung  auf  eine  starke 
Wirkung  nnr  rechnoa  durfte^  w&m  es  die  früheren  in  der  ffilulung  des  8en^ 
astioneUen  womdglicih  nodi  ttberboi  Schon  in  Besng  auf  die  bekannten 
Alexanderromane  in  Briefen,  die  alter  Bind  als  Jambulos,  hat  man  mit 
Recht  bemerkt,  dals  zumal  der  weniger  gebildete  Leser  eben  solche  gröbere 
Ware  haben  wollte.  Wenn  Alexander  nun  einmal  nach  Indien  kam,  mufste 
er  dort  auch  ordentliche,  Imndfe.ste  Wunder  erleben*),  denn  die  populäre  An- 
schauung über  Indien  wurde  dureh  ein  'ausschweifendes,  im  Teratologischen 
schwelgendes  Fabelbueh' •') ,  das  des  Ktesias,  lieherrscht.  Wif  hätte  da  ein 
Autor,  der  ebeu  ein  im  Bereiche  des  indischen  Wunderlandes  gelegeues 
Fsiadies  schilderte,  auf  solche  Beizmittel  der  damaligHi  Bimianteeluuk  ver- 
zkhten  können,  wenn  er  eben  nidit  ein  Snhemeros  war,  der  als  ausgesprochener 
Bationslist  soldie  handÜMte  Wunder  natOrlich  nicht  gebranchen  konnte?  Hat 
doch  audi  Hekaüos,  bei  dem  eine  ernste  Tendena  unTttkennbar  ▼orliegt,  in 


')  ttitovg  h  mee  UtfiSn  dut^  heifrt  es  bei  Diodor  H  ST.  Tgl.  ttbiigeits  audi  die 

IiUtdachafUschildeniug  bei  Euhemeros  ebd.  V  43. 

*}  Schwarkz,  OtiechiMsher  lionuu  S.  »7.      *)  £bd.  S  8S. 


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204 


R.  PSUmmi:  Die  aosUle  Didutong  der  Chiedien. 


seinem  Hyperboreerroman  dieser  Zeitinode  die  weitestgehenden  Zugeständnisse 
gemacht  und  ein  reclit  p}i!intastiH<}H>s  Fabelbuch  geliefert!  Es  ist  also  nicht 
notwendig,  nnznnehincn,  diiis  de^wL^eii,  weil  wir  ea  auch  bei  Jambuios  mit 
einem  sülcheu  Fubeibuch  zu  thuii  haben,  die  von  ihm  geschilderte  soziale 
Utopie  weiter  nichts  ist,  als  ein  blofses  Spiel  der  Einbildungskraft  Es  kann 
sehr  wohl  eine  bestimmte  Tendenz  su  Qnmde  liegen,  ünd  in  der  That  bum 
man  eidi  selbst  dem  Berichte  Diodors  gegMiüber  des  Eindruekes  ksimi  er- 
wehren, daJs  hier  eine  Sehilderang  dessen  gegeben  werden  sollte,  was  dem 
Autor  selbst  als  das  Ideal  eines  natur-  und  vemunftgemäfsen  Lebens  vor 
Angen  schwebte^),  wwiu  dies  Ideal  für  ihn  anch  nicht  mehr  war,  als  ein 
sehdner  Traum. 

Andererseits  ist  ja  dieses  Gesellschaftsideal  keineswegs  ein  rein  individuelles 
Gedankenerzeugnis.  Es  knüpft  vielmehr  deutlich  genug  an  thatsächiich  vor- 
handene Stimmungen  und  Ideen  an.  Wie  hätte  sich  sonst  ^^Jambulos  eine 
Wirkung  auf  die  Leser  versprechen  können  V  Wie  wir  bei  einer  Reihe  von 
Zügen  seiner  novellistisflira  Einkleidung  nodi  nachweisen  k5nnen|  dab  sie  aus 
der  ihm  Torliegenden  ethnographischen  Fabellitteratur  entldmt  sind,  so  sind 
auch  in  seinem  OeseUschaftsidesl  neben  den  schon  henrorgehoboien  noch 
andere  AnkUinge  an  thatsaehlich  Torhandrae  geistige  Strömungen,  ao  s.  B.  an 
platonische,  kynische,  stoische  Ideen  unverkennbar*);  und  es  wflrde  uns  gcwifs 
noch  weit  mehr  als  Reflex  solcher  Zeitrichtungen  erseheinen,  wenn  uns  diese 
eben  genauer  bekannt  wann.  Selbst  dann  also,  wenn  wir  annehmen  wollten, 
dafs  für  Jiunbulos  persönlich  die  soziale  Utopie  seines  Romans  nur  die  Be- 
deutung einer  Kuriosität  hatte,  würde  bie  es  noch  lauge  niclit  für  die  Geschichte 
der  sozialen  Ideen  sein.  Auch  die  Art,  wie  Ktesias  von  der  üerechtigkeit 
seiner  Inder  redet,  wun^elt  nicht  in  eigener  sozialethischcr  Spekulation  —  diese 
gerechten  Inder  sind  für  ihn  gewils  nur  eine  sensationelle  Kurioeitilt  neben  so 
Tielen  anderen*)  — ;  trotsdem  ist  dieses  Gerechtigkeitsideal  das  Resultat  einer 
thatAchlich  vorhandenen  and  weitverbreiteten  sozialphilosophischen  Strömung. 
Wir  dürfen  nach  alledem  auch  den  Sonnenstaat  als  ein  bedeutsames  Zeugnis 
f{lr  die  Entwickelungsgeschichte  des  sozialistischen  Gedankens  in  der  hellenischen 
Welt  in  Anspruch  nehmen.  Er  lafst  uns  erkennen,  dafs  sich  hier  die  Ent- 
wickelnng  des  Sozialismus,  zum  Teil  wenigstens,  in  derselben  Bich« 
tungsiinie  bewegte,  wie  im  neueren  Europa. 

Man  liebt  es  gegenwärtig,  Thomas  Monis,  dem  Begründer  des  modernen 
Sozialismus,  als  Repräsentanten  des  antiken  Plato  gegenüberzustellen.*)  Was 
in  der  Utopia  zu  Plato  im  Gegensatz  steht,  soll  dann  'durdiaus  modern',  d.  h. 
der  Antike  fremd  sein.  Als  ob  der  Platonische  Staat  das  lebte  Wort  des 
antiken  Sosialtsmus,  und  die  ganze  weitere  Entwickelung,  wie  sie  uns  in  der 


>)  Auch  Hohde  ist  dieser  Ansicht.      ^)  Vgl.  Rohde  S.  231  und  240  ff. 
*)  Dsrin  itinuae  ich  Sehwarts  (8.  89)  sa. 

*)  So  z.  B.  JEbttttd^,  Thomas  Moms  8.  291  und  Zicgler  in  der  genannten  Hontt* 
ausgäbe  XXIX. 


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R.  FflUanttnii:  Dia  »otiale  Diditaiif  der  Oriedim. 


205 


sozialen  Dichtung  der  Griechen  entgegentritt,  gar  nicht  vorhanden  wäre!  So 
erscheint  es  von  diesem  Standpunkt  aus  als  etwas  ganz  Neues,  'wesentlich 
Modemes',  wenn  in  der  ütopia  die  Handarbeit  nieht  für  illiberal  gilt,  sondern 
all»  yoUbigmoaeen  wa  eb^  jen«r  baBsuatachen  Arbeit  vorpfliehtet  werden,  von 
dar  bei  Plato  die  beiden  kommoniatiBchen  Stände  befreit  sind.  Wir  aeben 
ganz  ah  Ton  der  falachen  konTentionellen  Ansidi^  als  ob  die  'Ehre  der  Arbeit* 
eine  durchaus  moderne  Errungenschaft  aei,  und  atellen  einfach  die  Frage:  Ist 
der  Gegensatz  des  Platonischen  Staates  zum  Sonnenstaat  des  Jamhulos  nicht 
mindestens  ein  ehpnso  grofser,  wio  der  zur  UtopinV  Könnte  nicht  die  moderne 
Soziaideiiioknitie  von  .lambulos  mit  «Irmsolbm  Hechte,  wie  von  Morus  sagen: 
'Der  jfrofse  (irundsat;&  der  gleichen  Arbeitsptliiht  aUer  (d.  h.,  bürgerlich'  aus- 
gedrückt, der  ungeheure  Rückschritt  des  gkuhmälisigeu  Arbeitszwanges)  ver- 
Innikt  ihn  auf  das  innigste  mit  dem  modernen  Sozialismus,  scheidet  ihn  auf 
das  atrangate  von  dem  Kommnnianma  Platoa,  der  ein  Kommoniamiia  der  Nicbt- 
arbeitar  iat?'^) 

Ja  wir  geben  noch  weiter  und  behaupten:  Vom  Standpunkt  dieaea  heutigen 
prolaterischeu  Sozialiamua  aus  ist  Morua  in  ökonomiseher  Hinsicht  sogar 

weniger  'modern',  als  sein  antiker  Vorganger.  Während  er  seine  Utopier  an 
ein  bestimmtes,  allerdings  raeist  frei  gewähltes,  Handwerk  fesselt,  von  dessen 
Betrieb  nur  die  periodisch  vor^eschrichfne  lieschäftitrnng  mit  der  Feldarbeit 
zeitweihg  entbindet,  findet  bereits  im  Sonnenstaat  de^  .iambulos  derselbe  stetige 
Wechsel  der  Arbeit  statt,  wie  im  sozialdemokratischen  Znknnftstaat.  Morus 
besitzt  doch  noch  so  viel  gesunde  bürf^erliche  Einsicht,  um  zu  erkennen,  dafs 
bat  «n^  TÖllig  gleichmüJsigen  Beteiligung  aller  an  mecbamscher  und  geistiger 
Arbeit  die  Talente  Terkfimmem,  die  beeawen  Elemente  nicht  aur  Bethätigung 
ihrer  Sjaft  kommen  würden;  und  er  ISiat  daher  in  aeiner  Utopia  eine  eigene 
Oaaae  von  Gelehrten  zu,  die  Ton  der  Handarbeit  befreit  iai  Der  mechaniache 
Konunnniamua  dagegen,  wie  er  im  Sonnenstaate  herrscht  mit  seiner  äuTaer- 
liahen  quantitativen  Gleichmachung,  kennt  diese  Ausnahme  nich^  gpma  wie  die 
moderne  Sozialdemokratie!  Jamhulos  hätte  mit  Bebel  sagen  können:  'Die 
Berufsphysiognomien,  die  unsere  ßeffelljäehaft  heute  aufweist,  sind  in  meinem 
Staat  verschwunden',  oder  mit  Kngels:  'KarrmiHchiebcr  und  Architekt  vou  Pro- 
le^äiou  werden  nicht  verewigt  werden,  s«ondern  in  einer  Person  vereinigt  sein.' 

Welch  ein  Abstand  vollends  trennt  in  dieser  gnmdlegenden  Frage  die 
letzte  hellenische  Utopie  von  der  des  Plato!  Während  dieser  das  Prinzip  der 
Albaitateilung  auf  die  Spitae  treibt  und  daher  auch  die  Konaequena  deraelben, 
die  'Niederbeugung'  oder  'Knickung*  der  Psyche,  bei  ganzen  Beruftaweigen 
und  Geaeliachafteklaaeen  als  etwaa  UnTermeidliches  hinnimmt,  achreitet  der 
Soaaliamus,  wie  er  uns  in  dem  Roman  des  Jambulos  entgegentritt^  kühn  fiber 
diese  Schranken  hinweg.  Er  will  nicht,  dafs,  um  Marxiatiach  au  reden,  der 
Ausbildung  einer  einzigen  Thätigkeit  alle  übrigen  körperlichen  und  geistigen 
Fähigkeiten  zum  OpÜBr  gebracht  werden.    £r  will  keine  'knechtende  Unter- 


V  Kautak;  ä.  292. 


806 


B.  POblmai»;  IKe  >o«i«]e  Diditong  dar  Qrieeliea. 


Ordnung  der  Individuen  unter  die  Teilung  der  Arbeit'^),  sondern  'die  absolute 
IHBponibüitilt  d«8  Henidien  fSr  weduelnde  Arb«t8«r£wdeniiBte*.')  Er  will 
wie  Marx,  'das  TeilindiTidaum,  den  Uofem  Trager  einer  geeelkchafÜichfln 
Detailfbnktioii,  durdi  das  total  enhridmlte  IndiTidmun  ersetBen,  ftlr  daa  ver- 
adiiedene  geMlladiaftliche  Fnnktioiieii  einander  ablfiaende  BetiiatigiuigsweiMn 
•ind'.')  Unbekümmert  dämm,  dafs  er  damit  thatsächlich  einen  ungeheuren 
BflckBchritt  macht,  läTst  Jarabulos  an  die  Stelle  der  Arbeitsteilung  gerade  das 
diametral  (nitgogengesetzte  OrganisationspnTizip  treten,  das  durcli  abwechselnde 
Inanspruchnuhint'  vcri^chiedener  körperlicher  und  geistiger  Kräfte  die  Arbeit 
für  alle  zu  einer  immer  wieder  von  nenem  erfrischenden  und  anregenden  ge- 
stalten und,  indem  es  den  Arbeitenden  durch  eine  Reihe  von  verschiedenen  Be- 
schäftigungen hindurchführt,  alle  in  ihm  schlummernden  Fähigkeiten  zur  £nt- 
fidtung  bringen,  ihm  gerade  die  Teilnahine  an  jenen  hdhwen  Beefcrebnngen 
ermöglichen  will,  die  mach  der  Ansieht  Platoa  den  wirtachallUdi  Arbeitendea 
nnzo^biglidi  sein  soUten. 

Hatte  Plate  die  Dinge  so  beurteilt,  wie  aie  bei  einer  Beobachtung  TOn 
oben  her  erscheinen,  so  haben  wir  hier  eine  Beurteilnng  Ton  unten  aus.  Die 
geistige  Arbeit  erscheint  hier  aus  der  erhabenoi  Stelhmg.  die  ihr  Plat«  nn 
gewiesen,  verdrängt,  die  Handarbeit  ist  ihr  sozial  durchaus  gleichge.stellt. 
Dafs  dadurch  auch  das  Niveau  der  geistigen  Arbeit  herabgedrückt  würde,  die 
wiasenHchaftliche  Leistungsfähigkeit,  um  die  sich  der  Platoiiisehe  Staat  so  eifrig 
bemüht,  bleibt  unbeachtet.  Es  Hegt  eben  bei  dieser  Betrachtung  von  unten 
offenbar^  wie  bei  unseren  modenien  Sozialisten,  eine  Anschauungsweise  zu 
Onmde,  dM  unter  Arbeit  in  erstor  Linie  nur  Ebndarbeit  mateht  nnd  geistige 
Arbeit  mehr  als  Eiholnng  und  Gennfs  ansieht. 

Was  ferner  die  Organisation  des  wirtsdiaftlidien  Arbeitslebais  betriAy 
so  mfissen  wir  ans  erinnern,  dab  Plato  Aber  dieswi  Punkt  au  einem  klaren, 
abschliefsenden  Ergebnis  überhaupt  nicht  gelangt  ist,  während  auch  hier  wieder 
JambnloB  mit  seiner  kühnen  Zeichnung  einer  streng  aatoritar,  einheitlich  und 
plaTimäfaig  geleiteten  Arbeitsgennssenschaft  rücksichtslos  die  letzten  Kon- 
sequenzen im  Sinne  des  modernen  Marxismu!*  gezogen  hat. 

Noch  in  einer  anderen  Frage,  die  den  l"to{iismus  von  jeher  lebhaft  be- 
schäftigt hat,  nähert  sich  der  Sonnenstaat  dem  modernen  Sozialismus.  Es  ist 
das  schwierige  Problem,  wer  sich  wohl  in  dem  idealen  Gemeinwesen  aur  Über- 
nahme der  niedrigsten  und  widrigsten  Arbeiten  verstehen  wird.  Für  den  Plato- 
nischen Staat  existiert  es  noeh  nidit,  weü  er  an  der  SUa^erei  festhKli  Aber 
aneh  Horns  ist  hier  noeh  so  'rflckstandig*,  dafs  er  ohne  die  Arbeit  von  Un- 
freien  nnd  gedungenen  Knechten  nicht  auskommen  zu  kdnnffli  ^nbi  Da» 
gegen  hat  es  in  dem  Sonnenstaat  des  Jambulos  Unfreie  offenbar  ebensowenig 
gegeben,  wie  im  Kronosreich.  Wenigstens  enthalt  der  Bericht  Diodors  nicht 
die  geringste  Spur  davon,  vielmehr  gewinnt  man  ans  ihm  durchaus  den  £in- 


')  ^farx,  7nr  Kritik  dos  flozialdemokrati-^chnn  ParteiprograilimB.  Nene  2eit  IX  1.  8. 661  f. 
Engels,  Auti-Dühriug  S.  310.  Ebd.  S.  318. 


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R.  FOUnaaim:  Di«  lonal«  Diehttuig  der  GfiedieiL 


207 


druck,  dafs  'das  sich  gegenseitig  Bedienen'  und  die  allgemeine  Arbeitspflicht 
der  Sonnenbürger  jegliche  Art  nützlicher  und  notwendiger  Arbeit  nmfafate, 
da&  also  auch  die  minder  angenehmen  Arbeiten  von  allen  Arl>eitäfähigen  ab- 
«eehselBd  Terrichtet  wurden,  ein  besonderer  Arbeitszwang  far  eine  be8C«Mfare, 
iienachteüigle  Ekuwe  von  Arbeitern  nieht  existierte,  —  ganz  so,  wie  es  die 
moderne  Somaldemokralae  von  ibrem  Znknnftetaat  ertxftmnt  Offenbar  wird 
TOfiosgesetBt,  dafb  jener  Geist  der  Oleiehbeit  tmd  Brfiderliebkeit,  der  alle 
Sonnenbfirger  beiiemeht,  eine  Hingebung  und  Dienstbereitschaft  erzeugt,  wie 
sie  Morus  nur  von  besonders  religiös  gestimmten,  an  Zahl  völlig  unzureichen- 
den Elementen  seiner  Utopia  erwartet.  Jedenfalls  ist  es  unberechtigt,  wenn 
man  die  Lösung,  die  (]n<  Problem  durch  Morus  gefunden  hat,  ohne  weiteres 
als  eine  antiki»'  In  /j  m  Imet')  nnd  damit  anch  dem  tiesamten  antiken  S^zialis- 
mus  die  Ansieiit  imterschiebt,  dais  <'in  ideales  (icniemwesen  nur  auf  der  Irrund- 
lage der  Sklaverei  möglich  sei.  Ka  wäre  ja  auch  zu  verwunderlich^  wenn  das 
Nudtkeoretische  Denken  der  Griechen,  das  mindestens  sdion  im  Tierten  Jahr- 
bnndert  t.  Cbr.  bei  der  grundsatslieiien  Negation  der  Sklaverei  angelangt  war'), 
gerade  b^m  Anfban  des  soaialifttiadien  Staates  dnrehweg  an  derselben  fest- 
gehalten  bitta*) 

ZweiMbaft  freilich  bleibt  die  Entscheidung  bei  einer  nicht  minder  wich- 
tigen Frage,  auf  die  uns  bereits  der  Sozialstaat  des  Euhemeroe  gefÖhrt  lirtt. 
Wir  sahen,  dafs  die  Seite  im  Platonischen  Gesellschafts  ideal,  die  es  vom  Stand- 
pnnkt  des  heutigen  Sozialismus  als  besonders  'rückständig'  und  unmodern  er- 
scheinen läfst,  die  Forderung  einer  mngliehsten  Einschränknng  der  Bedürfnisse, 
bei  jenem  Vorganger  des  Jambulos  nicht  wiederkehrt.  Dagegen  läfst  es  der 
verworrene  Bericht  Diodors  bei  diesem  letzteren  völlig  unklar,  ob  er  die  Frage 
nMhr  im  Sinne  des  Platonisdien  oder  des  modomen  Soiulismim  gslSst  wissen 
«in.  Zwar  ist  es  gerade  die  Mabigung  in  Speise  nnd  Trank,  die  die  Sonnen- 
bSiger  ansMidmet,  allein  dne  {»rimitiTe  oder  asketische  ist  deswegen  ihre  Er- 
lähmng  kemeswegs;  nnd  andi  der  moderne  SoauaUamns  Torbfirgt  ja  einem 
jßim.  nnr  ^Genoft  nach  seinem  vcmunftgemäfsen  Bedttrfen'.  Bezeichnender  ist 
sdion  —  nnd  zwar  im  Sinne  einer  Abweichung  von  dem  platonischen  Stand- 
pnnkt  — ,  daf«  der  Sonnenstaat  Öl  und  Wein  im  ÜberfluTs  erzeugt;  dagegen 
iit  wieder  völlig  ungenügend  die  Bemerkung  Diodors  üher  die  Fabrikation 
prächtiger  Purpurgewfinder,  da  nie  es  unbestimmt  läfst,  ob  es  sich  hier  nur 
um  Feierkleider  der  Sonuenbürger  handelt,  wie  sie  ja  auch  Plato  für  seine 


')  Wie  eft  Ziegler  a.  a  0.  XXX!  thiit  Übrigens  wird  diese  Cbarakteriatik  auch  Hon» 
nicht  gerecht   S.  Dietzel  a.  a.  0.  Iii  svs  f. 

*)  SdiMi  Ariitotolet  «priclit  in  der  Politik  (I  S,  S  p.  lM8b)  von  einer  Reihe  von 

T^t-nkem,  die  die  Sklaverei  als  naturwidrig  verwarfen  imd  ihre  Aofkebnng  forderten,  weil 
▼<m  Natur  jeder  zur  Freiheit  geboren  ufi     Alkidamas  auB  Elea,  ein  Schdler  des  Gorpias, 

*inl  als  Vertreter  dieser  Kicbtung  genannt.    S.  Aristoteles  Khet  1  12,  2  p.  137»  b  und 

4«  8ehoi  t.  d.  8t 

*)  übrigens  ist  in  dem  Bericht  über  den  Ideslstaat  des  Euhemeros  ebeoioweBig  von 
^v«rei  die  Ilede,  wie  in  dem  über  Jambulos. 


208 


pSUmaim:  IKe  wiia]»  Diehtnag  der  Oriech«!!. 


Mc^eten  und  Morus  fflr  seine  Utopier  zulaXat,  die  im  Übrigen  mit  einfarb^^ 
Wollenkleidern  oder  Fellen  vorliebndunen  wlleeaa.  Über  die  sonstige  gewerb- 
liche Frodoktion  ToUenda  erlahren  wir  gar  nichte  und  können  dalur  nidit  be- 
nrtoileny  inwieweit  der  grofse  ünteraefaied,  der  nach  Diodor  awiachen  der  Lebena- 

weise  der  Sonnenbürger  und  derjenigen  der  flbrigcn  Menschheit  beatehf),  sich 
auch  auf  dieses  Gebiet  erstreckt,  ob  hier  nur  nn  die  Auaschliefsung  von  Aber- 
trif'benom  Luxus  gedacht  ist  oder  an  die  Rückkehr  zn  einem  älteren  Stadium 
der  handwerkamäfsigen  und  kunstgewerblichen  Produktion,  wie  ee  Plate  im 
Auge  hatte. 

Doch  sei  dem,  wie  ihm  wolle;  mag  in  die«iem  Punkt  der  Soiinenstaat  dem 
lUüdern&n  äoziuliäuiuä  näher  odt^r  ferner  ütehen,  mag  er  in  anderen,  die  bich 
unserer  Kenntnis  entaiehen,  weit  von  demselben  abgewichen  sein,  soviel  fiUst 
uns  das  QeseUschaftsideal  des  Jambulos,  wie  flbrigens  schon  das  des  Babemeros, 
deutiieh  erkennen,  dafo  der  moderne  XTtopismus  im  letsimi  Grunde  nieht  in  der 
Utopia  des  Morns  wunel^  sondern  seine  Vorbilder  schon  in  der  aoaialen 
Dichtung  der  Griechen  hat.')  Schon  von  dem  griechischen  Staatsrom<m 
gilt,  was  man  von  Morus  gesagt  hat:  '£r  hat  ein  Programm  angestellt,  das 
heute  in  wesentlichen  Zügen  das  Programm  einer  j^ofsen  und  mächtigen  l'artei 
geworfifn  isf  und  zur  Stunde  uns  alle,  Feind  und  Freund,  be^^eliäftigt."  ^  t  Dabei 
i»t  cb  von  höchstem  Interesse,  zu  l)eobaehten,  wie  der  kühne  Gedankentiug 
hellenistischer  Denker  in  der  VorausTialune  scheinbar  'ganz  modemer'  Ideen 
selbst  jene  Schranken  durchbricht,  welche  nach  der  Ansicht  der  heutigen 
soBialistischM  Doktrin  vor  den  Zeiten  modemer  'Grolhprodnktion*  und  wissen- 
schafHicher  Technik  der  soaialtheoretischen  Spekulation  unttberschreitbar  ge- 
wesen sein  sollen. 

Nach  dieser  Doktrin  kann  eine  harmonische  Ordnung  der  individuellen 
Thätigkeit,  d.  h.  die  Möglichkeit,  den  Arbeitenden  mit  seinen  Arbeiten  in 
rationeller  Weise  wechseln  zu  lassen,  erst  das  Ergebnis  jener  Vereinfachung 
der  einzelnen  Arbeitsakte  und  Handgriffe  sein,  wie  sie  durch  den  modenien 
Maschinenbetrieb  herbeigeführt  wird,  während  im  Handwerk  bei  der  Mannig- 
faltigkeit seiner  Verrichtungen  die  Kettung  an  ein  bestimmtes  Gewerbe  von 
Jugend  aui"  eine  technische  Notwendigkeit  sei,  und  selbst  in  der  kapitalistischen 
Manu&ktur,  die  dodi  den  F^uktionsprocefo  schon  in  verschiedene,  je  einem 
Arbeiter  ständig  zugewiesene  und  daher  rascher  erlernbare  Teilarbeitea  zerlegt, 
der  Arbeiter  fOr  lingere  Zeit  an  seine  Tdlarbeit  gefenelt  werden  mtsse^  wenn 

*)  Ii  Ö6. 

*)  Dah  flbrigens  Bcihoii  Mortu  die  Berichte  Diodoc«  Aber  die  «ttislaa  des 

EuhemeroH  und  Jambtdo«  gekeimt  hai,  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Lag  doch  bereiti  Mit  14Tt 

eine  lati'iiiische  ("luTsctzunp  Diodor»  nm  der  Feder  Pog^os  gedruckt  vor.  Welches  Inter- 
esse inabesoadere  dem  Kornau  des  Jambalo«  von  der  Zeit  entgegcugfebracht  wurde,  be- 
weisen die  frsnzOdieben  vnd  itaUeB»ehen  Übersetzungen  und  Separatausgaben,  die  von 
den  betreffenden  Absehnitten  Dlodets  im  16.  Jahrhundert  veiaailaltet  wurden.  «S.  den 
KataIo<r  <!•  s  t  rit  MuseooMO  der  EünflnA  auf  Csanpsaella  ist  Ja,  wie  schon  banerktf 
ganz  unverkennbar. 

*)  Zieglcr,  Thomas  Morus  XXXV. 


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B.  PSUmami:  Di«  iodale  Diehtunf?  der  Griechen.'  209 

er  die  notige  Geschicklichkeit  erlangen,  nnd  seine  Arbeit  so  produktiv  als 
möglich  werden  soll.  Daraus  wird  geschlossen,  dafs  aller  Hltoro  Sozialismus 
bei  jener  'unmodernen'  Organisation  der  Arheit,  wie  wir  sie  in  der  üto])ia 
finden,  d.  h.  bei  der  Fesselung  jedes  Menschen  an  ein  bestimmtes  Handwerk, 
habe  stehen  bleiben  müssen.  Dies  sei  die  notwendige  Konsequenz  der  Pro- 
duktionsweise gewesen,  von  der  dieser  ältere  ScK&ialismua  ausging  und  ausgehen 
mttbte.^) 

Li  der  Thai,  wenn  ee  richtig  ifSare,  was  die  liier  m  Qnmde  liegoide 
Qeadiiditaanticht,  die  Erolntiomitheorie  des  MarziemnBy  annimmi,  d.  h.  wenn 

allo  gesellschaftlichen  BewuTstseinsformen,  überhaupt  das  gamce  Ideenleben  blob 
Reflexionen  der  ökonomischen  Struktor  der  GeeeUachaft  waren,  dann  hatte 
«ich  die  antike  Sozialtheorie  ebensowenig  zu  dem  Ideal  des  harmonischen 
Arbeitswechsels  erheben  Icf^nnfn,  wie  der  'Vater  dos  moderTjon  ntopistischen 
Sozialismus'.  Indem  nun  aber  j^enide  die  Antike  in  der  rücksichtslosen  Ver- 
folgung des  ^uzuilistischen  Gedankens  bis  zur  Aufstellung  eben  dieses  Ideales 
fortschritt,  hat  sie  den  Beweis  erbracht,  dafs  die  Schranken,  in  welche  die 
nedianische  Geecbichtsaufi^assung  des  ökonomischen  Materialismus  den  Menschen- 
getst  bannen  will,  in  dieter  Weise  flberhanpi  nicht  ezisti«ren. 

Wenn  femer  die  materialiatisdie  Geaehiditetheorie  meint,  dab  es  dem 
ittoren  Sonalismiis  Ton  der  Grundlage  aus,  anf  der  er  stand,  nnmöglieh  war, 
auf  die  Dienste  einer  degradierten  Klasse  zu  verzichten,  weil  erst  die  moderne 
grofsindustrielle  Technik  die  Annehmlichkeiten  und  Unannehmüchkeiten  der 
verschiedenen  Arbeiten  so  auszugleichen  und  den  etwaigen  Rest  unangenehmer 
ArKf'it  3o  zu  vereinfachen  vermöge,  dafs  sie  von  nllen  Arhpii^fübigpn  ab- 
wechselnd verrichtet  werden  können,  so  haben  wir  gesehen,  dafs  für  den 
sozialen  Utopismna  der  Griechen,  wenigstens  auf  dem  Höhepunkt,  den  der 
Sonnenstaat  repräsentiert,  allem  Anscheine  nach  auch  diese  'Unmögliciikeit' 
flidit  bestand. 

Vollends  aber  Tersagt  die  materialiBtisehe  GeechichtBanfibasung  gegen&ber 
Art  und  Weise,  wie  die  Franenfrage  im  griecbischeD  Stsstsroman  geldst 
wird.  Nach  dieser  ^eorie  konnte  der  ältere  Soaialismns,  wie  er  uns  s.  B.  in 

der  Utopia  entgegentritt,  nicht  einmal  an  die  Emanzipation  der  Frau  vom 
Einzelhaushalt  denken,  da  er  eine  mächtige  Grundlage  desselben,  die  bäuerliche 
ond  handwerksmäfsige  Produktionsweise,  bestehen  lassen  niufste,  bei  der  natur- 
gemäfs  jedem  gesonderten  Betrieb  eine  gesonderte  Haushaltung,  ein»'  Fnmilie 
entsprach.  Dieser  ältere  Sozialismus  habe  also  die  'p'^triarohalijioliL  1  umilie' 
notwendig  in  sein  utopisches  üemeiuweejeu  hinüber  nehmen  müaseu.  Dieser 
Qtunodeme  Zug  erscheine  als  eine  jener  unvermeidlichen  Beschninkungen,  welche 
du  Bllekatandigkeit  der  Zeit  ihm  auferlLgU .  Nun,  den  althellenischen  Sozialis« 
uns  hat  die  Skonmnische  Rfidntandigkeit  seiner  Zeit  nicht  gehindert,  mit  dm 
*FonneQ  der  gesehleohtlichen  Beaiehungen,  die  der  patriarchaltadien  Familie 
vgmtflmlich  sind*,  über  die  Morus  noch  vor  kaum  vier  Jahrhunderten  'nicht 


')  Kaut«1i7,  More  286. 
Hm  J*lirbtteh«r.  1808.  L 


14 


E.  PtfhliDMiii:  Die  «»£«18  Dichtaag  der  Oii«eb«n« 


hinaus  kountfi',  und  die  ja  auch  heute  noch  fest  im  Volkshewufatsein  wurzeln, 
so  gründlich  zu  brechen,  wie  nur  immer  möglich.  Während  nach  der  genannten 
QesdhiehtaUieorie  dem  älteren  Sozialismus  nichts  weiter  abrig  geblieben  sem 
Boll,  a]g  Müderungen  des  strengen  Eheredites  Tomudblagen,  ist  8di«m  die 
floasiale  Utopie  der  Griechen  bei  der  gnmdriitBlidien  Negation  der  Ehe  und  dar 
radikalttea  Emansi|Mition  dee  Weibes  angeLmgt! 

Man  sieht  nach  alledem  klar  und  deutlidi:  Die  Ideen,  die  in  der  sozialen 
Dichtung  der  Griechen  zum  Aufdruck  kommen,  greifen  weit  Über  den  Rahmen 
hinaus,  durch  den  eine  konventionelle  Anschauung  von  der  Antike  und  eine 
nicht  minder  konventionelle  allgemeine  Geschichtsauffassung  die  geistige  Ent- 
wickelung  des  Altertums  auf  dem  Uebiete  des  sozialen  Gredankens  umgrenzt 
glaubt.  Angesirhts  der  Ideenwelt,  die  sich  hier  vor  uns  aufgetlian,  muf8  es 
in  hohem  Qrade  irrefülueud  erscheinen,  wenn  die  moderne  Sozialdemokratie, 
tun  das  D(^ma  tod  der  absohiten  Neuheit  ihrer  Lehren  su  reiten,  immer  nur 
Ton  einem  'sogmanntMi*  antiken  SoEtalismoa  in  reden  w^lk^) 

Dbrigens  bleibt  bei  solchen  Urteilen  völlig  unbeachtet  dab  die  Ideenftllle 
der  Antike  anch  anf  diesem  Gebiet  noch  ganz  anders  an  Tage  treten  wllrd^ 
wenn  uns  statt  elender  Trdmmer,  statt  leerer  Namen  und  Buchertitel  die  ge- 
samte hier  in  Betracht  kommende  Litteratur  erhalten  wäre.  Wie  viel  reicher, 
mannigfaltiger,  umfassender  würde  sich  das  Bild  gestalten,  als  jetzt,  wo  sich 
dem  Darsteller  gegenflber  einer  verwüsteten  Uberlieferung  auf  Schritt  und 
Tritt  das  Gefühl  peinlichster  Entsagung  aufdrängt! 

Aber  noch  eine  andere  wichtige  Erkenntnis  erwchliefst  uns  die  Geschichte 
der  sozialen  Dichtung  bei  den  Griechen.  Diese  Dichtung  wendet  sich  an  das 
gesamte  groDse  Publikum  und  adgt  so  recht  augenfällig;  wie  verkehrt  die  noch 
immer  in  einzelnen  unpolittscih«!  Köpfen  spukende  Ansidit  ist,  dab  aulaerbalb 
der  Sophistenkreise  und  Philosophensehulen  Y<m  kommunistischen  utod  soaialiaii* 
sehen  Ideen  bei  den  Griechen  nicht  die  Bede  s«n  können  dalSi  die  grobe  ICnase 
der  Gebildeten  wie  der  Ungebildeten  nie  ein  anderes  Verhältnis  zu  diesen 
Ideen  gehabt  habe,  als  daXs  sie  —  'darüber  lachte,  wenn  sie  ihr  auf  der  Bflhne 
Torgeföhrt  wurden'.*) 

Eine  frühere  Zeit,  die  für  dergleichen  Probleme  noch  wenig  Verständnis 
hatte,  mochte  sich  mit  der  Ansicht  Droysens  beg7iügen,  dais  die  proletarische 
Schlaraffia  des  Aristophanes  sich  auf  barmlose  Diskussionen  'in  Hüjs.iilen  und 
vornehmen  Zirkeln'  bezog,  dsiSs  es  sich  bei  ihr  nur  um  uinen  Stoö'  handelte, 
der  'aus  den  Interessen  damaliger  modisch- litterarisdier  Bildung  entnommen 


'>  Die  moderne  Sozialdemokratie  hat  natOrlich  ein  groftes  Interesse  daran,  die  'Ürand- 
vanuluedeiüiett*  de«  aotiken  und  nodenieo  SottaUamni  mUgliehst  «n  betoaeii.  IMe  Brfolg- 
]<Mng1i«U  des  antiken  Soscialifimus  könnte  ja  sonst  als  Prl^udis  gegen  den  modernen  aiaa- 
genfltzt  w«Tden,  ein  Gesiclitsjnuikt,  il.'ii  Kuutslvv,  Morc  8.  1,  ausdrückb'cb  hervorhebt 

K.  Herzog  ^Kommuniamua  und  Sozialisuiui«  iin  Altertum.  Beil.  z.  Allg.  Ztg.  ib^l 
Nr.  166)  hat  diese  «nglaablieh  naive  Anncht  ausm'osprochen,  Aber  die  man  slillBdiwei^eiid 
hiaweggvben  könnte,  w&re  sie  nicht  ein  trauriges  Symptom  des  in  der  Altertumawiascntehaft 
leider  noch  immer  weit  verbreiteten  Mangel«  an  sogial-gescliicbtlidMr  Bilduiig. 


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It.  PUhhuKttn:  Die  aodde  Diehtaiifr  der  Orieehea. 


811 


war'.**  Wer  Hie  soziale  Diciitung  der  ilellL'iit'n  in  ihrer  Gesamtentwickelung 
und  in  ilireni  geschichtlichen  Zusammenhang  betrachten  «relemt  hat,  wird  zu 
einer  völlig  anderen  Ansicht  gelangen.  Er  wird  aus  ihr  den  Schlufs  ziehen, 
d«6  fie  ongeldsten  Fragen  der  soEialen  Sphinx  das  Nachdenken  und  die  Pbsn- 
tMe  von  TftQMnd«!  bead^ftigt  haben  mflsseii,  dab  ein  Mee  Sehnen  nach 
geMlbdiafllidier  Reform  in  breiten  Schiditen  Torhaxiden  war.  Er  weifii  nun 
vorauf  dafi^  um  ein  Wort  Rankes  auf  nnsaren  Ftäl  aiuniw^den,  'dies  Streben, 
Süden,  Wollen  nicht  beim  litterarisofaen  Adel  blieb,  sondern  in  gewisser  Gestalt 
da  war  beim  Volke'.  Oder  glaubt  man,  dafs  die  anfserordentliche  P(>]mlariiüt 
and  weite  Verbreitung  der  Staatnromane,  besonders  des  des  Jambulos,  bloC» 
der  novellistischen  Einkleidung  und  nicht  »jnny.  wesontlich  auch  dem  Interesse 
m  den  idealen  Gesellschaftstypen  zu  verdanken  war,  die  hier  dem  Leser  vor- 
geführt  wurden? 

^  DioyMn,  AzktopliaiMi  II<  SM. 


14* 


DAS  HOHENZOLLERNJAHRBÜCH. 

Von  Erich  Marcks. 

An  Zeitschriften,  die  der  hohenzollerischen  Geschichte  dienen,  mangelt  ea 
nicht.  Die  allgemeinen  historischen  Zeitschriften,  die  von  Heinrich  von  Sybel 
begründete  voran,  haben  sich  ihr,  in  Untersuchungen  und  Darstellungen,  immer 
zugewandt,  die  'Forschungen  zur  brandenburgischen  und  preuTsischen  Geschichte', 
die  nach  R.  Koser  und  A.  Naude  jetzt  0.  Hintze  herausgiebt,  sind  als  besonderes 
Organ  hinzugetreten  und  haben  in  den  neun  Jahren  ihres  Bestehens  eine  statt- 
liche Menge  wichtiger  Arbeit  geleistet;  auch  die  Preufsischen  Jahrbücher  und 
das  Schmollersche  Jahrbuch  für  Gesetzgebung,  Verwaltung  und  Volkswirtschaft 
haben  die  Geschichte  Preul'sens  und  seiner  Herrscher  auf  das  reichste  bedacht, 
jene  mehr  von  der  politisch-historischen,  dieses  vorwiegend  von  der  verwaltungs- 
und  wirtschaftshistorischen  Seite  her.  Gröfsere  Quellenmassen  haben  seit  Sybels 
Amtsantritt  die  'Publikationen  aus  den  preufsischen  Staatsarchiven'  an  das  Licht 
geschafft;  der  neue  Direktor  der  preul'sischen  Archive,  Reinhold  Koser,  hat 
diese  Arbeit  seines  Vorgängers  mit  frischer  Energie  aufgenommen.  Und  neben 
dieser  alle  Jahrhunderte  berücksichtigenden  langen  Reihe  stehen  die  besonderen 
Publikationen  zur  Geschichte  des  grofsen  Kurfürsten  und  des  grofsen  Königs 
und  jetzt  die  neueste,  die  von  Gustav  Schmoller  veranlafsten  und  geleiteten 
Acta  Borussica  zur  Verwaltungageschichte  des  18.  Jahrhunderts.  Was  will 
neben  der  Fülle  dieser  älteren  Organe  die  neue  Zeitschrift,  deren  erster  Band 
soeben,  im  Dezember  des  vergangenen  Jahres,  erschienen  ist?*)  In  zwiefacher 
Beziehung  will  sie  etwas  Eigenes:  einmal,  sie  verbindet  mit  dem  Worte  das 
Bild;  und  dann,  sie  nimmt  sich  nicht  die  preufsische  Geschichte,  sondern  in 
ganz  persönlichem  Sinne  die  der  Hohenzollem  zum  Gegenstande. 

Der  Herausgeber  ist  der  Leiter  des  Hohenzollernmuseimis  und  der  Kunst- 
sammlxmgen  in  den  königlichen  Schlössern:  ihm  steht  aus  beiden  Sammlungen 
der  reichste  und  intimste  Stoff  zu  Gebote;  man  darf  vermuten,  dafs  er  für 
dessen  Erschliefsung  der  Zustimmung  desjenigen  sicher  ist,  der  über  jenen 
Stoff  und  seine  Herausgabe  zuletzt  allein  zu  entscheiden  hat.  Neben  Seidel 
haben  Vorstande  und  Beamte  der  staatlichen  Archive  wie  des  Hausarchivea 
bereits  an  diesem  Eröffnungsbande  mitgeschaffen:  aus  den  von  ihnen  verwalteten 
Schätzen  ist  uns  einiges  bereits  dargereicht  worden  und  ist  noch  viel  mehr 

')  Hohenzollem-Jahrbach.  Forschungen  und  Abbildungen  zur  Geschichte  der  Hohen- 
zollern  in  Brandenburg- Preufsen ,  herausgegeben  von  Paul  Seidel.  I.  Jahrgang,  1897. 
Berlin-Leipzig,  Oiesecke  &  Devrient. 


E.  IfarekB:  Dw  HohAuoUcnyalirlmeh. 


sicherlich  in  Zukunft  zu  erwarten.  Im  übrigen  richtet  sich  dm  Jalirbucli  offen- 
h»  in  entar  Bailie  an  das  wdtere  PubUkum,  «a  di«  Bifite  der  Laieotoluilt 
Sdm  AttftfttM  woUen  ni  dieser  spndien,  aadb  wo  sie  auf  akwga  knÜMlier 
irimt  rnhen  und  wo  rie  diese  Arbeit  ftlr  du  Auge  des  ftchgenMaehen  Lesen 
erkeimbsr  durehaehimmem  lasMii;  ieh  bemeiiDe  g^idi,  dab  die  des  ersten 
Bandes  das  Ziel  fast  antmahmsloB  giflcidieb  erreicht  haben.  Vor  allem,  die 
lUustrationen  setzen  jenen  Kreis  von  Lesern  und  Käufern  voraus:  die  glänzend 
ausgestatteten  Bünde  gehören  in  den  Salon  ebensowohl  wie  in  die  Stube  des  Ge- 
lehrten. Und  in  dw  Tbnt  vcrnnigen  sie  etwas  zu  leisten,  was  keine  der  früher 
genannten  Zeitschriften  vermag,  indem  sie  Porträts,  zeitgenössische  Gemälde  von 
historischen  Aktionen,  Architekturen,  büdhcho  Quellenstücke  also  oder  Kunst- 
werke von  eigenem  kfinaileriaGhem  Werte,  in  vornehmer  und  charakteristischer 
Wiedergabe  an  die  Öffentlichkeit  tragen;  der  Dienet,  d<tti  sie  damit  enraiseD, 
ist  nnmittdbnr  dentlieh:  dar  Historiker,  der  Eunathiatoriker  nnd  dar  gebildete 
Liabbaber  werden  ibn  gleiehennalaen  anakennen. 

Das  Jahrbuch  selber  aber  betont  daneben  und  darüber  vor  allem  aeine 
historische  Absidit:  die  Pflege  der  bohenaoUerischen  Geschichte,  der  Oeschiehte 
lies  Herrsclierbauses  nnd  seiner  einzelnen  Glieder.  Ist  nun  ein  eigenes  und 
neu««  Unternehmen  mit  dieser  Absieht  erforderlich  und  berechtigt?  Es  ist 
kern  Zweifel,  dafs  diese  Frage  vielfach  aufgeworfen  werden  wird,  und  nicht 
jeder  wird  sie  mit  Ja  beantworten.  Ich  meinerseits  bejahe  sie  gem.  Es  liegt 
nun  doch  einmal  in  den  Thatsachen  der  preuisischen  Geschichte,  dafs  die 
geradem  flebopferiaidie  Bedeutung  der  PeraSnlichkeitao  sieb  nicht  ans  ihnen 
hinwegdenken  noch  -dispntieren  fibi  Dab  es  eine  prenlkiaehe  Gasdiidite 
gieb%  ist  ibr  Werk^  das  Werk  der  Hobamollem,  nnd  ihre  Wirkaamkeit  raidit 
in  die  innersten  Tiefian  des  Tolkslebena,  nidit  nnr  des  staatiichen,  hinab. 
Auch  heute,  wo  es  nicht  mehr  gilt,  aus  der  preufsi sehen  Vergangenheit  den 
Beruf  Preulsens  zur  Einigung  und  Beherrschung  Deutschlands  nachzuweisen, 
und  wo  es  den  Ilistorikem  natürlich  gcword«'!i  ist,  aus  der  nationalen  Ideali- 
»ienmg  der  frühereu  Epochen  preulsischer  Machtpolitik  zu  nüchtemerpr,  realerer 
und  gerechterer  Betrachtung  zuriukzulenken;  aucli  hcnte,  wo  der  Nachweis  der 
Notwendigkeit  und  Möglichkeit  wirtschaftlicher  und  sozialer  Arbeit  des  Staates, 
den  man  seit  den  siebzi^r  Jahren  wiederum  ans  der  altpreuTsiecben  Geschichte 
erbracht  hat,  andi  wied^nm  den  ersten  Schimmer  des  Neuen  nnd  Über- 
Hltigenden  an  verlinen  beginnt  nnd  audi  der  sosialai  Politik  der  Hobm- 
wUem,  so  gewaltig  und  so  leiurreieh  sie  bleibt,  eine  immerhin  skeptischere 
Kritik  ent^gentritt,  in  b^reilliclier  Reaktion  gegen  die  Absichtlichkeit  einer 
befohlenen  Idealisierung  und  politischen  Ausnutzung:  auch  heute  noch  kommt 
keiner  um  dii"«^  Persönlichkeiten  und  die  ungemeine  Grofse  ihrer  Wirkung 
herum,  und  die  Kinseititjkeit  historischer  Auffassungsweiso,  zu  der  die  jüngsten 
Tage  manchmal  neigen,  findet  in  der  Ilohenzollerngeschichte  eine  der  wert- 
vollsten und  unwiderleghchsten  Berichtiguugeu.  Man  braucht  mit  Preulsen 
nur  Österreich  zu  vergleichen,  um  die  ganze  Wichtigkeit  des  regierenden 
ftmses  und  seiner  wegweiaandsn  Eimnlnen  —  die  weaentlicii  positiTe  Beden- 


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2t4 


Kwcln:  Da»  BobeuoUenijtJiiliiieh. 


tuug  hier,  die  wesentlich  negative  dort  —  recht  zu  trmessen.    Gewifs,  das 
'Jahrbuch'  hat  daa  gute  Recht,  seinen  Veröffentlichungen  die  persönliche  Ge- 
Bchichte  der  Hohenzollem  zum  Mittelpunkt  zu  geben.   Freilich  f&llt  es,  unter 
dieflem  Gesiehtopunkte  angesehen,  nicht  gerade  eine  Lüctke  ans,  6eam  die  be- 
stehenden ZeitBehriflen  haben  die  Angabe,  die  ea  sieh  da  atellt^  aneh  berdta 
ibreramli  inuner  ber&ekaiohtigt.  Aber  auch  bierin  wird  es  aieh  seine  besondere 
SteUnng  schaffen  können.  Abgesehen  von  den  eigenartigen  Hittehi  und  Zielen, 
die  es  durch  seine  Illustrationen  empfangen  wird,  indem  es  diese  historisch 
und  kunsthistorisch  ableitet,  einreiht  und  erläutert,  wird  es  sich  auch  rein 
litterarisch  sein  Gebiet  gut  abzugrenzen  vermögen,  indem  es  einmal  rasche, 
künstlerische  Zusammenfassungen  eines  weiten  Inhalts,  Charakteristiken  bringt, 
die  auf  seinen  Leserkreis  eingerichtet  sind,  andererseits  Materialien  ganz  persön- 
licher Art,  Erzählungen  und  ganz  besonders  Aktenstücke,  Briefe,  Öelbätbekennt- 
nisse,  welche  den  übrigen  Zeitschriften  zu  speziell,  zu  persönlich  erscheinen 
wfirden  und  welche  hier  ihr  ToUes  und  wohlbegrflndstes  Daseinsrecbt  finden; 
die  eigaitilidie  Untersuchung  wird  das  Jshrbudi      doch  Tcnnatlich  jenen 
ander«i  m  ftborlassen  haben.  Bereits  hat  der  Herausgeber  (S.  Ifid)  den  'alten 
pifsulsischen  Familien'  die  Bitte  ans  Herz  gelegt,  ihm  wertvolle  Stücke  ans 
ihren  Familienarchiven  Sur  Veröffentlichung  zuzusenden      eine  Bitte,  die  sn 
erfüllen  und  weiter  zu  verbreiten  ein  jeder,  der  es  vermag,  sich  eifrig  an- 
gelpj^cn  sein  lassen  sollte.    Dafs  das  Beste  in  dieser  Hinsicht  aus  den  Berliner 
Archiven,  vielleicht  vor  h1I<>!i  anderen  aus  dem  königlichen  Hausarchive  zu  er- 
hoffen wäre,  ist  oben  schon  angemerkt  worden. 

Durch  diese  überaus  wünschenswerte,  ja  unentbehrliche  Mitwirkung  Uocb- 
stehender  wird  allerdings  eine  Gefahr  gesteigert,  auf  die  ich  auch  bereits  hin- 
gedeutet habe  und  die  nidit  blofs  angedeutet  werden  wilL  Einer  Zeitaeihrift^ 
die  so  einem  Eenrschergesdiledite  Namen  und  Inhalt  entnimmt^  wird  leicht  das 
IfiMranen  begegnen,  dab  sie  Torbestimmten  Anfhssungm  dien«i  solle,  und 
dieses  Mifstrauen  ist  heute  reger  als  früher.  Dabei  ist  es  wshr,  dafs  sie  selber 
nur  einer  warmen  Liebe  zu  ihrem  Gegenstande  entspringen  und  nur  aus  solcher 
Liebe  stets  neue  innere  Nahrung  ziehen  kann;  die  anfühlende  Liebe  zum  histo- 
rischen Gegenstände  aber,  das  warme  Gefühl  für  das  Grofs»^  und  Echte  ist  ja 
die  wissenschaftlich  berechtigtste,  die  eigentlich  lebenschaffeude  Empfindung  für 
den  Historiker.  Mögen  Herausgeber  und  Mitarbeiter  allezeit  strenge  Selbst- 
kritik üben,  dais  diese  Liebe  sie  nur  anleite,  Menschen  und  Dingen  ins 
Herz  zu  schauen  und  sie  mit  ganzer  Seele  bescheiden  und  aufrichtig  zu  be- 
greifen —  nicht  aber,  eins  harte,  wenn  auch  noch  so  grolse  Wirklichkeit  un- 
klar zu  idealisieren  oder  su  steigern.  Die  Klippe,  die  dbs  Jahrbuch  au  meiden 
haben  wird,  ist  die  Lobrede.  Wer  auf  diese  Klippe  hinweist  thut  nur  etwM^ 
was  heutzutage  leicht  und  beinahe  selbstverständlich  ist:  ^nzlich  überflQssig 
pflegt  es  trotzdem  nicht  zu  sein.  Und  ich  ^v('nigsten8  würde  es  lebhaft  be- 
dauern, wenn  dieses  Unternehmen  nicht  fortführe,  seine  innere  Lebendigkeit 
kraftig  zu  erweisen.  Franzosen  und  Englander  besitzen  kostbare  Werke  ver- 
wandter Art  und  wissen  sie  zu  scbätzenj  Au%aben  genug  sind  dem  HohenzoUem- 


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E.  Hurdn:  Om  HobeuoUengiliTlnitli, 


215 


jahrbaehe  gestellt;  den  ▼enehiedenftteii  Intorisseo  vermag  es  genugzuthun:  man 
bnn  ilon  nur  eine  gltleldidie,  reiehe  und  gesunde  Zukunft  wflnsdien.  — 

Diese  allgemeinen  Erwägungen  sind,  den  Zweeken  dieser  Zeitschrift  eot- 
^Mredwid,  liier  in  den  Yordergrund  gestdlt  worden;  ein  Bliek  auf  den  Inbslt 

des  vorliegenden  ersten  Bandes  möge  sich  anachliefsen  —  naturgemafs  mehr 
eine  Charakteristik  des  Ganzen  a,h  i  r  <  einübende  Kritik,  zu  der  sieb,  bei  der 
Vielfältigkeit  der  behandelten  Gegenstände,  der  Referent  aucb  iiieht  gleich- 
mäfsig  kompetent  erkliiren  dürfte.  Der  Band  ist  schön  und  reich;  man  spürt, 
dafs  Verleger  und  Herausgeber  ihr  Bestes  gethan  haben,  äeidel  hat  die  ver- 
schiedenen Zeiten  und  Stoffe  gleich  in  diesem  Jahrgange  zur  Behandlung  ge- 
ijracht,  und  beinahe  alle  Beitrage  sind  interessant.  Es  sind  Briefe  —  wenn 
•eck  Toriaul^  nicht  eben  znUreiehe  —  gedruckt  aus  dem  15.,  16.,  17.  und 
18.  Jahrhundert:  Briefe  hohensollerisch«r  fVauen  ans  der  frtlheren  EfMohe,  ans 
der  späteren  Briefe  Friedrichs  II.,  Friedrich  Wilhehns  II.,  Fsmilienbriefe  aus 
KSnigin  Luises  Brautzeit:  alle  sngleidi  ergiebig  für  mancherlei  Beobachtungen 
biltnr geschichtlicher  Art.  Es  sind,  überraschend  in  ihrer  Fülle  und,  zum 
guten  Teile,  in  ihrer  Neuheit,  Bildnisse  veröffentlicht  von  fast  allen  hohen- 
lollcrischcn  Fürsten,  vom  grofsen  Kurfürsten  an  bis  auf  Kaiser  Friedricli.  Denen 
des  .xrofsen  Kurfürsten  ist  eine  Notiz  von  Seidel  (über  den  Maler  Matthias 
Czwiczek),  denen  Friedrichs  II.  eine  orientierende  kritiN  ti  Abhandlung  des 
selben  Verfassers  und  zumal  eine  überaus  anziehende,  von  charakteristischen 
Schilderungen  strotaende  Zusammenstellung  der  zeitgenössischen  ^oidite  Aber 
Friedrichs  äuCaere  Eradietnung,  von  B.  Eoser,  beigefügt:  dieser  letstere  Auf- 
ttli  durchaus  selbstftndig  f&r  sidi,  derart,  dafs  die  BUdniase  —  von  Peter 
Hahn  in  Tortrsfflichen  Federaeichnnngcn  mit  einem  Henaelschen  Hauche  wieder- 
gegeben —  hier  mit  gutem  Rechte  zu  blofsen  Begleitern  des  Textes  werden, 
den  sie  an  anderen  Stellen  mehr  ihrestoils  beherrschen.  Rein  kunstgeschicht- 
lichen  Inhalts  sind  die  Abhandlungen  Schneiders  i  Aschaffenburger  Miniaturen 
aus  dem  illustrierten  Verzeichnisse  des  Hallesch.cn  Heiligtumsschatzes  Kurffirst 
Albrechts  von  Mainz),  Geyers  (zur  Baugeschichte  des  königlichen  Schlosses  m 
Bcrlini  und  Thouiets  (die  Musik  aui  preufsischen  Ilofe  im  18.  Jahrhundert). 
Die  von  Geyer  und  Thouret  sind  mir  insbesondere  lehrreich  gewesen.  Geyer 
hat  den  Festeaal  des  grofsen  KuiÜlrBten  und  die  S<düofiikapelle  Friedrichs  I. 
rekonstruiert:  der  Festeaal  ist  eine  SdiSpfung  der  loteten  Jahre  des  Eurfttrsten, 
noch  durchaus  hollindisch  in  architektonischem  wie  plastischem  Schmuck, 
ein  q^irecHendes  Zeichen  der  Kulturzusanunenhänge,  in  denen  das  Leben  des 
groben  Fürsten  bis  an  sein  Ende  steht;  die  Kapelle  giebt  dem  Verfasser  Anlab 
so  mteressanten  Blicken  auf  den  Anteil  Schlüters  am  Schlofsbau.  Thourets 
Essay  geht  schon  weiter  auf  dns  persönliche  Gebiet  hinüber:  die  Epochen  des 
Berliner  Musiklebens  gliedern  sich,  von  Friedi'ich  I.  bis  zum  .\ntritt  Friedrich 
Wilht'imts  III.,  nach  den  Regierungen  der  einzehien  Könige;  Thouret  verbindet 
eine  anmutige  allgemeinere  Schilderung  t^ebr  hübHch  mit  einem  warmen,  gelegent- 
lich fiMt  flbemrten  Eindringen  in  das  Gemfiteleben  der  Herrsdier.  —  ünmittel- 
bar  von  den  Kunstwerktti  ausgegangen,  aber  dann  gana  in  die  politisch-persdn- 


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216 


E.  Mareks:  Das  Hobenzollerqjahrbucb. 


licho  Darstellung  tinübergelcnkt  ist  der  Doppelaufsatz  von  Seidel  und  Jahns 
über  die  bekannten  Wandteppiche  mit  den  Darstellungen  der  Kriegsthatcn  des 
grofsen  Kurfürsten  (1675  —  79;  die  Teppiche  vollendet  um  und  nach  1695). 
Nach  einer  kurzen  Einführung  von  Seidel  giebt  Jahns  zur  Erläuterung  der 
Toppiche  eine  ausführliche  Darstellung  der  Kämpfe,  zunächst  bis  1677;  es  ist 
das  ausführlichste  Stück  des  Bandes  und  wird  auch  demjenigen,  der  diese 
Kriegsthaten  in  ihrer  ganzen  Bedeutung  schätzt  —  denn  in  der  Schwungkraft 
seiner  äufseren  Politik  und  seiner  Kriege,  und  nirgendwo  anders,  liegt  doch  für 
das  ganze  Werk  des  Kurfürsten  das  eigentlich  Treibende  uud  Entscheidende  — , 
im  Verhältnis  zu  der  Bedeutung  der  zu  erklärenden  Teppiche  dennoch  vielleicht 
allzu  ausführlich  erscheinen.    Ich  kann  hier  auf  die  Vorzüge  der  Jähnsschen 
Schildening  ebensowenig  eingehen  wie  auf  die  Fragen,  die  sie  etwa  übrig 
läfst,  und  auf  die  Einwände,  die  sich  erheben.    Aber  ich  will  doch  bemerken, 
dafs  mir  die  Gefahren,  denen  das  Jahrbuch  ausgesetzt  ist,  in  diesem  Doppel- 
aufsatz noch  am  ehesten  entgegengetreten  sind:  jene  Gefahr  zumal  der  einseitigen 
Verherrlichung  der  Hohenzollem,  von  der  ich  früher  sprach;  daneben  noch  die 
geringere,  dafs  die  einmal  zu  publizierenden  Kunstwerke  in  ihrem  künstlerischen 
und  historischen  Werte  überschätzt  worden.  Beides  scheint  mir  hier  vorzuliegen, 
letzteres  insbesondere  bei  dem  Wandteppiche,  der  die  Belagerung  Stettins  dar- 
stellt.   Für  die  kunstgeschichtliche  Einordnung  der  Teppiche  aber  scheint  piir 
zu  wenig  geleistet  zu  sein.  — 

Der  Beitrag  von  Jähns  wie  der  von  Koser  weisen  zu  der  letzten  Grup|>e 
hinüber,  die  ich  hier  zusammenordnen  möchte:  den  ganz  für  sich  bestehenden 
Abhandlungen  rein  historischen  Inhalts.  Es  sind  die  beiden  Gedenkreden  von 
Schmoller  und  von  v.  Mischke  auf  Wilhelm  I.  und  Friedrich  III.,  die  Aufsätze 
von  Krauske:  Der  Regierungsantritt  Friedrich  Wilhelms  I.,  und  von  Bailleu:  Vor 
hundert  Jahren. 

Mit  gutem  Fug  ist  Gustav  Schmollers  Name  an  den  Eingang  des  neuen 
Unternehmens,  seine  Rede  an  die  Spitze  dieses  Bandes  gestellt  worden:  kein 
Lebender  war  so  dazu  berufen  wie  er.  Und  die  Gedächtnisrede  vom  22.  März 
1897,  die  hier  neu  abgedruckt  und  somit  aufbewahrt  worden  ist,  verdient  ihre 
Stelle.  Sie  trägt  den  deutlichen  Stempel  der  Tage,  in  denen  sie  entstanden 
ist,  aber  sie  ist  mafsvoU  und  würdig;  sie  ist  ganz  durchdrungen  von  Persön- 
lichkeit und  von  innerlichem  Schwünge,  und  dabei  schlicht  und  gehalten  wie 
der  ehrwürdige  Fürst,  dessen  Fest  sie  feierte.  Sie  öffnet,  nach  Schmollera  ge- 
dankenreicher Art,  weite  historische  Ausblicke,  formuliert  die  sachlichen  Axif- 
gaben  und  Ideale  der  Wilhelmischen  Zeit  mit  voller  Wärme,  mit  der  Teilntkhme 
des  mitarbeitenden  Zeitgenossen,  und  entwickelt  die  Persönlichkeit  knapp  und 
fest.  Sie  feiert  in  Kaiser  Wilhelm  den  Inbegriff  seiner  Regierung,  aber  sie 
schreibt  nicht  ihm  allein  deren  Thaten  zu;  das  Verhältnis  zu  Bismarck  erörtert 
sie  in  eindringlicher  Ruhe.  Schmoller  mag  Wilhelm  I.  nicht  als  den  Grofsen 
bezeichnen,  'so  gewii's  er  der  gröfsten  einer  war  unter  den  grofsen  Fürsten  aller 
Zeiten*;  aber  der  Beiname  scheint  ihm  sein  Wesen  nicht  zu  treffen:  'ich  möchte 
Kaiser  Wilhelm  L  eher  den  Weisen  und  Gerechten  nennen.'    Neben  dieser 


r 


£.  Marcln:  Dm  Hob«asoUenu«lubiiob.  217 

1 

WOrdigung  des  alten  EuMri^  ans  wdeber  der  historudie  Qmndsiig  fibereil  lier- 
TcnbM^  ist  die  lebhaft  empfimdene  Sebildemi^  eetnee  Sohnes  durch  Genend 
T.  IGidike  eine  Hnldigungs-  nnd  Weiherede  der  rein  peraSnIiehen  Ari  Eraneke 
and  BaDlen  schlieblich  alehen  auf  dem  Boden  der  e^entlidi  kritischen  Forschung. 
Knuske  hat  äcinc  älteren  Untersudrangen  Ober  die  Anlange  Friedrich  Wilhelms  L 
in  geschickter  Emenerung  und  WeiterfÖhrung  vorgetragen,  die  alten  Legenden 
zur  Seite  geschoben,  aus  bunten  lebendigen  Einzelzügen  Aio  t^iofsen  Richtungen 
des  prt'ufsischen  Staatslebens,  wie  der  neue  König  es  zu  gestalten  begann, 
wirkÄiiiu  heraustreten  lassen.    Paul  Bailleu  knüpft  an  das  ^Schicksalsjabr*  1797 
eine  fein  erwägende,  fein  pointierende  Entwickelung  des  für  lange  hinaus  ent- 
sdieidenden  Wandels,  der  sich  damals  für  Frankreich  mid  für  Preulsen  voll- 
lOgtD  liabe:  fOr  Franlomdi  Ton  nationaler  an  oniTerseller,  erobernder  Politik^ 
ibr  Prenften  ron  der  alten  Sonderpolitik  'Ohne  Deatadiland  an  einer  dentsehen 
oder  doch  norddetttsehen  Politik  der  die  Zukunft  gehörte.  Person«»,  Siromangen, 
allgemeine  Richtungen  werden  da  mit  Zurflcldbaltang  und  Qerechtigkeit  rssdi 
beidurieben  und  beurteilt,  Fragen  angeregt,  knappe  Formulierungen  unter- 
nommen ond  die  Linien  des  langen  Herrscherlebens  angedeutet,  dessen  Beginn 
in  diesem  Jahre  1797  !fi<;    Bailleu  läfst  in  alledem  das  Zeichen  Leopoltl  Rankes 
Aber  der  neuen  Zeitsciiriit  leuchten:  und  auch  wer  daran  glaubt,  dafs  wir  das 
Recht  und  die  Pflicht  haben  und  längst  daran  sind,  über  den  grolsen  Meister 
zugleich  hinauszugehen,  wird  diesem  Jahrl)uche  keinen  besseren  Wunsch  mit- 
geben können,  als  dafs  ihm  beschieden  »ei,  dem  Unvergänglichen  an  Rankes 
ISibe  erbaltrad  und  weiterbildend  getreu  au  bleiben. 


ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN. 


1)  Gkscbichte  von  Florkvz  von  Robert 
Davidbohn.  Erster  Band:  Ältere  Ge- 
schichte. Mit  einem  Stadtplan.  Berlin 
1896,  Emst  Siegfried  Mittler  und  Sohn. 
XI,  867  8.  8». 

2)  FOBSCBCXOEN  ZITB  ÄLTKSKlt  GlBCHICBTE  VON 

Flobenz  von  Rodert  Davidsohm.  Berlin 
1896,  Emst  Siegfried  Mittler  und  Sohn. 
VI,  188  S.  8". 

Zu  Florenz  im  archäologischen  Museum 
befindet  sich  die  marmorne  Basis  eines  Bild- 
werkes, das  man  vor  kurzem  beim  Nieder- 
legen des  mittleren  Stadtteils  auf  dem  Boden 
des  Forums  der  römischen  Kaiserzeit  ge- 
funden hat.  Der  Stein  war  dem  Genius 
der  Kolonie  Florenz  geweiht;  und  als  den 
Schutzgeist  der  alten  Florentia  wird  er  einen 
Jfingling  getragen  haben  mit  der  Schale 
und  dem  Füllhorn,  da«  gßttlichen  Segen 
versinnbildlicht.  Robert  Davidsohn  hat  sich 
diese  ehrwürdige,  fromme  Widmung  bei 
seinem  Werke  zum  Vorbild  genommen:  er 
weiht  es  dem  Genius  von  Florenz.  Er  ehrt 
damit  das  Walten  jenes  Geistes,  der  aus  be- 
scheidenen Anfilngen  grofscs  hervorgebracht 
hat;  und  indem  er  seinen  ersten  Spuren, 
schüchternen  Anläufen  zu  bedeutenderen 
Leistungen  liebevoll  nachgeht,  stellt  er  sich 
in  den  Dienst  wahrer  Humanität.  Es  liegt 
eine  nicht  zu  unterschätzende  Entsagung 
darin,  das  herrlich  Gewordene  beiseite  zu 
lassen  und  sich  mit  den  unscheinbaren 
Keimen  zu  beschäftigen.  Und  doch  bringt 
erst  die  entwickelnde  Methode  der  Geschicht- 
flchreibung  wahren  Genufs.  Davidsohns  Buch 
ist  Beweis  dafür.  An  sich  mag  es  ja  reiz- 
voller sein,  das  Florenz  Dantes  kennen  zu 
lernen  oder  sich  in  die  Schönheiten  des  Zeit- 
alters der  Medici  zu  vertiefen  —  die  tiefste 
Befriedigung  bei  solchen  Studien  findet  doch 
erst  der,  wer  da  weifs,  wie  das  alles  ge- 
worden ist.  Dafür,  dafs  uns  Davidsohn  die 
Kenntnis  des  Entwickelungsganges  von 
Florenz  vermittelt,  müB«on  wir  ihm  aufrich- 
tige Dankbarkeit  zollen.  Er  versteht  es, 
dem  Werden  und  Wachsen  eines  Gemein- 
wesens ab  ovo  nahe  zu  kommen.  Nicht  die 


Baugeschichte  allein  führt  er  uns  vor:  fast 
allen  Regungen  der  Volksseele  bringt  er 
feines  Verständnis  entgegen,  und  den  ver- 
schiedensten Aufserungen  eines  von  Jahr- 
hundert zu  Jahrhundert,  von  Jahrzehnt  zu 
Jahrzehnt  komplizierter  werdenden  Verwal- 
tungskörpers wird  er  gerecht.  Und  dabei 
hat  er  noch  den  seltenen  Vorzug  de«  weiten 
Blickes.  Trotz  einer  bis  in  die  kleinsten, 
anscheinend  unbedeutendsten  Einzelheiten 
sich  versenkenden  Forschergabe  verliert  er 
niemals  das  (Janze  aus  dem  Auge  Florenzen« 
Stadtgeschicbte  ist  ihm  nicht  Selbstzweck; 
Schritt  für  Schritt  fördert  er  die  Landes-, 
die  Reichs-,  die  Weltgeschichte.  Darum  ge- 
hört Davidsohns  'Geschichte  von  Florenz' 
ganz  entschieden  zu  den  wenigen  Büchern, 
die  kein  Historiker  —  ja,  ich  möchte  fast 
sagen:  kein  ernsten  Studien  geneigter  Ge- 
bildeter —  unbeachtet  lassen  darf.  Damit 
unterschreibe  ich  Wort  für  Wort  das  ehren- 
volle Urteil,  das  Walter  Friedensburg  im 
'Literarischen  Centraiblatt'  1897  Nr.  14  über 
D.s  Werk,  das  für  'alle  Zukunft  festen  Grund' 
gelegt  habe,  gefällt  hat:  es  reihe  sich  'dem 
Besten  an,  was  von  Deutschen  über  aus- 
ländische Geschieht«  geschrieben  worden  ist*. 

Nach  knapper  Berichterstattung  über 
das  hundertjährige  Dasein  des  etruskischen 
Florenz,  einer  Tochter  von  Faesulae,  und 
seiner  Vernichtung  durch  Sulla  i.  J.  82  v.  Chr. 
klärt  der  Verf.  die  durch  verschiedene  Über- 
lieferung arg  entstellte  Gründungsgeschicht« 
der  auf  fast  jungfräulichem  Boden  neu  er- 
standenen römischen  Florentia  auf.  Danach 
ist  es  mehr  als  wahrscheinlich,  dafs  die 
schöne  Amostadt  ihren  Ursprung  auf  Caesar 
und  sein  Ackergesetz  vom  Jahre  59  zurück- 
führen darf.  Bereits  gegen  Ende  des  dritten 
nachchristlichen  Jahrhunderts  schwang  sich 
Florenz  zum  Haupt«  der  beiden  zu  einem 
Verwaltungsbezirke  zusammengezogenen  Pro- 
vinzen TuBcia  und  Umbria  auf;  e«  war  Sit« 
der  kaiserlichen  Verwaltung  und  Residenz 
des  Herrn  'Korrektors'.  Kurz  vor  400  n.  Chr. 
scheint  es  mit  Tuscia  annonaria  der  Provinz 
Aemilia  einverleibt  worden  zu  sein.  Jeden- 


Anseigen  und  ICtteUniigeD. 


219 


hüs  bildete  Florenz  in  der  römiacben  Kaiser- 
leit  ebe  «dir  TCspekteble  Aiid«ddiuig,  und 

ein  b*»dpntender  Komplex  ward  allmählich 
mit  schönen  und  oützUcben  Bauwerken  be- 
dedti  Doeh  'der  TodMicampf  des  rBmiichen 
Reiches'  be<.'ann,  und  'an  neine  Pforten 
pochten  als  angeduldige  Erben  germanische 
Tfllker*.  Dann  konnten  selbst  Biege  wie 
die  mit  Hilfo  von  Hunnen  und  Wesfijotcn 
dorcb  den  grofsen  Stilicho  bei  Florenz  her- 
heifrefilliTtc  Vernichtung  der  Ostgoten  unter 
Kada<;ais  (23.  Aug.  405)  Bchlechterdings  nichts 
ändern.  Die  alten  QOtter  sanken;  ein  neuer 
Qflaalie  bahnte  sieh  unbeswingbar  seinen 
Wen  <lurch  das  Imperium  Romaniim.  Nach 
und  nach  stiegen  auch  in  Floren/.  Augustus, 
Uis  und  Serapis  von  ihrem  Piedestal  herab: 
am  U.  Oktober  250  Hillt  diu«  Haupt  des 
Hinias,  de«  einzi^rcn  christlichen  Mrirtyrer«. 
den  Florenz  aufzuweiacu  hat,  und  schon 
giebt  es  hier  einen  Bischof.  .\  cht  zig  Jahre 
spater  weihte  der  Mailänder  Bischof  Amhro- 
lins  die  Laurentius-Basilika  ein;  es  ist  charak- 
tonstiseb  fiir  Davidtohn,  daTs  er  glaabbaft 
machen  will,  Florenz  verdanke  ^leinc  Iiiteste 
Kirche  einer  Jüdin,  da  sich  das  Vorgeben 
enwa  lapsns  lingoae  (Ambrosiitt  hatte  in 
seiner  Weihrede  einmal  'Judaea'  statt  Juliuna 
gesagt)  als  Ehetorenkunstetück  entpuppe. 
Dagegen  wird  die  ErOrterong  der  Anftage 
der  Reparata-Verehrun;;  durch  ihren  Scharf- 
linQ  und  ihre  zwingenden  Schlösse  jeden 
iibenteagen;  e«  w«r  nicht  leicht,  ans  dem 
nppipen  Geranke  und  Gewirre  spUtmittel- 
aiterlicher,  gefälschter  L^end^  den  wahren 
Kam  hetmnsKUBchUen,  wie  es  gekommen  ist, 
daTs  die  [der  Zeit  nach)  zweite  Bischofs- 
kirche TOn  Florenz,  die  erst  im  14.  Jahr- 
htmdert  dem  Dombau  hat  weichen  müssen, 
gerade  einer  i^yriacb-griechi sehen  Märtyrerin 
au»  Caesarea  zu)r*»pipnef  war.  In  solchen 
diffizilen  Untersuchuugen  zeigt  sich  der  Verf. 
als  Meister  exakter  Forschung  und  kritischer 
Methode.  Kühl  bis  an^  Herz  hinan  steht  er 
dem  Gegenstände  gegenüber,  den  er  unter- 
sucht; D.  kommt  einem  bei  dem  Verfahren, 
die  verhüllten  Fälden  7.n  pntwirr<»n  nnd  das 
innerste  Gewebe  blofazulcgen,  wie  ein  Anatom 
vor,  der  am  8est«r(iedie  mAae»  Amtes  waltet. 

Das  hat  aher  atich  «eine  Oefahr  So  lanpe 
sich  der  Uistoriker  auf  dem  Boden  der  reinen 
Ihterie,  der  Erforsehiuig  de«  ThatsBchllehen 
bewegt,  braucht  er  nur  die  Schilrfe  th  Ver 
itandes  schalten  zu  lassen  |  begiebt  er  sich 
aber  auf  dos  Feld  des  Olanbens,  will  er  die  Oe- 
Bchichte  reli^'iöser  rijerzen^rinigen  .-^chreilien, 
•0  muft  er  es  sich  bei  aller  Vorurteilalosig- 
Ut,  bei  aller  Vermeidung  liebloMr  Ein- 
«iti^Mk  ^kwh  angelegen  seia  liaaea,  dorn 


jeweiligen  Zustande  des  Herzens  dessen,  den 
«r  sehildeni  will,  durch  ein  gewisses  Nach- 
empfinden pcrpcht  zu  werden.  Diese  Pflicht 
eines  wahrhaft  objektiven  Geschichtschreibers 
hat  Davideoha  netnes  Sraditeas  venKomt. 
Das  tritt  besonders  da  7xi  Tajje,  wo  sich 
um  die  DarsteUong  der  Glaubenskämpfe 
handelt,  die  Floreni  aar  Zeit  der  Beform- 
ljt'wegun<j  innerhalb  des  abendlflndipchcn 
Christentums  und  während  der  Investitur- 
■treitiglMiten  durchgemacht  hat.  Wer  wire 
es  entschieden  am  Platze  gewesen,  sich  in 
die  Seele  eines  äberzeagien^  ernst  denkenden 
Christen  des  11.  Jahrhunderts  sn  Tersetsen 
—  Davidsobn  hat  nicht  einmal  den  Versuch 
gewagt.  Über  die  Vorglinge  selbst,  die 
Vorgeschichte  und  die  genauen  Daten  der 
Ereignisse  «nteiriehtet  er  uns  ausgezeichnet ; 
nher  ihren  inneren  Sinn  würdigt  er  nicht, 
da  er  vuo  der  Höhe  eines  über  derlei  ver- 
altete Märchen  erhabenen  Kulturmenschen 
(in  d<>  siecle  hfruhldickt.  Zum  Beli.>j;t'  da- 
für will  ich  aus  dem  reichen  Inbiüte  des 
sehr  ansfflhirlidi  gehaltenen  Werkes  eine 
Partie  herausgreifen,  an  der  ^^ich  die  Vor- 
aOge,  aber  auch  die  Schattenseiten  der 
DandeohiMehen  SehaflSens-  nnd  Sehreibweise 
recht  deutlich  studieren  lassen.  Der  Ver- 
fasser hat  —  aus  äuTscrcn,  buchtechnischen 
erfinden  —  die  grOfste  Zahl  der  cur  Kon- 
trole  seiner  vielfach  unerwarteten  Hel  l  t] 
tungen  nötigen  Anmerkungen  und  sämtliche 
Exlnirse  einem  Beiheft  fiberwiesen,  das 
'Forschungen  u.  s.  w.'  (siehe  oben  unter  Xr  2) 
betitelt  ist,  eigene  Seitenzahlen  aufweist  und 
aach  inhaltlidi  som  Tdle  selbständigen 
Wert  besitzt.  Diese  'Forschungen'  bringen 
auf  S,  55 — 60  eine  bisher  nirgends  veröffent- 
lichte Vita  des  Abtes  Johannes  Gualberti 
(t  1073).  Geschrieben  ist  sie  von  einem  un- 
bekannten Vallombrosaner  Mönch,  tinem 
Schüler  des  schneidigen  AutiHimünislcn,  um 
das  Jahr  1127.  Sie  ist  deshalb  wertvoll,  weil 
sie  über  die  kirchliehe  Reformbewegung 
des  11.  Jabrhs.,  besonders  über  den  Floren- 
tiner Btscholintreit  von  1067  Einaelheiten 
bringrt .  die  dnn.  was  man  bisher  von  jener 
i'eriode  des  Kampfes  gegen  die  Simonie 
tmd  fBr  das  Colibat  wirkte,  wesmUieh  er- 
gänzen und  berichtigen.  Zunächst  wirft  eine 
Stelle  über  den  Bischof  HUdebrand  von 
Florens  (1007/lOOB— 10S4/25)  ein  grellee  Lieht 
auf  das  Treiben  der  verheirateten  Geist- 
lichen. 'Cum  [domnuü  Guarinua  Septi- 
mensis  ooenobis  abbas  primus]  quodam  tem- 
pore ]iro  quodam  negotio  acccRf^isset  ad 
Florentiuuni  aepiscopnm  nomine  lldebrandum 
emnque  peroraiflet  rem  pro  qua  venerat  et 
eipeetarat  aepisooiii  reaponsioiieBit  coqjux 


.  j  ^  d  by  Google 


220 


Aiueig«ii  and  ICttotlnqgeii. 


•epiicopi  nomine  Alborga  iuxta  enm  ledeiiB 

reepondll:  <  Domne  alibas,  de  hac  re,  pro  qua 
tu  postulas,  domouB  meus  ooo  est  adbuc  coa- 
dliatni;  ipse  loqnefcar  cum  auis  fideHbns  et 
rpfipondebit  tibi  quod  sibi  placuerit  >  Ad 
hanc  vocem  abbas  zelo  dei  acceiuue  c^pit 
vebementer  contra  mn  maledicüonia  vm>a 
promere  diceus:  .-Tu  maledicta  Jezsibel,  tauii 
coDScia  reatits,  audes  loqui  ante  coaveaiam 
boooraitt  homliitguii  vel  deiiconun,  qtiM  de- 
bercR  ipui"  comburi,  quia  tale  dei  plasma 
deique  sacerdotem  detorpare  preaamuati?»' 
IKeamal  bekam  der  eifernd«  Abt  noch  recht 
von  Rom:  der  Klostervonstflu-r  von  Sottinio 
erhielt  Krummstab,  Saadalco,  Mitra  und 
Hindidralie  als  Abzeichen  eeiner  hohen 
Wdrde  und  wurde  dem  Pujiste  direkt  unter- 
stellt —  ein  halbes  Jahrhundert  sp&ter  aber 
nnfstei)  die  MOnche  nnTerrichteter  Dinge 
abziehen.  Das  war  1067.  Unter  der  Führung 
des  Abtes  Rodulfua  von  Moscheto  erschien 
die  Partei  Johanns  in  Rom,  imi  der  Synode 
und  Alexander  dem  Zweiten  die  Beschwerden 
der  Mönche  über  die  Simonie  des  Bischofs 
Pietro  Mezzabarba  von  Florenz  vorzutragen. 
Itotcdem  aber  der  allmächtige  Hüdebrand, 
der  spätere  (Irc^or  V'II.  ('vir  acf»repiua  et 
excelleutiääüuuH  ttlterüamaiierj,  den. München 
sekundierte,  siegten  doch  die  Gemärsi^'ton, 
Pier  Damian!  nn  der  Spitze.  Die  Niederlage 
der  Ultras  ist  aui'serordentlich  lebendig  ge- 
■ehildert;  dabei  macht  die  Erzählung  den 
wohlthuenden  Eindruck  historischer  Treue, 
Schonfärberei  ver8chmfi.ht  der  wahrheits- 
liebende Antor  prinzipiell. 

Interessant  in  kulturgeschichtlicher  Be- 
ziehung endlich  ist  der  Bericht  deshalb,  weil 
er  das  zeitlioli  erite  Beispiel  der  in 
Florenz  heute  noch  beliebten  'beffe'  bietet. 
Die  schlanen  Florentiner  wollten  gern  heraus- 
bekommen, wieviel  der  Vater  ihm  Bischofsi 
der  reiche  Pavese  Teuzo  Mezzabarba,  für 
die  Übertragung  des  Bistums  auf  seinen 
Sohn  angelegt  häie:  'c Domne Tenso,  moltom 
pretii  jiro  filii  tui  diguitate  regi  contulisti ?  * 
Quibus  iUe  utpote  simplicissimus  homo  c^ pit 
ittretorando  fieere:  «Per  corpus  s.  Syri,  nec 
unum  molendinum  potost  homo  in  domo 
domini  mei  regia  [Henrici  IV.]  habere  sine 
magno  pretio  oedum  talem  consequi  aepis- 
cqMftam.»  At  ilU  haao  andientes  alacres  et 
avidi  rem  scitari  rursus  expostulant  dicentes : 
«Die  ergo  si  placet  tu§  nobilitatt,  quantnm 
summe  potuit  haec  res  constaro  tibi?>  At 
ille:  Per  s  Syrimi,  sie  tria  milia  libraM 
potestis  beue  «cire  me  prupter  himc  aepiRCo- 
patom  aeqnimdiim  dedisee  s^itut  unum 
valctiü  crfdcre  nnmwwmn  X)ie  f  loEentiAer 
wuIsten  genug. 


Dennoch  saTs  der  otfenbarer  Simonie  Ober- 
führte  Bischof  r-u  fest  auf  Beinem  Stuhle; 
ihn  zu  entfernen,  kostete  grofae  Mühe:  ein 
Gewaltmittel  deuiagogischester  Art  raufste 
herhalten,  damit  die  eifernden  Mönche  den 
verhafsten  Mann  stürzen  konnten.  Eüns  der 
interessaoleetai  Schauspiele  des  viuid«r> 
gläubigen  Mittelalters,  die  Feuerprobe, 
wurde  im  Kloster  Settimo  veranstaltet  i  und 
der  Ton  Johumes  Ckialbeiti  fBr  dies  immer* 
hin  nicht  ganz  uugef;!hrlirhe  Experiment  be- 
stimmte Petrus  (später  'Igoeus'  zubenamset) 
enlsehied  dnrdi  seine  am  IS.  Febroar  1068 
glücklich  durchgeführte  That,  dafs  die  Sache 
der  Bischofiigegnw  die  gerechte  sei.  Fesselnd 
besehrnbt  Davidsohn  (8.  SS7  ff.  des  I.  Bandes) 
die  Vorgänge,  dii'  zu  der  aufregenden  Probe 
führen,  die  Vorbereitungen  dazu,  das  Gottes- 
gericht sdbst  und  die  Folgen  davon.  Vnr 
schade,  dafs  er  es  hier  wie  an  so  vielen 
anderen  Stellen  seines  Werkes  nicht  unter- 
lassen kann,  dem  Wiuder-  nnd  Abergbinben 
der  katholischen  Kirche  eins  anzuhängen. 
Mit  sichtlichem  Behagen  verweilt  er  gerade 
bei  Schilderungen  soldier  Ereignisse,  welche 
starke  Bigotterie  beweisen  und  lilieralerer 
Denkweise  als  lächerlich  und  komisch  er- 
scheinen müssen.  Hier  hat  er  es  z.  B.  nicht 
verschmäht,  zur  Bekräfligtmg  seiner  von 
jedem  VfTTtnnftijreti  Ho^vieHo  geteilten  Behaup- 
tung: da.»;  Orakel  der  Feuerprobe  brauche  bei 
günstigem  Ausgange  durchaus  nicht  als  ein 
Wunder  aufgefafst  m  werden,  ein  Gutachten 
des  Berliner  Branddirektors  heranzuziehen! 
Das  geht  entschieden  tu  weit  Ich  habe 
schon  an  anderer  Stelle  lOest.  Litt.-Bl.  VI 
Nr.  9  8p.  267)  Gelegenheit  genommen,  den 
Verf.  KU  bitten,  deatarUge  SpUhefaen  in  den 
zukünftigen  Bänden  zu  unterlassen;  und  ich 
«riederbolo  diese  Mahnung  hier,  weil  ich  der 
Übeixeugting  bin,  ihre  Befolgung  werde  dem 
grofs  angelegten  Werke  nur  sum  Segen  ge- 
reichen. 

Ton  Davidsohas  Bnch  kann  ich  fito  heute 

nicht  Abschied  nehmen,  ohne  meiner  An- 
erkennung  vor  der  trots  der  eben  gemachten 
Ansstellnngen  hochbedentsamen  Leistung  da- 
durch eine  weitere  Stütze  zu  verleihen,  dafs 
ich  auf  die  schöne  Ausstattung  hinweise.  Die 
Königliche  Hofbttcfaliandlung  von  Emst  Sieg 
fried  Mittler  und  Sohn  hat  dadurch  von 
neuem  bewiesen,  dafs  der  deutsche  Buch- 
handel heote  noch  Idealen  lebi  ^tpier, 
Satz  und  Druck  sind  vorzüglich.  Besonderes 
Lob  verdient  das  sorgfältig  zusammen- 
gestellte Register  und  die  trotz  der  grofsen 
Opfer  noch  ermi^lichie  Beigabe  eines  Planes 
von  Florenz,  wie  es  nach  den  Rcstiltaten 
der  D.8cheu  Fonchungen  Anfang  des  13.  Jabr- 


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Aucigm  und  Hittflilnnipen. 


891 


bondertB  im  GrandriA  anagesehen  haben 
aagi  df»  laabcve  Zaiiiluiiiiig  dasn  Iwt  d«r 
bdiannte  Statt^^arter  EoiutlugtMikir  CoflMl 
von  Fabiicsy  angefertigt. 

Hai»  7.  Waawvt. 

Altdectschx  PAsaioRBtriKu  AU»  TnoL.  Mit 
Ahhindlimgieii  über  ihre  Entwidnliiiig, 
Komposition,  Quellen,  AoffOhrungen  und 
iittenuhistorische  Stellung  herauagflgeben 
Ton  J.  £.  WAOKsavai^iu  Qn»,  Slgrfi» 
CCCXrV*,  550S  8.  [Quellen  und  Forschun- 
nin  zur  G^chichte,  Litteratur  und  ijprache 
(menretebl  und  tdaer  Kronlftader.  Durch 
die  Leoge«ell8chaft  herausgegeben  von 
Dr.  J.  Hirn  und  Dr.  J.  E.  Waokernell, 
0.  8.  Fwötm&mn  m  der  üsivetdttfc  buui- 
brack.  I.J 

OegenwÄrtip  hat  das  Studium  äer  deut- 
schen Philologie  in  Österreich  tint'n  viel 
breiteren  Boden  als  in  Deutschland.  Da« 
BewuTstAeiu,  dafa  Österreich  seit  <lvi\  Zeiten 
iet  Minnesaug-R  eine  so  hervorragende  Stel- 
lung in  der  deutschen  Litteratur  eingenommen 
hat,  weckt  die  Begeisterung,  das  nherk ommenp 
Erbe  gegen  Slawentum  und  Wälschtum  zu 
Vahren  und  in  der  wineniehflftliehen  ISr- 
«cbiiefsung  alter  und  neuer,  noch  vf-rhorgonor 
Sch&tze  der  Mit-  und  Nachwelt  zu  zeigen, 
was  Ostendeh  flbr  die  EntwidielanipdeQtMSien 
Wp!nr,=  Ii r deutet.  Nun  sind  zwar  die  groTspn 
Utteranschen  und  geschichtlichen  Erschci- 
«ragen  de*  IGttelalten  iMkaont,  aber  wie 
viel  ruht  noch  in  den  Archiven  und  Biblio- 
theken, das  neben  diesen  weltkundigen 
Ortben  fllr  beechrinktere  Kreiee  seine  Be- 
deutung hatt^  und  gleichwohl  lifferatur-  und 
knltazgeachichtlich  von  höchster  Bedeutung 
iit.  Beeonden  seit  der  MtCe  dei  IS.  Jahr- 
hunderts tritt  ÜBterreich  in  den  dcntschen 
Idtteraturgeschichten  aoffallend  znxfick.  Dar 
«nf  bal  taaa  in  Ofterrdcli  bisher  ni  wenig 
Aufmerksamkeit  gerichtet.  Giebt  es  doch 
s.  B.  noch  keine  ausreichende  Sammlung 
ürolieeher  Volkslieder,  geschweige  denn 
eine  litterarbiitoriiehe  Untersuchung  dar- 
über. Hier  wollen  nun  die  von  Hirn  und 
Wackerneil  begründeten  österreichischen 
Quellen  und  Forschungen  helfen  Sie  sollen 
nach  der  Ankündigung  Abhandlungen  und 
Ausgaben,  Biographien  einzelner  Persönlich- 
keiten und  /usauiinenfassende  Darstellung 
kleiner  Perioden  oder  gröfserer  Zeiträume  ent- 
halten. Blofse  Neudrucke  ohne  einschlägige 
wissenschaiUiohe  Untersuchungen  werden  mw 
bei  besonders  wertvollen  Litteraturwerken 
zugelassen.  Die  Ittterai^eschichtUche  und 
ipneiilitdw  Seite  itebt  im  Vordergnmde, 
Äer  Midi  «tgentUeb«  GeedUditiquelleBf  Ur- 


kunden, Briefe  u.  dgl.  sollen  ihre  Steile 
flnden,  wranegeeetet,  daTs  sie  ans  Sster- 

reichischen  Archivh  est  linden  stammen  oder 
doch  vorherrschend  Osterreichische  Verhält- 
nisse behanddn.  Bei  streng  wiMenscbaft- 
Ucher  Form  und  Methode  soll  doch  auch 
thunlichst  auf  weitere  Leserkreise  ttücksicht 
genommen  werden. 

Zuer.'^t  hat  A.  Hauffen  die  deutsche 
Hprachinsel  Gottachee,  ihre  Volkslieder, 
Sagen,  MBtcben,  Sitten  und  Oebriadie  be- 
handelt (erschienen  1896  als  III.  Band)  und 
damit  ein  schönes  Zeugnis  von  dem  deut- 
schen Charakter  des  üntemehmens  ab- 
gelegt. Etwas  weiter  ab  liegt  der  II.  Band 
'Die  ältesten  Totcnbücher  des  Cistercienser- 
etlfts  Wilhering  in  Österreich  ob  der  Enns' 
von  O.  Grillnberger.  Von  um  so  gröfserer 
litteratur-  und  kulturgeschichtlicher  Bedeu- 
tung ist  der  vorliegende  I.  Band  Aber  die 
Tiroler  Passionsspiele,  ein  überraschender  Be- 
weis für  das  so  oft  bew&hrte  'Sachet,  so 
werdet  ihr  finden*. 

Denn  was  uns  vorliegt,  ist  das  Ergebnis 
mphr  nl«  zehiijühriger  emsigster  archiva- 
liücher  Forachuiig  and  philologischer  Arbeit 
auf  einem  Gebiete,  von  dem  eigentlich  nur 
da«  rohe  Material  von  Adolf  Pichler  vor 
mehr  als  &0  Jahren  bekannt  gemacht  war. 
Sdion  188T  hatte  WaekeraeU  etne  vortlnfige 
r^ntersuchunir  t\rr  drei  Jlltesten  Text«*  der 
Tiroler  Pafisiousspiele  in  den  Wiener  Bei- 
trSgea  (Wien,  Braninflller)  verSffimtlicht  and 
diese  al;»  .\hnehrifTen  resp.  Bearbeitungen  einer 
verlorenen  Vorlage  ^des  'Tiroler  Pussions*) 
erwiesen.  Aneb  eine  allgemeine  istbetisehe 
Würdigung  war  damit  verbunden.  Pa-  <  r* 
konnte  al»  eine  Einleitung  in  das  nunmehr 
vollendete  grofse  Wedt  betraehtet  werden. 
Dieses  aber  uininit  die  ganze  Untersuchung 
noch  einmal  von  vom  auf,  befestigt  die 
bereite  in  der  ersten  Sehnft  gewouneiien 
Ergebnisse  nach  allen  Seiten  hin,  untersucht 
die  Quellen,  die  maanigfachoi  Verzweigungen, 
die  EinflQsse  anf  spAtere  Diehtnngen  und 
geht  überhaupt  allen  historischen  und  philo» 
logischen  Fragen  nach,  die  in  dem  so  be- 
stimmt abg^^enzten,  einen  Zeitraum  von 
anderthalb  Jafarimnderten  wafaesendeii  Oa- 
biete  liegen. 

Die  erste  Schrift  hatte  nur  a  Texte  unter- 
sucht, den  Sterzinger,  den  Pfarrkircherschen 
und  den  Haller  Text;  jetzt  werden  nicht 
weniger  als  1^  Texte  geboten.  Damit  ist 
aber  die  Zahl  der  jetzt  bekannten  Hand- 
schriften und  Drucke  noch  lange  nicht  er- 
schöpft; es  sind  nur  die  altdeutschen;  die 
jungem  flboiiehtUdi  awogliedem  hat  eich 
Verf.  wie  noeh  maaehes  andere  fllr  eine  be* 


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Aluteigett  und  ]Ctt«il«iiig«ii. 


m 

■ondere  Arbeit  vorbdialtaD,  da  dM  obnehin 

sclion  80  amfanfrri'icbc  Werk  ins  T'upouiosseuo 
aogescbwolleii  wäre.  Hier  darl'  man  g«wils 
aii«h  «of  die  Biueihung  des  Oberammer- 
gauer  Passion?  in  die  ('lirrlictVrung  rechnen. 
Die  blofaen  Texte  zu  geben,  lag  nicht  in  der 
Absicht  Wackemetb;  der  eigeniUehe  Wert 
des  Buches  liegt  in  der  Ausnutzung  Jcij 
Materials  nach  der  litterar*  and  kultur- 
bietoriidien  Seite  hin.  Und  daaa  bot  auch 
die  scheinbar  trockenste  Untersuchung  Ge- 
legenheit. Di«  mit  dem  ganseo  philologi- 
schen Appu^at  geführte  Untersuchung  des 
HandschriftenverhliltBiBses  i.  B.,  ein  ebenso 
notwendiger  wie  unangenehmer  Teil  jeder 
Ausgabe,  ist  gleichwohl  mit  sehr  inter- 
essanten Ergebnissen  der  Testgeschicbto 
verknüpft,  wie  Kollcuorweiteninff ,  T?olI»'n- 
veriinderung,  luterpolaLiüueu  uub  maumg- 
fachen  Gründen,  die  kulturhistoriseh  von 
TntereHge  sind  Die  .\rf  der  Aufführungen 
wird  hin  iun  kleiiibte  fLät^stellt;  Namen 
und  Stand  der  Spieler,  ihre  Kleidung,  die 
Kosten,  die  Bühneneinrichtung  ^ind  urkund- 
lich vorhaaden,  und  aus  ihnen  ergiebt  sich 
ein  so  Uares  QesamlbUd  dieser  ganaen 
Kunstübung,  ■wie  es  heute  der  genaueste 
Bericht  von  Oberammergau  nicht  besser 
geben  kann.  Andi  die  allmähliche  Ent- 
■wickelung  von  der  alten ,  an  Ort  und  Zeit 
gebundenen  Technik  za  der  modernen,  die 
niehi  mdir  die  alte  DreisaU  der  Avfltth- 
rungen  (Gründonnerstag,  Charfreilag  und 
1.  Osterta^)  festhält,  sondern  alles  an  einem 
Tage  erledigt,  der  beliebig  in  der  schönen 
Sommerzeit  gewählt  -wird ,  enicheint  in  den 
lotsten  Aafführangen  des  Steizioger  Fassions 
(Vision  ist  «rkondlich  in  diesem  Sinne 
Maekniinum),  besonders  der  letzten  von  1580. 
Nicht  minder  interessant  ist  die  Thatsache, 
dab  bereite  1614  bei  der  groAen  sieb«i- 
tägigen  Passionsauffühning  in  Bosen,  der 
glänzendsten,  die  Deutschland  je  gesehen 
hat,  Frauuu  mitspielten  und  sogar  eine 
'Spielregentiu*  genannt  wird.  Bisher  schrieb 
man  diese  Nmimmg  im  Bühnenwesen  erat 
dem  17.  Jahrhundert  zu.  Von  Einzelheiten 
sei  erwUmt,  dafs  hier  auch  Hans  Kied,  der 
saumselige  Abschreiber  des  Heldenbuehes, 
mitspielte. 

Ein  dritter,  sehr  wichtiger  Funkt  für  die 

Untersuchungen  war  die  Feststellung  der 
Quellen,  aus  denen  die  Urfassung  sowohl 
sÄs  die  ▼emehiedenen  Ornppen  insbesondere 

geflossen  sind.  Die  Biliel  steht  natürlich  in 
erster  Linie,  daneben  aber  greifen  auch 
Legenden  ein  vmd  vor  allem  lokale  und 

persördiche  Uedürfnifc^e  und  VerhäUiiisBe,  s« 
die  Wünsche  der  Spieler,  die  durchaus  dem 


besseren  Teile  der  GeseUsdiaft  angdriMen, 

die  Regahung  des  Bearbeiters,  das4  mora- 
lische Interesse  endlich,  das  die  Spiele  zu- 
gleich als  Fredigten  verwerten  will  und  u.  a. 
die  Teufelsszenen  als  Füttonspiegcl  der  Zeit 
erfindet.  Auch  gegenseitige  liintlehnungen 
treten  deutlieh  hervor. 

Alle  diese  mannigfaltigen  Gesichtspunkte 
halten  da»;  Interesse  an  den  weitläufigen 
Untersuchungen  des  1.  Teils  atebs  rege. 
Gleich  das  erste  Kapitel  führt  uns  durch 
seine  Nachrichten  über  die  Spielsammler  und 
gewissermafsen  Impresarios  Benedikt  Debe 
und  Vigil  Raber  mitten  in  die  spielfrohe 
Zeit  und  ihr  Treiben.  Ek  ffdgen  die  Unter- 
suchungen über  die  einzelnen  Spiele,  zu- 
nächst die  Bozener  und  Sterzinger  und  ihr 
Verhältnis  zu  einander  Im  Anschluls  daran 
erfahrt  der  'Tiroler  Passiou',  jene  auf  philo- 
logischem Wege  gewonnene  Grundlage  der 
Einzelgruppen,  eine  eingehende  Analyse  nach 
seinem  hohen  dramatischen  Werte,  nach 
seinen  Quellen  und  Nachwirkungen,  nach 
Keiner  litterarischen  und  kulturhistoririchen 
Bedeutung.  Auch  der  Dichter  wird  schon 
hier  In  den  Hauptadgoa  eharakteriaieit, 
doch  ist  ihm  noch  ein  besonderes  spateres 
Kapitel  (XX)  gewidmet,  was  bei  der  Bedeu- 
tung seine«  Werkes  durchaus  g^ereohtfertigi, 
ja  notwendig  ist.  —  Die  AufTührungen  ia 
Hall  und  Schwas,  die  darauf  behandelt  wer- 
den, erbalteo  Bnreiterangen,  beeondera  im 
Vurspiel,  und  diese  werden  sofort  wieder  in 
Bozen  aufgenommen,  wo  dann  1614,  noch 
durdi  vide  andere  Zuthaten  bereidhert,  iin 
grofse  siebentägige  Aufführung  zu  «tande 
kommt,  die  den  Glanzpunkt  der  Eatwicke- 
lung  bezeichnet  und  demgemift  in  eum 
besonderen  Kapitel  erCrtert  wird.  Elndlich 
folgt  die  Untersuchung  über  den  Brixener 
Passion  und  sein  Verhältnis  zu  den  aadwoi. 

In  einigen  kleineren  Ka|ntdn  werden  so* 
dann  die  (JeHanitergebniRse  gezogen.  Unter 
ihnen  i^l  besonders  Kap.  XXI  über  die  Stel- 
lung des  Tiroler  Passions  im  Oesamtzusammen- 
hange  der  Pa><5»ions!a]>iele  Deutschlands  her- 
vorzuheben. Er  bildet  gerade  die  Blütezeit., 
die  dritte  Periode,  ca.  1400 — 1515,  die  durch 
das  Aufblühen  der  Stildle,  ihren  KuuBi»inn 
imd  ihre  Xunstfreude  bedingt  wurde,  die  für 
die  wohlhabenden  Bflrger  dasselbe  bedeutete, 
was  früher  Singen  und  Sagen  den  Kittcm 
war.  Sterzing  ist  der  Mittelpunkt;  von  da 
geht  die  Bewegung  nordwMa  nach  BM  und 
Schwaz  und  ^^üdw'lrtB  bis  Bozen,  ja  darüber 
hinaus  bis  nach  Wiüschland  hinein.  Die 
vorhergehende  Periode  wird  durch  den 
ültcsten  Frankfurt  er  Pas-^ion  bezeichnet  UUd 
umfaTst  etwa  das  14.  Jahrhundert. 


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Anseigvn  vaA  UittaUnngon. 


333 


Hier  und  die  Anfänge  dramatiicher  Ge- 

ttaltujDg,  die  Abhebung  von  Einzelperaonen 
ron  der  Ma^s^e,  dialogische  Entwickelang, 
Yenifiiieriiug,  deutücher  Text,  Dispositiön 
a.  Ag\.  wahrnehmbar,  während  in  «it-r  t-rsteB 
Periode,  dem  13.  Jahrhundert,  nur  kOmmer- 
liche  Markienwg  der  Handlung  ohne  Dialog 
in  lateinischer  Proaa  erscheint.  Der  Ver- 
fall. cJif  4.  PeriodL",  trat  im  Laufe  deB 
16.  Jakrhunderts  ein,  d.  b.  die  völlige  L08- 
lösang  ron  dem  kirchlichen  Charakter,  Ein- 
fuhrang  der  Frauenrollen  u.  dgl.  In  diesen 
Zosammenhang  treten  die  Passionsepiele  hier 
mm  «nten  Male,  und  dies  allein  ist  schon 
eine  wertn  Hf  Bereicherung  der  T.itteratur- 
geschicht«.  k^iu  folgendes  Kapitel  giebt  über 
<!•  T«Ktbeliuidliiii|r  ReeheaMliafl  mid  eia 
letztes  f!ber  'neuest*^:  '/.rrx&chs',  der  Bich 
noch  während  des  Druckte  einstellte. 

Jm  ««retten  Tefle  dee  Badiei  folgen  die 
Tf=xt€  1—480)  Leitender  Text  ist  für 
die  beiden  ersten  -Spiele  (Gründonnerstag 
mi  ChatfMtag)  der  Stendnger;  «b  Lee- 
srten  sind  darunter  gesetzt  der  'Amerikaner' 
t«ue  nach  Amerika  venchlagene  Handschrift), 
iet  Boaeaer,  der  PAurrkirdier,  eine  Mieeb* 
handBchrifl  und  die  alten  Bruchstücke  des 
Brizener  Paasioos.  für  da«  3.  Spiel  (Ostertag) 
irt  der  Pfimüieher  Text  die  dmadlage;  in 
den  Lesarten  stehen  für  den  ersten  Teil  der 
AoMrikaner,  Bozener  und  Brixener,  für  den 
twdteo  Teil  der  Haller.  Darauf  folgt  der 
Haller  Passion  mit  den  Lesarten  der  Misch- 
handschrift,  dann  der  Brizener  und  endlich 
das  Vorspiel  nach  der  Hischhandschrift  und 
da«  Nachspiel  aus  dem  Pfarrkircher  Passion. 
Zn  diesen  Texten  titidpn  wir  S  481 
reiche  Anmerkungen  Kpruchiicher  und 
«achlicher  .Art  ,  and  was  hier  an  Beaonder- 
btiten  des  Wortacbatzes  nicht  besprochen 
werden  konnte,  ist  doch  im  Öl  ossär  ver- 
teichnet  (8.  614 — 544),  das  als  eine  wert- 
willf  Ergilnznng  zn  Weigand  sowohl  als  zu 
Heyne  und  Paul,  sowie  zu  Lexera  mhd. 
Worterbnehe  nnd  sn  den  dialektiiclMii  von 
Schmeller  und  Schopf  zu  belrarhten  ist.  Eine 
ausführliche  Inhaltsangabe  (Ö.  546—650)  er- 
kjditert  die  Obenicht  und  nuMsht  ein  Begieter 
entbehrlich. 

fief.  hat  sich  dem  gewaltigen,  bisher 
gm  nnbekaimten  Ibterial  gegenüber  ein- 
gehendere kritische  Nachpnlfiing  versagen 
müssen  i  die  Bedeutung  des  Werkes,  auf  die 
Uer  liingewieeen  werden  eoUte,  nitd  ohne- 
bin unangefochten  bleiben.  Nur  eine  Frage 
gaits  untergeordneter  Art  sei  gestattet:  Wäre 
M  nicht  empfehlenswert,  die  Oaterreichi- 
»cheu  Formen  ratete  verratet,  ladet  u.  ä.  zu 
tinaaten  der  gemrindeotechen  idiriftsprach- 


licben  Formen  rät,  lädt  aufiiigeben?  Die 

Verba  sind  doch  nun  einmal  stark.  Mit  dem 
Danke  für  den  Spender  des  sLhSnen  Werke« 
aber  seidieHoffiiung  ausgesprucheu,  dafs  one 
die  Oitorreichischen  Quellen  und  Forschungen 
noch  manche  so  bedeutende  Encheinang  be- 
scheren mögen. 

Gomnou»  BoRnonm, 

Onm  YtMwamantmM.  In  Stauten  ftbeveetai 

von  Consta NTi.t  BuLLK.    Bremen  1898, 

M.  Hein^ius  Nacbf.    XVT,  637  S.  «. 

'luB  Deutsche!  übersetzen  heifst  in  Sprache 
und  Stil  unserer  grofsen  Dichter  übersetzen* 
hat  V  Wilaiiiowitz  als  Grundsat/,  aufgestellt, 
als  er  den  Hippoljtos  des  Euripides  mit 
dmitidier  Übersetzung  heranegab.  Es  ist 
grrade  in  den  letzten  Jahren  eine  g'anze 
iteihe  von  Versuchen  gemacht  worden,  kias- 
■iiehe  Bicblnngen  in  modernen  Tenmaften 
wiederzugeben,  In  der  rüditlgen  Erwägung, 
dafs  ein  getreues  Nachemphnden  der  Stim- 
mung oft  in  der  anderen  Spradie  andere 
Formen  wählen  heifst  So  hat  Franz  Bader 
in  seiner  Nachbildung  von  sechs  Tragödien 
dee  Sopboklee,  die  siä  such  neben  Wendts 

gchöuer  Sophoklesübersetzunp  sehen  lassen 
darf,  mit  Glück  statt  des  Trimeters  den 
Blankven  onaerer  grofaen  Dnunattker  ver- 
wendet, während  ihm  in  den  lyrischen  Par- 
tien vielfach  Goethes  Vorbild  maisgebend 
war.  Weniger  gelangen  die  Bearbeitungen 
Humers.  Dafs  Jemand  alle  24  Bücher  der 
liia«  in  gereimten  trochäischen  Langzeilen 
ins  Plattdeutsche  Übertragen  hat  mit  der 
seltsamen  liegniudung,  Homer  müsse  in  einen 
Dialekt  übersetzt  werden,  weil  er  »lelbst  im 
Diiilckt  gedichtet  habe,  wird  zwar  bald 
wieder  vergessen  sein.  Aber  auch  Herman 
V  Schilling,  der  .jüngst  verstorbene  greise 
StauiHinauu,  hat  mit  seiner  Odyssee  in 
Stanzen  nur  einen  Aektangserfolg  erreicht. 
Für  bedeutsamer  halten  vrir  Oonstantin 
BuUes  Stanzenübersetzung  von  Ovids  Meta- 
morphosen. Die  KU  Ghrunde  Upende  Idee 
ist  ohne  Zweifel  richtig,  die  Durchführung 
aller  Ehren  wert.  Die  Stanse,  das  typische 
YeremaAi  des  xomantladien  Siuutepos,  iat 
aufserordentlich  geeignet,  die  Fülle  der  Ovidi- 
schen  Märchenwunder  aufzunehmen.  Wurde 
ja  edbon  Sebiller  dureh  das  Etaeheinen  dee 
Wielandschon  Idris  «nd  Oberou  da\on  über- 
zeugt, dafs  sie  wie  für  das  Leichte  und  An- 
mutige, so  fBr  das  PaihetiBebe  und  Schredc- 
hafte  einen  Ausdruck  habe,  'freilich  nur  unter 
den  Händen  eines  Meisters'.  Auch  Goethe 
batte  die  Sebwierigkeit  dieeer  Form  vkHA 
unterschätzt.  Als  er  die  der  Ottava  rima 
angenäherten  Stanzen  von  Heinse  kennen 


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224 


Anzeigen  und  Mitteilungen. 


lernte,  urteilte  er  begeistert:  so  etwas  habe 
er  fiir  unmöglich  gehalten,  'aber  der  Teufel 
mache  fünfzig  solcher  Stanzen  nach !'  Seitdem 
haben  treffliche  Vorbilder  dem  Deutschon 
die  Aufgabe  erleichtert,  der  von  Anfang  an 
dem  Romanen  gegenüber  wegen  des  schweben- 
den Rhythmus  jenes  Idioms  und  dessen  un- 
streitig grOfserer  Reimfülle  im  Nachteil  war. 
Mit  gutem  Erfolg  hat  Bulle  den  Charakter 
der  Stanze  zu  wahren  gewufst,  der  nicht 
verwischt  werden  darf,  ohne  dafs  man  ihren 
Wert  illusorisch  macht.  Er  versteht  es,  trotz 
seiner  Gebundenheit  an  das  Original,  im 
Verlaufe  der  Strophe  zu  steigern  und  in  dem 
schliefsenden  Verspaare  den  durch  die  Natur 
des  Mafses  gebotenen  Abschlufs  des  Ge- 
dankens auszudrücken,  eine  Klippe,  an  der 
Schelling  oft  gescheitert  ist.  Die  R«imfolge 
ist  gewandt,  die  Sprache  flüssig  und  durch- 
sichtig; sicherlich  wird  diese  Umdichtung 
zahlreichen  Philologen  Freude  machen  und 
auch  in  weiteren  Kreisen  zu  der  Erkenntnis 
beitragen,  dafs  die  Metamorphosen  nicht 
blofs  ein  schwer  zu  ersetzendes  Schulbuch, 
sondern  thatsächlich  ein  einzigartiges,  un- 
vergängliches Werk  sind. 

Ilb. 


GOETHE 

UND  DAS  KLASSISCHE  ALTERTUM. 

(Nachtrag.) 

Das  von  mir  in  diesen  Jahrbüchern  (Heft  2 
S.  81  S.)  gewürdigte  Buch  von  Fr.  Thalmayr, 
'Goethe  und  das  klassische  Altertum'  ist  von 
H.  Morsch  in  der  'Berliner  philologischen 
Wochenschria'  (1898  Nr.  S  Sp.  81  «.)  zum 


Gegenstand  einer  scharfen  Kritik  gemacht 
worden.  Der  Rezensent  weist  nach,  dafs 
der  Verf.  unselbständig  gearbeitet  hat,  in- 
dem er  in  den  wichtigsten  Kapiteln  ganze 
Seiten  wörtlich  aus  den  Schriften  seiner  Vor- 
gänger wieder  abdrucken  liefs,  ohne  überall 
seine  Quellen  zu  nennen.  Im  einzelnen  be- 
zieht sich  der  Nachweis  auf  zwei  Programm- 
abhandlungen:  die  eine  stammt  von  Morsch 
selbst  (Goethe  und  die  griech.  Bühnendichter, 
Berlin  1888),  die  andere  von  Lücke  Goethe 
und  Homer,  Ilfeld  1884).  Ich  eracht«  es  als 
Pflicht  gegen  die  ausgeschriebenen  Autoren, 
dieses  Sachverhaltes  hier  Erwähnung  zu  thun. 

Thxodob  Voosl. 


EINE  FRAGE  AN  DIE  GOETHEFORSCHER. 

Goethes  Satire  'Götter,  Helden  und  Wie- 
land' schliefst  mit  den  von  Wieland  ge- 
sprochenen Worten:  'Sie  reden,  waa  sie 
wollen ;  mögen  sie  doch  reden,  was  kümmert's 
mich?'  Nun  befindet  sich  im  Museo  nazia- 
nale zu  Neapel  und  im  Britischen  Museum 
je  eine  Gemme  mit  der  Inschrift:  Ujovaiv^  \ 
Sc  ^ilovciv  I  leyhaettv,  \  oii  fiiXt  ftoi,  welche 
im  C.  I.  G.  IV  Nr.  7295  abgedruckt  ist.  Es 
entsteht  die  Frage,  ob  diese  wörtliche  Überein- 
stimmung eine  zufällige  ist,  oder  ob  Goethe 
die  Inschrift  gekannt  hat.  Ich  bemerke  noch, 
dafs  in  beiden  Museen  auch  Exemplare 
existieren,  welche  dem  obigen  Wortlaut 
noch  die  folgenden  zwei  Zeilen  hinzufügen: 
ai)  <pllt  fic  I  ovvtpiqi  «rot.  Vgl.  C.  I.  G.  IV 
Nr.  7293. 

Albkbt  Mülur  (Hannover). 


Berichtigungen. 

S.  48  Z.  22  1.  62  S.  691  ff.  statt  63  S.  1  ff. 
S.  62  Z.  9  v.  u.  1.  Wohllaut  statt  Wortlaut. 
S.  146  Z.  16  V.  u.  1.  Uthina  statt  Utika. 


JAÜRöANG  1898.   ERSTE  ABTEILUNG.    VIERTES  HEFT. 


DIE  NEÜEHTDECKTEN  GEDICHTE  DES  BAECHTLmES. 

Von  JdstüS  Ebkhamn  Lipsiub. 

Seit  vor  sioben  Jahrrn  widw  alles  Verhoffen  des  Aristotolos  Euch  vom  Staat 
der  Athener  und  unmittellmr  ilaiuich  des  Herodas  MiiiiiaiiilM-n  ans  ä^yptischt-n 
Gribem  wieder  erstanden  waren,  durfte  die  Hoffnung  uicbt  iiulu  als  /.u  kühn 
erscheinen,  dafs  auch  von  den  Schöpfungen  der  griechischen  Lyrik  noch  Clm- 
finsenderM  wieder  m  gewinnen  uns  beedhieden  sein  werde,  «Is  das  schon  1856 
«tdeckte  Stade  eines  Fartbeneion  von  AHrman.  Und  über  Erwarten  raech 
nben  wir  diese  Hoffnung  in  Erffillong  gehen,  als  vor  wenig  mehr  als  Jahres- 
frist die  «frenliche  Naehricht  durch  die  Tagesbtötter  lief,  vaiter  den  Papyrus 
des  ^tish  Museum  sei  eiiu  Kolle  mit  Epinikien  des  Bakchylidcs  aufgefniidt  n 
worden.  Wäre  uns  di(>  Im  *  ilu  it  der  Wahl  verstaitet  gewesen,  so  würde  sie 
wohl  auf  einen  anderen  Dichter  gefallen  sein,  als  auf  den,  dem  unter  den  nenn 
Meist«>rTi  des  griechistlu-n  MeloH  nieht  hirtls  der  Zfiffnluc  nruh  die  letzte  Stelle 
an$r<>\vi<stii  war.  Abt-r  als  eine  (lunst  des  Ge.schickt-H  dürfen  wir  es  rühmen, 
littl»  bti  näherer  Prüfung  der  Rolle  neben  vierzehn  Siegesgesungen  sechs  Gedichte 
Ton  anderer  Art  sich  vorfanden.  Denn  mag  es  von  nicht  geringem  Interesse 
sein,  nnnmdlir  rergleichen  ku  können,  wie  die  konventionelle  Form  des  Epinikions 
von  swei  bedentenden  Dichtem  gemäfs  ihrer  Eigenart  verschieden  gehandhabt 
worden  ist^  von  ungleich  hSherem  Werte  ist  es  dodi,  dafe  wir  auch  Ober  andere 
Ijrisdie  Gattungen  nicht  mehr  blofs  ans  abgenssenen  BmchstQckeD,  sondern 
■OS  einer  Anzahl  mehr  oder  weniger  vollständiger  Gedichte  uns  eine  Vorst^^l- 
long  bilden  können  und  damit  unsere  Kenntnis  d«  i  ^ri*  ( liischen  Ohorpoesie 
überhaupt  wesPTiHiche  Ertrtinzung  und  Rcii(  litinning  erfährt. 

Von  den  zwanzig  Gedichten,  «lie  dank  ilem  aufs  tHMie  glänzend  bewührt^'n 
Geschick  und  Eifer  von  F.  (i.  Kenyoii  li<  iitt'  in  «^tntt licln  in  HnndoM  voilit  gen, 
Bind  freilich  nur  .sieben  ganz  vollständig  oder  doch  nur  mit  so  geringfügigen 
Lficken  erhalten,  dai's  deren  Ergänzung  fast  fiberall  mit  voller  Sicherheit  mög- 
lieh  and  der  Gedanke  an  keiner  Stelle  zweifelhaft  ist,  darunter  die  längeren 
Epinikien  auf  Hierons  olympischen  Sieg  mit  dem  Rennpferd  (5)  und  Alexi- 
<^os  Sieg  im  pythischen  Kingkampf  (11),  sowie  die  kflrseren  Siegeslieder  für 
ArgeioH  (2i  und  Lachen  (Ö),  dazu  die  beiden  besonders  interessanten  Gedichte 
»US  der  Theseussage  (IT  und  18),  and  der  Paian  auf  den  pythischen  Apollon  (16), 
«ftwpjt  dieser  im  Papjrrus  enthalten  war.  Von  dem  andern  gröfsercn  Epinikion 
für  üieron  auf  seinen  Wagensieg  in  Olympia  (ä)  fehlen  an  zwei  kurzen  Steilen 


')  The  poems  of  Baechylide«.  fVom  a  Papyros  in  ths  Briliik  lluseam  edited  by 
fnänie  Q.  Kenyon  H.  A.  D.  Litt.  Undon  1897. 

HfM  JakfVtsbv.  INS.  I.  16 


I 


226  H.  Lipaiiu:  Die  nmenideckton  Oediclit«  dM  Bakchylide«. 

grofsere  Zeilenteile,  m  dafs  wenigstens  an  der  einen  der  Zusammenhang  dunkel 
bleibt.  Bedeutendere  Löcken  weisen  die  übrigen  zwölf  Gedichte  auf,  doch  ist 
wenigstens  bei  (ici-  Hälfte  soviel  erhalten,  dal»  ihr  Umfang  im  Pajiyrua  sich 
genau  bestimmen  lültit,  der  von  eiiiein  Strophenpaar  mit  oder  ohne  Epode  bis 
zu  sechs  Perikopen  ansteigt;  es  gilt  dies  von  den  kürzereu  Epinikien  auf 
Hierons  delphischen  Wagensieg  {4)  und  auf  einen  Stadionsieger  aus  Athen  (10), 
von  den  längeren  auf  Automedon  (9)  und  den  such  von  Pindar  gefeierteii 
Pjrtiieas  (13),  und  aus  der  sweiten  Gruppe  Ton  den  Oediditeii  mit  den  Auf- 
schriften Antonoridai  (15)  und  lo  (19).  Auch  Ton  den  kunen  Siegesliedem 
auf  Lachen  (7)  und  einen  Ungenannten  (8),  sowie  dem  langen  ersten  Lied  f5r 
Al^ios  (  I  i  wird  sich  unten  herausstellen,  dafs  ihr  Umfang  sich  weni|pten9 
annähernd  berechnen  läfst  So  bleiben  nur  drei  Gedichte  übrig,  von  denen 
nur  die  Anf finge  mit  K» — L'l^  Kola  vorhanden  nind.  die  Epinikien  auf  Teisias  (12) 
und  Kleoptolemos  (14)  und  du»  Sclihilsfrefücht  der  Sammlung,  Idas  {2i)). 

Schon  dieser  Überi)litk  kann  eine  \ Orstelluiig  geben  von  den  grofsen 
und  kleineu  Lücken  des  Papjrus,  welche  das  bald  auf  die  Ausgabe  gefolgte 
Faksimile')  uns  deutlich  vor  Augen  stelli  Und  dieser  gegenwärtige  Zu- 
stand ist  erst  das  Ergebnis  einer  viel  Hohe  nnd  Sdiaxf  blick  erfordernden 
Arbeit,  von  deren  Schwieri^eit  wir  einen  Begriff  gewinnen,  wenn  wir  hdren, 
dafs  z.  B.  die  sechzehnte  Kolumne  ans  nicht  weniger  als  12  Stficken  sosammen- 
gesetet  werden  mulste.  Jetast  sind  vier  grdfsere  in  sich  zusammenhängende 
Ganze  hergestellt,  von  denen  die  beiden  ersten  nach  einer  glücklichen  Be- 
obachtung von  Blase  unmittelbar  an  einander  schlössen.  Diese  enthalten  auf 
zusammen  22  Knhmmen  die  ersten  zwölf,  das  dritte  Stück  auf  6  Kolumucu 
die  beiden  letzten  Epinikien,  während  die  10  Kolumnen  des  vierten  von  den 
zehn  anderen  (iedichteii  j^etüUt  werden.  Ob  dien  vierte  Stück  voti  einer  zweiten 
l'upyrusroUe  stammt,  wie  um  seines  Inhalts  willen  zu  vermuteu  nahe  lieg;t, 
bssen  äufsere  Gründe  eher  zweifelhafi  erseheinen;  gegen  die  Annahme  nur 
ein^  Rolle  würde  ihr  Umfang  kein  Hindernis  bilden,  da  wir  nieht  wissen, 
wieviel  au&er  den  im  An&ng  und  nach  EoL  29  mindestens  fehlende  5  Kolumnen 
am  Schlds  verloren  g^angen  ist.  Setcen  wir  dafilr  beispielsweise  10  Kolumnen 
in  Rechnung,  so  würde  eine  Rolle  von  54  Kolumnen  zu  durchschnittlich 
35  Zeilen  hinter  der  Zeilenzahl  z.  B.  der  Pythien  Pindars  {1916  in  den  Hand- 
schriften) noch  etwas  zurückbleiben.  Etwa  siebzig  ganz  kleine  Stücke,  zum 
Teil  mit  nur  wenigen  Buchstaben,  die  auf  den  rwei  letrten  Tafeln  der  Faksimile- 
ausgabe vereinigt  sind,  scheinen  alle  den  im  Anfang  oder  in  der  Mitte  der 
Holle  fehleniieii  Teilen  anzuj^ehören.  Fast  die  Hälfte  ist  noch  vor  Erscheinen 
der  Textausgabe  au  ihrem  l'latze  einzuordnen  gelungen,  so  dais  in  ihr  die  Zahl 
dieser  'Fragmente'  nur  noch  40  beträgt.  Und  auch  von  diesen  ist  nodi 
mehreren  ihre  Stelle  im  Papyrus  durch  BkuM  ansgemittelt  worden,  dem  sehen 
die  Ausgabe  mandien  Beitrag  der  Art  verdankt. 


')  The  poems  of  Baccbylidee.  Facsiinile  of  Fapym*  DCCXXZIH  ta  tbe  British 
Ifmeiun.  London  189T. 


j  .    by  Google 


J.  H.  Liptitt»:  Die  nenenUeekten  Oediclite  ^et  Bakdtylid««. 


22T 


Erheblich  leichter  als  die  Ordnung  dos  Papyrus  war  seine  Lesung,  da  er 
tn  deutlicher  üncialschrift  gcschritlxii  und  nicht  hlnCs  mit  ramgraphi  zur 
Strophengliederung,  sondern  auch  mit  Accenten,  Apostrophen  und  Interpunk- 
tionszeichen in  einem  an  einer  Handschrift  des  ersten  vorchristlichen  Jahr- 
hnnderts  bemerkenswerten  Masse  venieheii  ist.  Aber  Huf  diese  swei  nächsten 
Aufgaben  hat  Eenyon  sich  nicht  beschrankt^  sondern,  wie  bei  der  Aristotelischen 
Schrift,  so  auch  dieser  editio  princ^  alles  beigegehra,  was  das  Stadium 
leines  kostbaren  Fundes  erleichtem  hann.  Eine  greise  Anssahl  von  Lücken  bat 
er  in  glQcUicher  Weise  erf^nzt,  wobei  er  sich  der  Beihilfe  von  Jebb,  Palmer, 
Sandys  und  Pnrser  erfreuen  durfte;  von  dem  erstgenannten  (Mehrten  sind 
auch  Versnchf  zur  WiftdcrluTstellung  .stärker  /erstörtxr  Partien  in  den  An- 
merkungen mitgeteilt.  Der  Euiendation  wiir  nur  geringerer  Spielraum  geHot<»n, 
da  die  Handschrift  sehr  korrekt  gertcluieben  und  manche  \'erschreibungeu  und 
Auslassungen  durch  zwei  Korrektoren  verbessert  sind;  von  den  vier  Ötelleu,  an 
denen  die  überlieferte  Lesung  nach  Kenjon  (S.  XXU)  onTersündUoh  ist,  hat 
die  eine  (17,  90)  bereits  durch  Blase  eine  leichte  und  aberxeugende  Besserung 
gefiinden,  wiUireiid  eine  zweite  (19,  15)  nach  meiner  Ansicht  g^ns  in  Ordnung 
ist  Oar  numchs  leichtere  Verderbnis  ist  freilich  d»i  englischen  Gelehrten  entr 
gangen,  weil  sie  der  Metrik  nicht  die  gebfihrende  Beachtung  zugewandt  haben. 
Dem  Texte  untergelegt  ist  ein  Konim^tar,  der  für  die  erste  Lektüre  nQtaliche 
Beihilfe  leistet,  jedem  Gedichte  vorausgeschickt  ein  metrisches  Schema  und 
Vorbemerkungen  über  seinen  Titel,  Anlals  und  den  Stand  seiner  Erhaitimg. 
Eine  Inhaltsübersicht  über  alle  ist  der  Einleitung  vorbehalten,  die  auiücrdeni 
das  Leben  des  Dichters,  kurz  auch  seinen  poetiüchen  Charakter,  seine  Metrik 
und  Sprache  behandelt  und  über  Zustand  und  Alter  des  Papyrus  Auskunft 
giebt  Am  ScUnlii  dm  Garnen  fehlt  nicht  ein  Tollaündiges  Wortmseichnts. 
An  die  verdienstroUe  Leistung  Kenyons,  deren  Baschheit  besonderen  Dankes 
wert  ist,  w«den  die  nachfolgenden  Bemerkungen  llberall  ansuknüpfen  haben. 
Ihre  Au%abe  kann  keine  andere  sein,  als  über  die  Bedeutung  des  glücklich 
gehobenen  Schatses  im  allgemeinen  zu  orientieren  und  daran  die  Besprechung 
einzelner  Fragen  zu  knüpfen,  auf  die  sofort  einzugehen  mir  nahe  liegt.  Der 
philologischen  Arbeit  ist  nach  den  verseliiedensten  Richtungen  ein  überaus 
dankbares  Feld  erschlossen,  dessen  Bebauung  m  Angriff  zu  nehmen  sie  nicht 
säumen  wird.') 

Die  Epinikien  des  Bakchylides  sind,  anders  als  bei  Pmdai,  nicht  nach 

'  MiL'iiie  Bt'nicrknnf^'en  «ine!  in  allrni  Wesentlichen  im  Monat  Januar  nieder^'tKi  hriebeu, 
alä  aulser  Kenyons  Aufgabe  und  dem  Faksimile  nur  Blas»'  Aaxeige  der  enteren  (^Centralbl. 
1897  Hr.  voriag.  Erat  tOr  die  Sehlufinedaktion  konnten  nuTser  Blan*  «pftteren  Bei- 
titgen  noeh  die  AuMtKe  von  Cnuint  (Philol.  LVII  S.  l&O  ff.)  und  Uobert  ^HemeH  XXXIU 
l.io  ff  .  sowie  die  Schrift  von  v  Wilatiiowitx  ;,bakchjlidei>,  Herlin  1H<>«  finj^eschen 
Verden.  Auf  Polemik  gegen  abweichende  Auffassuugea  durfte  ich  ebea»o  venüchteu,  wie 
dtraof ,  übereiaBtinuDung  überall  aaedHlcklidi  zu  notitten.  [Brat  bei  der  Eonektar  kaan 
ich  die  inbaltreidie  Beeprecbong  dmr  lienjafifldieo  Ausgabe  von  Wilamowitx  im  Febmar- 
b»  rt  der  Gotting,  gel.  Anzeigen  S.  Vt6  ft.  nnchtnigen;  lie  zu  berOekaichtigein  war  nicbt 
mehr  mOglicb.J 


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836 


J.  H.  Lipuni;  Die  D«ii«Dtdieekten  0«diefate  de«  BakdiflidM. 


den  Festspielen  geordnet,  hei  denen  die  Siege  gewonnen  sind'),  ebenso- 
wenig nach  den  Kampfartcu^j,  sondern  im  wesentlichen  nach  der  Heimat  der 
Sieger.  Den  An&ng  machen  zwei  Gledichte  aof  einen  liandsmann  des  Dichters, 
ArgeioB  von  KeoB^  offenbar  darom,  weil  in  dem  ersten  die  Sagen  von  dee  Bak- 
chylides  Heimatinse],  namenüidi  von  Euxantioe,  dem  Sohne  des  Minos  und  der 
Deziihea>  eingehende  Behandlung  gefunden  hatten.  Ihnen  sind  aber  swei  Oden 
auf  einen  anderen  Keer,  Lachon,  nicht  munittelbar  angereiht,  sondern  drei  Oden 
auf  Hierona  hi^ische  Siege  diesen  vor.in^rstellt,  ähnlich  wie  bekanntlich  in 
Pindars  Olympien  und  Pythien  den  'Ftirstenoden*  der  erste  Platz  angewiesen 
ist.  Bei  8  ist  wegen  der  Verstümmelung  Heimftt  und  Name  des  Siegers  so 
wenig  erkennbar,  wie  Ort  und  Art  seines  Sieges,  9  gilt  dem  Plilciusior  Auto- 
medon,  10  einem  für  uns  niuuenlosen  Athener"),  11  dem  Knaben  Altxidaiuns 
von  Metapout,  12  und  Ki  den  Aigineten  Teisias  und  Pytheas,  14  deui  Tktösuler 
Kleoptolemoa.  Besondere  Beeiehungen  zur  Peloponnes,  in  der  Bakchjlidea 
nach  bekanntem  Zeugnis  einen  greiseren  Teil  seines  Lebens  in  der  Yerbannnng 
zugebracht  hat,  treten  also  in  seinen  Epinüden  nieht  zu  Tage.  Dafs  aber  das 
Altertum  Ton  diesen  nicht  viel  mehr  besessen  hat,  als  wir  nunmehr  kennen, 
hat  bereits  BIbss  daraus  gefolgert,  dafs  von  den  bisher  bekannten  drei  Brach- 
stucken der  Epinikien  zwei,  von  den  ihnen  durch  Vermutung  zugewiesenen 
fanf  wenigstens  drei  sich  jetzt  im  Papyrus  wiedergefunden  haben.  Dafs  an 
seinem  Anfiingt'  kein  Gedicht  weiTirerissen  bt,  folgt  aus  «loni,  was  ül)t'r  den 
Grund  der  \'( »ran Stellung  von  1  eben  bemerkt  wurde.  Auch  hinter  14  wird 
kaum  etwas  leklen,  da  dies  Lied  auf  einen  Sieger  in  dem  wenig  bedeutenden 
Agon  des  Poseidon  Petraios  in  Thessalien  geschrieben  ist,  vun  dem  wir  bi.sber 
nur  durch  ein  Sdiolion  zu  Pindar  (P.  4,  245)  Kunde  hatten.  Eher  könnte 
bei  dem  Mangel  an  Znsammenhang  zwischen  Kol.  23  und  33  ein  Gedicht 
fehlen,  das  einem  Siegnr  aus  Aigina  geölten  haben  mflfste,  dessen  Bewohner 
an  den  Epinikien  des  der  Insel  freilidt  nahe  verbundenen  Pindar  einen  so  be- 
deutenden Anteil  haben. 

Die  Siegesgesänge  von  Bakchylides  sind  von  sehr  Terschiedenem  Umfange. 
Von  denen,  die  vollständig  erhalten  sind  oder  von  denen  wenigsten»  ihre  Aiia- 
delinunp  sieli  Ih'stimmL-n  liilst,  gehen  nicht  weniger  als  filnf  weit  rinter  d:is 
Minimuliiiuls  einer  ]*iiidiirisclien  Ode  herab.  Darunter  zunächst  da.s  eine  dvr 
drei  Lieder  für  liieron  ^^4;,  das  nur  aus  einem  Strujihenpaar  zu  je  10  Kola  Ixe- 
steht.  Es  liegt  nahe,  hier  wie  anderwärts  die  Kürze  mit  Kenyon  tJaruuij  zn 
erklären,  dsJs  das  Gedicht  zur  Aufführung  bei  einer  vorläufigen  .Siegesfeier  am 


Siege  in  den  Oljmpien  betreffen  S.  6.  6.  7,  in  den  Pjrthien  4.  11  und  wahrschein- 
lich 8,  in  den  btlimi«!  1.  t.  10,  in  den  Neneen  9.  11.  18,  in  den  Petnien  14. 

*  Sicijpn  mit  dem  Viergespann  ppltcn  .1  4  1 1,  mit  di^m  Rennpferd  5,  im  Stadion  6.  lO, 
im  iüugkaiupf  11.  12,  im  Tentatblon  it  und  wohl  1  wegen  \'.  7  f.,  somit  uucb  2,  im 
Pankntion  18.  In  betreff  der  Reihenfolge  der  Kampfitrten  im  Pentatidon  stimmt  die 
Folge  9,  8S  ff.,  IMakoc,  Wurftpeer,  snletxt  Bingkaoipf,  mit  dem  Sigebnis  der  letrten  ünter- 

Buchungen  von  Fal.rr  fPhtlol  T-  S.  479  ff.)  und  Mie  (N.  Jahrl«.  f.  Phil  CXLVII  S.  790  ff.). 
'j  Z.  11  scheint  der  Sieger  augeredet,  dajm  müBseu  aber  die  Buchataben  vedeveo  sein. 


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J.  H.  Lipsiu«:  Die  neoentdeckten  Gedichte  de»  ^»kcbjlidM. 


229 


Pestorte  eelbst  bestimmt  geweaen  isif  wShrend  ftr  die  in  Aitna  begangene  Feier 
bdEumliich  FSndar  die  glinsendete  seiner  Oden  Törfidst  hat  Und  aieherlich 
wir  68  einem  am  Festort  anwesenden  Diebter  möglich,  sofort  nach  dem  Siege 

ein  Lied  zu  dichten,  zu  komponieren  und  einzustudlcn  n,  wenn  zwischen  ihm 
und  seiner  Feier  ein  Tage  in  dur  Hitte  lagen,  wie  dies  für  Olympia  sofort 
nachzuweisen  sein  wird.  Aber  wie  man  bei  Pindar  mit  der  Annahme  solcher 
Bf'iätimmnng  vielfach  zu  rasch  bei  der  TIand  gewesen  und  in  der  jün^ten  Rr- 
«irttrunju'  vrm  Dnichmann  ( Mudiruf  Pitidarfortolkniny  S.  167  flf.)  sif  mit  Kct  iit 
8ut'  l'vtli  t)  bi'srliränkt  worden  ht,  m  scheinen  auch  für  Bakehylidch  4 
die  Ireiiich  noch  nicht  Tollkommen  Hufgeheilteii  Z.  13  ff.  vielmelir  darauf  zu 
f&bren,  dafs  die  Ode  nach  Sinlien  gesindt  war.  Aber  m&m»  aieht  anf  AnlaJb 
etner  von  Hieron  ausgeschriebenen  Pk^isbewerbni^  wie  fttr  Pjtb.  1  eine  beliebte 
sber  gewi&  verkehrte  Anslegong  von  V.  42  Sl  behauptet  hat  Eher  möchte 
idi  fBr  das  aweite  Lied  anf  Argeios  (2),  das  kfirzeste  von  allen,  AufFlIhmng 
bei  den  Isthmien  sdbst  wahrscheinlich  findon.  Der  Dichter  mft  die  0ijfia 
ttfvodÖTHQtt  an,  nach  dem  Ihm  Ii  gen  Keos  die  frohe  Botschaft  von  dem  Siege  an 
bringen,  den  Argeios  anf  dem  Isthmos  gewonnen  und  womit  er  die  Erinnerung 
an  die  siebzig  Kräii/f  wachgerufen,  die  Männer  von  KeoH  dort  hercitH  errungen 
haben.*)  Dies»  piilst  doch  weniger  zu  einer  Entstehung  dfs  (ndithts  irst  nach 
Eintreffen  der  Siegeslninde  in  Keos.  etwa  j.nr  Begrilfsuiig  des  heimkehrenden 
Siegers,  zumul  wir  den  Festgesaug  zur  Siegesfeier,  wie  sich  sofort  herausütelien 
wird,  in  dem  erst«!  Gedicht  nnaerer  Sammlung  noch  besiken.  Ffir  das  erste 
lied  anf  Ladion  (6)  ist  Vortrag  vor  dem  Hause  des  Si^rs  denüich  bezeugt 
durch  Z.  10  f.  tfk  d*  (Hifcfvücg  l^vog  ytQaifftt  «poddftotjf  dotdols;  Wenn 
Kenjon  aber  zugleich  Beeng  genommen  glaubt  auf  eine  andere  in  Ofympia 
adbai  snr  Zeit  des  Sieges  vorgetragene  Ode,  die  er  in  dem  nur  zum  Teile 
erhaltenen  Gedicht  7  erkeimt,  so  beruht  diese  AufiGusnng  anf  einem  Müs- 
Tmtändnis  der  ersten  Strophe  von  0: 

Adxmv  ^tbg  utyi'arov  Aajjf  (ptQxarov  :i6dt69i 

äiiaav  not'  'Okx>iiziu  acü^  %i  xui.  ördöiov  xi^uxtv\ytti 

Den  auch  durch  das  Metmm  Z.  3  geforderten  Fufs  ei^nxt  Kmyon  mit 
9t^vatg  und  Z.  7  utifutsttav.  Aber  dabei  bleibt  dtftfa  ebenso  ohne  Berechtigimg 
wie  xA(iot9iv  —  itmL  Also  Lachens  Sieg  ist  der  herrlichste  von  allen,  durch 
die  je  vordem  Manner  ans  Keos  ihre  Insel  chrteti;  nur  auf  die  Sieger  können 
die  ietxten  Worte  gefaen^  wie  die  ähnlichen  15,  36  S.    Immerhin  bleibt  die 

räoov  t:ifdi-li.aiKv  ißdoni^novra  chp  CTfrcirnieir.  von  Kenyon  irrij»  :inf  dw  Zahl  de» 
fottragendün  Choru  bezogen.  Aus  iKtdtiiuntp  auf  Anwesenheit  des  Dichten  beim  Agoo 
n  dceken,  Iftbt  der  Zttssmiiwwibaag  aicbt  sa. 


230 


J.  U.  Liptiat:  Die  neuentdMkteii  0«4icbte  de«  BakebylidM. 


dem  7.  Gedicht  gegebene  Besiekuog  wahncheinlich  genug,  so  dafii  beide  Lieder 
dnnaelben  olympiachen  Sieg^  des  LaclMm  gelten,  ebenso  wie  die  swei  Oden  auf 
ArgeioB  den  gleichen  Sieg  in  den  lafhmien  feiern;  andemfidls  könnte  I,  17  ff. 

oder  2,  5  ff.  der  Hinweis  auf  den  früheren  Sieg  nicht  fohlen.  Und  dies  be- 
stätigt sum  tlberflurs  ein  inschriftliehea  Zeugnis,  das  zugleich  den  Namen  des 
Siegers  Ober  jeden  Zweifel  erhebt. 

Mit  den  ersten  Kolumnen  des  ersten  fipdichts  ist  inicli  der  V»ei}restlirieboHP 
Titel  abgerissen;  bei  dem  zweiten  lautet  er  einfach  wie  hei  dem  siclxMitni  rw 
ttvrä.    2,  4  f.  aber  bietet  der  Papyrus  ort  ^quövx^iq  'jQyHo{.  /tj^aro 

tnxuv  mit  Spuren  eines  i  vor  ug.  Darum  ergänzt  Kenyon  M^kctg  ^gaov- 
XfiQK.osy  'AQydov,  wiewohl  er  aksh  dem  Bedenken  wegen  des  zweigeschleehtigen 
*AffY^o$  nicht  TersehlieTai  Dazu  kommt,  daJs  1,  3  hd^o  naQxelQoxuif 
*AqyiU^.  der  Name  des  Siegera  kaum  fehlen  konnte.  Darum  lesen  Sandys 
und  Blass  beidemal  ^Agydog,  und  dafs  dies  unzweifelhaft  richtig  ist^),  beweist 
eine  von  Pridik,  De  Cri  itisulae  rdnts  S.  160  f.  veröffentlichte  Siegerliste  Ton 
Keos,  die  in  den  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts  gesetast  wird.  Uber  deren 
zweitem  Teil  steht  die  Vbersrlirift  indf  Nmna  fvixtov  ol  — :  'h  r  erste  Teil, 
desHen  l'berwhrii't  mit  doni  ohcrcn  Stück  (h-s  Steines  weggchrnciit-n  ist,  filhrt 
an  vorletzter  Stelle  ^j4Qytiü^  Jluyiy\ti\dtu)  Tiuidav  auf.  Also  verzeichnet  er  die 
Sieger  aus  Keos  bei  den  Isthmien,  «und  der  hier  genannte  Sieg  des  Argeios  ist 
es,  dem  die  beiden  Lieder  dee  Bakdijlides  gelten.  Aach  unter  den  Nemeea- 
siegem  kehrt  an  Tiertletater  Stelle  *jiifyttos  i7tti^C(]dea»,  aber  dytveüav  wieder. 
Den  2,  14  genannten  Namen  von  des  Argeios  Vater  Ilttv^t£9iig  änderte  Krayon 
in  IIttvto£&rjg  und  ergänzte  danach  auch  I,  9  tdtfa  i7ay[dm'df,  weil  Ilttv^svg 
nidit  au  belegen  sei.  Aber  Ilavd'fid^s  kommt  yon  /Ztfv9i}^,  dn  Nunc  der 
Inser.  gr.  It.  et  Sic.  n.  1866  begegnet. 

Der  Stein  hilft  aher  noch  weiter,  zur  Bcseiti^inf;  einer  weittragenden 
Folgerung,  die  Kenyon  an  das  erste  Gedicht  für  Lachon  gektiüjjft  hat.  Nach 
Z.  15  hat  Luehon  im  olympischen  Stadion  gesiegt.  Er  fehlt  aber  in  dem 
dureli  Eusebios  bewahrten  Verzeichnis  der  Olympioniken,  und  darum  dehnt 
Kaiy<m  die  berechtigten  Zweiftl,  die  morst  Habaffy  gegen  die  VerlaHnigkoit 
des  Verzeichnisses  fftr  die  beiden  ersten  Jahrhunderte  erhoben  hat,  sofort  auf 
ein  ferneres  Jahrhundert  aus.  Zum  GlQck  fiberhebt  uns  die  Siegerliste 
Keos  jedes  weiteren  Bingehens  auf  diese  fiberaus  bedenkliche  These.  Auf 
jener  steht  unter  den  Nemeensiegern  unmittelbar  hinter  Argeios  zweimal  A]diav 
*jtQi4titftivsos  ntUdav.*)    Im  Knabenagon  bat  also  Ladion  auch  in  Olympia 


'  Alter  nicht  uiyas,  wofür  17,  W  nirht  angefnhrt  werden  darf  Warniu  snüt»'  R 
(lÜas  nicht  wie  ^ap96s  ^20,  S)  ab  Dciwort  gebraucht  haben,  das  doch  der  Peraonetutaiue 
▼orattsBetEt? 

*)  Gegenfiber  dieMm  ZnBammentMffen  der  Nameii  kann  die  Identilftt  mit  den  vom 

Dichter  gefcicrfon  Männern  aicht  zweifelhaft  sein,  trotz  Halbherrs  späterem  Zeitansatz  der 
inuchritt  Mit  diesem  stimmt  (;ut,  dafs  unter  den  Siegern  beider  Spiele  zuletzt  ein  Herold 
Ainp  AfOfii^oi'^i}?  auftritt.  Der  Agon  uytvfUiv  steht  uuu  aber  für  das  fünfte  Jahrhundert 
fettf  tat  du  «r  btaiier  nur  ▼ermatet  war,  vgl.  B«iich  bei  Faulj-Wiwowa  I  S.  77S. 


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J.  H.  Lipsiut:  Die  neaentdeckten  Gedichte  de«  Bakchjlides.    ^  231 


ffsm^  und  muiste  darum  in  Aar  Liste  der  Stadioniken  fehlen,  die  nur  die 
Minner  veneeichnete. 

Dagegm  giebt  das  andere  £pinikion  auf  Lachon  in  seinem  Ein|puig  eine 
willkommene  Auskunft,  so  Iflekenhaft  er  auch  erhalten  ist: 

a  ItxfeQtt  &vytcT6Q  X^ovot»  tt  lud  Nwttdg,  0h  xtvnjimvttt  ft\_^veg 

ixxaidfxäruv  h'  'OAt'jun'fj'«  —  —  — 

D'w  Tochter  der  Zeit  und  der  Nacht  mub  der  Tag  sein;  wenn  nach  dem  Ab 
laof  von  50  Monaten  dem  16.  Tage  das  Urteil  zaeteht  aber  den  Wettbewerb 
in  SehneUigheit  und  Kraf^  bo  besf&t^  sieh,  was  der  iltere  Scholiaat  an  Pind. 
0.  $,  35  und  der  jüngere  cu  5,  8  aagiebt  und  lüe,  Quae^ionu  agouisHeae 

S.  30  f  für  Erfindung  der  Grammatiker  hielt,  dals  am  16.  Tage  des  Olympien- 
monats die  feierliche  Verkündung  der  Preiae  atattCuid.  Das  erstere  Scholion 
ist  zugleich  unsere  Hauptquelle  zur  Bestimmung  des  Festmonats. 

Leider  ist  es  eine  besonders  zerfetzte  Kolumne  (13^  die  das  siebeute 
(ledieht  von  Zeile  4  ah  und  den  ersten  Teil  des  achten  enthalten  hat.  Denn 
an  Hkös'  Zusauuueufügung  von  Z.  4 — 10  aus  vier  kleinen  Stücken  mit  den 
wenigen  Zeilencudcu  der  Kolumne  läfst  sich  nicht  rütteln.  Aber  weder  in  jene 
Zeilen  nodi  in  die  auf  Kolumne  14  atehenden  16  letaten  Zeilen  von  8  lafat  aieh 
ohne  gröfsere  Ändmuigen  Reaponaion  bringen,  alac  ist  nur  aoTiel  su  aagen, 
dafa  beide  Gedichte  aua  je  einem  Strophenpaar,  das  letitere  mit  Epode,  be- 
lianden  haben. 

Von  den  gröfseren  Epinikien  ist  das  erate  eben  darum,  weil  ea  am  An&ng 

8tand,  der  Verstümmelung  am  meisten  ausir.  setzt  gewesen.  Die  erste  voll- 
ständige Kolumne  setzt  mit  Beginn  einer  Perikojie  ein,  die  e«  mit  der  Person 
des  Argeios  zu  thun  hat,  während  die  zweite  mit  etliiseken  Betraehtungeji  (Ins 
Gedicht  abschliefst.  Aber  aus  dem  ihm  bereits  in  der  Ausgulie  n.u  h  Blas» 
zugewiesenen  Fr.  1  ersehen  wir,  dafs  die  Sagen  von  Keos  den  IuIihU  bildeten. 
Minoa  kommt  auf  einem  Kriegszuge  mit  fhn&ig  Schiffen  nach  der  Insel  (denn 
sie  ist  mit  der  3toivxQtmvo>;  i&av  Z.  12  natllrlich  geeint),  gewinnt  dort  die 
Dezitfaea  und  ISfiit  ihr  bei  aeiner  Hetm&hrt  die  Hälfte  aeiner  Mannen  xnrfick. 
Aus  ihrer  Verbindung  g^t  Euxantioa  hervor,  nach  dem  die  Inael  in  dem 
iwwten  Gedicht  auf  Argeios  Ev%iiintq  heifst;  er  ist  also  einer  der  Minossöhne, 
von  denen  Thukjdides  die  Kjrkladen  beherracbt  werden  läfst.  Über  den  Fort- 
gang der  Sage  gewinnen  wir  leider  auch  aus  den  «nderen  Bruchstücken  nichts, 
deren  ZugehTtrigkeit  /u  1  Blass  erkannt  oder  mindestens  wahrselu  iulicli  ge- 
macht hat.  Ersteres  gilt  von  Fr.  fi,  das  srlion  in  der  Au>igal)e  in  deu  Eingang 
des  Gedichtes  gesetzt  wird*),  imd  5,  das  nach  Kenyoiis  IVeundlicher  Mitteilung 
in  Farbe  und  ganzem  Aussehen  Fr.  1  vollkommen  ähnelt;  letzteres  Ton  Fr.  13 


')  Die  Ergänzung  vod  ra^vn^ru,  nicbt  vccjog,  scbeiut  daw  Metnim  in  tordem,  wiewohi 
der  Baum  (8r  jene«  kaum  «asrdeht. 

*)  Z.  •  ecglast  man  leicht  fufi'^few  oad  vecitaht  Pelei»,  aber  du  fttorderfc  nicht 


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232 


J.  U.  LipHiuti:  Die  neuentdeckien  Gedichti'  dva  Uakcbjlides. 


und  15,  bei  denen  die  Farbe  den  Papynis,  wie  Keojon  mir  schreibt,  der  von 
Fr.  6  nicht  sdn  gh  iih  ist,  zwar  dunkel,  aber  von  verschiedener  Xuance.  Doch 
stimmt  bei  1.'5  das  Metrum,  wenn  mit  Z.  '2  eine  Strophe,  mit  Z.  lU  eine  Anti- 
strophe  heiiaiin.  Damit  kommen  wir  auf  4  Triaden,  und  da  3  Triaden  fast 
gun/.  genau  2  Kolumnen  entsprechen,  werden  von  der  UuUe  vorn  4  Kolunmen 
abgerissen  sein. 

Das  gröl'ste  Interesse  beanspruchen  unter  den  Epinikien  die  drei  auf 
Hieron  (3.  4.  5)  schon  diinim,  weil  hier  Bakchylides  in  Konkurrenz  mit  Pindar 
trat  Die  Folge  der  Gediehte  in  der  Sammliittg  ist  die  umgekehrte  wie  die 
Folge  der  drei  hippieehen  Siege,  denen  aie  gewidmet  sind,  weil  sie  <^en1>ar 

durch  die  Bedeutung  der  Siege  bestimmt  ist.  Das  früheste  und  ausgedehnteste 
der  Gedichte  (5)  geht  auf  den  Sieg,  den  Hieron  mit  seinem  Renner  Pherenikos 
in  Olympia  gewann,  dem  bekanntlich  auch  Pindars  erste  olympische  Ode  gilt. 
N'aeh  dem  Einj^anj?  ist  das  Gedieht  von  Keos  gesandt.  Mit  stolzen  Worten 
vergleicht  sich  der  DiehU  i  di  iu  Adler  des  Zeus: 

ß(i9i)V  d'  (ciiyi-'oK  ^twQ^uiOi  tccuvojv 
vtffov  irreQvyeOöi  xaitLcu^  aUrög^  ivgvavuxro^  üyyiXos 
20  Zrii'bs  £QiOq)UQdyov^  &a^6(t  XQaraQä  Tciöxn'o^ 

o6  wv  icofv^Md  ittyciXas  t6xcwfi  yaiag  o^d*  äJlofi  iaut^dtaq 
dvOitidseaJUt  x^fucta'  vmfUitm  d*  iv  itgukft  j^a 

30  XesctötQixt^  avv  ZtfpvQov  xvoalaiv  t^tiQKV  ugiyvoxog  fitz'  (iv9Qfö:toig  lÖHv. 
So  Öffnen  sich  dem  Dichter  fiberall  unzählige  Wege,  den  Ruhm  des  lüerou 
und  seiner  Brüder  zu  preisen  —  man  sieht,  es  ist  der  Zweck  seines  Gedichtes, 
seine  Dienste  dem  Herrscher  von  Syrakus!  zu  empf  hlen.  an  dessen  Hofe  Pindar 
gastliche  Aufnahme  irefnnden  und  wohl  aneh  SinionidL-s  damals  weilte.  Denn 
wenn  Bakeliylides  sich  hIh  itt'og  des  Fürsten  he/zeichnet,  so  kann  er  damit  nur 
die  Beziehung  meinen,  in  die  er  durch  seinen  Oheim  zu  ihm  getreten  >var.  Den 
Mythos  abeTi  den  das  Epinikion  erfordert,  entnimmt  er  dem  Zusammentreffen 
des  Herakles  in  der  Unterwelt  mit  Meleager,  der  sein  Geschick  eraahlt  zur  Be- 
wShning  der  Lehre  od  ydQ  ns  ^({dtoWoiv  sedvw  y*  eödeUfia»  ^pVj  oder  wie 
Z.  94  f.  motiTierend  sagt,  %tdB3^  9'i6p  «x^or^^ctt  v6w  hf6Qsß6tv  ärt^doWot^. 
Und  dafs  diesem  Gesetze  auch  Herakles  seinen  Zoll  entrichten  raufste,  daran 
erinnert  der  Dichter  mit  dem  Hinweis  auf  seine  künftige  Vermählung  mit 
Deianeira,  mit  dem  er  den  Mythus  sehr  wirksam  abbricht.  Aber  minder  zweek- 
müfsig  als  Pindar,  der  die  gleiche  Hage  wnhl  schon  vor  ihm  behandelt  hatte 
(Kr  240  Bergki-i,  läfst  er  Herakli-s  sieli  scUtst  zum  (Jatten  vim  Meleagers 
Schwester  aiitragcji,  w;ihr«Mid  bei  Pindar  dieser  die  Bitte  an  ihn  gericlitet  hatte. 
Ob  der  Fürst  durch  die  Mahnung  des  Mythus  besonders  angenehm  berührt 
worden  ist,  darf  man  billig  benraifidu,  mag  auch  das  Lied,  so  gut  wie  das 
vierte,  die  AufiRlhrung  gefunden  haben,  fOr  die  jedes  Epinikion  bestimmt  ist 

')  BeUftnfig  Bei  die  Bemerkwng  erlaubt,  dafi  das  Verbum  auch  13^  S4  henastdlen  iit 
*>  Ebento  Boberfc  S.  168. 


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J.  H.  Idpum:  Die  neneivUlflekleii  Gedichte  de«  Bakohylide». 


238 


Durch  das  eben  besprochene  Gedicht  hat  eine  viel  verhandelte  Sireitfhige 
effrenliche  LSeung  gefiinden.  Dab  dee  in  Pindars  ervter  Olympie  gefeierten 
8i^  dee  Pherenikos  auch  Bakehylidea  gedacht  hatte,  wnfiiten  wir  echon  aus 
etDem  Scholien,  das  auch  die  Worte  des  Dichters  beisetate 

«AW  d&Uod^öfunr  düi  vutdgtevra. 

Aber  erst  unser  Phpyms  TerroUstiindigt  den  Sata  dnreh  die  Worte  j(fiv6S9t«xos 
HoMvi  «*  i¥  Damit  ist  bewiesen,  dafs  der  olympische  Renn- 

sieg von  dem  gleichen  Pherenikos  gewonnen  ward,  wie  die  Siege  in  der  26.  und 
27.  Pjthienfeier,  die  Pindar  Pyth  3,  74  (  rwiHmt.  Wer  dieso  nach  Bockhs  Zahlung 
fier  Pvthiaden  in  die  Jaliie  4Ht)  und  482  setzte,  konnte  den  olyni^tisrliert  Sieg, 
zumal  wenn  er  diesen  vrA  ()\.  77  =  472  gewonnen  glaubte,  unmöglich  dem 
gleichen  Ropse  zuschreiben,  sondern  mufHte  mit  Fennell  annehmen,  dafs  zwei 
▼erechiedent'ii  Pferden  der  gleiche  Name  um  seiner  guten  Vorbedeutung  willen 
beigelegt  wai.  Da  aber  jetzt  durch  den  vollständigen  Wortlaut  diese  Auskunft 
abgeschnitten  ist,  bleibt  kein  anderer  Rat  als  der,  fftr  den  sich  Kenjou  ent- 
whiedMi  bat^  j«te  beiden  Pvthiaden  nach  der  2SüiIiing  von  Scaliger  nnd  Bei^ 
je  vier  Jahre  herab  nnd  den  olympischen  Sieg  vier  Jahre  herauf  also  in  OL  76 
n  Tieken.  Za  dem  letstoren  Ansata  wird  man  um  to  ^her  sieh  entschliefson, 
je  mehr  schon  bisher  für  ihn  nadi  meinem  Urteile  überwiegende  Gründe 
qmdien,  die  sich  in  aller  Kfirze  darlegen  lassen.  Giinz  ans  dem  Sy)iele  m 
bleiben  hat  nattirlich  die  angebliche  Anspielung  auf  den  Anfimi^  der  Ode  am 
Schlufs  von  Ol.  ?i,  auf  die  Hermann  nnd  Ber<;k  allein  sich  Rtiitzteir.  Aher  dafs 
die  alten  Erklärer  über  die  Abfiissniig  in  Ol.  70  nicht  in  Zweifel  waren,  lehrt 
eiu  Scholioii  zu  V.  B3  (2.3).  Dort  lasen  niunche  für  Zt'paxdöior.  .  ßa(5ili^a  gegen 
das  Metrum  2^v^tuoO{Giv,  weil  bei  seinem  Siege  Hieron  Aixvuio^  geheilsen 
bebe,  Ton  dem  OL  76,  1  gegrflndeten  Aitna.    Aber,  fahrt  das  Seholion  fort, 

4»  AhmOoe,  &S  fp^9iv  ^AnolXMoQos.  6  *AQt^6vtwoq  d|coiv^(0t«>g  AttvtOw 
^«  23itfftaiiof&tM»  4vo|Mf{^tf^c(i,  Bei  dieser  Kontroverse  stsnd  offenbar  fAr 
beide  Teile  die  Voraussetzung  fisst^  die  Ode  sei  Ol  70,  \  geschrieben.  Aristo- 
nifeos  nahm  an,  dafs  Aitna  schon  gegründet,  aber  Hieron  auch  darnach  Syra- 
k)i5!ier  heifsen  konnte;  dai^ejTen  bestritt  Didymos  unter  Berufung  auf  ApoUodor, 
tlafn  Aitnas  (iründung  dem  Hiege  vomusliege.  Um  so  weniß;f'r  kann  ein  Zweifel 
Still,  dals  in  dem  Seholion  zur  Überschrift  viy.r;<im>Ti  Itctk^  xtkr^ti  tj)v  oy' 
Uvumdda'  6  dl  (atrog  xccl  tjJv  og'  vixa  xtkrixi  mit  Bergk  für  OF  herzustellen 
iat  OF;  die  dem  Fürsten  gewidmete  Ode  zelui  Jahre  vor  seinen  Regierungs- 
aatritt zu  seben,  konnte  keinem  alten  Erklirer  in  den  Sinn  kommen.*)  Anders 


*j  Am  wenigsten  dem  Uidjmos,  wie  Christ  meiute,  Sitzungsber.  d.  baycr.  Ak.  d.  Wis«. 
Fbild.  Kl.  1868  S.  877.  Denn  er  nnhi»  ja  gemde  die  Leemig  JBvQtaiiwnt  in  Sebuts. 
Warum  ich  Pansania«  nicht  das  entncheidende  Gewicht  in  der  Frage  beunewen  kann,  wie 
Liibbert  De  Pindari  poetat  «t  Miarmm  regit  amieUiae  pnmordiis  et  prognBmtt  bum  ich  hier 

ücbt  auseiuauderBetzcu. 


234 


J.  H.  Lipsius:  Die  neuentdeckten  Gedichte  des  Bakchylidc«. 


freilich  steht  es  mit  der  Pythiadenzähhing.  Denn  was  für  Ol.  49,  3  als  deren 
Epochenjahr  in  den  letzten  Jahren  von  verschiedenen  Seiten  geltend  gemacht 
worden  ist,  reicht  alles  nicht  aus,  um  die  Walirscheinlichkeitsgründe  aufzuwiegen, 
die  sich  aus  Pyth.  1  gewinnen  lassen.  Aber  dies  Urteil  näher  zu  begründen 
ist  heute  zwecklos,  da  niemand  sich  der  entscheidenden  Instanz  der  Bakchylides- 
stelle  entziehen  kann.  Allerdings  mufs  man  es  dabei  in  den  Kauf  nehmen, 
dafs  ein  Pferd  noch  ;rd>Aos  heifst,  das  schon  sechs  Jahre  zuvor  in  der  Renn- 
bahn gesiegt  hat.  Aber  eine  schärfere  Begrenzung  im  dichterischen  Gebrauche 
des  Wortes  ergab  sich  doch  erst  dann,  als  besondere  Agone  für  xüXoi  neben 
denen  von  r;r;rot  rtknoi  eingerichtet  worden  waren,  was  in  erheblich  spätere 
Zeit  fällt.  Auch  Sophokles  durfte  in  der  Schilderung  des  pythischen  Wagen- 
rennens TcOtkog  unterschiedslos  neben  t;r;ros  verwenden.*) 

Es  springt  in  die  Augen,  welche  Bedeutung  diesem  Ergebnis  für  die 
Chronologie  von  Pindars  Leben  und  Dichtungen  zukommt,  die  auf  dieser  nun 
mehr  gesicherten  Grundlage  einer  durchgreifenden  Revision  zu  unterziehen  ist. 
Für  Bakchylides  folgt  zunächst  das  eine,  dafa  er  im  Jahre  476  noch  nicht  mit 
Pindar  zusammen  an  Hierons  Hofe  geweilt  hat.  Auch  in  dem  sechs  Jahre 
später  gedichteten  kleinen  Epinikion  weist  noch  nichts  auf  persönlichen  Ver- 
kehr mit  dem  Fürsten  hin.  Erst  die  Ode  (3)  auf  den  olympischen  Wagensieg, 
den  Hieron  408,  im  Jahre  vor  seinem  Tode,  erlangte,  schlägt  einen  wärmeren 
Ton  an,  der  auf  ein  näheres  Verhältnis  zwischen  beiden  zu  schliefsen  berechtigt, 
und  schon  die  Thatsache  darf  man  bezeichnend  finden,  dafs  diesmal  Bakchylides 
der  Auftrag  zufiel,  den  Festgesang  für  die  Siegesfeier  in  Syrakus  zu  schaffen. 
Denn  für  diese  ist  das  Gedicht  sicherlich  bestimmt,  nicht,  wie  Kenyon  wollte, 
für  die  Weihung  goldener  Dreifüfse  m  Delphi  als  Dankopfer  fiir  den  Sieg. 
Deren  Erwähnung  in  Z.  17  ff.  diente  doch  nur  als  Uberleitung  zu  der  Er- 
zählung von  Kroisos,  der,  als  Sardea  sein  von  Zeus  verhängtes  Geschick  er- 
füllte"), von  dem  selbstgewählten  F'lammentod  durch  ApoUon  zimi  Lohn  für 
seine  dem  Heiligtum  des  Gottes  bethätigte  Frömmigkeit  errettet  und  samt 
seinen  Töchtern  in  das  Land  der  Hyperboreer  entrückt  wurde,  tlnd  darum 
bewirkt  der  Dichter  auch  die  Rückkehr  zum  Sieger  durch  scharfe  Hervor- 
hebung der  Parallele  mit  Kroisos;  diesen  hat  ApoUon  gerettet 

dl   tvöe'ßeiav  ort  jtttfyitfT«  ^\vttT(Aiv  fg  «ya^tav  (^uv}f:tipL^i  [/Tud-]«. 

öo\oL  yf|  iilv  'EkkuS*  txovöLV  ov  Tt(j,  (o  fisyai'vr}rs  'Itgav,  9'tkijaei 
65  [at»j;fJ)i/  öio  xktiovu  XQvabv  \Ao\i\a  ircft^at  /3poTö[v.*) 
Das  Bedenkliche,  das  auch  hier  in  der  Erinnerimg  an  das  Hieron  sicher  nicht 
unbekannte  Los  des  Kroisos  lag,  wird  durch  die  Schlufs Wendung  wesentlich 
gemildert.    Dafs  aber  in  seiner  Gestaltung  der  Sage  der  Dichter  nicht  eigener 
Erfindung  folgt,  wird  für  den  einen  Zug,  die  freie  Wahl  des  Todes,  durch 


*»  Elektr.  698  ff.   Danach  ist  auch  Pind.  P.  2,  8  andere  zu  beurteilen,  als  Böckh  gethan. 
')  Z.  2.')  f.  lies:  ivxt  tkv  itin[Qu>ntvav\  Zrji'ö?  xtX(\ioi<aai  %Qt]eiv  u.  8.  w. 
■)  So  amendiere  ich  Blass'  Erpäuzun»;  von  Z.  65  f.,  da  nach  Kenyon  ^rX^ff»  ebenso 
feit  steht  wie  oi'  xii. 


J.  H.  lApiim:  Die  mnentdeehtea  Gedichie  des  BskcliyUdw. 


235 


ein  hekaimtes  VasenbikP)  erwiesen,  und  wie  ji<>liiuH^  <l»'iii  Volksglauben  von 
Uouier  bis  Piudar  und  länger  die  Vorstellung  von  der  Entrückung  gottgeliebter 
Mfloadieii  in  selige  Qefilde  gewesen  ist,  das  hat  Rohde  in  seiner  Psyche  gezeigt. 

Wenn  wir  so  Bakchytidee  im  Wettbewerb  mit  Pindar  seine  Knnsi  in  den 
Dienft  Ton  Hierons  Festen  stellen  sehen,  darf  man  sich  nicht  langer  strauben, 
ia  eiosehien  Aab^rungen  beider  Dichter  Besiehungen  auf  den  anderen  anau- 
erkennen.  Vor  allen  Pyth.  1,  42  ff.,  wo  Pindar  die  Hoffnung  ausspricht,  in 
Hierons  Lobe  mit  weitem  Wurf  die  Gegner  zu  üborheffen  ((laxQa  gCiffatg  ß/tev- 
6tt6d^  (iVTinv/),  ist  ^»a  geradezu  unmöglich,  Bakehylides  nicht  mit  vorstanden 
zu  srlHuben,  der  ftir  den  gleichen  Sieg  gedichtet  hatte.  Und  in  der  bekannten 
Stelle  Ol.  2,  ff.: 

auyyi.(o<f6ia  xö^uKii;  oic;  uxgaiTic  yccgvetov 

macht  schon  der  aufb  beste  bezeugte  Dual  die  alte  Deutung  auf  Bakchylidee 
und  Simonidea  unabweisbar.  Es  ist  bekannt  daft  die  Schotiasten  noch  an  einer 
Reihe  von  Pindarisdben  SteUen  Besiehnngen  auf  diese  beiden  Dichter  oder  einen 
von  ihnen  anfgespfirt  haben,  ftlr  die  man  nur  eine  Möglichkeit  oder  nicht  ein- 
mal diese  zuzugeben  hat.  Aber  in  das  andere  Extrem  ist  zuletzt  vrieder 
Michelungeli  verfallen,  wenn  er  in  »einer  unmittelbar  vor  Kenyons  Publikation 
erschienenen  Arbf  it  Deila  vita  di  Barchilkie  (Messina  18'.>7 )  alle  jene  Beziehungen 
auRfuhrlichst  hekampfl  (S.  18  —  4HV  Übrigens  wird  dunli  ihre  Anerkennung 
i'in  persönliches  Zusammen treÜ'en  l»eider  Dichter  in  Syrakus  keineswegs  be- 
dingt, dem  manches  Bedenken  entgegensteht. 

Schon  hei  froherem  Anlala  war  Bakchylides  mit  Pindar  in  Wettbewerb 
gstreten.  Denn  auf  denselben  Sieg  des  Pytheas  im  Knabenpankration*)  tu 
Nemea,  dem  Nem.  5  gilt,  ist  offenbar  das  13.  Epinikion  unseres  Bnehea  ge- 
dichtet. Wir  können  damit  die  dichterische  Thätigkeit  des  Bakchylides  etwaa 
über  480  hinauf  verfolgen,  denn  dafs  der  Sieg  einige  Jahre  vor  diesem  Jahre 
fallt,  steht  aus  Pindar  fest.  Aber  auf  dies  besonders  zcrstflckto  Oediobt  wie  auf 
Hip  übrigen  Siegeslieder  einzugehen,  mufs  ich  mir  versagoti.  um  für  einige  all- 
gemeinere Bemerkungen  Raum  zu  behalten,  ehe  ich  mich  dem  zweiten  Teile 
des  Buches  zuwende. 

Wenn  man  von  der  LektQrc  der  Piudarischen  Epinikien  zu  denen  des 
Bakchylides  kommt^  so  empfindet  man  einen  Abstand,  wie  er  gröfser  xwischen 
swei  Yerlretem  der  gleichen  Dichtart  nicht  leidit  gedacht  werden  kann.  Nicht 
stmi  in  der  ganzen  Anlage  der  Gedichte.  IHe  Clesichtspunkte,  die  ihren  Inhalt 
bedingen,  nnd  in  der  ^uptsache  auch  die  Folge,  m  der  sie  sum  Worte  kommen, 


'i  Welcker,  Alte  Denkmaier  III  T.  3».  unvollkommen  wiederholt  in  Bautneitters  Denk- 
mälern II  S.  796.    Vgl,  auch  Duncker,  ü.  d.  A.  lY  •  S.  32ö. 

*)  Wenn  Christ  die«  trots  N.  5,  6  bexweifelt^  weil  dieser  Agon  in  Olymiiia  erst  Ol.  146, 
in  Delphi  Ol.  108  eingerichtet  sei,  ho  beseitigt  auch  diesen  Zweifel  die  oben  verwertete 
Siegcrtistf  von  Keos,  deren  erster  Teil  an  zweiter  Stelle  von  Argeios  £lvti  'JifXtn  naiSmv 
su'/\*iiutiop  nennt. 


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236 


J.  H.  Idpum:  Di«  neaentdeckften  Gedichte  <k»  BakchjUdet. 


sind  bei  beiden  Dichtem  die  Reichen;  Ton  den  wesentlidien  Stficken  d«r  Pin- 
darischen  Topik,  dem  enlcomiaetischeii,  dem  mTihiechen  und  dem  lehrhBften^ 
lilei  anch  BakehjUdee  wenigstene  in  den  auagefShrteren  Oden  keinee  Tenniaeen. 
Oflenbar  hatten  für  die  Ennatform  des  Epinikione  eich  nach  beaiimmte  Regeln 
aiugebildety  unter  decen  Herrschaft  eehon  Pindar  stand,  wiewohl  wir  keinen 
früheren  Vertreter  der  Spielart  kennen,  als  den  ihm  nur  etwa  ein  Mcna<^en- 
alter  vorausgebenden  Simonides*),  und  sie  Bedeutung  überluiupl  erst  dann  »ye- 
winnen  konnte,  als  um  die  Mitte  des  sechsten  Jahrhunderts  mit  der  Ausbildung 
der  ('hormelik  die  gesteigi  rti'  Wertschätzunp  der  in  den  gi'ofsen  Nationalapielen 
gewonnenen  Siege  zusümiiRiitiuf.  Aber  iiin  so  gewaltiger  ist  der  Abstand  in 
der  Art  der  Durchlukrung.  Bei  Piudar  bat  das  Verständnis  auf  Schritt  und 
Tritt  mit  Schwierigkeiten  zn  ringen,  die  nicht  sowohl  auf  dem  Gebiete  des 
spradilichen  Ausdrucks  liegen,  den  nur  die  Kflhnheit  der  Bilder  und  Metaphern 
mitunter  dunkel  macht,  als  in  swei  anderen  Momenten  begründet  nnd,  die 
beide  in  der  OedankenlUlIe  und  Gedankentiefe  des  Dichfaars  ihre  Wutael  haben, 
einmal  in  der  knappen,  überall  mehr  andeutenden  als  ausführenden  I^urstellnng, 
und  andererseits  in  der  unvermittelten  Schroffheit  der  Überginge  —  Momenten, 
die  vor  allem  die  Lösung  der  unerläfslichen  Aufgabe  erschweren,  ein  jedes  (Je- 
ditht  als  Ganzes,  in  dem  inneren  Znsnmmenhnnge  seiner  einzelnen  Teile  zu  be- 
greifen. Nichts  von  alledem  findet  sich  bei  Hakehylides  wieder.  Leicht  folgen 
wir  dem  anmutigen  Flufs  seiner  Redt.-,  die  auch  im  lüiiirsten  Satzgefüge,  auch 
da,  wo  sie  sich  zu  bihllicheu  und  neugeschaüenen  Wendungen  erhebt,  überall 
Uar  und  durchsichtig  bleibt.  Nirgends  lafst  uns  der  Dichter  über  den  Zu- 
sammenhang seiner  Gedanken,  über  den  Plan  seines  Gedichts  im  Dunkeln,  wo 
nicht  die  Lücken  der  Überlieferung  im  Wege  stehen,  und  nionand  könnte  ee 
bei  ihm  in  den  Sinn  kommen,  was  bei  Pindar  die  Reaktion  gegen  an  weii  ge- 
triebene  Bewunderung  fertig  gebracht  hat,  die  flUiigkeit  au  konsequenter  Durch- 
fQhrun<r  t  ines  klaren  Gedankengangs  dem  Dichter  abzusprechen.  Nur  so  nel 
Kenntnis  der  Sagen  geschieh  te  setzt  er  bei  !*einen  Hörern  voraus,  dafs.  wo  er 
den  Faden  des  Mythus  abreifst,  sie  ihn  selber  weiter  zu  spinnen  verniöirpu.  wie 
in  dem  fünften  Epinikion  die  ErzShhing  mit  dem  Hinweis  auf  HcrakUs  Ver- 
mählung mit  Deianeira  abbricht  und  dem  Hörer  hinzuzudeukeu  überlülst,  wie 
auch  jener  damit  dem  Verhängnis  verfiel  —  ein  Kunstmittel,  von  dem  Bakchy- 
lides  häufigen  Gehraudi  auch  in  der  aweiten  Gruppe  miner  Diditungen  ge- 
macht bat,  wie  sofort  au  zeigen  ist  Über  die  Wahl  des  Mythus  selbst,  für 
die  in  gar  mancher  Pindarischen  Ode  der  Grund  so  wenig  au  Ti^  li^gt»  dala 
au  seiner  Ermittelung  viel  Scharfinnn  vergebUdh  au%ehoten  worden  ist,  bleibt 
»insiT  Dichter  in  keinem  der  fünf  Epinikien,  in  denen  ein  mythischer  Teil  vor- 
handen und  erhalten  ist,  die  Aufklärung  schuld^.  In  dem  elften  Gedichte  auf 
Alexidamos  von  Metapont  stellt  der  lang  ausgef^ponnene  Sagenbericht  Aber  die 
Proitostöchter  freilich  nur  in  lockerer  Verbindung  mit  dem  Anials  der  Ode: 

V»  DcHven  Geburt  (>57;6  Hteht  durch  sein  Selbst -/.pu^fnis  lest;  Findar  kann  80  gut 
wie        g«boreu  »ein,  aber  nicht  erst  blü,  wegen  Pjth.  10. 


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J.  H.  lapans:  Dia  aeoentdwkteB  G«dielite  des  BakdqrUde«. 


237 


der  Siog  wird  der  Artomis  verdankt  und  denn  Knlt  ist  nacli  Aletapont  vom 
Lusos  in  Arkadien  übertragen^),  wo  der  Göttin  lluiligtura  und  Fent  zum  Dank 
ftr  die  Heilung  der  Proitideii  vom  Wahnsinn  geweiht  war.  Den  hiermit  ge 
gebeDen  Wink  wird  die  Pmdaareridimiig  nidit  onbenutst  laaeen  dUrfm.  Eigen- 
tOmlieh  aber  an  Bakdijlides  ist  es,  dab  er  an  die  Stelle  des  IfTtlinB  einmal 
die  Legende  aetafc,  die  Geeefaidite  T<m  Kroieoe  und  eeiner  Entrlk^ung  in  das 
Hyperboreerland. 

Gerade  in  diesen  erzählenden  Paxüen  halten  wir  dir»  eigentlichen  Glanz- 
stücke  der  neuen  Siegeslieder  zu  erkennen.  Ihres  Dichters  Virtuosität  liegt  in 
der  Kunst  lebensvoller  Darstelhing,  welche  die  f^eschilderten  Szcnt^n  mit  voll»  r 
Anwhauliclikfit  zu  vergegenwärtigen  wpifs.  VVir  verspüren  t})i'n  amdi  im  ihm 
die  eigtntüiiilicbt!  Begabung  des  ionischen  Stamme«,  die  dirseii  vor  allen  anderen 
zur  Pflege  von  £poä  und  Historie  berufen  hat.  Liul  auch  darin  fühlen  wii* 
mis  an  das  Epoa  erinnert,  dafs  der  Dichter  in  noch  weiterem  Umfang  ala 
Pindar  es  liebt,  die  Helden  seiner  Erdllilung  selbst  redend  eimufBlimL;  so 
ToOiieht  sieh  z.  B.  die  Begegnung  awiaehen  Herakles  und  Meleagros  in  der 
Unterwelt  fast  ausachliefelich  im  Dialog.  Wik  besonderer  Vorliebe  aber  ver- 
wendet Bakcbylides  als  Mittel  der  Veranschaulichung  den  Zusatz  malender 
Epitheta.  Auch  in  einfacher  iiede  iSfst  er  nicht  leicht  ein  Substantiv  ohne 
treffendes  Beiwort,  wie,  um  »»in  paar  Beispiele  heraus7:nlieben,  in  den  schon 
oben  ausgeschriebenen  Versen  von  Pherenikos  oder  in  den  Eingangsstrophen 
dt»  allerdings  besonders  kunstvollen  dritten  Gedichtes: 

tCQiöTOxäfinov  2ji)uklus  XQtovöuv  ^äfiaxQa  loarifpavüv  tt  xovQav 
v^vitf  ylvieöda(fi  Kksiot,  d-odg  r'  'OXvfijciodgöftovt;  'Itgavog  Taxav^;. 
tfCifoirVO  yäff  (fitv  {ms(i6xai  ti  viKif  <fiyv  aykuia  tt  jcccq  tvQwdivmv 
*jH^iiVy  rddt  ^uvo^ivg  idtput»  tiXßw»  yivw  ät^^dvw  «ti^^tfca. 
Zahlreieh  sind  die  Stellen,  wo  ein  Nomen  ein  doppeltes  Epithettm  empfang!^ 
nicht  ganz  selten  auch  die  Fälle,  wo  es  deren  drei  bat,  wie  ÄlgOS  11,  79 1 
mUiitTov  xkvrbv  Ixxößorov  oder  13,  101  f.  Athene  x^Dtfcrp/toros  ae^v«  {isyd- 
^vfios  heifst.  Ja  auch  vier  Epitheta  finden  sich  für  Artemis  11,37  f.  äygortga 
XQvffaläxccTos  «ft/pff  To^öxXvrog,  woljei  zu  beachten,  daffi  aufpa  erst  durch  das 
i^rüdikat  vixav  tdaxt  sein  Recht  erhiilt.     Freilich  k<innen  gerade  diese  Bei- 
spiele zeigen,  dafs  bei  dieser  Fülle  von  Beiworteii  au«  h  manche  farbloseren  und 
konventionellen  mit  unterliefen.    Aber  weitaus  die  Mehrzahl  bilden  doch  die 
linnlidi  malenden  Epitiheta,  dnber  die  Vorliebe  des  Dichters  fibr  Komposita 
mit  piv66s,  z^^^St  daneben  für  superlativiache  Ausdrücke  mit  «öS,  {l^i.  Es 
begreiift  sich,  dab  der  Dichter  diesen  Bedarf  nicht  mit  dem  Torbandenen 
Sprachgute  allein  zu  bestreiten  Tcrmochte,  sondern  dsütr  TieUM&her  Neu- 
bildungen bedurfte.    Von  den  102  neuen  Worten,  mit  denen  er  nach  Kenyons 
Zahlung  unsere  Lexika  bereichert,  kommt  die  weitaus  gröfste  Zahl  auf  solche 
Ton  ihm  selbst  geplagte  Komposita.   Sonst  berührt  er  sich  wie  nattlrlicfa  in 


'  Don  viin  Kenyon  vemiifston  Ri?leg  für  den  ArtemiRkult  in  Mctajtont  liefert  eine  voa 
Wemicke  bei  Paoly-WisHowa  angeführte  Müiuie  im  Uritish  Museum,  Ituly  Nr.  269. 


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^38 


J.  fi.  Upiiiia:  lUe  neneatdeckten  Oedidiie  de«  BAkehjUdea. 


dieflem  Sehmueke  sehr  vielfadt  mit  dem  Epos.  Wenn  einselnes  sidi  für  ima 
nur  noch  bei  Pindar  wiederfindet,  so  braucht  das  noch  nidit  auf  bewofster 
NachalunuDg  m.  beruben.  Eber  darf  man  ein  Zusammentreffen  mit  Simonides 
beseicbnend  finden,  wie  &Q£eva(f%og  als  Epitheton  von  Zeus  bei  beiden  schon 
von  den  alten  Granimiitikern  angemerkt  wurde  ^enjon  su  \?>,  25 \  oder  das 
Simonideische  Beiwort  der  Nachtigall  xAo^oi^j^v  von  Bakdiylides  auf  Deianeira 
übertragen  ist  (5,  172). 

Kein  Dichter  des  Altertums,  selbst  Aisilivlos  nicht  ausgenoraraen,  über- 
triöt  Pindar  in  Kühnheit  im*l  Tiefe  der  i>il<ier.  Auch  Biikchylidos  hält  in 
diesem  Stücke  keinen  Vergleich  mit  ihm  aus,  wenngleich  es  nicht  an  Stellen 
fehlt,  in  denen  er  sich  zu  bildliclMmi  Sdiwunge  erhidi^  wie  in  den  sdicm  tw- 
hin  ausgehobenen  Versen  der  Ode  an  Hieron,  wo  er  sich  mit  dem  Adler  tot- 
gleioht,  der  Uber  Berg  und  Meer  in  den  Lfiften  sieh  wiegt.  Aber  wihrend 
Pindar  seine  Bilder  blofs  andeute^  lieht  der  ionische  Dichter  mehr  nadi  episch«- 
Weise  seine  Vergleiche  auszuführen,  am  breitesten  13, 91  ff,  wo  er  die  Achaier, 
die  beim  Fernbleiben  des  Achill  neuen  Mut  schöpfen,  vergleicht  mit  den 
Schiffern,  die  nach  Ende  des  Sturms  wieder  aufatmen: 

ßtft'  iv  xvttvävd'el  &[Qijii  vavtiXovg 

-r(>F'T[tJ  ßo()]/as  vxo  xvfittötv  daf^ft 
Öö  VVX.TÖS  ccvrdöug  f'rr.'.Tfm'Ott/j'wvV ] *  kfj^fv  S}  övv  (pat<Ji{i[ßQ6TGi 

*Aoi^  OTOQfötv       Tf  ,-r(j|  iTovJ'  ov^n'a  }'6tux<  d'  ix6v[ti£  i^üv 

lariov  ü():iukiio^  t'  utkzxov  i%Cxovxu  y)^i^<iov' 
100  hg  Tqqbq  ixixXvov  ulj^tccrav  'AxtXküt 

lituvovt*  iv  «Attf^^t  u.  s.  w.*) 
Durchweg  aber  wird  Wahl  und  Dardbifilhmng  der  Bilder  durch  die  Zwecke 
malerischer  Darstellung  bestimmt,  und  man  wird  geneigt  sein,  eine  geistige 
Verwandtsdiaft  mit  dem  blutsverwandten  Simonides  ansuerkennen,  dem  nicht 
nur  die  bekannte  Definition  der  Poesie  als  redender  Haierei  sugeschrieben, 
sondern  von  dem  feinsinnigsten  Kunstrichter  des  Alterturas  fOr  den  einzelnen 
Fall  leibhafteste  Veranschaalichung  nachgerühmt  wird.') 

Noch  in  einem  anderen  !*iinkt«  drängt  sieb  der  Verj^leich  mit  Pindar  auf 
►Schon  au  den  bisher  bekannten  Bruchstücken  hat  man  die  Men^e  der  St-nten/en 
bemerkenswert  g<'fnnden,  un<i  noch  mehr  tritt  dieser  Reichtum  m  (h-n  nun  vor- 
liegenden Ejpinikien  zu  Tage,  die  ja  zu  seiner  Bethatigimg  besondere  Gelegen 
heit  boten.  Freilich  hann  dieser  Reichtum  sich  nicht  messen  mit  der  Ffllle 
und  Tiefe  der  Pindarischen  Gnomen,  die  es  su  einer  dankbaren,  wiederholt 
bearbeiteten  Aufgabe  gemacht  hat,  die  in  ihnen  niedergelegte  Lebensweisheit 
zusammenfassend  darzustellen.  Im  V^leidi  mit  ihnen  halten  sich  die  Sen- 
tenzen des  Bakchjlides  durchweg  auf  der  Oberfladie  und  selbst  nicht  frei  von 


'i  uvpi'n  und  ÜQnuKib)(i  x'  bieten  die  Korrekturen  des  Papyrut«,  die  fast  überall  das 
Rifbtigt*  herstellen.  Daruacb  habe  ich  inövitf  i^Uv  eingesetzt,  im  nbrigeu  aber  die  Er- 
güuzuugtiQ  bei  Kenyou  beibehalten;  nur  daT»  V.  Ul  Jebb  9^kuh;  via  Hcbreiben  wollt«. 

*)  [LoDgin]  «.  ^^po«9  16,  7:  9»  «4k  ^*  tf  nf  Ihpt»  (tnt^ffittt^w  cl^<ilo9f*/ij««  2«fM»»£tdv. 


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3.  H.  Lipnns:  Die  nduentdeekieii  Ctodiehto  des  Bikcfaylid««. 


239 


Trivialität,  wie  die  gehäufteu  Ivotiexiouen  des  ersten  (^edit'iii^.  Wohl  aber  h«t 
auch  er  es  verütauden,  einer  allgemein  anerkannten  Wahrheit  präzisen  Ausdruck 
SU  rerleilien  und  die  Wirkung  seiner  Sprüche  durch  gMehid:te  EinfQgung  in 
Enihlnngen  oder  Reden  m  eteigern.  Gem  lehnt  er  sieh  dabei  ui  die  Aatorittt 
«am  iltoren  Spnichdiditen  an,  wie  des  Hemod  5,  191 C: 

^Höiodog  «^anulog  MovdS»^  &v        dMmain  njjiAAtr,  i6^X£(p9 

Und  aus  »hnlieber  Quelle  stammt  das  Ton  ApoUon  an  Admet  gerichtete  Wort 
3,78ff.: 

yvtoitug  ort  t'  aÜQtov  ö^eai  iiovvov  aXiov  (päo^. 

Solche  Stellen  endiliebett  uns  das  volle  VwstindniB  für  ein  paar  von  Clemens 
sofbehsltene  Vwse,  in  denen  schon  Neue  (Fr.  13)  eine  Rechtfertigung  des 
Dichterg  gegen  ^en  Au^ül  des  Findar,  etwa  das  obMi  besprochene  Wort 

Ol  2,  86,  erkannte: 

exegog      ixBQOv  6o(pbs  t6  xt  xaXcu  t6  tt  vi>v* 

Es  sind  nur  wenige  charakteristische  Züge,  die  hier  /  ii  ächat  für  die  Epinikien 
hervorzuheben  waren,  aber  auch  ttir  die  zweite  Oruppe  der  neuen  Dichtungen 
ihre  Geltung  haben,  nur  dal»  bei  diesen  der  Mythus  nicht  den  iiauptsächlichen, 
sondern  den  einzigen  Inhalt  bildet.  In  allen  sechs  wird  uns  ein  kleiner  Aus- 
sdmitt  ans  einem  größeren  Sagenganzen,  eine  mjüiische  Einxelssene  in  knapperer 
oder  breiterer  Fssanng  Torgeftthrt,  so  dafs  jedem  Leser  die  PsraUele  mit  der 
modernen  Ballade  sieh  nahe  legt.  Desto  schwerer  aber  fiUlt  die  Zuweisung 
der  fledichte  an  die  yerschiedenen  Arten  der  antiken  Lyrik,  unter  welche  die 
QeleLrten  von  Alexandrien  den  Nachlafs  der  groJken  Melikor  eingeordnet  hatten, 
so  gut  oder  so  Obel  es  oben  anging.  Denn  nnr  eine  beschrankte  Anzahl  dieser 
melis<>hen  Formen  war  durch  die  Regel  des  Kultus  oder  Gewöhnung  der  Praxis 

ausirepriigt.  wälirond  zwischen  anderen  die  Grenzen  schwankend  und  Hüssig 
Miftifii.  (ileich  das  erste  Gedicht  der  Gruppe,  dem  der  zweite  Korrektor  des 
l'apjrus*  den  Doppeltitcl  Av\xr^voifidui  | 'Ef.n'1^\■^  ii;i«i'i}/öig*)  beigeschrieben 
hat,  labt  uns  Aber  seine  Bestimmung  völlig  im  Dunkel,  woran  auch  nicht 
der  Verlust  ftst  der  gansen  ersten  Strophen  die  Schuld  trägt;  denn  soviel  er- 
hnuMo  wir,  dafs  im  Eingang  enihlt  war,  wie  Odyssens  und  Menelaos  nach 
Trojs  kamen,  um  Helena  suHIelanfordem,  und  bei  Antenor  nnd  seinem  Weibe 
Tliesno  gastliche  Auihahme  fiinden,  eine  Sage,  die  aus  der  Dias  bekannt  ist 


'  Die  Ergänzung  von  191  etitlphno  ich  von  Keiivon,  nv  Tt(uaaiv  und  fnfO^at  von  HIihs; 
io^ldf  habe  ich  ntlvca  roi^geaogen  trotz  der  baldigen  Wiederkehr  des  Wortes.  In  der 
*tuendai  ErwUmung  des  Hedod  sah  Kenjou  da  KonpUnent  des  Dichten  gegen  aeiBen 
litraleu  Pindar. 

Ich  ^etzn  i)  ein,  weil  der  acweiteilig«  Titel  M  weaig  wie  bei  17  cvei  Teilen  de» 
Gedichtes  entsj^rochen  haben  wird. 


240 


J.  H.  Lipdiu:  Die  nemntdeckten  Oedichit«  dM  BikehylidM. 


und  nach  \V eickers  jetzt  auch  durch  Bakchylide^  empfohleuer  Vennutung  den 
InhaLt  toh  SophoUeB  Dran»  'BUmjg  axtUx^inq  gel^det  hai^  TOn  dam  nun  Mine 
'Awi^^vQQätm  woU  nicht  mit  Beeht  geacJiieden  hai*)  Wdche  Bolle  Äntenoni 
fnnlsig  Söhne  spielten,  ist  hei  dem  Umfiinge  der  Lttcice  aof  Eolnmne  30,  toh 
der  uns  nur  die  Enden  der  erstm  Zeilen  erhalten  sind,  nicht  mehr  an  erfcoinen. 
Denn  Kolumne  31  setzt  mit  einem  kahlen  auf  sie  bezflgliclien  uyov  ein  und 
berichtet  dann  nnr  die  durch  ihren  Vater  veranlafste  Berufung  der  troischen 
VollcBversammlung  und  die  von  Menelaos  da  gehaltene  Rede,  deren  erste  Hälfte 
uns  schon  durch  Clemens  bekannt  war  (Fr.  2H  Rorgkl;  ps  ist  interessant,  dafs 
die  Znweisun»;  der  Vorse  an  Rakchylides  sieh  hestiitiirt,  aber  7ngleieli  der 
Grunil,  auf  den  sie  sieli  stützt**,  hinfällig  wird.  Mit  der  VViirnuug  des  Merieliins 
vor  der  H^hris,  die  auch  die  übenuütigeu  Giganten  ins  Verderhen  gestür^t^ 
hricht  das  Gedieht  plotdidb  ab,  ohne  irgend  einen  Absehlnb  zu  hringen.  Man 
könnte  trotzdem  darin  nur  eine  weitgehende  Anwendung  jenes  Kunstmittela 
finden,  von  dem  oben  die  Rede  war,  und  sich  darauf  berufen,  dab  dem 
wissenden  Hörer  der  Hinweis  auf  die  onentrinnbaren  Folgen  der  Hybris  eine 
deatliche  Perspektive  ei  ("»ITiiete.  Dennodl  erseheint  mir  das  Gedicht  mit  der 
fest  zwei  Triaden  fällenden  Erzählung  von  Antenor  und  seinem  Hause  zu  breit 
angelegt,  als  dals  es  nach  der  dritten  mit  jener  Rede  des  Menelaos  abreifsen 
könnte,  die  nicht  einmal  die  'Ek(%n^<i  a:iuitriaig  nusdrin  kliph  formuliert,  sondern 
sich  lediglich  in  ethischen  Betrachtungen  ergeht.  Dazu  enthält  ihre  Eiiifühning 
mit  den  Worten  Mov(f«^  n's  n^pdiTOv;  koytav  «pjrfr  Ütxuiav  einen  nicht  zu  ver- 
kennenden Hinweis  auf  weitere  Verhandlungen.  Ich  meine  also,  dals  das  Ge- 
dicht nur  in  seinem  ersten  Teil  in  dem  Papjms  eathalten  vBk\  beA&en  wir  den 
Bweiten  Teil,  so  würde  er  uns  wohl  auch  einen  Fingerzeig  Aber  die  Bestimmung 
des  Gänsen  geben,  an  dem  es  in  den  meisten  andern  Gedichten  der  Gmppe 
nicht  fehli 

.So  gleich  in  dem  nächsten  'HQaxXi)g  von  Kenyon  überschriebenen,  wiewohl 
es  die  Unvollständigkeit  mit  dem  eben  besprochenen  gonioin  hat.  Der  Dichter 
fordert  die  Aufmerksamkeit  seiner  Hörer,  weil  die  raildgesinnte  Muse  ihm  ein 
goldMiies  Fahrzeug  voll  unsterblicher  Hymnen  gesandt  hat  auf  den  Gott,  der  am 
bhunenreichen  Hebros  sich  freut  am  Gesänge  seines  Schwans*)  —  man  kennt 
die  Strophe  aus  Aristophanes  Vögehi  (769  ff.)  von  den»  (lesange  der  Schwäne 
am  Hebros  auf  Apollou  und  seiner  wunderbaren  Macht  und  weifs  durch  Himerios 
?on  dem  Pkian  des  Alkaios,  der  die  Fahrt  des  Gottes  an  den  Hyperboreern 
auf  dem  ächwanengespann  und  seine  Bflck^nft  nach  Delphi  feierte,  die  Ton 
der  ganzen  Natur  mit  begangen  wird.  Und  dann  in  rascher  Wendung  an  den 
Gott  selbst: 

Ih&tC  "AxoXAo^y  x6ou  xoqoI  ztelq>änf 

*)  Wu  Strafaoit  XID  8.  609  am  SophoUes  wfQlirt,  konnte  ia  den  'Arojvoftim  blofr 

Tornusf^eeagt  lein. 

*)  V.  1  erglhize  u-h  r^xoiVr.''  tti^c  iitfi  —  tind  gebe  im  folgenden  den  Sinn  nach  KenyooB 
Text,  wenQ  auch  cinzelncB  iu  ihm  bedenklich  ist. 


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J.     Lipttu:  Dto  Mneutdaekteo  Q«di«ht0  dm  BtkAjhiäm.  94t 

Aber  bevor  solche  Lieder  angestimmt  werden, 

xgiv  ye  xkia^uv  kmtiv  OljflXuiv  xvffl  äaxrofiivuv 

ünd  aiiD  folgt  im  Rest  der  Antirtroidie  und  d«r  Epcide  der  «insigen  Perikope 
die  Krifthlmig  von  deni  ans  SophoUe»  b^eiinfteii  Opfer,  dea  Hmekles  am 

Kenaion  bracbk-  zur  selben  Zeit,  da  Deianeiia  auf  die  Kunde  von  der  liebe 
des  Helden  snr  lole  verderblichen  Rafc  Mnn 
a  dv6\LOQog^  a  xdkaiv*  olov  iii^tftefO* 

ivo(f)tQot'  xt  xäXvyky^u  xäv  vaxiQov  i(fjyfitvt»v^ 

ot'  t^i  7toxap.(p  ^oSötvxi  jdvxüQfia 

dt%uxo  AV^tfov  Xttifa  Öutrf/köviop  xt^fo^. 
Damit  bricht  dae  Gedicht  ab,  das  wie  das  vorausgehende  heeondeiee  Intereeee 
dnreh  die  Berflhrung  mit  dem  Stoffe  eines  SophoUeiechen  Dramas  gewinnt. 
Aber  es  heUkt  gewib  nicht  mit  vorgebfeter  Meinung  an  die  antike  Poeeie  heran- 
treten, wenn  idbi,  snmal  nach  der  eben  gemachten  Wahrnehmung,  in  ZueiM 
»ehe,  ob  in  der  Inirzen  Vergegenwärt^nng  jener  Parallelazene  am  Kenaion  und 
io  Trachis  der  ganze  Inhalt  eines  Gesanges  sich  erschöpfen  konnte,  der  am 
Fest  des  pythischon  Apollon  vorgetragen  wurde.  Ob  in  Delphi  selbst,  scheint 
imr  nach  dfui  Eingänge  wenig  wahrscheinlich;  ich  möchte'  an  Koos  selbst 
denken,  wo  in  lulisi  wie  in  Karfcliaiu  Tempel  des  pythischeii  Apollon  standen 
uutl  an  letzterem  Orte  llv&ia  mit  lyrischen  Chorauftuhruiigeu  begangen  wurden, 
bei  denen  Simonides  seine  Kunst  zu  üben  Gclt^gt  nheit  ümd.^) 

Die  intereaeanteeten  und  i^üdücherweiBe  zugleich  lflok«nloaeaten  Stficke 
uiaerer  Sammlung  sind  die  beiden  folgenden  ans  der  Theeeussage.  17  ist 
Itbenehrieben  'Ht^*M  [xtü}  OqtfMfg;  dds  die  Eteihenfo^  in  dieser  Gmi^  die 
alphabetische  ist,  hat  sofort  Blass  bemerkt  Wie  in  16  werden  wir  g|mch  in 
medias  res  gelDhrt: 

xvttvöXQtoQa  (tiv  vttvgy  luvixxvxov 

xovQovg  'laövav 

KQTfXtxbv  xd^i'f  Xi'Xayo^. 
An  einer  der  Jungfrauen,  Eiiboia,  hudet  Minus,  der  in  Person  den  Meuschen- 
tiibat  eingefordert  hat,  grofses  Gefiillen.  Ahn*  Theseus  wehrt  ihm  mit  kühner 
Rede^  sieb  an  dem  Mftdchen  au  vergreiüm;  wie  jenw  ein  Sohn  des  Zeus,  so  sei 
er  selber  Sohn  des  Poseidon.  Daraus  spinnt  Minos  vwderblidie  List;  er  orbittet 
von  Zeus  einen  Bliti  rar  Beirahmng  seiner  Abknnfl^  dafElr  soll  Theseus  einen 
Ring,  den  er  ins  Heer  wirft,  aus  dem  TTiuiRe  seines  angeblichen  Vaters  herauf- 
holen. Als  der  Blitz  erfolgt,  säumt  Theseus  nicht,  dem  Verlangen  7,u  ent- 
sprechen. Delphine  tragen  ihn  in  seines  Vaters  Wohnung,  dort  sieht  er  die 
Nereiden  am  fieigentana  sich  ergötzen  und  schaut  Poseidons  Gemahlin  Amphitrite, 

'/  Vgl.  Chamaileon  bei  Atheo.  X  8.  466  F  und  die  Nachweiiangen  von  Pridik  a.  a.  0. 
S.  lu  f.  132  f. 

XmJakiMAw.  IMS.  I.  16 


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34S  H.  Lipsiiu:  Die  »eamtdeoktm  Oediehto  4m  BakofajlulM. 

die  ihn  mit  Mantel  imtl  Kraux  beschenkt.  So  geschmückt  taucht  er  am  Schiffe 
wieder  empor,  ein  Wunder  für  alle;  vom  Jubelruf  der  Mädchen  hallt  das 
Heer  wieder, 

Und  «n  diesen  SehlubTera  der  leeeelnden  Enihlnng  reiht  sidi  nnmittellMar  die 
Anmfnng  des  Apollon,  mit  der  das  Gedicht  kura  abaoUieGit: 
^dlUf  jo^oMi  Kiitetv  tpgiva  imr^sig 

Also  zum  Vortrag  an  den  Delien,  die  auch  von  Keoa  mit  einem  Chor  be- 
schickt wurden,  i^t  das  Gedickt  -bestimmt,  du»  wir  darum  mit  K«Djon  aU 
Paian  zu  bezeichnen  haben. 

Der  Besuch  des  Theseus  bei  Amphitrite,  der  dun  Glanzpunkt  in  der  Er- 
zählung des  Dichters  bildet,  iät  uchun  vor  ihm.  zum.  Uegeiiätand  bildnerischer 
Darstellung  gemaeht  worden,  nach  Pansaniaa  hekannlam  Bericht  von  Mikon  in 
einem  Gemälde  des  Theseion  und  in  dem  bdcannten  Yaaenbilde  des  BuphronioB. 
Auch  fllr  eine  Tidgedentete  DarsteUnng  dmr  Fnm^ois-Vaae  glaubt  nun  vaa  Bxan- 
teghem  Im  Kenyon  in  unserem  Gedieht  den  SdilSssel  gefunden  au  haben.  Der 
oberste  Streifen  der  einen  Seite  stelle  in  seinem  linken  Teile  das  Wiederendieinea 
des  Theseus  nach  seinem  Besuche  bei  Amphitrite  dar;  dmr  schwimmende  Mann 
an  der  Seite  d<s  Schiffes,  der  die  verschiedensten  Deutungen  erfahren  hat'),  sei 
oflFenV)ar  Theseus,  und  das  Erstaunen,  das  die  Bemannung  des  Schiffes  zu  deut- 
lichem Ausdrucke  bringt,  sei  eben  durch  die  unverhoffte  Wiederkunft  des  Theseus 
aus  der  Meerestiefe  venuilafst.  Es  sei  also  schwer  eine  direkte  Beeinflussung 
des  Dichters  durch  den  Vaseumaler  in  Abrede  zu  stellen  —  gewils  eine  inter- 
essante Bereicherung  der  Bestehungen  swisdien  Bild  und  Lied,  wenn  sie  nur 
ror  näherer  Prtlfung  standhielte.  Aber  entscfamdend  spricht  dagegen  schon 
die  eine  BrwSgnng,  daJs  damit  die  Darstellnng  des  Streifens  abweichend  von 
all«&  andern  in  awei  gans'Tersehiedtttie  Sienen  anseinandergerissen  wQrde^  denn 
keine  Beziehung  bliebe  zwischen  Schiff  und  Schwimmer  und  dem  rechts  von 
ihnen  abgebildeten  Fest/.uge  der  geretteten  sieben  Jünglinge  und  sieben  Mädchen, 
dem  Thesens  mit  der  Lyra  voranschreitet.  Und  doch  gilt  das  Staunen  der  Schiffer 
deutlich  nur  dem  V'orgjuige  auf  dem  Lande,  nach  der  treffenden  Bemerkung  von 
Heberdey,  Archiiol.-epigr.  Mitteil,  aus  Osterr.  XllI  S.  79.  Weiter  würde  bei 
Branteghemü  Deutung  da«  Fehleu  des  Minus  ei)ens<)  aufffiUen,  wie  die  Haltung 
dee  offenbar  dem  Lande  zustrebenden  Schwimmers  wenig  für  den  aus  dem 
Meere  anftauidienden  'niesens  sich  eigiMt  Ebenso  fehlt  an  ihm  alles,  «as 
«nf  den  Besuch  hei  Amphitrite  weisen  kltonte^  vor  allem  der  Krani,  der  einen 
wesenÜichen  Zug  der  Sage  bildet,  und  das  Nebendiehliche  seiner  Brschcinung 
kommt  auch  im  Fehlen  des  Namens  aum  Ansdrudc,  der  allen  Teilnehmwn  des 
Zuges  beigeschrieben  ist.  Man  wird  also  gut  thun,  das  Gedicht  des  Bakchylides 
bei  Erklärung  der  Vasendarstellung  ganz  anfoer  Betracht  zu  lassen;  auch  bei 
Ergänzung  des  Namens  in  Z.  14  kommt  die  mir  auf  der  Vase  deutlich  scheinende 


')  Vgl.  Weizsäcker,  N.  Rhein.  Mus.  XXXUI  8.  881  f. 


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J.  H.  Ijip«iiu8:  Die  nenentdeckten  ik'dicht«  den  Bakchjlides. 


243 


Form  'Exißoia  nicht  in  Frage.  Wohl  aber  mufs  dem  Euphronios  und  Mikon 
die  gleiche  Quelle  wie  dem  Dichter  zur  Grundlage  gedient  haben.') 

Bwonders  pigoiitinnlicbfr  Art  ift  das  andfrf»  (redicbt  Stjöevg  (1^),  fin 
VVechselgeapräc-h  in  vier  Strophen,  von  dt-Tsen  die  erste  und  dritte  auf  die 
Frape,  die  zweite  und  viert<>  auf  die  Ant^v  n  t  kojiimt.  Sprecher  der  ktztt-n'n 
ist  Aigeua,  wie  die  zweimalige  Anrede  an  ihn  zeigt.  Die  beiden  anderen 
Strophen  werden  von  Kenjon  der  Medeia  zugeschrieben,  die  doch  gleichfalls 
Biher  beEeicshnei  «ein  mfiftfee.  Anf  eine  andere  Anffossiuig  fttbit  der  Inludt 
der  eraten  Frage: 

Die  Frage  pafst  doch  am  besten  eben  fQr  die,  welche  durch  den  Klang  der 
Kriegstrompete  herbeigerufen  sind.    Und  fSr  dieselben  eignen  sich  auch  die 
Worte,  die  an  die  weitere  Frage,  ob  ein  feindlicher  Feldherr  oder  Räuber  ins 
Land  gebrochen  seien,  angeschlossen  werden: 
9>^/yyov  doxtüJ  yäg  fi'  rivi  ßgoxStv 

dXxiiimv  imxwQim*  nui  xlv  eufievuL  v^mv. 
Damit  werden  sich  die  Sprecher  eben  selbst  meinen,  und  ihrer  Stellung  zum  König 
»eoit  endlich  anch  die  respektroUe  Anrede  am  Anfang  und  Schluls  der  Strophe: 

fiv«tXe9  tSv  Uq&¥  '^«vfiv,  tAv  icßgoßiav  6ved^  *IAtm»  — 

A  IIvißdiavoQ  vtt  aal  KffW&^t/g, 
Der  ESii^  erwidert,  ein  Herold  sei  vom  lethmoa  gekommen  imd  habe  Ton 
nnerhdrteii  Thaten  eines  starken  Helden  berichtet,  der  Sinis,  Skiron,  den  Eber 
TOn  Krenunjon,  Kerkyon  und  Prokoptaa*)  erschlagen,  er  fürchte,  worauf  das 
lunaus  wolle.  Und  auf  die  weiteren  Fragen')  nach  Herkunft  und  Tracht  des 
Helden,  ob  er  an  der  Spitze  eines  Kriegesheeres  eiuherzieho  oder  allein  und 
waffenlos,  also  in  göttlicher  Sendung,  giebt  Aigens  eine  Scbihleruug  des  üun 
noch  unbekannten  Theseus,  von  der  ich  wenigstens  den  Schiuis  hersetw: 


*)  Die  obigen  Bemerkungeii  habe  idi  tmvwft&deti  gelaMen,  auch  nachdem  ich  Boberl« 

iu  ^Tufi^ereni  Zusammenhange  gegebene  AuRführungen  a.  a.  O.  8.  144  gelesen  habe,  die 
zum  gleichen  Ziele  kommcti  Wenn  Robert  anf  das  Fohlen  de«  Kranzes  in  der  Durstellung 
iet  Fran9ois ' Vaite  kein  Gewicht  legt  und  ihn  auch  bei  Kuphrunios  nicht  hndet,  ao  apricht 
8«g«B  lebten!  die  aiudrfleldldie  Tenichening  des  «nten  Heiaiiigeben  de  Witte  (M onnu.  gr. 
I  1  S.  11),  auf  die  mich  mein  Kollege  Studniczka  aufinerksam  macht:  //  ne  reste  que  peu 
de  tracts  dt  cette  rmirrmnr,  qnf  Vnn  rJistingue  pourtant  parfnitemmt  dans  la  pciniurr  originalr. 

*)  Die  einzig  natürliche  Auffassung  der  Worte  iloXv^cfjfiovög  ts  xanxfqüv  agiv^ov  i^ij^akfv 
^k^iimmg  it^do999  yaMÖ;  ist  doeh  die«  daft  FrokoplM,  der  hi«r  an  die  Stalle  des 

wiut  genannten  Prokruatea  tritt,  den  Haminer  des  PolTpemon  (Iberkonnnea,  «lao  deiMn 
Handwerk  fortgesetzt  hat 

Respontion  findet  sich  auch  in  mancher  Einzelheit.  Z.  und  47  ateht  Uyn  genau 
*a  dnmlben  Stolle  in  Frege  and  Aatwort;  aneh  das  AnageheD  von  Straplie  9  und  S  auf 
YitfRrm  wild  ntdit  sniUUg  «ein. 

!«• 


244 


J.  H.  Lipum:  Die  nmentdeekten  Oedichte  d«i  Bttkchylidsi. 


Vmi  TiiHiittigiicm  bt)i  Keuyoii  wollte  in  "lfm  Gedieht  ein  Beispiel  der 
ägdfiata  x(iayixä  erkennen,  die  unter  den  Weikea  des  l'uidar  in  dem  Kataloge 
bei  Saidas  aufführt  wer  den.  A.ber  seitdem  Hiller  im  Hermes  XXI  S.  357  ff. 
den  endgültigen  Nadtweie  geliefert  bat,  dab  das  Hehr  von  Titeb,  das  dieser 
Katalog  gegenfiber  dem  Verxeidinie  in  der  altra  Biographie  Pindars  und  hd 
Euatathio«  enthSIty  nii^t  den  geringsten  Anspruch  anf  Glaabwürdigkeit  hat'), 
sollte  von  einer  besonderen  Dichtgattung  tragischer  Dramen,  die  bis  zuletzt 
manchem  Hypotheaenban  zum  Anlafs  gedient  hatte,  überhaupt  nicht  mehr  die 
Hede  sein.  Dagegen  mnl's  der  fiSr  unser  Gedicht  aufgezeigte  WeiliselgeHang 
zwisehen  Chor  und  König  sofort  gemahnen  an  die  berühmte  Nachricht  dts 
Aristoteles  von  Entstc  hung  iler  Tragödie  üxo  täv  f'lapjjdiTejv  top  dt9vQaußm'. 
wie  er  aiiderürüeit»  dieser  Nachricht  zum  Schutze  gereicht  gegeu  den  jüugst 
gemachten  Versuch,  ihre  Unrichtigkeit  aiw  der  TimneinllidiBn  UnmSglidilmt 
zu  erweisen,  dafe  der  tr^paehe  Sehaiuq[»ieler  sich  ans  dem  Chor  heransgelSflt 
habe.*)  Denn  auch  bei  Bakchjlides  tritt  der  Einsel^ger  nicht  xa  dem  Chor 
hinan,  sondern  ans  ihm  berans,  und  dab  d«r  erste  Scbauapielor  nur  Spreeher, 
nicht  at)ch  Sänger  gewesen,  das  an  behaupten  giebt  unser  bescheidenes  Wissen 
vun  den  Anfangen  der  Tragödie  uns  noch  kein  Kecht  Allerdings  k&uicn  wir 
Parallelen  zu  unserem  Gedicht  erst  in  dem  jüngeren  Ditliyrambos.  namentlich 
bei  Philoxenos,  naehweij^en,  wahrend  es  von  den  Dithyramben  Pindürs  in  Form 
wie  Inhalt  durchaus  verschieden  ist;  von  den  Dithyramben  des  Simonides  geht 
uns  leider  jede  nähere  Kenntnis  ab.  Aber  erst  eiugeheudäte  Lutersuchuug  über 
die  Vortragsweise  der  mclischen  Gesänge,  die  swisdien  Einzelvortrag  und  Chor- 
gesang  sieherUeh  mannig&ehe  Übergangsfonneii  kannte,  wttrde  die  Bereehtiguog 
XU  erweiaen  haben,  jenen  Weehaelgesang  als  einen  dem  Dithyrambos  anssdilielih 
lieh  eigentOmliehan  au  betradhten,  waa  in  der  Angabe  des  Aristoteles  kebiM- 
wegs  enthalten  ist. 

Eine  andere  Frage  freilich  ist  es,  welcher  Gattung  die  sammelnden  Ge- 
lehrten von  Alexandrion  Gedichte  wie  die  unseren  zugerechnet  haben.  Sehen 
Blass  hat  Gewicht  darauf  gelegt,  dal's  ein  Zitat  bei  Servius  aus  17,  unzwi  ifel 
haft  einem  Paian,  auf  Bakchylides  in  dithyrambis  l.iutet^),  und  als  Dithyrambos 
werden  wir  sofort  auch  19  anKUspreelien  haben.  So  wird  auch  IH  ala  solcher 
gegolten  haben  und  uiia  somit  in  dem  zweiten  Teil  des»  Papyrus  etwa  die  Hälfle 
von  den  Gedichten  des  BakchyEdes  erhalten  sein,  die  ^e  alten  Ordner  ils 

')  Die»  wesentliche  Ergebnis  bleibt  be«teheii,  auch  weun  mau  mit  Immisch,  N.  Rhein. 
Mus.  XLIV  S.  &Ö3  Ö'.  die  ÖQÜfiaxu  rpayiiut  bei  Suida«  nicht  alt  fiiiueltilel,  SOQdero  aU  tid- 
aaiutbc'Züicknuug  aller  Gedichte  Piudars  aufi'aBsen  wollte. 

*)  Bathe,  PtolQgomena  zur  Gwebichte  des  Theaters  8.  S7ff. 

Bla«s  Itcrufl  Bich  auch  d.irauf,  dafs  Fr.  41  Bgk.  sich  wiedergefunden  hat  in  Fr.  2  de? 
Ifapjrus,  u<  il  er  es  ebenso  wie  J^eue  mit  dem  anderen  Scrviuezitat  aus  den  I>i(hTrauibeB 
(Fr.  Bgk.j  ideutiüxiert.  Aber  in  jenem  ist  nur  die  Uedc  davon,  dal's  die  Mautineer  aar 
ilireDi  Sehilde  das  Bild  d«e  PoMidon  tragen«  wAhrend  auf  da«  in  dem  anderen  BmhMA 
Wesentliche,  das  Umkehren  des  Schildes  bei  arkadischen  Leichenbe«tattungen  keine  Spur 
hinweist.  Ob  aber  vielleicht  Fr.  16  Bgk.  aus  dem  aioht  erhaltenen  Teil  des  Heraklw- 
gedichies  stammt? 


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J.  H.  Lijmus:  Die  neuentdeckten  Gedichte  des  Bakchylide«. 


245 


seine  di^gaiißoi  zusammengestellt  haben.  Denn  der  anderen  Möglichkeit,  dafs 
15 — 20  eine  Auswahl  aus  verschiedenen  Büchern  darstellen,  wird  niemand  den 
Vorzug  geben  wollen,  zumal  nach  dem,  was  sich  über  die  relative  Vollständigkeit 
der  Epinikien  ergeben  hat.  So  dient  unser  Papyrus  zur  Bestätigung  der  schon 
oben  hervorgehobenen  Unsicherheit  in  der  Abgrenzung  der  verschiedenen  Arten 
des  Melos,  die  z.  B.  dazu  führte,  dafs  nach  dem  Verfasser  arfpl  fiovffix'^g  9  f. 
die  Gedichte  des  Xenodamos  von  den  einen  als  Paiane,  von  den  anderen  als 
Hyporcheme,  die  des  Xenokritos  bald  als  Paiane,  bald  als  Dithyramben  an- 
j^esehen  wurden.  Waren  doch  wenigstens  in  Athen  auch  an  dem  Apollinischen 
Hauptfeste  der  Thargelien  die  Gesangs  vortrage  kyklischen  Chören  anvertraut*), 
die  mit  den  dithyrambischen  für  identisch  gelten. 

Wenn  das  besprochene  Theseusgedicht  durch  seinen  Inhalt  seine  Bestim- 
mung für  Athen  erkennen  lüfst,  so  hat  in  dem  nächsten  (10)  mit  der  Auf- 
schrift '/d)  ^A^vaioi6i  die  gleiche  Bestimmung  deutlichen  Ausdruck  in  dem 
Eingang  gefunden,  nach  dessen  selbstbewuTstem  Ton  es  in  die  reiferen  Jahre 
des  Dichters  zu  gehören  scheint.  Die  Muse  soll  berichten,  wie  es  gewesen"), 
als  lo  nach  Zeus  Willen  aus  Ai^os  floh,  und  Hera  ihr  Argos  zum  nie- 
schlummemden  Hüter  gab,  den  selbst  Hermes  nie  zu  täuschen  vermochte;  wie 
er  dennoch  endlich  dem  Gott  erlegen,  das  können  wir  nur  erraten,  da  der 
zweite  Teil  der  Antistrophe  und  die  Epode  des  nur  eine  Perikope  umfassenden 
Gedichtes  auf  der  letzten  Kolumne  des  Papyrus  stehen,  von  der  nur  die  vorderen 
Zeilenhälften  erhalten  sind.  Aber  sie  reichen  doch  aus,  um  zu  zeigen,  dafs  von 
der  Geburt  des  Epaphos  in  Ägypten  und  seinem  Nachkommen  Kadmos  die 
Rede  war,  dessen  Tochter  Semele  rbv  6Q6ißttxxa\  v  —  ]rixTf  ^lov  viov  —  — 
xal  lOQäv  6xifptt[vfov  x  &voxx<^^^  Nach  diesem  Schlufs  liegt  hier  unzweifelhaft 
ein  DithyramboB  vor,  der  in  Athen  ziemlich  gleichzeitig  mit  dem  uns  leider  nur 
zum  Teil  aufbehaltenen  Dithyrambos  von  Pindar  zur  Aufführung  gelangt  ist. 
Es  ist  sehr  interessant,  zu  beobachten,  wie  beide  nicht  allein  in  der  metrischen 
und  sprachlichen  Form,  sondeni  vor  allem  in  der  ganzen  Anlage  ungleich 
gröfsere  Verschiedenheit  aufweisen,  als  wir  sie  bei  den  Epinikien  der  beiden 
Dichter  wahrgenommen  haben. 

V'on  dem  Schlufsstück  der  Holle  "/dßi;  mit  dem  wieder  aus  den  Anfangsworten 
entnommenen  Zusatz  jdaxfdaiuovi'otg  sind  uns  nur  elf  Zeilen  teilweise  bewahrt, 
die  eine  willkommene  Vervollständigung  erfahren  würden,  wenn  die  von  Crusius 
versuchte  Zuweisung  von  Fr.  7  sich  bestätigen  sollte.  Auch  so  erkennen  wir 
den  Gedanken  des  Eingangs:  'Solch  ein  Lied  sangen  einst  in  Sparta  die  blonden 
lakedaimonischen  Mädchen,  als  der  kühnherzige  Idas  die  schönarmige  Marpessa 
heimführte,  dem  Tode  entgangen  durch  die  windschnellen  Rosse,  die  Poseidon 
ihm  geschenkt.*    Wie  eingehend  aber  in  diesem  Hymenaios  zur  Vermählung 

')  Vgl.  A.  Moiumsen,  Ileortulogie  S.  42a. 

^  Z.  15:  tl  'A(fYOi  o&'  iititiov  liTtovact  tpivyt  xpvff^a  ßovs.  Kenyon  hält  tl  wegen 
de»  Trochäus  in  der  Aiitistrojthc  für  verdorben,  aber  es  i»t  die  Freiheit  der  sogenannten 
aiolischen  Baeia. 

V  jiov  viop  mit  BlasH ,  der  ächluTs  nach  der  Ergilnxuu)^'  von  Crusius. 


24Ö 


J.  H.  Lipiiu*:  Die  oeaentdeckteu  Gedichte  deu  Bakchjriidea. 


Pkunw  Über  aeme  froheren  Oesdiicln  benchlet  wu>  des  lehrt  dae  Zitat  in 
einem  Findarscholion  (Fr.  61  B^). 

Am  meisten  zu  thun  übrig  gelassen  hat  der  englische  Herao^jeber  in 
metrischer  Hinsicht.  Wie  die  Pindarhandechriften,  setzt  auch  der  Papyrus  des 
Balichylides  die  einzelnen  Kola  ab,  und  wenn  ihm  Kenyon  darin  gefolr^  igt. 
so  hat  das  fiir  eine  editio  princeps  seine  gute  Berechtigung.  Ahfi-  wie  wir 
durch  Böckh  gelernt  haben,  dnls  die  Piudanschen  Kola  sich  niciit  sofort  zur 
Einheit  der  Strophe,  sondern  zuuiiehst  zu  Versen  zusammen schliefsen,  so  wird 
es  auch  bei  Bakch^'lides  unerlälsliche  Aufgabe  des  nächsten  Herausgebers  sein, 
die  Tereteilang  durcfasnlllhrtti,  TOn  der  auch  die  FestateUong  des  Textes  nicht 
selten  bedingt  wird.  Die  grofsere  Bälfte  der  Gedidxte  hat  daktylo-epitritisehes 
Metnun  von  gans  Bhnlichem  Bau,  wie  ihn  die  Mehrsahl  der  Findariadien  Epi- 
nihien  anfweisi  Als  Beispiel  diene  die  letate  Perikope  des  ersten  Gedichtes 
(Snbjekt  der  ersten  Worte  ist  xXovros)'. 
%i  i^ikn  d'  ix&^Hv  ^ptfinms  Mq6^  b  it      igdw  tfcf. 

30  jTQoitois  i^it^et.    navti  toi  tf^^ig  ecv&gtoxav  ßtet 

t:ttxuL  v6(fipiv  yt  v66mv  ycfvtttg  t    6iuax<ivov.  ämoTQ. 

MtcvQottQonf,   «ft  Sh  Mhmov  eifuaifelv  oödlv  yXvxb 

v6(f(ov  för  voi^ffm'  des  Papyrus  verlangt  das  Metrum,  ebenso  ist  Fr.  1  Z.  1.^ 
Krn f7Ti(3[ß  nicht  EvQ(onid[og  zu  ergänzen;  Z.  2  ist  ue\Tt3rfLra  falsch  wegen 
des  vokaliachen  Ausgangs.  Z.  42  habe  ich  sv  y  tkaiiv  versuchsweiöe  ein- 
gesetzt für  x(tv6'  'ÜM%tv  (die  letzten  Buchstaben  sind  im  Faksimile  undeutlich); 
unmöglich  kann  ein  Kretikus  und  Choriamb  mit  einer  daktylischen  Tripodie 
respondieren;  xiyJof  wQrde  den  Sinn  Terderben.  Branerhenswert  aber  ist,  dafii 
im  5.  Epinikion  in  dem  ersten  Strophenpaar  die  daktylisdie  Trq>odie  sweimal 
aof  dnen  Spondeos,  in  den  anderen  Strophen  auf  die  Aisis  ansgdtt;  beide 
Büdongen  sind  rhythmisch  gleich.  Etwas  grSOwre  Freiheit  der  Beqwnsion 
kommt  den  logaÖdischen  Gedichten  zu,  die  wie  bei  Pindar  in  zweiter  Reihe 
stehen.  Sie  und  das  eigentflmliche  Metrum  in  17  fordern  noch  eingänglichere? 
Studium,  Dal's  Bakehylides  in  seinen  Metren  sich  an  den  Stil  des  Pindar,  nicht 
an  den  des  Simonidf  s  anschlierst,  hatten  bereits  iiossbach  und  Westphal  gezeigt. 

Auch  der  Dialekt  des  Dichters  stellt  zusammenfassender  Behandlung  eine 
lohnende  Aufgabe,  während  Kenyon  aich  auf  Hervorhel)ung  einiger  Hauptsachen 
besehrihiken  durfte.  Die  Untersuchung  wird  zugleich  Simonides  zu  gute  kommen, 
der  im  gleiehen  Dialekte  schreibt,  während  die  Differens  Ton  Pindar  sdion  auf 
Qrund  des  frUheren  sdur  beschrinkteo  Materials  in  den  Arbeiten  von  Schanlft' 


j  .     by  Googl 


3,  Ii,  lipriui:  Die  neneatdeckten  Gedichte  det  Bakchylides. 


247 


berg  und  der  besseren  von  Mucke  im  ganzen  richtig  erkannt  war.  Muiicke 
ÜberdiMtiinmimg  in  I>oriBm«ii  £ndet  erat  jetEft  nekere  Beseugung,  im  Infinitiv 
$ad  Wf  im  D&tiy  t(v,  in  der  Flnion  tiQvixsg,  aber  die  AcensatiTe  auf  6g  nnd 
OS  fidilni  aneh  jetst.  Von  Aioliimen  bietet  der  PapjmB  die  Fartuapialendong 
auf  Mdtt  und  McüetCf  sowie  tuÖd  nur  jo  einmal;  es  wird  darauf  zn  achten  sein, 
ob  solche  Varianten  in  dem  vprscliiedenen  Charakter  der  Oedichte  ihren  ürund 
haben.  Von  Wichtigkeit  für  Beurteilung  des  dichterischen  Dialektes  ist  die 
Reobachtnng  von  Konyon.  dalii  in  zwei  anfeinanderfolf^enden  Silben  ä  vennioden 
vrini,  (Inr'iTTi  gjjjua,  fiQtp'a.  xvßfQtn^tug,  ßdftr/T«.  ixher  udfifttoi]  doch  findet  sich 
aufstT  tlciu  konstiiiit^ii  'A^dvtt  und  ^A&üvta  auch  öeiävtc  und  nach  wahrschein- 
hcher  Ergänzung  ngo^pchas. 

DaXs  der  kritisehen  Arbeit  noch  gar  manches  ftr  Ergänzung  kleiner  Lficken 
und  Sieberstellnng  des  Gedankens  bei  grSIseren  Defekten  au  tfaun  bleibt,  ist 
schon  wiederholt  zum  Ansdnidk  gekommen;  nnm^^ch  konnte  alles  gleich  auf 
den  ersten  Wurf  gdin^n.  Aber  schon  jetat  wird  man  daran  denken  können, 
die  bcsterhaltenen  StQcke,  besonders  die  beiden  Theseusgedichte  und  das  früheste 
Epinikion  auf  Hieron,  der  Gymnasiallektöre  zu^nglich  zu  machen,  um  auch 
in  die  meliscbe  Dichtung  dor  (Jnechen  einen  Einblick  zu  gewahreUi  au  dem 
Pindar  sich  am  weni^ten  für  unsere  heutigen  Primauer  eignet. 


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EINE  NEUE  AUFFA^UNG  DER  ANTIGONE. 

Von  Ewald  Bkdhh. 

[iitcr  Crvtintem  iuria  puhUri  rindirrw  d  Antifjonam  iuris  f^mtilidi  patronam 
pugnalurj  qua  ex  puffna  consrnUinmm  trat  Antigonam  viciam  discedere:  vüAatac 
legis  legitima  rci  piddicae  poma  sdvenäa  erat  —  diese  Sätze  geben  die  Auf 
fassung  der  Aniigoue  wieder,  welche  0.  Kttibel  in  ein^  jüngst  erscliienenen 
Qdttinger  UniTmtitBprograimii^)  sni  begründen  snchi  leh  habe  «e  in  der 
Übenchrift  als  neu  bezeiehnet:  sie  ist  d&a  nicht  in  dem  Sinne,  dafs  nodi 
nimand  Aber  die  Penon«i  des  Dramas  und  ihr  Handeln  ahnlich  genrtmli 
hatte;  Hermann  Hinricbs,  dessen  Schrifl  Ober  'das  Wesen  der  antiken  Tragödie' 
Goethe  mit  Eckermann  am  20.  Mftn  1827  bespricht,  würde  Kaibel  als  Bundes- 
genossen begrüfst  haben;  aber  neu  ist  sie  durch  die  Art  ihrer  Entstehung. 
Hinrifhs  irin^  aus  von  Hegel«  ATiHehauung  über  das  W»'8en  der  Tr:ALj'')dic  und 
suchte  dieae  Auffassung  au  euieui  Drama,  da«  er  als  eine  vollendete  Tragödie 
ansah,  durchzuführen;  Kaibel  hat  sich  nicht  auf  so  luftigen  Bahnen  bewegt: 
er  ist  auf  dem  Wege  der  Interpretation,  ja  schlielslich  von  der  Interpretation 
einer  Stelle  ans  zu  seiner  AujEhssung  gekommen.  Und  wenn  idh  nnn  sage, 
dafs  diese  Stelle  das  ber&chtigte  Enthjmem  V.  904—912  ist,  so  darf  ich  bei 
denen,  welche  in  diesen  Fragen  an  Hause  sind,  wohl  Interesse  für  eine  Dar^ 
legnng  mid  Beurteilnng  dimer  AufiiasBang  voraussetzen. 

Ich  möchte  indessen  auch  för  die^  deren  speziellee  Arbeitsgebiet  nicht  die 
Tragödie  ist,  den  status  cansae  kurz  darlegen. 

Kreon  hat  Antigonens  Klage  über  dn«  bnrte  Los,  da^^  «ie  betroffen  habe, 
mit  rauhem  Hohn  abgeschnitten;  da  nimmt  sie  noch  einmal  das  Wort;  nicht 
an  die  Lebenden  wendet  sie  sieb,  bei  denen  sie  kein  Mitleid  gofHinden  hat, 
sondern  an  das  Grab,  das  ihre  twautkammer  werden  suU,  an  die  Lieben,  denen 
sie  drunten  im  SchattenreichB  begegnen  wird,  an  die  Götter,  ftr  dnen  heiligen 
Willen  sie  gekämpft  hat: 

xghs  rovg  ificcvxfjs-,  &v  ccgi^fibv  tv  ven^otg 
xketOTov  didextai  (btQ6t<paa^  ökmXoTiov 

xtttufu,  nifiv  yMi  y^ol^av  i^i^w  ߣov, 
*)  De  Sepboelis  Antigom  loripait  Georgin«  Kaibel    Uotiijigtt«;  [1S97J. 


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E.  BrahB:  Eim  um»  kalhMmg  der  Antagoo«. 


249 


il^^ovOtt  uttToi  itäff^  iv  ikxtfSiv  t^dipo 

fi^Tcp,  9^Aij  di  6o£y  xaöiyvijrov  kuq«' 
MO  hetl  9v»&ytns  uibt6%HQ  vfUIg  ^ 

jgtäg  I9am&   «0v  tfl,  TToXvviuug^  tö  0Öv 

»Uitot      iym  ^rt/tijffa  Tötg  q>povoi>6iv 
M6  ov  ynn  ^tot'  o^^t*  ^1%  (l  rixvrov  u-^xr^Q  ifpvv^ 
ot*T   fi  Ttööig  iiot  xat^aveov  itrlxfro. 
ߣc^  xoliTÖv  T6vd^  tev  r}(>(^ui]i'  wövov. 
tCvog  vofiov  dii  xavta  x^og  ]f^«^iv  ^i'yu; 
iföaig  n^v  &v       *ttt9«t96vt9g  älXog  ^v^ 

od»        iieX^hg  Bö^ig  &v  ßldätot  siozi. 

if6ftft,  Kgiovti  xavx  iSo^*  i^UQtdvHP 

016  xttl  Sfiva  To^ußi',  tj  xatftyvrjxov  xaQrt. 

xui  vvv  ('"/Ft  uf  diu  2^9^'^  oCxa  laßrov 
aAfxTfjoi  uinifit'vttiov^  of'te  xov  ynuttv 

ickJC  &d'  igt^fiog  XQÖg  tpikmv  dvöfioQog 
OSO  (Ao*  elg  &«v6yxnv  i^%opiai  »atatxa^ds' 

%(  fff^  {h&9tt^imv  ig  4hctbg  in 

rift*  Svööe'ßfiav  e^tfißovtf  ixTriaf'cur,v. 
0S6         tl  (ihf  ovv  Tctd*  ioxlv  iv  &eoig  xttAuy 

xu&6vteg  &v  IvyyvoTufv  r)^aQxtjx6x(g' 

el  «J*  of^  ScuaQT(aiox>at .  ity)  -xlfim  xcatä 

3itt%ouv  t]  xu\  &Q(b(Siv  tKÖixuJi;  iftt. 
Die  durch  gesperrten  Druck  aut^gezeichneten  Verse  bilden  die  Steile,  welche 
idi  vorher  berttchtigt  nannte,  bttUchtigt  deshalb,  wefl  seit  mehr  ab  aiebsig 
Jilifeii  dM  ürleil  Uber  ihre  Eebtbeit  und  Ünoehtheit  hin  und  ber  gooehwankk 
hai;  die  blotfiie  AuJEdUdnng  der  Litterator,  die  oieh  aUmSblicfa  dammgelagert 
bit,  wfirde  manche  Dmelneite  Allen.  Wir  nennen  billig  Qoeihe  suerat  unter 
denen,  welche  diese  Worte  dem  Dichter  nicht  zniranen  zu  können  meinten}  er 
liat  in  dem  vorher  zitierten  Gespräche  mit  Eckermann  das  Bedenken,  weldbea 
inimpr  und  überall  den  eigentHelieTi  Anstois  zur  Atlietese  «^p^boTi  hat,  t,"' 
Üiil'sert:  'Nachdem  die  HelH'n  im  Laufe  des  Stückes  die  herrlichsten  (-rründe 
^ür  ihre  Handlung  ausg»spi  ochen  niul  den  Eilelnint  der  reinsten  iSeele  eut- 
^ckelt  hat,  bringt  sie  zuletzt^  als  sie  zum  Tude  geht,  ein  Motiv  vor,  das  ganz 
eeblecfat  ist  nnd  fest  ans  Komiscbe  streift  . . .   Dies  ist  wenigstens  der  nackte 


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2Ö0 


£.  Bruba:  Eine  oeue  AufiMwung  der  Aaiigoae. 


Sinn  der  Stelle^  die  nach  meinem  Oelllhl  in  dem  tfimde  einer  mm  Tode  gdien- 
den  Heldin  die  tragische  Stimmnng  stört^  und  die  mir  flbwhanpt  -sehr  geeucht 

und  gar  m  sehr  als  ein  dialektischer  Kalkül  erscheint.  Wie  gesagt,  ich  mddite 
selir  gern,  dafs  ein  guter  Philologe  uns  bewiese,  die  Stelle  sei  unecht.' 

Der  Philologe  hatte  sich,  ohne  dafs  Goethe  es  wufste,  schon  gefunden. 
August  Jacob  hatte  schon  1>^21  in  seinen  (^uaestiirties  Sophodeae  il  363  ff.) 
diese  Verse  athetiert  imd  hu  üU  eine  Interpolation  bezeichnet,  deren  Quelle 
eine  stelle  im  dritieu  Bucho  deä  Ilerodut  sei.  Dareios  hat  den  Intaphemes 
nebet  eemen  Kindoni  nnd  Yennndten  zum  Tode  verorteilt,  aber  die  Klagen 
der  Gattin  des  Intaphemes  rfihren  ihn  so-  weit,  dals  er  ihr  gestattet^  aoe  der  Zahl 
der  Terurteilten  einen  anesawSUen,  dem  er  das  Lebmi  aohenken;  wolle.  Sie 
wällt  den  Bruder,  und  auf  dee  Königs  verwimderte  Frage^  - warum  sie  das 
Leben  des  Bruders  höher  achte  als  das  ihres  Mannes  und  ihrer  Kinder,  er- 
widert sie  (III  119):  a  ßaatktv,  äv^g  ^  fu>t  otv  &XXo£  yivoixo^  el  daCfuav 
/&/Ao(,  xal  rtxva  aXkoy  el  tavta  äjtoßaXoifu'  xtttgbg  dh  tud  fH^f^bs  a^adri  (bMM 
fl/io6vT<ov  ad£Jiq>tös  av  SXlog  ovdtiA  rprfjroj  yivoiro. 

Ich  will  den  Leser  nicht  mit  einer  (lescbiehte  des  Streites,  der  sich  an 
diese  Athetese  geknüpft  hat,  ermüden,  sondern  sogleich  auf  Kaibel  Obergehen. 
Er  verspricht  uns  am  Anfang  seines  Programms  certissiniis  rationibm  eu  zeigen, 
dafs  die  Stelle  eeht  sei.  Sein  Beweis  serflUIt  in  iwd  Teile.  Er  sadit  an- 
niehst  aof  S.  3 — 9  xu  zeigen,  dals,  wenn  wir  das  Enäiymem  vebet  den  tm- 
trennbar  damit  Terbnndenen  Versen  913 — ^920  streieben,  eine  Ltidra  sartlek« 
bleibt,  dafs  V.  921  die  Verse  916—920  fordert,  die  ihnrseitB  V.  913—916 
und  damit  also  anch  904 — 912  voraussetzen.  Ich  meine  nicht,  -dals  ihm  dies 
gelungen  sei,  aber  ich  verzichte  darauf,  das  sehr  feinfadig^  Gtowebe  dieses  Be- 
weises hier  nnft;nlospn  Denn  was  Kaibel  zu  leisten  verspricht,  ist  ja  unter 
allen  Umständen  mehr,  uls  nnm  von  ihm  verlangen  konnte.  Wer  eine  Inter- 
polation statuiert,  ist  widerlegt,  sobald  ich  ihm  zeige,  dafs  dieser  Gedanke  in 
dieser  Form  bei  diesem  Schriftsteller  an  dieser  Stelle  verständlich  ist;  dals 
icb  ibm  die  Unentbehrlichkeit  der  getilgten  Stelle  zeige,  kann  er  nicht 
fordern.  Eine  lebendige  Rede  ist  nun  einmal  kein  mafimmaiisdieB  Exempel, 
bei  dem  jedes  Stfiek  des  Beweises  sich  als  notwendig  mllAte  an£seigen  lassen; 
man  wird  oft,  aber  nieht  immer  seigen  kSnnen,  dafs  dn  von  ihr  abgetrenntes 
Stfick  nach  logischen  oder  psychologischen  Gründen  unentbehrlich  war. 

Fassen  wir  also  den  zweiten  Teil  dieses  Beweises  ins  Auge,  der  die  gegen 
unsere  Stelle  erhobenen  Einwürfe  widerlegen  soll.  Soweit  sich  diese  gegen 
Einzelb'^ten  des  Ausdrucks  rieht4?n,  hat  Kaibel  sie  ziun  Teil  schon  vorher  be- 
rührt, Ulis  lehnt  er  es  auch  h1).  auf  sie  einzugehen;  nnd  mit  Recht.  Denn  gar 
zu  augenscheinlich  ist  es,  dals  alle  Bemän^:elnncfen  der  einzelnen  Wendungen 
dieser  Stelle  nur  au%esucht  sind,  um  den  Ilauptanstüfs ,  den  unser  Gefühl  an 
den  Worten  nimmt,  zu  rechtfertigen.  Diesen  Anstois  also  will  Kaibel  be- 
seitigen. Man  hatte  bisher  geschlossen;  Frömmigkeit  und  Bruderliebe  sind  die 
Motive,  denen  Antigone  in  ihrem  Handeln  fdgt;  also  widerspricht  es  ihrem 
Charakter,  weam  sie  hier  ein  ganz  anderes  Moüt  safllhrtw  Kaibel  dreht  diese 


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E,  findin:  Em«  nmie  AullbMiuig  d«r  AatigoBo. 


251 


ScUulsfolgerung  um:  diese  Steile  beweist^  dAit»  Frömmigkeit  und  Bruderliebe 
nicht  die  UauptmotiTe  Antigoueag  und»  alio  milMeii  -wir  Sur  HMideln  sa>  anderen 
Motiven  ableiten.  Dort  hieb  es:  in  das  Bild,  das  wir  uns  tdd  Antigone  machen, 
pebt  dieser  Zug  nicht  hinein;  hior:  nun,  so  macht  eudi  ein  Bild  ron  Antigene, 
m  dsB  dieser  Zog  hineinpabt. 

Begleiten  wir  denn  Eaibel  auf  seinem  Gange  durch  dn8  Stück,  um  zu 
sehen,  woher  er  die  Züge  zu  dem  neuen  Bilde  seiner  Heldin  nimmt.  Wir 
glaubten  bisher,  die  Furcht  vor  den  göttlichen  Gebottn  sei,  wenn  auch  nicht 
das  einziijo,  m  doch  ein  Hauptmotiv  für  Antigonens  liaiulehi;  Kaibel  findet^  dafs 
von  Anüuig  m  (!<'r  Dichter  uns  auf  einen  andereu  Weg  leitet: 

t>  xoivov  uvtudfXqior  'loui'jinig  leapu^ 

a(f  olo&'  0X1  Zfvg  tCii'  ait   OlöCzov  xfxxätv 

hiatotov  ovil  v^v  ixt  ii&tmv  %eUl\^) 
Ibm  tiammUs  vd  äeKbenmtis  haee  twrto  sunt  asd  mamuitis  et  oeerfte  UHgamii» 
(8. 10).  Die  €HWer  sind  es,  die  sie  ansehnldigt,  mit  denen  sie  rechtei  Und 
swar  wirft  sie  ihnen  vor:  «3ul  qued  €db  Oeäifi  te^kre  dermri  pouü  ipri» 
quanhimvis  imotUibus  lovem  reliqui  fecme  .  .  •  verhis  uliiur  frrocihtis  iniqtm 
mpiis:  *nosiro  capite\  inquit,  *am  solae  superstites  sitnus,  patris  oilpam  perlui 
dei  coUterunf  (S.  11).  Also  kann  auch  ihr  Handeln  nicht  dtm  Bestreben  ent 
spnmgen  sein,  die  Gebote  der  Gotter  gegen  Verletzung  d'r  Menschen  zu 
schütsen^  und  so  mois  der  ächlu£i  ihrer  Absage  au  die  Schwerter 

iulvov  (J'  iyia 

&cci'(o.    xaÄov  fiot  roOro  »otovtfg  &avtiv. 

ipik-q  fUT*  ee6to&  3Ut60fuUy  (piXov  jiixtty 

n  h»  da  fk*  iffintnv  tcts  »dua  «Ov  ht^ÜlU, 
ha  yi^  dsl  u^6<tfM$*  6ol  (t  si  ^omI, 
Td  xä»  ^sAv  ivt^*  df«|uEtf(e0' 
neh  anders  an&ssen  lassen,  als  man  es  bisho'  ttiat:  non  äeonm  reUgionem 

pmfprt,  non  deontw  poimam  irn^tque  tnetutt,  scd  qtio  timidnm  anroris  irttfenium 
mmeri  jmtat  hreviUr  d  mbmuligne  iacU  *vide  num  guae  apud  deos  in  honore 
haberUm  tibi  vUia  vitieri  possinf. 

Aber  was  Antigone  hier  kur^  berührte^  spricht  sie  ja  mit  vollstem  Nach- 
druck aus,  alä  sie  Kreon  gegenübersteht: 

460  ot^  yaQ  xC  (tot  Zt^  ^  6  xr}^via^  radf, 
odd^  ^  fdMMiio;  tAv  ititm  Jüa^ 


*)  KtiM  Mtrt  kdn  &eos,  «r  mdat  disae  Tene  erUftren  n  kttnnen:  Mc  age,  quodmm, 
die  fuale  ktndem  malum  a  nobis  deus  abstinuerit  (S.  11).  Aber  wenn  er  die  age  för  &q  oits&it 
einsetzt,  dann  die  wiederholt,  endlich  qtwd  ihnvh  rwm,  qiuil'  ilnrch  Uirulem  schärft,  ho  legt 
er  damit  in  Antigonens  schmerzbew^te  Worte  eine  Krregung,  die  freilich  die  Wiodur- 
•sfitthme  des  Olijekts  erträglicher  madien  wflrde,  die  aber  Sophokles  niebt  angedeutet 
baL  Von  den  Belegen,  die  er  anführt,  könnte  einer  einen  Augenblick  blenden,  Trach.  707 : 
xödfir  yicQ  &v  Kor\  ivrl  ron  Q^v^axcov  o  9th}  iftol  itaffis%'  «ivcMe»}  In  Wahrheit  verbeMert 
lieh  dort  Deiaueira;  daa  969^tv  ist  ihr  zu  unbestinunt. 


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252 


B.  Braha:  Bioe        AnffMnuig  d«r  Avligane. 


ovdh  od^ivHv  ToiovTov  cid/tijv  T«  tfa 

«ccOr«,  xo^^lff  <»{9<»  ^  Swo  iipcnnj. 
twSwv  iya  ovx  «ftcAAof,  ^(vSpog  oödevbg 

Aucb  Kaibei  wird  nntflrlich  nicht  leugnen,  dafw  das,  was  Antipono  hior  sapt, 
subjektiv  wahr  sei.  nhcr  dennoch  haben  die  Ausle<rer  mit  Unrecht  angeiioinmen, 
dal»  hier  dut>  wirkliche  Muiiv  ihres  Haudeltis  üuägespriKheu  sei.  JVort  ao^w  i/^i 
hoe  ailemdmuU  qntoi  äeemm  leges  aetemas  propterm  Jml^iom  aieoeamt  ui  am 
novkia  QreoiUiis  leye  compararä,  ut  OreoHÜs  k^m  prae  iBis  eantemptu  digmm 
notaret  (B.  14).  IVeilich,  Eaibel  fBblt^  dafs,  wenn  Beine  AnffiMmiig  richtig 
ivire,  Kremi  doeh  eigMidich  leine  Verffigong  gegen  diesen  Angriff  verteidigen 
mOrste.  Warum  unterläfst  der  König  dies  denn?  Der  Gnind  liegt  nicht  eben 
an  der  Oberflaehe:  gentUidos  honores,  iwn  privatum  erga  fratrem  pietaHs  exempkim 
ab  Antigona  praestari  fyrobe  intdlegit.  huius  autem  officii  pariicep^  Ifimena 
eraO);  ipse  vtro  reu-  aliena  de  gente  w«ft<s  nequc  amM  iff^utUicia  iura  impugnare 
nec  regis  vd  rei  piäAicae  iura  gentüiuni  vohinfaU  posthal^  vuU  (S.  15V  Mit 
besonderer  Deutlichkeit  spricht  hier  Kaibei  aus,  was  er  von  Antigone  hält: 
regis  tnow»  edkto  aehersata  est,  quo  fratri  gcntique  auae  omni  iniuriam  fieri 
smUAai;  adoenaiwra  e^am  Am»  erat  «t  oStmi  quiMä  Oreo  nutittä  tpuä  mis 
gmtS^m  mmriosim  eaeUtimatrei,  nen  äeonm  legibus  ngpUiMtra  Md  LMuidarum 
honores  a  regia  novieU  nwjieto  tmdieakira  (S.  15).  Nicht  Ctolteeforeh^  ja  kauu 
ein  Geftllil  der  Zärtlichkeit  gegen  den  toten  Bruder  treibt  sie  zum  Handeln  an; 
ihre  Familie  ist  beschimpft,  mit  ihr  sie  selber,  von  einem  Menschen,  den  sie 
^tots  gehafst  hat*);  dagegen  bäumt  sich  ihr  stolzer  Eigenwille  anf;  sie  will 
lieber  den  Tod  leiden,  als  solchen  Schimpf  dulden. 

Als  t'8  dann  zuui  Hterben  geht,  da  wacht  freilich  auf,  was  an  Weichheit 
in  ihr  ist,  und  sie  kl^,  dafs  sie  vom  Sonnenlichte  scheiden,  dafs  fie  ins  Toten- 
reich hinabsteigen  soU,  ohne  das  Ziel  des  Fraueniebens  erreicht  zu  haben,  ohne 
Gattin  und  Hntter  geworden  zn  sein.  Aber  dennochi  sie  hat  kein  Mitieid  mit 
dem  Vater,  der  Hntter,  dem  Bmder;  dab  sie  selber  die  FVndit  einer  flndi- 
beladenen  Bhe  ist,  dafs  sie  nnv^ndUiIt  sterben  soll,  dafs  es  ans  ist  mit  der 
Htnrlidikeit  der  Labdakiden,  darQber  ergiefst  sie  sich  in  bittren  Klagen  imd 
schöpft  keinen  Trost  daraus,  dal'a  sie  gegen  die  Götter  und  gegen  den  Bruder 
ihre  Pflicht  erfälit  hat  (S.  17).  Und  als  Kreon  wieder  auftritt .  als  sie  seinen 
fifrmo  naperior  —  so  nennt  Kaibei  S.  1!»  die  rohen  Worte  ^'^2  ff.  vernimmt, 
da  wird  sie  wieder  hart;  in  ihrer  letzten  Kode  pmcUm  ei  caesim  urget  feritque 

\\  Der  Zweck  diesea  Zu8utr.e8  wird  sich  spftter  {S,  867}  seigen. 
*j  Dies  Iie«t  Kaibei  aus  V.  10  heraus. 


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£L  Bralw:  Eine  neue  AaffMiaag  der  Antagone. 


253 


hotkm  (S.  20):  nicht  um  des  Gatten  oder  der  Kuider  willen  würde  sie  dies 
Oeboi  flbertrelen  haben;  für  einen  Gatten  —  namüch  lOr  Haimon!  —  hätte 
ne  einen  andeni  hekommen  kdnnen  ond  ein  Kind  von  einem  andern  Ihnne^ 
wenn  sie  diesen  —  nämlich  Haimon!  —  verloren  hätte;  einen  Bruder  kann 
sit  nicht  wieder  bekommen.  Also  Kreons  reines  Geschlecht  verachte  t  sie  gegen- 
über dem  verflachten  Stamm  der  Labdakiden:  non  tarn  fratrcm  hufii  .^ttror  fjunm 
uliimam  ndnlissimafi  (fcntis  speni  mhlatam,  nffuf  dlio  nomine  virwn  füiosgue 
ftUiuros  contnumt  nisi  qmd  jnr  illos  sum  geniis  radices  projio/jari  non  pnsse  videt 
(S.  20  i.  Also  nicht  die  berühmte  Antwort  an  Kreon  enthält  den  Gedanken,  der 
die  Achse  des  Stückos  bildet,  sondern  eben  die»  viel  geschmähte  Enthymcm 
Und  ao  hat  denn  der  lUolifear  gras  reeht  daran  gethan,  die  seharliimnige  Ant- 
wort der  Gattin  dee  Intaphernea  f&r  eein  Drama  an  bennlaen,  wenn  w  nicht 
etwa  die  ganae  Tragödie  auf  dieaer  Geacbichte  aa%ebant  hat  (S.  20).  FOr- 
wahr^  der  Stein,  den  die  Bauleute  verworfen  haben,  ist  anu  Edntein  geworden. 

Kaibel  findet  eine  Bestätigung  seiner  Auffassung  in  der  Teiresiasszenc: 
hätte  Antigone  in  Wahrheit  für  das  göttliche  Recht  gekämpft,  so  hätte  der 
Heher  für  sip  «eintreten,  hätte  ihre  Sache  zu  der  seinen  machen  müssen  (S.  2()\ 
Doch  <_'ps(  lne!it  diej*  zunächst  überhaupt  nicht;  Teiresius  erhel)t  nur  von  nt-ueju 
die  Forderung,  dal's  der  Leichnam  des  l'olyneikes  bestattet  werde;  dann  erst 
äulkcrt  er  seine  Mü'sbilligung  gegen  die  «Strafe,  welche  Kreon  über  die  Jung 
frau  verhängt  hat.')  Und  so  ist  denn,  wenn  wir  ein  Urteil  fallen  sollen, 
Antigone  mit  Recht  gedUlen:  aie  hat  sich  gegen  das  Geeeti  dee  Staatea  empört, 
nnd  kein  Athener  konnte  dem  K6nig  vorwerfen,  dab  er  ihr  Unrecht  gdhan 
kabe  (8.  22). 

Wenn  eich  Antigonene  Schale  8enki>  so  mula  sich  die  JBjreona  heben.  Hfiren 
wir,  wie  K.  ihn  cbarakteriaiert:  Creo  provec^oris  aeiatis  hemo,  in  re  publica  tum- 
dum  venaiits,  imperanäi  itmietus,  bona  wlu^ate  magis  ^mm  pntdenÜa  eommen- 

dahiiis,  fmiliarilnis  animi  mvtionibtis  nec  f^ds  nrqtie  nlienis  indnlgcns,  forth 
hvnestus  Severus  pertiiuix.  puUici  commodi  ohscn  antis^irnus  srd  quid  prosit  tdiorum 
tuagis  institiUi'nie  cdoctus  quam  ipse  expertus,  Ttrrsior  ojx-  (id  regnum  evectus, 
suae  virtutis  ip^e  probe  sibi  conscitts,  dignitaÜs  mm  ni  niuf/is  soUictius  quo  minus 
se  dvÜMS  groUum  sentit ,  Creo  igiiur  ut  proburn  ac  gravem,  itisium  ac  severum 
dbuMMiiM  ae  praebeni  tkmdqiie  itf  ävkm  vohmiaim  panm  propentom  «tperirelur, 

Auch  daa  Verhältnis  des  Teirceias  r.ii  Kreon  fabt  Kaibel  anders  auf,  als  es  «wst 
geschah.  Aus  V.  1058  ii  {(lof)  yuQ  ri;i^'  txni  ucnaai  nölir  «^clilif  ^t  er.  daU  Tciresia«  gegen- 
über einer  Oppositionspartei  in  der  liiirgerscbatt,  zu  der  auch  Antigone  gehört  habe,  für 
die  Thronbesteigung  Kveoni  mit  Krlblg  eingetretea  eei.  Bennf  aoll  auoh  994  tieleD:  *«ifaQ 
ii'  d^d-j)^  tijvSf  t'uvrtlnffttg  nihv.  Kaibel  branobt  natürlich  nicht  erat  von  mir  zu  hOrea, 
flufn  liif'se  Ijeideii  Verse  sich  auch  anders  anffas^Ron  laRsen  ^X^'^  liriiucht  nicbt  den  Bcsit7 
auszudrücken,  sondern  kaon  mit  c^cuf  zusammen  sehr  wohl  den  Hina  des  Ped'ckts  von 
beeüebiien:  Du  hart  die  Stadt  gerettet  und  sie  iife  jetst  wohlbehalten.  Und  V.  994 
Vrandlt  nicht  xu  bedeuten  prupUrea  quotl  mihi  sanper  oboeÜtlU  fuisti,  nunc  regna»,  fum  per 
ambaget,  m/  rrHa  via  ad  rei  publica^  gubemacula  errcttts,  nulln  iliffindUile  imjyedttwt 
ii),  solidem  kann  einfach  heifseo:  l>anuQ  leiüut  i>u  jetzt  das  ätaatsschilt  in  geraden^ 
richtigem  Kurse,  nicht  dnreh  Stflnne  eeitwBKto  vecMhlagen. 


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2Ö4 


E.  Brohn:  Eiiie  neue  AnffamiBg  der  Antigon«. 


Polynketn  cum  adverstts  pcUrkun  arma  tulissä  edido  vehtit  sepdiri,  omne  oegu^ 
taÜ8  pondua  m  eo  poritum  e$8e  rakts  ut  amiau  non  pari  atgue  hoßüt  konore 
kaberetitr  uigiie  disermen  fieri  ntMIegerdur  hono»  itUer  atque  w^^rdto».  mokm 
qmäem  nomudlis  ediektm  panm  pMibaium  tri  ea^peekibait  AnÜffonam  vero  iU 
mulierem  paäcnter  laturam  esse  ncn  dMabat  (S.  24).  Und  so  Bind  im  Grande 
beide  Gegner  gleichwertig:  finxit  poda  dm  homines  contraria  volentes,  aUerum 
cum  cdtero  pugnafdeSf  firma  forüque  iUrumque  mlunicUe  praedüum,  flecH  ac  cedere 
nesa'nm  utrumqtte  .  .  .  paria  jmris  duriHae  ingmia  pulcro  artißcü)  ipse  poda 
descripsit  .  .  .  hominum  duorum  ingenio  cofumnilmni  res  (ujitur  (S.  25).  Hier 
aber  zeigt  aich  schlielslicb  der  Unterschied  zwischen  Hinrichs  und  Kaibel.  Bei 
jenem  sind  wichtiger  als  Antigone  und  Kreon  die  Prinzipien,  welche  sie  ver- 
treten; jene  vertritt  das  Recht  der  Familie,  dieser  das  des  Staates,  beide  aber 
einaeitig,  darum  gelien  beide  zu  Gnmde.  Naeh  Kaibel  li^  der  Kaehdrudc 
nicht  anf  dem  Eampfe  der  beiden  Prinsipien,  Bondeni  auf  dem  dieser  beiden 
ea  gearteten  Menschen:  non  ratio  eum  raOom  eot^igii  —  uinm  enim  poäam 
dkas  vmeere  voluisse  si  quiäm  perU  AnÜffona  phis  qwm  perU  Omf  —  9ti 
hmo  cum  hotnine  (S.  25).  — 

Prüfen  wir  nun  Kaibels  Argumente.  Es  klingt  wunderlich,  aber  es  mufs 
doch  ansfff'«y>rorlieii  werden:  der  Philologe,  an  dem  wir  sonst  gerade  die  Ruhe 
und  Uiibetaugenhf'it  f!ep  Urteils  bewunderten,  ist  hier  mit  einer  vorgefafsten 
Meinung  an  das  Stii  k  herangetreten  und  bat  herausgelesen,  was  er  zu  ünden 
wünschte.  Non  Jiarrantki  vel  deliberantia  prhaa  Antigome  verba  sunt,  sed  in- 
auawHa  et  acerbe  UiiganHs.  Und  warum  nicht  non  sine  acerbOate  guadam 
querenüs^  Nidit  die  Worte  kSoneii  das  entscheiden,  sondern  der  Ton,  in  dam 
sie  gesprochen  sind;  und  was  irissm  wir  davon?  NSlü  guoä  ab  Oeä^  todere 
derkari  ptmü  ^pn»  quaniimm  nmiUSm  lavem  reUgm  feam;  wo  steht  bei 
Sophokles  quantumoia  insoni^ms?  *Nwtro  capite*,  inquit,  'cum  solae  superstites 
simus,  pairis  culpam  perUd  dei  voluerunt*  Das  sagt  sie  nicht,  das  legt  Kaibel 
ihr  in  den  Mund.  Und  wenn  (S.  12)  die  Berufung  auf  den  Willen  der  Götter 
sidmalüm''  iresagt  sein  soll,  so  operiert  er  wieder  mit  dem  Ton,  den  wir  doch 
nicht  vor  Gericht  stellen  können. 

Und  warum  soll  Antigonens  feierliche  Berufung  auf  die  t«:  ttlichen  Satzungen 
nicht  gelten  y  Weil  Kreon  nichts  darauf  erwidert.  Und  warum  erwidert  er 
nidits  darauf?  Weil  er  sich  scheut,  ihr  wirkliches  Motiv  an  nennen  und  zu 
hekampjbn.  ZnnSdist  sind  es  ja  nach  Kaibel  zwei  Motive,  die  hier  Antigonens 
Handehi  bestimmen:  hmd  ignoraf  (Greo)  tm  parUer  odh  ae  fredris  getäiaqiie 
piäate  ükm  Mosen'  (S.  24).  Davon  konnte  er  das  eine  doch  jedenfiüls  ohne 
Scheu  aufdecken.  Und  das  andere,  die  Verteidignng  der  .gentüicia  iura  sollte 
der  herrische  Mann  gegenüber  dem  verschüchterten  Chore  nicht  aufzudecken 
wagen?  Er  soUte  nicht  sagen  dürfen:  'Was  Du  da  sagst,  klingt  schpn,  aber 
Du  bringst  es  nur  vor,  lun  Deine  That  zti  henehönigen.  Den  Bruder  willst 
Du  der  verdienten  btrafe  entziehen.  Aber  die  »Strafe  kommt  ihm  zu,  und  höher 
als  sein  Wohl  und  das  seiner  Familie  steht  das  der  Gemeinde'?  Ich  denke, 
sein  Schweigen  erklärt  sich  viel  einfacher.    Er  sagt  nichts,  weil  er  nichts  zu 


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B.  BrahAt  Ein«  »m«  katUßnag  der  Antigone. 


256 


sagen  hüt,  weil  er  flihlt,  dafs  sie  recht  hat.  Und  da£s  er  dies  fühlt,  zeigt  er, 
wie  Leute  seines  Schlages  es  zu  zeigen  pflegen:  indem  er  grob  wird;  sein  Anf- 
fUinn  Boll  den  Mangel  an  Qtflnden  verdeoken. 

In  dar  Klage,  mit  der  Antigooe  ftof  dM  Wort  des  Oiore«  suetg^tcv  i»gip»s 
W  Mov  erwidert  (857  ff.),  Termifiit  Kübel  ein  Wort  dee  Hitleids  ftr  Ysler, 
Matter  und  Brader.  Ich  sehe  keine  Veranlassung  zur  AuTsemng  eines  solchen 
Oefthls  gerade  an  dieser  Stelle.  Der  Chor  hat  sie  hingewiesen  auf  den  Urquell, 
aus  dem  auch  ihr  Leid  stammt;  das  bestätigt  sie  und  flihrt  es  aus;  die  Ihren 
in  Schutz  zu  nehmen  hätte  sie  nur  Veranlassung,  wenn  sie  angegriffen  wären. 

Dafs  endlich  Teireaias  znnachst  Antigoneus  nicht  gedenkt,  finde  ich  nicht 
befremdlich.  Wir  stehen  unmittelbar  vor  der  Peripetie,  wo  Kreons  trotziger 
Eigenwille  gebrochen  werden  soll,  also  mul»  dieser  Trotz  gerade  jetzt  besonders 
atsrk  hervorfeeten.  Dsmit  er  das  kmu,  irird  an  Kreon  anidkliBt  nidit  die 
achinnrere  Fordenmg  gestelU^  Antigone  frei  zu  gebem  und  dadarcb  einen  fimnell 
berecht^ten  Begierungsakfe  snrüeknmelinieny  sondwn  die  leichtere,  in  die  Be- 
stattung des  PolTneikes  an  willigen,  nachdem  sidi  geieigt  lial^  dlfil  doreh  ibre 
rnterlassnng  ein  ^ia6\jM  über  die  Stadt  gebracht  ist  Kreon  weist  diese 
Forderung  trotzig  ab,  und  nun  wird  die  Verschuldung,  welche  er  ^rch  die 
Verurteilung  Antigonens  anf  sich  geladen  hat,  auch  von  Teiresias  hervorgehoben. 

Ich  meine  gezeigt  zu  haben,  dals  Kaibel  seinen  Satz  flicht  bewiesen  hat; 
aber  ich  möchte  versuchen  /.u  beweiötä«,  dHl«  das  Gegenteil  seines  Satzes  richtig 
ist.  Dabei  will  ich  ausgehen  von  seiner  Beurteilung  Kreons;  denn,  wie  vorher 
g<:.?agt,  das  Urteil  Aber  den  einen  der  beiden  Gegner  miils  das  über  den  and^ 
beeinflussen;  so  viel  Recht  Kreon  bat,  so  yiel  Unredit  bat  Antigene  und  um- 
gekehrt Es  gilt  sonidist  «nen  aidieren  StOtqnuilct  su  finden,  der  niebt  auf 
dem  QefQhle  des  Lesers  ruht,  sondmi  auf  einer  Thatsaciie,  die  sieh  mit  dem 
Teistande  feststellen  und  beurteilen  läfst. 

Eine  solche  TliatBache  ist  der  aucb  fttr  den  Stil  der  attischen  Tragödie 
nngewöhnüche  Keichtum  an  Sentenzen,  den  Kreons  Reden  zeigen.')  Es  sei 
mir  gestattet,  sie  ihrem  wesentlichen  Gedanken inhait  nach  kurz  anzuführen: 

1)  175 — 177:  Erst  wenn  ein  Mann  eine  herrschende  Stellung  einnimmt, 
lafst  sich  seine  Persönlichkeit  ganz  erkennen.  2)  178  — 181:  Wer  als  Staats- 
lenker  Bich  durch  Furcht  von  einer  heiWmeu  Mulkregel  zurückhalten  läfst,  ist 
ein  FeigUng.  3;  182 — 188:  Wer  einen  tpUoi  bober  achtet  als  da«  Vaterland, 
irt  ein  Nichtswürdiger.  4)  188—190:  Das  Vaterland  ist  es,  das  uns  erh&Uy 
dem  wir  anch  die  fHin  danken.  6)  821 — ^222:  Durch  die  Hoflbungen,  die  er 
erweckt)  richtet  der  Gewinn  Tiel&cb  Menschen  au  Qrunde.  6)  29&— 301:  Das 
Geld  vernichtet  ^nze  Gemeinden  wie  einzelne  Staatsbürger,  indem  es  die  Sitt- 
hchkeit  untergrabt.  7)  313 — 314:  Unrechter  Gewinn  bringt  öfter  Verderben 
als  Heil.    M)  Unredlicher  Gewinn  bringt  Leid.    9)  473 — 47«:  Gerade  <ler 

harte  Sinn  wird  am  ehesten  gebrochen.    10^  47B — 79:  Wer  andern  unterthan 


'  .\uf  Grujid  einer  Mittellunff  von  mir  hat  auf  diesen  Pnnkt  kort  hiogewiesw  A.  fiiese, 

Seue  Jalirb.  1.  Phil.  u.  Päti.  CLIV  luy. 


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256 


E.  Bnihn:  Eine  neue  AvShmnng  dar  AirttgoiM. 


ist,  darf  nielit  stok  Bein.  U)  498—494:  Den  Schuldigen  venüt  bald  Min 
bösM  Gewiflsen.  12}  580 — 681:  Auch  der  Eeeke  flidif^  wenn  er  den  Tod  tot 
Angen  hat.    18)  641—647:  Nur  gehorsame  Kinder  sind  den  Eltern  etwas 

nütze.  14)  G50  —  651:  Ein  böses  Weib  ist  ein  V^jjpöv  stccQayxaXiG^a,  denn 
15)  651 — 652:  ein  tpiXog  xuxös  ist  das  gröfste  Übel,  das  einen  treffen  kann. 
]())  tjBl — 662:  Wer  den  Seinen  gefrenüber  ein  braver  Mann  i!=it,  vrird  sieh  auch 
in  der  Gemoindf  uls  gert'cht  ztng*Mi.  IT)  OGö — 671:  Dem  von  der  Gemeinde 
eingesetTiti^'ii  Iltrirtciier  mul's  mau  in  alitsm  gehorchen;  wer  daa  tbut,  ist  ein 
tüchtiger  Bürger  und  ein  zuverlässiger  Kamerad.  18)  672 — 676:  Zuchtloaig- 
keit  vernichtet,  Zucht  erhalt  die  Staaten.  19)  780:  Die  Toten  zu  ehren  ist 
ein  eitiee  BenLflhen.  20)  1044:  Die  QStter  kann  kein  Henedi  beflecken. 
21)  1065:  Alle  Seher  sind  gewtnnsflchlig. 

Ich  holfo,  nun  wird,  olme  eine  Statistik  fiber  das  Vorkommen  von  Sen- 
toofen  in  der  attischen  Tragödie  von  mir  zu  verlangen'),  zugeben,  dafs  Kreons 
Reden  von  Sophokles  mit  diesem  Schmucke  überreichlich  bedacht  sind,  da£iB> 
manche  dieser  Sentenzen  ungewöhnlich  lang  und  dabei  ungewöhnUch  billig 
sind,  endlich  dafs  der  Redende  die  meinten  von  ilnien  ohne  irgendwelche  innere 
Nötigung  an  den  hcHo^deren  Fall,  den  er  im  Au^i  hat,  anknüpft.  Ich  nenne 
ein  besonders  signitiknntes  Beispiel.  Die  Wächter  sind  nach  Kreons  Meinung 
«  von  politischen  Gegnern  bestochen,  tun  sein  Gebot  zu  übertreten.  Dann  sind 
also  doch  nur  jene  Gegner  eigentlich  wirksam,  die  Wächter  lediglich  deren 
Werkzeuge.  Und  doeh  hSren  wir  hier  von  Kreon  eine  Deklamation  von 
7  Yereen,  die  lediglich  an  diese  Untreue  seiner  Diener  anknfipft: 

luaUi»  v&fuofi  ißXaati.   tuf&wa  $uA  «dilns 

xÖ^  iitäiöttöiui  Tcal  xoQttkXttCöei,  tpgivag 
XQijOtäg  stQog  ulßxQi(  TiQccy^a^'  LöraO^ai  ^^ovflv* 

xal  xavzhg  igyov  Öv6öißtiuv  döivai. 
Welche  Absicht  verfolgte  denn  nun  Sophokles,  wenn  er  Kreon  diese  Vor- 
liebe für  sentenziöse  Redeweise  heilste?  Ich  finde  nur  eine:  er  wollte  ihn 
darsteUen  als  einen  eitlen,  selbstgefalligffli  Menseheni  der  fibeiall  das  Bedfirfiiia 
bat,  seine  billige  Weisbeit  mr  Schsn  su  stdl^  nnd  neb  sn  seigen  als  den, 
der  das  Menschenl^Mn  kennt  bis  anf  den  Grand,  der  jedes  eimtehie  Vorkonmnis 
unter  einen  ^Igemeinen  Erfabrongsaats  einordnen  kann.  Ich  könnte  für  meinen 
nächsten  Zweck  mich  hiermit  begnügen.  Denn  wenn  Sophokles  Kreon  ais 
eitel  und  selbstgefällig  aufgefal'st  wissen  wollte,  so  wollte  er,  dafs  wir  ihn 
verachteten,  tmd  wenn  er  das  Avollte,  so  konnte  er  nicht  wollen,  dafs  wir  ihn 
aLs  gleiclil»<re(litigten  Gegner  Antigonen.s  jDiselien  sollten,  .^ber  die  einzelne 
Charaktereigenschaft  wird  erst  glaubhaft  dargelegt  sein,  wenn  es  sich  zeigt^ 


')  Immerhin  sei  beispielsweise  König  Oedipus  mit  Kreon  verglichen.  Wir  hören  aus 
Bttneu  Munde  leekt  SanteMea:  10».  «60— Sl.  s»6.  S14— 16.  S8a-<42.  SM. 


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E.  Brohni  Eine  neiM  Anffuning  der  Antigone. 


257 


dafs  sie  »ich  in  oin  Gesamtbild  «lii  scs  ( "liüraktt-rs  einfügt,  und  Kaihel  8oll)«t 
bietet  uns  (ielegenheit,  noch  eine  andere  rteitc  vou  Kreons  Charakter  zu  be- 
sprechen. 

Er  Boehie  dne  Erldäning  dafür,  dftfii  Kreon  ÄtttigomenB  siolae  Berufung 
auf  die  gQtUichen  Satsungen,  iriewohl  er  sie  aIb  unberechtigt  empfand,  doch 
nidit  surCkskwiee.  Noch  ein  Zweites  fiel  ihm  an  Kreons  Antwort  auf.  Wenn 
der  Konig  sagt: 

uvrij  xi  xri  l^a^c;  oxm  i^iSl^ov 
liÖQOV  xmUHroV  xtd  yag  ovv  xsiv^v  ÜtW 

490  i:iairiG>(iui  tovÖe  ßotfifvöai  rutpoxK 
xaC  viv  xaXelr^ '  ^aia  ynQ  ddov  ccQrtag 

so  fragen  wir  uns  doch,  wie  er  dazu  kommt,  auch  Ismenen  zn  hesehuldigen 
und  zu  verurteilen.  Cuius  repentini  consHii  cstne  hoc  stäis  causue  quotl  ttio<h 
se  tidim  qU  Imumm  dorn  ßtrentm  et  qmd  menU  aXkmkmf  gmärn^  kl  quod 
eratf  sonrm  de  sorom  »arte  stXfmtam  em  vMegAait?  (S.  15).  Wir  haben 
oben  gesehen,  wie  wenig  Kaibels  ErklSrung  ausreicht,  um  Kreons  Verhalten 
auch  nur  g^;enflber  der  von  Antigone  vorgebrachten  Begründung  Teratandlich  zu 
machen.  Wenn  wir  seinen  ungerechten  Verdacht  gegen  Ismene  erklären  wollen, 
so  müssen  wir  nns  vor  allem  daran  erinnern,  dafs  er  nicht  sie  allein  ungerecht 
verdächtigt.  Als  der  Thor  Kchflfhiern  vermntft.  dar>i  «li'f  Götter  Hand  bei  der 
Bestattung  «Ii  s  IVdyncikes  im  Spiele  sei,  weist  er  ihn  schroÜ'  ab: 

ovx  iativ  ukXu  xttvxu  xul  jtKXui  :i6knas 
290  ih'd^fs  C^okig  qp^(ioiTfs,*  iqq69ovv  ifioi\ 

XQv<p^  XKQU  (SHovxeg^  ovd*  'bxb 

lat  dieser  Verdacht  minder  sinnlos?  Seit  gestern  ist  ( i  König,  und  schon  hat 
er  längst  <lie  Existenz  einer  Oppositionspartei  bemerkt,  die  jetat  die  Wächter 
bestfx'hen  haben  soll?    Aber  ein  drittes  Mal  noch  hören  wir  eine  solche  Ver- 

«irnlitit,aiii(f:  nh  Toiresias  ihm  —  nicht  etwa  herri^rlt  auf  fsiino  Überlegene 
Ut'islieit  pochend,  sondern  milde  und  freundlich  -  zuredet,  dui's  er  si»ir»  Edikt 
}^eu  l'olyneikes  zurücknehiauii  uiöge,  wirft  er  mit  völliger  (iewilsheit,  als 
handle  es  sich  um  eine  durchaus  feststehende  Thatsache,  ihm  vor,  er  sei  be- 
stodben. 

Dabei  fällt  uns  doch  wohl  eine  andere  Sophokleische  Tragödie  ein,  in  der 
(^ichfiills  eine  Person  dreimal  eine  falsche  Beschuldigung,  die  auf  blolker  Ver- 
mutung beruht,  ah  Thatsache  hinstellt.   ESnig  Oedipns  ist  es,  der  124  be- 

Itsuptet,  mit  thebanischem  Gelde  seien  die  Hiluher  gedungen,  die  Laios  get&tet 
hatten-,  der  378  ff  Teiresia«  htschuldigt,  er  habe,  um  ihn  zu  stür/en,  das 
tlelphische  Ornl<el  im  Bunde  mit  Kreon  ersonnen,  den  er  dann  aus  Kigiment 
bringen  uud  mit  dem  f»r  die  Herrschaft  teilen  woIIp;  der  endlich  1(H)2  f. 
lokusten  vorwirft,  sie  wolle  ihn  an  der  Erforschung  seiner  Abkunft  hindern, 

K«««  Jklirbaolier.   1898.  L  17 


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268 


E.  Brabn:  Ein»  ii«a«  AufliMwuing  der  Aatigoiie. 


damit  ihr  Gatte  .sich  nicht  als  unehenh(5rtig  hermisst^'Ue.  Drei  ungerechte 
Verdächtigun^^ren  hier  und  da,  je  eine  auf  Bestechung  lautend,  je  eine  gegen 
Teiretias  gerichtet  —  die  Ähnlichkeit  i»t  grofs.  Und  doch  ist  wieder  ein 
Untem^ed  da:  die  Verkehrtheit  der  Termatongen  ist  viel  gröfter  bei  Kreon 
dÜM  bei  Oedipns.  Dieser  kann  allerdingB  nicht  bewneen,  dab  des  Laiot  Härder 
Ton  Theben  ans  gedungen  sind,  aber  mogUdi  war  das  inunerhin  nnd  viel  wahr- 
sdieinlicher,  als  dafs  gegen  den  soeben  ernannten  König  Kreon  sich  schon  eine 
Oppositionspartei  gebildet  haben  sollte,  die  nun  nicht  etwa  etwas  Ernstliches 
gegen  ihn  nnternommen,  sondern  ein  Gebot  von  ihm  übertreten  bitte,  nur  um 
ihn  dadurch  zu  «rpem.  Im  König  Oedipus  hatte  Krpon  7mt  Befmgimg  dps 
Teiresias  iforaten;  Teiiosias  erh«»!)  jt^tzt  oinc  Anklage,  deren  I'nsinnigkeit  für 
Oedipus  ganz  fest  stand:  war  es  so  befreuidlich.  wenn  Kreon  und  Teiresias  sich 
verbunden  hatten,  um  den  Eindringling  zu  stürieuV  in  der  Ajitigoue  sollte 
wieder  jene  erträumte  Oppositionspartei  thätig  gewesen  sein  und  den  greisen 
Seher  mit  einer  Summe  Geldes  erkauft  haben:  diese  Beschuldigung  war  nieht 
nur  ungerecht,  sondern  auch  abgeschmaekt.  Endlich  lokaste  —  warum  Stents 
sie  sieh  plötsslich  dem  leidenschaftlichen  Verlangen  ihres  Gatten  so  dringend  in 
den  Weg?  War  es  so  wunderbar,  wenn  sie  sich  ungern  als  Gattin  eines 
Sohnes  der  Tyche  sah?  Dagegen  wer  Ismenen  kannte  von  klein  auf,  der 
konnte  ihr  eine  solche  That  gar  nicht  zutrauen.  Kurz,  dort  sehen  wir,  wie 
ein  Mensch,  der  seinen  Scliarfsinn  oinst  glänzend  bewiesen  hat.  eben  diesen 
Scharfsinn  am  uiirechteti  Orte  anwendet,  hier  einen  Thoren,  der  ohne  l'berlegung 
den  ersten  besten  Gedanken  aufgreift  und  ihn  mit  völliger  Gewifsheit  als  That- 
sache  hinstellt. 

Nidit  in  diesem  Punkte  allein  verhalt  sich  Kreon  so  zu  Oedipus;  jener  ist 
eitel,  dieser  zeigt  ein  hohes  Selbstbewufstsein,  das  aber  berechtigt  ist:  denn  er 
hat  wirklich  ^nst  durch  seinmi  Scharfisinn  die  Stadt  gecettet . 

Und  noch  einen  letaten  Charaktsraug  des  Oedipns  finden  wir  bei  Kreon 

wieder:  die  jäh  hervorbrechende  Zommlltigkeit^    Aber  wieder  mit  demselben 

Unterschiede.   Oedipus  wird  heftig  und  ungerecht,  Kreon  roh,  ja  blasphemisch. 
Mochte  Antigone  immerhin  aus  Liebe  zu  ihrem  Bruder  gethan  haben,  was  sie 
nicht  sollte;  er  dni-fte  sie  nicht  höhnen,  wie  er  es  thut: 
xätia  wv  iÄ&ovö\  ti  9p(A>;Tfor,  (fü.fi 
625  xci'vovs'  «'/iot'       ^ß>tfrog  ovx  uq^h  yvvrf. 
So  üblich  in  der  Tragödie  der  Vergleich  des  Zeugen»  mit  dem  Pflügen  ist, 
wenn  er  auf  Ismenens  entsetzte  Frage,  ob  er  seines  Sohnes  Braut  töten  wolle, 
erwidert: 

so  dürfte  das  auch  f&r  dnen  Hdlenen  eine  Hoheit  sein.  Haimon  hat  seinen 
Vater  enfimt,  aber  dieser  fiberschreitet  doch  Mab  nnd  Ziel,  wenn  er  ausruft: 

760  Bfuyt  xh  ftltfoff}  i}<i  xat   'ofniar'  avtitut 
xagömi  OrrJiXXfl  xkmüia  tc5  w/i^tcj. 
Kur  ein  nnfrommer  Sinn  kann  von  denen  im  Totenreiche  sagen; 

780  aövo^  xi(fiaa6i  iau  zuv  "Atöov  atßuv,  * 


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E.  Bmlm:  Eine  neu«  AnffaMong  der  Antigone.  250 
Aber  er  scheut  vor  Zeus  selber  nicht  zurück: 

toO  stavtbs  i^ftfy  ^v6g  igmtlev  xvgtl,, 

und  slirker  noeh  1040: 

r('«pa  d'  fxtlvov  ovjl  XQV^izf^ 

oiM'  ^/  i>Aoi)(l'  ol  Zjjröi;  uUrol  ßoQccv 
fptQtiv  viv  ccQTrdiovTf^^       .Iths  ^QOVOVgj 

^tt:ixeii^  xuQ^aa  xttvov^ 
WO  er  selloer  fühlt,  dafs  er  zu  weit  g'  güugeii  ist,  und  die  —  in  seinem  Munde 
sdule  —  Entedraldigung  anfügt: 

si^  yiiQ  o?d*  8re 

Wir  können  das  alles  zusammenfassen,  indem  wir  sagen;  Kreon  in  der 
Antigone  ist  eine  Karikatur  des  Oedipus  im  Kdnig  OedipOB.') 

Und  diesem  Menschen  steht  nun  Antigone  gegenüber;  vor  ihm  spricht  sie 
es  ua»f  dafs  sie  nicht  geglaubt  habe,  seine  Gebote  hatten  soviel  Krafi^ 

aar  t'cyQicTfTU  xu(J(f(cXfi  iyeCiV 
vouiuu  dvi'utjd'ai  livijTÜ  y  vJtfQÖQC^iilv^ 
idät  ilensolben  Gedanken  und  dieselben  Worte,  die  Sophoklec^  »«elber  0.  R.  Siiü  if. 
Vrsudite.  Idi  denke,  es  iai  doch  so,  wie  wir  immer  geglaubt  haben:  Antigone 
weil^  dale  man  Gott  mehr  gehorchen  soll  als  den  Hrasohen,  und  dies  Bewolai- 
■ein  giebt  ihr  die  Krafi^  kdhn  angerichtet*)  dem  TTrannm,  der  ihr  das  Todea- 
ortett  sprechen  wird,  ins  Auge  sn  blicken.  Und  ee  iat  allerdingB  so,  daTs  dieee 
Szene  die  Achse  darstellt,  nm  die  sich  das  Stück  dreht:  das  beseugen  die 
öeklafsworte  des  Chores  —  der  nun  nicht  mehr  wie  vordem  seinem  Herrn 
Tiacli  (lein  Munde  zu  reden  braucht.  Sie  wissen  nichts  von  einer  Gleich- 
berechtigung der  beiden  (it'^ner,  die  an  der  Härte  ihres  Sinnes  beide  zu  Grunde 
K*'J?angen  seien;  sie  /ielen  aut  Kreon  allein,  den  Sfine  utpqoövvy]  zur  uöißtiu 
tUbrte  und  der  /.um  qigovetv  erst  iiara,  als  die  strafende  Haud  der  Götter  ihm 
■ein  Lebenüglück  zerschlagen  hatte. 

Und  dennoch  sind  Kaibels  Ausführungen  nicht  ttberflfisaig  gewesen.  Es 
giebt  »neh  Leute,  welche  sidi  für  reipflichtet  halten,  Antigone  su  einer  Heiligen 
TO  «heben,  die  nur  aus  selbsttosen  Motiven  ihr  Leben  einseta^  um  ihre  Pflicht 
sa  ilion.  Und  diesen  gegenfiber  ist  allerdings  zu  betonen,  dale  Sophokles  in 
seiner  Heldin  nicht  nur  ein  solches  blasses  Idealbild  geschaffen  hiit,  sondern 
eine  lebendige  Menschenseele,  die  hasara  und  verachten  kann  so  gut  wie  lieben. 

Von  einem  anderen  Gesiclitspuakte  aus  habe  ick  dies  YcrbiUtnis  der  beiden  Charaktere 
dtigdc^  in  meiner  Nenbearbeitnng  der  Seluieidewin«NaiickBehen  Anagabe  de»  EOaig 

OftdipuB  S.  44  ff. 

*  Denn  i^io  hebt  doch  wohl  450  da«  Haupt,  das  tie  bi«  441  gesenkt  hielt,  als  ginge 

der  ganzv  Vurgaug  sie  uichU  au. 

17» 


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260 


E.  Bruhn:  Kiue  neue  AuiTusdung  der  Antigouc. 


Ich  denke  nicht  an  ihr  Verhiltnis  zn  kmene.  Der  iat  sie  allerdings,  wie  die 
Anrede  im  ersten  Vt  ijJt  bezeugt,  mit  warraem  Herzen  entgegengetreten.  Und 
wenn  sie  von  dem  Augenblicke  an,  wo  die  Schwester  sich  geweigert  hat,  ihr 
zu  helfen,  ihr  mit  so  schneidender  Schärfe  entgegentritt,  die  nur  ganz  wenif» 
8i(  li  mildert,  selbst  als  Ismeue  mit  ihr  sterben  wil!.  so  finde  ich  darin  nur  die 
natürliche  Härte  ^'mvv  starken  Seele,  für  die  Erkenntnis  nnd  ErfdUung  einer 
Pflicht  zusammeriiiiiit,  die  sich  nicht  wie  die  meisten  Meuscheu  vor  Alter- 
nativen scheut,  der  boee  heilst,  was  aicht  gut  isi  Aber  ihr  Verhältnis  zu 
Kreon  ist  nieht  ledi^ch  bestimmt  durdi  das  Bewußtsein,  daGi  sie  tun  des 
Broders  und  nm  des  gQtUidien  Geeetses  wiUen  sein  Gebot  übertreten  mufs. 
Freilich,  das  Wort  if/^ffoi  im  Prolog^ 

ff^ö;  xoi^  qt^lowg  Otu'xovtu  xäv  ix^gav  lutxdi 
beweist  dafür  noch  nichts;  ein  ix^gög  könnte  er  ihr  geworden  sein  eben  durch 
Hern  jetzt  erlassenes  Gebot.  Aber  einen  deutlichen  Hinweis  giebt  uns  Sophokles 
einige  Verse  später: 

31  Toitd'TCi  cpiaJi  rhv  äyu%oi>  KqiovxÜ  60i 

Was  soll  hier  die  effektvolle  Wiederanfiiahme  des  i^o£?  Ich  mdne,  sie  ist 
nnr  Terslftndlidi,  wenn  Antigone  der  Gedanke  vorsehweht:  Nicht  Dir  aUein, 
Du  sanfte  Seele,  die  er  doch  vielleicht  hoffen  konnte  einzusohflchtem,  hat  er 
dies  geboten;  auch  mir,  von  d»  er  doch  wissen  mnJste,  wie  sehr  ich  ihn  ver- 
adite.  Kreon  bestätigt  diese  Deutung  selber,  als  er  den  Streit  zwischen  den 
Sdiwesiern  um  die  Mitschuld  Ismenens  gehört  hat: 

661  Toj  %ulöi  tpiifti  Tfjöe  ti]i'  ^tv  ccQTi'ag 

i(vavi>  .T6(5p«j'd'ßt ,  TT^v  d'  <c(f'  ov  tu  ,t^wt  i<fv. 
Er  hat  ju  die  beiden  Mäilchen  aufgezogen  und  gekannt  von  klein  auf.  Freilich 
war  es  zu  schwerereu  Koiiliikten  zwischen  Antigone  und  ihrem  Oheim  bisher 
nicht  gekommen;  sie  wfirde  ja  sonst  nicht  seines  Sohnes  Braut  sein;  aber 
längst  hat  sie  Kreon  in  sein«  eitlen  Nichtigkeit  durchschaut,  er  andererseits 
die  Unhengsunkeit  dieser  Natur,  die  in  seinen  Augen  nur  Bvouc  sein  kann, 
kmmen  gdemi  Und  darum  tritt  sie  ihm,  als  er  sie  fragt,  ob  sie  sich  an 
ihrer  Schuld  brenne,  nicht  nur  entgegra  mit  dem  ruhigen  Bewufstsein  ihres 
Kechts,  sondern  mit  zorniger  Verachtung,  (pijg  ij  xtitugv^;  hat  er  gefragt;  es 
ist  Hohn,  wenn  sie  sich  nicht  begnügt  das  erste  Glied  dieser  Alternative  su 
bejahen,  sondern  zugleich  das  zweite  verneint: 

II.'!  xac  ^i'fiti  ÖQuGai  xovx  (c:raQvovu(a  r'o  ftr/. 
Er  fühlt  (Iiis,  er  weifs,  diil's       tinen  liet'tigen  Anl'tritt  geben  wird;  durum 
schickt  er  zunächst  den  Wächter  weg,  dauiiL  der  Mann  aus  dem  Volke  der 
Familienssene  nidit  beiwohne.  Und  er  hat  sich  nicht  getauscht  Als  er  iVagt: 

447  ^di}tf#ir  9ir^Qvx^tvr€i  ^i,  .^(ladtfetfr  Tiede; 
begnfigt  sie  sich  wieder  nicht  mit  der  einfachen  Antwort,  sondern  zeigt  ihm, 
dafs  seine  Frage  fiberflttssig  war: 


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E.  Bniliii:  Eine  neue  Auffiuraiig  der  Antigone. 


261 


BitttT  injuiijch  ist  dann  dan  wu^j^i'  4.')',>:  'ich  mointc  daH  damals;  vielleicht 
lerue  ich  ja  jetst  einsehen,  dn£s  ich  mich  irrte'. 

An  jedem  Satae  dieses  Qespraohes  kdnnte  nun  das  gleiehe  nachweisen'), 
«her  68  wird  nicht  mehr  nötig  sein;  so  fiwse  ich  das  Reanltat  dieser  ganzen 
firortenmg  kors  xnmmmen.  Sophokles  wollte  nicht  Antigone  and  Kreon  als 
gleichhereehtigte  Gegner  aufgefiilkt  wissen;  jener  sollte  nach  ihm  glucat  nnrechi^ 
diese  ganz  redit  haben.  Aber  wenii  an  seinem  Geschick  sich  bestötigen  sollt^ 
was  der  fromme  Dichter  glaubte,  daüt  Menschenta-ota  machtlos  ^^ei  iregen  Götter- 
willen, f>o  ist  darum  doch  fiii  Antit»one  die  Scheu  vor  den  göttliclicn  Gpbnten 
nicht  das  einzige  Motiv  ihres  Handelns;  wohl  würde  dies  im  Verein  mit  der 
Liehe  zu  dem  toten  Brutler  aus*;ereicht  haben,  sie  zu  ihrer  That  zu  bewegen; 
aber  dals  sie  diese  That  mit  Freuden  thut,  dafs  sie,  als  sie  gethan  ist,  sich 
mit  Freuden  dam  bekennt,  erklart  sich  daraus,  dab  sie  zugleich  ihre  Selb- 
sttiMitgkeit  wahrt  gegenfiber  dem  Versnche  eines  von  ihr  ▼eraehtetoa  Sehwadi- 
linga,  sie  nnter  seinen  Willen  an  bengen. 

Wir  sind  ansgegangen  von  jenem  ans  Herodot  stammenden  Enthymem 
y.  004 — ^912.  Ich  halte  ( s  mit  Kaibel  filr  echt,  und  die  herbe  Verachtung 
ihres  Gegners^),  die  sich  nach  ihm  darin  aussprechen  soll,  würde  an  sich  ihr 
nullt  fremd  sein.  Aber  in  die  Stimmung  dieser  Abschiedsworte  pafst  dies 
Uefühl  (loch  wohl  nicht  hinein.  Hören  wir  nur,  wie  sie  gleich  darauf  von 
Kreon  spricht: 

xoioi^f  un'Toi  öt'  ixjrQOtifii'jffttO'  fya 

l/ÜflOl,  KfftOVti   tUVt    £do|'  CijltCQTttVllV 

9tb  Xtd  iewä  ToA^äi',  &  tuatiyvrixov  xcigu. 
iuA  Whf  üyH  HS  diä  x^Q^  Xa^v 

4LIA'  ad'  i^iiog  jr^ff  piXmv  ^  diftfftopog 
MO  t&c'  dg  9^((v6iTo>v  igio^at  xcctttaxectpcig. 
Kann  maii  wirklich  in  demselben  Atem  einem  Mensehen  seine  Verachtung 
kundgeben  und  gegen  ihn  eine  so  bitter  schmerzliche  Anklage  erheben?  Also 
Kaibels  Versuch,  diese  Worte  mit  Antigonens  Charakter  in  innere  Beziehung 
zu  setzen,  halte  ich  für  müslungen;  waruui  ich  trotzdem  nieht  wagen  möchte; 
die  Stelle  zu  streichen,  habe  ich  in  diesen  Jahrbüchern  Supplbd.  XV  311  ans- 
-etiiandexgeaekt;  ich  machte  eins  der  dort  in  anderem  Zusammenhange  vor- 
gebrachten Argumente  klarer  und  weiter  ausg^tthrt  wiederholen,  ein  anderes 
hinsnlDgen. 

Als  der  greise  Oedipus  Ismenen  )>egrnrst  und  nun  also  von  seinen  beiden 
Töchtern  die  Treue  erfiüiren  hat,  welche  die  Söhne  an  ihm  nicht  bewiesen 


*)  Worao«  dean  hoflsehe  Philologen,  die  an  diesem  schroffen  Auftreten  der  'Prinsesein* 
dem  'regiereaden  Flinten*  gegenfiber  Imtofs  nahmen,  eine  'Schuld^  Antigenen»  gedieebseli 

*j  Aber  freilich  auch  Uainiou»! 


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262 


E.  Brubn:  Eine  neue  AufiiMnuig  der  Antigone. 


hüben,  sjiricht  er  seine  Eutrüstung  über  diese,  seiue  Dankbarkeit  gegen  jene 
iu  folgendeu  Worten  aus: 

i»  arifv**  imiUvn  T0I5  h  Aiyihtxa  vöfiots 

ti^n  ßiov  tQO^tttt  :ioq6vvov6'  «h. 

«fp^v  d\  a  xi%v\  ovg        eUbg  fjv  Jtovitv  Tod«, 

acfil)  d'  (hn   ixiivfov  xuftu  dvöti^ov  xaxa 

346  v:t{Q:iovdtov. 

Bin  wunderlicher  Vergleich!  öhvu  tuv  xeivotg  t«  vvv  hatte  Isinene  eben  vor- 
her von  ihren  Brüdern  gesagt;  das  klingt  doch  nicht  wie  ein  friedliches  ^axtlv 
«cerd  0x{yas\  also  wie  sollte  wohl  *OedipQs  glauben,  aus  lamenes  Mitteilungen 
entnehmeii  xu  dttrfiMi,  die  Brfider  ril&en  rulüg  daheim?'  Und  in  allem  glei<^en 
sie  den  Aegyptern?  Worin  denn  noch  anlser  in  dem,  was  der  Vater  anAhrt? 
Die  Antwort  giebt  Herodot  II  35:  Alförnm  , .  jtdvt«  ifuruXiv  toM»  äXJLotat 
i»^^Aseot6i  iffriftfiicirro  ^d-ecc  xe  xal  vöfiox  g.  h'  totöi  al  (ilv  yvw^xig  dyo^cf- 
^ovOi  xal  xa:tijA£t5ov<ft,  ol  dl^  avÖQEg  atar'  oCxovg  fopxfg  hfpuivovöi  .  .  tgi^petv 

XQÜöi  näöa  (Ivayxri  xa)  uf]  /jovAofttVijöt.  Also  wie  die  Stelle  der  Anti^ono 
aus  Htroil.  III  stainnit,  so  diese  aus  Herod.  II  35;  wie  dort  so  ist  hier 
Herod(*t  oline  jede  innere  Nötigung,  ja  gewaltsam  herbeigezogen. 

Ahw  firdlieh,  fät&  Oedipos  sehfittdn  wir  den  Kopf,  was  Antigene  sagt, 
Twletat  uns  innerlidt  Wenigstens  in  einem  Punkte  müssen  wir  nns  dabei 
doch  wohl  hfiten,  modernes  und  antikes  Empfinden  gleichzosetBen.  Schon 
daran  wird  sidi  unser  Gefühl  stoben,  dab  die  Mutter  sick  Ober  den  Tod 
eines  Kindes  t)r)8t('n  soll  mit  ihm  Gedanken,  sie  krane  ein  anderes  dafOr  be- 
kommen; und  (locli  tröstet  Perikles  wirklich  die  trauernden  Athener  so: 
xuQxeQilv  dl  XQH  ^^^'^  äXkcav  ncUdoji'  iX?c{fii  ofc  ht  i]hxia  Tf'xv^yatv  rrmdo&ui 
(Thuk.  II  44,  P>'t  i,  und  Alkestis  sagt,  Admets  Kitem  hatten  wohl  für  ihren 
Sohn  sterilen  krmnen: 

293  növog  yu^  uvzoig  ijO^u^  xoCng  lkn\g  fjv 
Cov  xax&ttv6vxos  itlXu  ^ixvöhv  xtxva. 
Zeigt  sidi  hier  wirklidi  einmal  die  'herbe  Ehrlichkeit*  des  Altertums  im  Gregeu- 
satro  zu  der  erkünstelten  Feinheit  des  OefBhls  der  Modemen? 

'  Ch.  Härder  führt  in  Minor  vortrefflichen  kleinen  Schülerauagabe  de»  Thul^didea 
(Leipzig  1894)  mit  Itccbt  die  Ant^oDestelle  an. 


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DIE  AKLAGE  DES  UBERGERMANISCHEN  LIMES  UND  DAS 
KÜMEKKASTELL  SAALBÜßG. 

Von  EiiraT  ScHOiiZB. 

Seit  der  deatMhe  Reichstag  am  6.  Juni  1892  die  erforderliehen  Mittel  be- 
ivfl^t  hatte;»  ist  die  BeichalimeakominiBgion  mit  der  Siforachimg  des  rSmiechen 
OniunraUes,  der  hinter  ihm  li^penden  Kastelle  imd  bflrigerlidieii  Aneiedelongen, 
■Owie  des  Strafsennetzes  and  der  sonstigen  zugchSrigen  Anlagen  nach  einheitlichem 
Plane  eifirig  beschäftigt  gewesen.  Alljährlich  bringt  das  unter  F.  Hettners  und 
0  von  Sarweys  Leitung  in  Trier  ert^eheinende  Limesblatt  die  Berichte  der 
Strecjcenkomiuissare  in  ö — 6  Nummern,  und  seit  lf<05  eraeheint  in  Heidelberg 
in  einzelnen  Lieferungen  das  grofHc,  die  Ergebnisse  zusamnienfai^sende  Werk: 
T)er  obergermanisch  rätische  Limes  des  Römerreichs.  Im  Anftratre  (]er  Heiehs- 
hmeskomiuiääion  herausgegeben  von  dem  militürischeu  und  dem  arcntiologischen 
Dirigenten  0.  von  Sarwey  und  F.  Hettner/  Dnreh  die  angestrengte  Thütig 
bit  der  Btrecfcenkommissiirej  welche  die  Ausgrabungen  oft  fem  von  ihrem 
Wohnorte  aaovdnen  xmd  in  sehwier^on  Geffinde,  nicht  seltm  bei  ungünstiger 
Witliemng  leiten  nnd  flberwachen  mflssen,  ist  eine  Menge  wichtiger  Einsei- 
Imten  erforscht  worden,  die  sich  aUmaUich  zu  einem  Gesamtbilde  der  grofs* 
artigen  Anlage  römischer  Kriegsbaukunst,  die  in  die  Kulturentwickelnng  des 
dentschen  Volkes  so  tief  eingegriffen  hat,  zusaramenschlielsen  werden.  Die 
beiden  oben  erwähnten  Pubh'kiitionen,  von  deren  Fortsetzung  in  den  nrlehston 
Jahren  noch  wichtige  AufkUiruugen  zu  erwarten  siruL  hal)en  die  wissenscluift 
hebe  Erkenntnis  der  römischen  Grenzanlnge  gegenüber  dem  Werke  des  hoch- 
verdienten A.  von  Cohausen,  Der  rümische  Greuzwall  in  Deutschland,  Wies- 
baden  1884,  sehr  gefOfderi 

Neben  diese  Pablücation«!  ist  in  jüngster  Zeit  das  Werk  L.  Jacohis 
gMnten,  eines  der  eifr^stra  und  erfolgreichsten  Limesforsdber.')  Die  Beden- 
ttmg  des  Bnches  besteht  darin,  dab  es  Aber  die  Saalburg  bei  Homborg,  das 
von  allen  Limeskastelleii  am  sorgföltigsten  untersuchte,  in  genauester  Weise 
berichte^  in  Terschiedenen  Einzeluntersnchungen  die  Leistungen  der  Körner  auf 
dem  noch  wenig  erforsdliten  Gebiete  der  Technik  klarlegt  und  über  die  Anlage 

')  Du  BOmerhaiiell  Saalbnrg  bei  Homburg  vor  der  Hobe.  Nach  den  ErgebnitMea 
Aotgrabnngen  und  mit  Benutinng  der  Unterlassenen  Auf/eichnungen  de«  königl.  Kon- 

•mator*  Obersten  A  von  Cohiiiisen  von  L  .Tnrobi,  Mitglied  'b  r  ReichB-Limea-Kommiseion. 
Itit  einer  Karte,  hü  Tafeln  und  110  Textabbildaagen.  Homburg  v.  d.  Höhe  1897.  Zwei 
Und«,  Im  Selbstverläge  des  Verfasser«. 


^(j4   i^-  i^chulzc;  Die  Aulage  des  obergermuniscbeu  Limes  und  dati  itömerkasteil  Kiaalburg. 

des  Limes  auf  Grund  der  vom  Ver&sser  gemachten  Entdeckungen  Aufklä- 
rungen von  allgemeiner  Tragweite  giebi   In  15  Abschnitten  behandelt  Jacobi 

die  Gescliicht«  der  Ansgrabangen,  die  liin^^wallc,  Namen,  Lage  und  Bedeutung 
der  Saalburg,  die  Wege  und  Strafsen,  den  Limes  und  die  Gescliieke  der  Saalburg 
in  römischer  Zeit.  Dann  wird  die  AnlHije  des  Kastells,  d<T  bnrt^crlicbpn  Nieder 
lassung,  der  Gräber  behandelt,  e«  werden  die  teehnischen  Erg<  Iniisse  und  die 
Erhaltungsarbeiten  dargelegt  —  für  Ausgrabungen  und  für  Erhaltung  sind  in 
der  Zeit  von  1853 — 1H93  rund  800(X)  Mark  verausgabt  worden  — ,  sodaiui 
werden  die  Funde:  Inschriften,  Gefäfse,  Münzen  (11)48  Stück),  Gerate,  Sclilösser, 
Leder  und  Schuhwerk,  Schmuckaachen,  Hufeisen,  femer  BaumfrOchte  und  tierische 
über«»».,  «.dlicb  d»  S«l»M»gm«««nn  »eh  EnMd>m>8  «nd  Bbrichtang 
sprechen.  Ausführliche  Namen-,  Orts-  und  Saehr^pster,  welche  die  Benuinmg 
des  Werkes  sehr  erleti^tem,  machen  den  Sehlufs. 

Bei  unserer  Besprechung  wollen  wir  von  dem  Abschnitte  ausgehen,  clor 
v(r.)  <1<  r  Anlage  des  Limes  im  Taunus  handelt.')  Schon  Dnisus  hatte,  als 
Motiuntiarnm  ^nm  railitilrifchen  Stiltzjninkt  der  Itömerherrschaft  am  Main  ge- 
niarlit  wortU^i  war,  /um  hehut/c  des  rt'eht«rheini8ehen  Vorlandes  ein.  KasttU 
im  Taunus,  vielleicht  am  Zugmaiitel  uürdlith  von  \Vie>^baden,  angelet^t  -r  Dii' 
ganze  untere  Mainebene  mit  der  Wetterau  bis  nördlich  vmi  Friedberg  wurde 
durch  den  Feldzug  des  Kaisers  Domitian  im  J.  83  dem  römischen  Reiche  eiu- 
verleibi*^  Wir  dürfen  annehmen,  dafs  damals  die  GrenBlinie  bis  auf  die  Nord- 
seite der  Taunuskette  Yorgeschoben,  die  Gebirgsübergänge  und  die  Thalweg^ 
durch  kleine  Erdfcastelle  g^errt  und  dadurch  die  rSmischen  Ansiedelungen 
und  Felder  in  der  Munebene  Tor  räuberischen  ÜberiäUm  der  Chatten  ge- 
sichert wurden.*) 

Schon  längst  waren  von  deutschen  Forschem  am  Limes  in  gröCserer  oder 
geringerer  Entfcminiix  flache  Erdhiigel  wahrgenommen  worden.  Mehrere 
von  ihnen  hatte  man  auf«iegral>e?i  und  untersucht,  (dine  iilier  ihre  Bedeutung 
volle  Aufklärung  geben  zu  können.  Mau  hielt  sie  für  Uestt-  von  eingestürzten 
Nebengebäuden,  ähnlich  den  hügelartigen,  aber  unregohnüisigeu  Überbleibseln 
von  Steintürmen,  die,  mit  dicken,  in  den  Boden  hineinreichenden  Grundmauern 
erbaut,  in  Entfernungen  Ton  durchsehnittlieh  850  m  TOn  einander  den  Grans- 
wall  begleiten.  Die  genaue  Untersuchung  Jacobis  aber  hat  fiber  die  Anlage  und 
Einrichtung  jener  Hflgel  im  Taunus  folgendes  ergeben.   Bin  solcher  Hflgel  ist 

')  S.  38— ."1  V£f1.  Jacobis  Bericht  im  Limcsblatt  Im'iI  Xr  7  uud  S;  den  Aufsatz  'Grenz- 
markierungcn  am  Limes'  in  der  Westdeutschen  ZcitHclirili  Itir  Geschichte  uud  Kunst  XIV 
147—172,  Trier  1895;  Hetine»  BericU  fiber  di«  Th&tigkeit  der  Reidulunetkonaiaimoii  im 
Archüol.  Anzeiger  1896,  4.  Heft  8.  176—908. 

*  T.uit  .Ann  T  56:  Grmuinirns  .  .  iws'tf»  rnntfUo  snjier  vestigi'n  paierni  jjrnesidi* 
tu  wonU  Tituno  exiyeditum  e.reratum  in  Chntios  rajnt.    Vgl.  Lime»blatt  Nr.  16  S.  437. 

*)  Homniieii,  "BLBm,  Qeieh.  6,  1S6. 

')  FraotiB,  Bt»teg.  I  S,  10  beriebtet:  Imperator  Caetar  Domtümm  At^iubu,  rwm 

Gcrmnni  more  sun  #•  mltihiis  .  .  .  stthinde  in/niffnrrrmf  im-tfrfs  ttihimfjitr  rrfffffis^itt)  in  f>ro- 
funda  silvartun  haberatt,  limitibu«  per  txutuiii  vigmlt  initin  ^otssmmw  ticti»  .  .  .  mutocit 
statum  UtUL 


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E.  Sebnlse:  Die  Anlage  des  obcrgemumiseheii  LtmM  mid  das  BOmerkasteU  Saalbnrg.  265 

fjewöfcinlich  kreisnnul,  meistens  mit  einem  1  l!illiiiu  s>rr  von  »»twa  l>  m  rmn. 
Ful's),  und  von  einem  sichtbaren  (iräbclien  uuigebcn.  aul  dcsstn  SuliU'  siili 
eingelegte  Basal t«tiicke,  Kohlen,  Kiesel,  vorrömische  und  römische  (iefal'»- 
tcherben  finden.  Der  Hflgel  Belbst  ist  mit  der  an  Ort  und  Stelle  anstehenden 
Crd-  oder  Oeeteuiart  angeechfittet  und  leigt  keine  Beüniaeliung  yon  Bausteinen 
«der  sonstigen  Resten  eines  Baues  aus  Menschenliand.  Nacli  sorgfältiger  Ent- 
fernung der  au%esehfitteteo  Erde  kam  eine  genau  niwllierte,  kreisrunde  hori- 
lontale  Flüche  zum  Vorsc  hein,  die  z.  ß.  am  Nurdabliange  des  grofeen  Feld- 
bergs mit  grolser  Mühe  dem  schräg  al)fallenden  Steinboden  abgewfmnrn  worden 
ist.  In  dieser  horizontalen  Fläche  entdeckte  .lacobi  vier  quadratische  Liiehcr 
von  HO  cm  Breite  tind  etwa  1  m  Tiofo.  die,  seharfkantif»  bis  zur  Sohle  rrehond. 
j>tzt  mit  lockerer  Erde  gefüllt  erscheinen,  früher  aber  viereckig  behuuene  Holz- 
pfüsteu  entlmlten  haben  müssen,  die  im  Luuft'  der  Zeit  vermodert  sind.  Die 
Tier  Pfosten  stehen  in  quadratischer  Autsteüung,  in  der  Regel  je  3,00  m  vou 
einMider.  Zwischen  die  Pfosten  sind  biswei^  mauerilmliehf  ab«-  oluie  MSrtel, 
Steine  eingelegt 

Die  gleiche  Einrichtung  der  Hügel  ist  nun  auch  im  Odenwald,  in  Ober- 
hcssen  und  and»nirörts  nachgewiesen  worden.  Über  die  Station  un  Sommerberg 

t  B.  sehreibt  Soldan:  *Der  Hügel  (  iiiliält  eine  elliptische,  etwas  bergab  ge- 
neigte Plattform,  die  nach  Art  einer  Tenne  mit  Sand  und  Lehm  ahi;p<;Hchen 
ist  Ilire  beiden  Achsen  haben  11,0  bezw.  10,20  m  Länge  ...  In  die  Platt- 
form siiiil  vier  fa.  l,|Om  tiefe  Löcher  eingeschnitten,  in  welrbf  Hchitrfkurttig 
bobauene  Pfosten  von  'M) — 30  cm  Stärke  eingesetzt  waren.''  v.  Cuhausen, 
Soldan*),  Anthes,  Löseheke,  TTettner  n.  a.  vertret^^n  die  Ansicht,  dafs  die  vier 
Pfosten  einen  römischen  Wartturui  getragen  hHl>en,  iluls  (jeHifsscherben  und 
Kehlen  von  cbm  Aufentlulte  der  Bewohner  dieses  Turmes  herrOhren  und  daTs 
der  Einsturz  des  von  den  Römern  Temaehlassigten  Turmes  und  das  Vermodern 
der  Trümmer  ohne  menschliche  Mitwirkung  die  Hfiget  gebildet  habe. 

Dagegen  behauptet  Jacobi^  daQi  die  Hügel  nicht  Überreste  von  irgend 
welchen  Baulichkeiten,  sondern  die  ¥rirkliehen,  uns  vollkommen  erhaltenen 
ältesten  Grcnzmale  2ur  Festl«  ^mng  der  römischen  Keichsgrenze  seien.  Diese 
Aiisiiht  scheint  mir  nach  Besichtigung  der  im  Taunus  aufgefundenen  Hügel 
uud  «ach  Erwägung  des  Zusammenhanges  der  von  den  Limesforschem  fest- 
gestellten Thatsarhen  di«>  richtige  zu  sein. 

Bei  Anlüge  eines  \\  jirtttirmes  hätten  die  lüimer  gewifs  nicht  das  untere 
Ende  der  Balken  scharfkantig  behauen;  sie  hätten  vielmehr  dem  Baumstamm 
•eine  ToUe  Rundung  und  Dieke  gelassen,  um  ihn  gegen  die  Feuchtigkeit  des 
Bodens  widerstandsüihiger  zu  machen.  Der  Einshirz  eines  ziemlidi  hohen 
Hobbaaes  wäre  meistenteils  eeitiriirtSf  nicht  senkrecht  nach  unten  erfolgt, 
bitte  daher  nicht  die  ^eiehn^ige,  kunstvoll  gewdlbte  Form  der  Grenshflgel 
mengt.  Ferner  liegen  die  Hügel  h'iufi»^'  an  Stellen,  WO  niemals  ein  Wog 
vorftberföhrte,  &Uo  eine  Überwachung  des  Waldreviers  aweeklos  war.  Unerklar- 


*)  Limesblatt  Mr.  28     626,      *>  Limesblatt     479  tf.  6S0  C 


266   E-  Schuko:  Dir  Anlage  de«  obergermaniflchen  Limo«  und  da«  R^inerka«tell  Saalburg. 

lieh  erscheint,  wenn  wir  an  Grenzverteidigung  oder  -Überwachung  denken, 
warum  häufig,  wie  z.  B.  am  Kieshübel,  Weifsenstein  (s.  Abb.  1),  Rofskopf, 
Roten  Kreuz,  Glaskopf  und  ebenso  im  Odenwald  (Limesbl.  S.  468)  zwei  Hügel 
80  nahe  an  einander  liegen,  dafs  ihre  ümfassungsgraben  sich  fast  berühren. 
Für  die  Grenzwache  genügte  ein  Turm,  und  wollte  man  die  Besatzung  besser 
schützen,  so  mufste  man  diesen  Bau  gröfser  und  fester  anlegen,  vor  allem 
ihn  mit  einem  steinenien  Fundament  versehen.  Die  nötigen  Steine  für  eine 
starke  Trockenmauer  wären  leichter  zu  beschaffen  gewesen,  als  die  gut  be- 
hauenen  Balken. 

Wie  aber  kam,  wenn  die  angeblichen  Holztürme  einstürzten  —  und  sie 
müfsten,  nach  der  Zahl  der  Hügel  zu  schliefsen,  in  grofser  Menge  eingestürzt 


Abb  1  ' 


sein  —  Erde  und  Steingeröll  aus  dem  Graben  auf  die  Trümmer?  Soldan,  der 
von  seinen  Grabungen  in  Oberhessen  ausdrücklich  berichtet,  ein  Teil  der  Erde 
des  Grabens  habe  'zweifelsohne  auch  zur  Bildung  der  Kalotte  gedient'  (Limesbl. 
S.  647),  vermag  diese  Frage  nicht  zu  beantworten,  sondern  sagt,  'die  Entstehung 
der  hohen  Erdkalotte  über  der  Plattform  der  Holztürme  bleibe  noch  zu  er- 
klaren\  Mir  scheint  es  undenkbar,  dafs  Naturkrafte  die  Steine  des  Grabens 
über  den  Trümmern  eines  zusammengestürzten  Baues  in  regelmäfsiger  Wölbung 
aufgehäuft  haben,  ebenso  undenkbar  aber,  dafs  Menschen  sich  an  vielen 
Punkten  der  Grenze  dieser  völlig  nutzlosen  Mühe  unterzogen  haben. 

Auf  welche  Weise  sollen  wir  erklären,  dafs  an  manchen  Stellen  im  Taunus, 
ebenso  in  Baden  (Limesl)l.  S.  ö.V))  der  Pfahlgraben  über  die  sonst  unversehrten 
Hügel  hin  wegzieht?  Die  Thatsache  beweist,  dafs  die  Hügel  älter  sind  als  der 
Pfahl.  Steckten  nun  wirklich  in  allen  diesen  Hügeln  eingefallene  römische 
Holztürme,  so  müfsten  die  Römer  in  ungewöhnlichem  Leichtsinn  ihre  eigenen 


B.  MnüM:  Die  Anlage  de*  ebeigennBiiiMhen  Lünei  und  das  BOmerkMiell  Soalbnig.  267 


Anlageu  haben  verfiillen  las»s>en.  Viele  Jahrzchtite  lang  roüfHten  die  Türme  in 
Trümmern  irf  I('<reTi  haben .  denn  hätten  die  Kömer  bei  Anlage  des  Pfahls  die 
Balken  not-ii  unverfault  gefunden,  so  hätten  sie  diese  beiseite  getragen  und  es 
irfire  tlWhaupt  hem  Htlgel  aststuideii.  Die  angeftthrten  Chrfinde  Bpredten 
gegen  die  Annalime,  die  Hügel  seien  die  Überreste  eingestOnter  r5mischer 
Hohbmten. 

jMobie  Ansiclit  dagegen  gehi  daliin,  die  Htlgel  sei«!  von  Anfimg  an  nidtte 

aiultTfs  als  Grenstmale  gewesen,  die  Holzpfosten  hätten  nur  wenige  Fufs  ans 
der  Erde  emporgeragt  nnd  durcli  ihre  wohlbefestigte,  kisteuformige  Stellung 
den  Zug  der  Grenze  unverrückbar  bestimmt.  Sie  wurden  scharfkantig  be- 
hauen, am  eine  gerade  Linie  zu  bezeichnen.  Zwei  sokhe,  neben  einander  er- 
richtetp  Orenzmale  —  von  denen  bisweilen  eins  eine  viereckitie  Plattform  hat  — 
dienten  dazu,  an  einem  Winkel  der  Grenze  die  verschiedenen  Unohtlinien  fest- 
tul^en.  Die  Erde  aus  dem  Graben  wurde  sofort  auf  die  Grenzbezeichnung 
au%escbüttet,  um  die  Anlage  vor  Zeratorung  zu  sichern.*)  Der  Graben  ringsum 
hatte  den  Zweck,  das  heilige  CtTensseiclien  gegen  Verletntttg  möglichst  sicher 
m  stellMi.  Bekannt  ist  ans  Ortd  (Fast.  II  641  ft),  wie  hoch  Ton  den  Bdmeni 
der  Qctt  Terminus,  der  in  nnbMtechlicher  Treue  die  Qrensen  der  Frivat- 
lindereien  nnd  der  Staatsgebiete  beieichnet,  Terehrt  wurde.  Audi  dem  Grena- 
sldne  selbst  wurde  göttliches  Wesen  /.u^i  schrieben: 

Termine,  sit?e  lapis,  sive  es  defossus  in  agro 
Sfiprs,  ah  anfiqids  frt  qiwqttc  numm  hahes. 
Die  Grenz.nachhani  sct/.t*'n  nacli  feierlichem  Opfer  unter  Beobachtung'  reli^öser 
Gebräuche  die  Steine,  die  ihre  Grundstücke  von  einander  trennten.') 

Die  Römer  hatten  die  Sitte,  in  den  Erdboden  unter  die  äufaerlick  sicht- 
baren Grenzmale  unverwesliche  Gcgcnsiündc  als  siffna,  Merkmale,  zu  legen. 
Dasselbe  geschieiht  noch  heute  \m  uns.^  Wenn  nun  in  dem  Rnndgraben  der 
Hügel  sich  solche  Oegenstinde  finden,  so  lifst  sich  allenfiills  behaupten,  sie 
seien  als  Reste  von  Oebrauchsgegenstilnden  sufSllig  hineingeftUm.  Wenn  aber 
auf  der  Sohle  der  Pftwtenlöoher  sieh  Nagel,  Gefafsseherben,  Kohlen,  Mtlhlstein- 
ifcttcke  finden,  so  ist  es  unmöglich  anzunehmen,  sie  seien  dorthin  geraten, 
nihrend  der  angebliche  Holzturm  bewohnt  war.   Sie  müssen  Tor  dem  £in- 


')  Vgl.  Scbriften  dor  rüm  FeldmeBser.  Iier  v  Hlimie,  Lachmann  und  Rudorff,  T  307.  5: 
In  teminatüme  sidt  terra  tjmts  palt)«  cooperuimus\  349,  15:  Palm  picato»  ««4  terra  dcfixtmu«. 

*)  Vfl.  R0m.  Peldm.  1  141,  8«  Saerificio  facto  JbUjofiK  immetal»  . .  .  mtper  eateiOe»  reK« 
flia*  hipides  conlocnhant. 

*i  Vgl.  Röm.  Feldni.  I  110,  H:  Qtiihu-^tlinn  ridetur  mh  r,mn!hi(fi  termtnis  Signum  in- 
temri  oportere  .  .  .  aut  cinus  mu  carftones  ant  tegtea  aut  vitrea  fracta.  Augustin.  de  civ.  dei 
tl,  4:  {whomm)  Umta  fimiku,  irt  nüOo  htmon  corrun^pmitur,  fwUti  aeMe  «MMONfiir  tufHe 
•I»,  nt  eos  subxternere  soleant,  qui  iimitrs  fignnt,  nd  conrinrrndum  litigntorem.  —  Erlafs 
de«  preufg.  PinanzmiDisters  vom  2')  Okf  1881  §  67:  'In  0»"(Tt'nf!on.  in  dpiH  ii  ^toIsc  l!i'-*itz- 
stÄode  vorhemchen,  ist  die  Vermarkung  durch  Ureuzhügel  weit  verbreitet  und  auch  al» 
Muniebend  anzaseheii,  wenn  nntor  d«nt  Hflgel  in  gehöriger  Tiefe  der  «geotiiolie  Oiens- 
ponkt  durch  üQverweflHche  Geg«nttinde,  wie  Schlacken,  Olas,  FoneUaneeherbeii 
0.  dgL,  •ehacf  markiert  ist.' 


.  j  ^    by  Google 


268      Schulzo:  Die  Anlafje  de«  oberffenDanisebeii  Limes  imd  du  ROmcrkMtell  SMÜbnrg. 

setzen  der  Holzpfobten  absichtlich  als  s^ignti  in  tlie  Löcher  gelegt  wonlen  sein. 
Die  Torrömischen  Scherben,  die  sich  iu  den  Hügeln,  aber  nicht  in  den  späteren 
SteinkfuifteUen  finden,  beweiaen,  dafit  die  Hügel  in  sehr  frtther  Zeit,  d.  h.  noch 
im  ersten  Jahrh.  unserer  Zeitreehnung  angelegt  worden  sind. 

Es  sei  noch  bonerkt,  dafo  die  Pankte  filr  die  Anlage  der  Hfigel  ron  den 
lUhneru  sehr  umsichtig  so  geirahlt  worden  sind,  dafs  man  von  jedem  nach  den 
beiden  benachbarten  sehen  konnte,  wenn  dnrch  den  Wald  eine  Schneise  ge- 
macht wurde. 

Im  Spätherbst  1807  ist  Jacobi  mit  crrnfspr  Mfihr»  nnd  nach  vielem  v»»r- 
gt'ltliclu'ii  Stichen  gelungen,  ein  untrr  dem  Wahlhotlni  liinlanfpridcs,  sopir 
duicli  den  Kuis-baeh  fortsToffihrt^'js,  ausj^csteintes  (xiäbcht'n,  das  die  Hügel  vom 
liuteu  Krtuü  mit  denen  am  ülaskopf  verbindet,  auf  der  ganzen  mehrere  Kilo- 
meter langen  Strecke  nachzuweisen.  Wir  haben  iu  ihm  wohl  sicher  die 
älteste  Festlegung  der  romischen  Reichsgrenae  vor  nns.  Der  spater 
angelegte  Ghrenzwall  zieht  weiter  nördlich  vorfiber.  Einem  aasf&hrliehen  Bericht 
Uber  diese  Entdeckung  sdien  wir  entgegen. 

Die  enge  Zusammengehörigkeit  d^  Hfigel  und  der  rSmisehen  Grenzlinie 
ist  durch  das  Vorhandensein  des  verbindenden  Griibchen»  aufsor  Zweifel  ge- 
stellt. Wir  verstehen  auch,  dafs  die  Romer  in  späterer  Zeit  bei  Anlage  des 
Walles  dipspn  bisweilen  über  die  Hügel  führten,  ohne  sie  —  wn?«  sehr  leicht 
«rcwpsen  wäll'  —  einzuebnen.  Die  Hügel  hatten  gerade  in  der  Fer»tlegiing  de» 
Grenzzuges  ilu  »  i'i<Tf>ntliche  Bestimmung;  und  erfüllten  sie,  indem  sie  dem  Walle 
seine  Richtung  vorsihiieben.  Sie  wurden  aber  nicht  vernichtet,  weil  ihnen  die 
Heiligkeit  von  Grenzmalen  innewohnte. 

Es  bleibt  jetzt  noch  su  erklären,  welchen  Zweck  die  mflhmme  Herstellung 
der  runden,  sorgfiiltig  nivellierten  Plattform  gehabt  haben  mag.  Die  Festlegung 
der  Reichsgrenae  war  ein  Staatsakt,  durch  den  die  römischen  Kaiser  ihre  Erobe- 
rungen gegenfibw  barbarischen  Nachbarrölkem  sicherten.  Baibus,  ein  höhera* 
Offizier,  der  entweder  nntti  Domitian  im  J.  85  oder  105  mit  Trajan  nach 
Dacien  zog,  schreibt:  'Sobald  wir  das  Feindesland  betreten  hatten,  erforderten 
die  T^ntornchmiin^en  unseres  Kaisers  eine  methodisehc  Vennossun«^.")  Xatnr- 
lieh  wurden  bei  einer  solchen  Vermessung  aueli  Zcicli'nmtren  auft:ennn\men,  aus 
denen  Richtung  und  Läiitfe  der  (Jrenzlinie  zu  erseiieii  waren.  Die  Karten  von 
Privatgrundstücken  und  Stadt^eliieten  wurden  nach  der  amtlichen  Vermessung 
auf  Kupferplatten  gezeiciinet,  und  ein  von  den  Regierungsfeldmessem  hergestelltes 
aweites  Exemplar  auf  Leinwand  {mappa)  wurde  mit  dem  erläuternden  Protokolle 
der  Yermessungskommission  (oofitmfliftirtt)  im  kaiseiiichen  An^ve  niedergelegt.') 
Es  ist  daher  wohl  anzunehmen,  dafs  im  kaiserlidien  Archive  die  Zei<^ungen 
der  ungleich  wichtigeren  Beichsgrenze  nicht  fehlten.  Auch  wird  uns  das  Vor- 
handensein Ton  Provinzialkarten  bezeugt.    Ein  t&chtiger  Feldherr  soU  nach 

*)  ROm.  Feldm.  I  <J2,  11:  rostguam  primMm  hottkam  tetram  MifraoiNMM,  Cehe,  Caemirit 
nottri  ojptm  mcnwninim  raCronem  ae^en  eotpenmt. 

*)  V^l  Köm.  Feldni  II  405  I  8SS,S:  JTwHw  temtorii  forma  tn  iabuUi  am»  ab  MtfMnrtOfv 

Traiam  iwm  ttt  detcribi. 


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S.  Sdtnbe:  Di«  Anlag«  des  oberirenBUiiidiAn  LimM  und  das  BOmerkaitell  Saolburf;.  269 

Vegt;tiu.s  ni  5,  {')  nicht  nur  voUständigo  »schritt liehe  VVoi^vvoisor  über  HtralVipn, 
Flösse,  (jfluitre,  Urtschaften  der  ihm  zu  kriegfiisclR'ii  Lntirnehinun^cn  aii- 
gewitJbtjnt'ii  liegend  hesitzen,  sonderu  er  soll  auch  VVegekurteji  {ii inerat  in 
proomciarum  picta)  vor  Augen  haben,  ut  non  soiim  cansilio  mmtis,  verum 
mpedit  aeuionim  viam  profectnnu  digenL 

Sollte  nun  nach  Festlegung  der  Grenzpnnkie  durch  die  Hfigel  eine  Zeich- 
noiig  der  Grenze  aii%en(»n]iieB  werden,  eo  mnbte  man  nicht  nur  die  geraden 
Lniien  von  Hügel  zu  HUgel  auBmeeBen,  aondem  man  muiate  auch  an  jedem 
Hügel  den  Meridian  (eardo)  bestinunen.  Dieser  aber  war  zu  einer  Süeit,  wo 
man  keinen  Kompafs  und  keine  richtig  gehende,  mechanische  Uhr  zur  Be- 
stimmung der  Mittagszeit  hesafs,  nur  (hirch  eine  umständürh«-  Brobachttiut? 
zu  finden.  Die  Vorschriften  über  das  einzuschlagende  Verfahren  g<  ht  ii  Vitruv 
(dj*  architect.  1  6,  12)  und  Ily^yin  (de  limitibus  constit.,  Köm.  Feldin.  I  188,  17) 
überfcmätiuuuend.  Auf  einer  geebneten  Fläche  nmimt  man  einen  Mittelpunkt 
tn  und  beschreibt  ^en  Kreis.')  Im  Mittelpunkt  der  Flache  stellt  man  einen 
Steh  senkrecht  aof  und  beieichnet  den  Punkt,  wo  am  Vormittag  das  Ende 
Ntnes  Schattens  die  Peripherie  berflhrt  Dann  wartet  man,  bis  der  um  die 
Mitfaigneit  sich  TerkOnende  Schatten  wieder  wichst  und  am  Nachmittag  die 
Foripherie  vom  swettenmal  berflhrt  Die  beiden  Berflhmngspunkte  verbindet 
malt  durch  eine  gerade  Linie,  halbiert  diese  und  zieht  von  dem  Halbierungs- 
ponkte  eine  derade  nach  dem  Mittelpunkte  des  Kreises,  diese  ist  der  Meridian.-) 

Wenn,  wie  wir  annehmen,  diese  Vorschrift  der  Fi  Idnienser  zum  Zweck  der 
Festlegung  (kr  Süd  Nmd  Linie  bei  Bestimmung  der  iteichsgrenze  beobachtet 
wurde,  so  erklärt  sich  die  Notwendigkeit  der  mühevnllpn  Herstellung  einer 
kreisrunden,  genau  nivellierten  Ebene,  wie  wir  sie  in  den  Hügeln  am  Abhänge 
des  Taunus  finden.  Der  L'int^taad,  dafs  bei  einem  Hügel  im  Taunus  10  cm 
tiefe  Sitten  vorhanden  sind,  die,  vom  Mittelpunkt  der  Plattform  strahlenförmig 
sulanfend,  den  Eindniek  einer  Sonnenuhr  machen,  und  dals  bei  anderen  die 
Kordlinie  durch  Stcansetaung  beieichnet  ist,  spridit  sehr  dafür,  dafs  die  hori- 
miitale  FISehe  ab  Mittel  der  Bestimmung  der  Himmelsgegenden  benutat  wurde.  *) 

Auf  die  Festlegung  der  wichtigsten  Onrnspunkte  durch  die  HQgel  folgte  ~- 
wir  wissen  nicht,  in  welchem  Zeitnbstande  —  die  Herstellung  einer  ununter- 
brochen fortlaufenden  Grenzlinie.  Diese  Linie,  die  nördlich  von  dem  jetzt  sieht 
baren  Orcnzwall  im  Taunus  und  mit  ihm  parallel,  über  unt^T  der  Decke  des 
Hiddhiidens  verborgen,  läuft,  im  Anschlufs  an  Stdduns  vorausgegangene  Be- 
obachtun«,'  gefunden  zu  haben,  im!  das  W  rdienwt  Jac4»biH.  Sie  ist  die  eigent- 
liche Grenzli  nie  des  römischen  Ueichs,  und  ihre  Wichtigkeit  für  uns  be- 


tirtMlum  in  lote  piano  m  ttura,  Hygia. 

')  Notntü  crgn  duahus  pnrtihus  intrnnfix  vmbrae  et  rxeunfi"  Inrn  rednvi  ftnrnm  n  siqrtn 
*i  ifignum  circumfereniiae  duceuius  et  meiiiam  notabimus.  Per  quem  /on«wi  recta  Imea  exire 
'fMü  8  jnmdo  cireuli,  per  qua»  lineam  cardinm  dirigemm,  Hjgin;  haee  Ztaea  mit  index 
«wrtfiMiae  et  »^kntnomM*  r^ionUt,  Yitcwr. 

*)  8.  Arebaot.  Aiueiger  f.  169$  &  179. 


270      Scbulse:  Die  Ankge  d««  obergeRnwuMben  JAam  vaA  da«  BOmetlcMtell  Saallimg; 

steht  besonders  dariü,  «lals  sie  auch  auf  Stieckeji,  wo  der  Grenzwall  hn  Kultur- 
land eingeebnet  und  voÜHtitndig  versehe  uiiden  ist,  xmter  dem  Buden  erhulteu  ge- 
blieben ist.  Nach  ihrer  Au£iindung  im  Taunus  im  J.  1893  ist  sie  auch  von  den 
fibrigen  StreekeiJEoiiuiuaaarai  an  der  ganzen  Lange  des  LimM  naehgewmen 
wonten.  Die  Riehtang  der  Qrenzlime  wurde  auf  die  Yerbindangalime  der  Hfigd 
ab  Standlinie  eingemesaeB.^) 

Zum  Zweite  der'Festiegung  der  Beiclugrenie  sogen  die  raniiaclien  Ver» 
mcssungsbeamten  einen  xinuntorbrnchen  fortlaufenden  Graben*),  den  sie  selbst 
in  die  festen  Quarzite  des  Taunuskammes  mit  grofser  Mühe  70  cm  tief  einbauen 
Uelsen  (s.  u.  Taf.  I  Abb.  4 ).  Auf  dem  Boden  des  Grabens  stellten  sie  in  einer  Flucht- 
linie grofso  Platten  und  dazwischen  kleinere  Steine  auf  (Läufer,  cttrsorii)  nnd  warfen 
darauf  den  Graben  wieder  zu.  An  den  Knickpunkten  wurden  ^ölsere  Steine 
{tfirmini  egreffü,  epüledicales) ,  mit  Felsstücken  fest  verkeilt,  so  aufgestellt,  dafs 
sie  über  den  Boden  hervorragten  und  das  Auffinden  des  verschütteten  Giabchea« 
erleichterten.')  Scherben,  Kohlen,  fremde  Steine  wurden  als  Merkzeichen  unter 
diese  Orenzsteine  gelegt.  Obwohl  die  Edsteine  aber,  wie  erwäint,  aoe  der 
£rde  herrorsehen,  waren  ue  dodi,  da  sie  nnbehauen  und  von  Moos  und  HumuB 
flberEOgen  sind,  im  Waldboden  sehr  aehwer  zu  entdecken.  Nadh  Auffindung 
des  Grenigrabeiui  (1893)  aber  waren  aie  ab  von  Menachenhand  geeetat  un- 
Bweifelhaft  zu  erkennen. 

Mit  der  äufseren  Grenzlinie  war  jedoeh  der  Limes  des  Römerreichs  noek 
nidit  vollkommen  bestimmt.  Wie  Urnen  —  zu  limtis  gehörig  —  den  Querstein 
unten  an  der  Hnufjthür,  so  bezeichnet  Ihnes  den  Querweg  eines  Grundstück? 
und  in  der  Kaiserzeit,  wie  Th.  Moniiuyeu  in  seiner  Abhandlung  über  den  BegriÜ 
des  Limes  ( Westdentsehe  ZeitHchr.  I.sy4  S.  Iü4  ff.)  nachweist,  den  Grenzstreifen 
des  römischen  Heidus,  den  man  quer  überschreiten  muls,  wenn  mau  das  Gebiet 
verlassen  oder  betreten  wilL  Der  Limes  ist  die  *fär  militärische  Begehung  ein-  . 
gerichtete  Grenaatrafse'.  Er  hat  daher  wie  jede  Strafae  eine  gewisse  Breite 
und  bedarf  einer  swei£Mihm  B^prenzung.*)  Im  Spatherbst  1894  gelang  es 
Jacobi,  die  innere  Grrenzlinie  des  Limes  zu  finden.  Sie  wird  durch  ein  etwa 
30  cm  tiefes,  an  einzdnen  Punkten  ausgesteintes  Ghsbchen  gebildet^  das  6  m 
20  r.  Fuls)  Ton  dem  AuIlMiigraben  entfernt,  diesem  pwallel  läuft.   Die  Auf- 

Das  rechtwinkelige  EininesseD  der  areDEpnnkte  eine«  Gebietei  «nf  die  gemd« 

Standlinie  beschreibt  Frontin,  Röm.  Fekltn  1  7:  rttiusnuii/ur  foci  yiwiitura  agf  inl/i  fuerit. 
eum  circumirc  ante  omnia  ajaort^  et  ad  omim  augulos  siffna  ponere^  guM  normaliter  ex 
rigor e  coganlur  e.  q.  8. 

*)  Es  itt  oben  «rwihnt  wordm,  dab  ein  vom  Laufe  des  Pfahlgnben»  abweicbeoitoi 
aaflgeateint«H  Gräbchen  im  Taunui«  nachgewiesen  wurden  ist.  Ob  und  wo  sonst  noch  >n\c\\'- 
doppHtf  Or<ni/,Vit'<t{Tiunungen,  aui^  Hiterer  und  aus  gp&terer  Zeit,  neben  einander  bMteheo, 
mufs  uoch  genauer  untersucht  werden. 

Vgl.  Röm.  Feldm.  1 141,  IS:  lajide»  cemioetAaml  atq^  ita  dOigmU  atra  amfimäbmdi 
adiectis  etiam  quibusda»  iaxorum  fragminihu»  eireumealeuhetnif  fuo  fimim$ «lanKL 
S.  oben  Al.biUl  1  H 

*)  Hygiu  sagt  —  Höui.  Felda.  I  166,  ib  —  von  den  Wegen  innerhalb  eines  Stadt- 
gebietes: Limitu  cwtecrrn  kabmt  latitudinem  peä.  XII;  per  ho8  Her  poputo  netU  per  eis» 
ptUtUcam  debetur. 


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E.  Schabe:  Die  Anlage  des  obttrgemuuiiaeheii  LimM  und  dM  RBmerktitell  6na]1»a>g.  271 

Undung  war  deshalb  ho  schwierig,  weil  bei  Aush<'l)unf^  des  (inibens  und  Auf- 
schüttung des  Greuzwiilles  das  innere  Gnil)chen  als  luininchr  l)i(h'utung^«los  ver- 
schwand und  unter  den  Wall  zu  liegen  kam.  Mit  voller  Sicherheit  liefs  es 
sich  daher  erst  nur  an  solchen  Stellen,  am  Klingenkopf  und  WeUBenstein  im 
l^iuiiu,  nachweiaeo,  wo  ein  Erdwall  wegen  des  felsigen  Bodene  von  den  BSmern 
mäd  angelegt^  sondern  nur  ein  Steinwall  Aufgeschichtet  worden  ut.  Anderer- 
leitB  iat  die  Überaehüttnng  des  inneren  Gribdiena  durdi  den  Grenawall  ein 
Beweis  dafUr,  d&b  die  beiden  den  Orenaweg  ein&nenden  Grabchen  fertiggestellt 
waren,  ehe  man  an  die  gewaltige  Arbeit  der  Herstellung  des  Orenzwalles  ging.') 
wurden  alao,  nachdem  Beaeichnung  der  wichtigsten  Grenzpunkte  durch  die 
Hügel  vorausgegangen  war,  zuerst  die  beiden  Grenzlinien  des  Limes  von  kaiser- 
Uchen  Vermossungsbeamten  bestimmt  und  durch  zwei  parallele  Oräbchen 
festgele^.  Darauf  wurde  der  20  Fufs  breite  Grenzweg  zwistheu  ihnen  von 
Biiumen  gesäubert  und  eingeebnet.  Im  Anschlul's  hieran  liutten  römische 
Soldaten  den  Hauptgraben  auszuheben  und  den  Grenz;wall  herzustellen.  Es 
stimmt  dies  genau  überein  mit  der  Schilderung,  die  Baibus  von  den  ihm  nach 
BesetEUi^  Daciens  obliegenden  Arbeiten  giebt  Er  sagt:  'Ansnl^pen  waren  mit 
bestimmtem  Zwischenraum  fllr  den  Weg  swei  Parallellinien,  an  denen  aur 
Überwachung  des  Verkehrs  die  micbtigen  Wille  sich  erheben  soUten.'*) 

Der  GremswaU  konnte  nadi  Art  seiner  Anlage  fttr  den  Ansturm  eines 
grofsen  feindlichen  Heeres  kein  ernstliches  Hindernis  sein,  auch  liefs  er  sich 
nicht  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  —  542  km  —  vom  Bhein  bis  zur  Donau 
mit  einer  genügenden  Zahl  römischer  Truppen  besetzen.  Dennoch  ist  a\uh 
seine  militärische  Bedeutung  nicht  zu  unterschätzen.  Mit  seinen  etwa  achtzig 
Kastellen  und  seolishundert  steinernen  Wachttürmen  konnte  er  kh^ineren  Unter- 
nehmungen der  Feinde  wohl  W  iderstand  leisten,  zumal  da  im  \'(>rhuide  be- 
ständig Reiterabteilungen  (exploratores]  eupbmiio  Ualic.  am  Feldberg,  Jacobi 
S.  25 1  patrouillierten,  um  etwaige  Bewegtmgen  der  germanischen  Stamme  Techt* 
zeitig  zn  melden.  Jedenfalls  hat  die  Limeaanlage  aweihundert  Jahre  lang,  bis 
in  die  Zeiten  des  Oallienns,  fOr  die  Börner  eine  gute  Operationabasb  gebildet 
und  das  Reich  wirksam  geechUtit. 

Neben  der  militärischen  Aufgabe  aber  hatte  der  Limes,  wie  K.  Zangemeister 
in  den  Neuen  Heidelberger  Jahrbüchern  1895  S.  83  ausführt,  einen  fiskalisch- 
poliaeilichen  Zweck.  £r  war  die  sichtbare  Grenze  des  Römerreiebs,  die  nur 
an  wenigen  Stellen,  wo  ffir  Wege  ein  Durchlafs  war,  überschritten  werden 
durfte.  Hier  mufste  sich  jeder  Germane,  der  Einlafs  begehrte,  beim  Kom- 
mandierenden melden  und  mul'ste  die  Waffen,  die  er  trug,  abgeben.  Auch  ein 
Römer  durfte  nur  mit  besonderer  Erlaubni.n  in.s  Aushnid  gehen.  Und  aufser 
der  Überwachung  des  Grenzverkehrs  der  Menschen  fand  au  den  Durchgangs- 
steUen  des  Limes  die  lieaulsiehtigung  des  Warenverkehrs  statt.    Manche  Ware 

\>  Vgl  den  Bericht  des  wOrttenibergiflcben  StMckenkommisuuri,  Profasson  Cl.  Sixt,  im 

Lim^blatt  8.  361. 

•)  Röm.  Feldm.  I  92,  13:  Eratü  dandi  interveniente  certo  üineris  spatio  duo  rigor  et 
ordinatit  fuibu»  m  UUdam  eommtmdi  ingai»  vaOonm  adniryafci  «mIm. 


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272    K.  Schulze:  Die  Anlaf^e  de«  oberffermaiiischen  Limes  und  das  Hömcrkastoll  Saalburp. 


niulste  hoi  der  Aiisfulir  Zoll  zahlen;  einige,  wie  Gold  und  WufFen,  durften 
ühfriuiupt  nicht  ausgeführt  werden.  Die  nieisti'n  Produkte  des  Auslandes  unter- 
lagen einem  Einfuhrzoll.  Natürlich  entwickelte  sich  an  der  langgedehnten  (irenze 
auch  der  Schmuggel,  und  die  Besatzungen  der  Wachttürmc  hatten  die  Aufgabe, 
dem  heimlichen  HerUherHchleichen  von  Landstreichern  und  Schmugglern*)  nach 
Kräften  zu  wehren.  — 


Abb.  S.   Onrndrifi  d«r  8«*lbarg. 


Indem  wir  uns  nun  der  Aufgabe  zuwenden,  die  wichtigsten  Ergehnisse, 
die  Jacobis  Forschungen  im  Sjuilhurggebiete  ans  Liclit  gestellt  haben,  in  Kürze 
zusammenzufassen,  handeln  wir  zuerst  über  Lage,  Bauperioden  und  Einrichtung 
des  Kastells,  dann  über  die  Lagerstadt  und  die  Villa,  zuletzt  über  die  Thätig- 
keit  der  Soldaten  und  der  Zivilbevölkerung  sowie  einige  Punkte  der  Technik. 
Wir  werden  dabei,  wo  es  lorderlich  erscheint,  die  schriftliche  Uberliefenmg 
zur  Vergleichung  heranziehen. 

')  Clattdrsdni  httriiuctthnuH  transitus  C.  1.  L  III  HSh5. 


K.  SehnlM:  Die  Anlage  des  obeigermuiiieben  LiniM  mid  dM  ItBmeilEMteU  SulbiUjg,  273 

Die  Saalburg  (Abb.  2)  liegt  nördlich  von  Homburg  t.  d.  Höhe  auf  einer 
«wthiii  sicbibioreii  EinsMlniig  des  Taunusgebirgea  an  einem  alten  Verkehrs- 
mg»  der  germaniadien  Stimme.  Hit  der  porta  praetoria  den  Chatten  im 
Lihiigebiete  zugewandt,  hatte  aie  die  Aufgabe,  die  untere  Mainebene  vor  Ein- 
fallen von  Norden  her  zu  schützen.  Als  Sperrung  des  Eöppemer  Thaies, 
durch  das  jetzt  die  Homburg- Usinger  Bahn  geht,  stand  ihr  im  Osten  das 
kleine  Kastell  bei  <ler  Lochmühle  zur  Seite;  weiterhin  folgte  die  Kapersborg 
bei  Friedberg,  westlich  la^  das  Kastell  'Feldlterg'.  Mit  Mogontiacum,  dem 
Sitze  des  Statthalters  von  ObtTgernianieu ,  stand  die  Besatzung  der  Saalburg 
durch  die  iilier  Höchst  führende  Heerstraike  in  Verbindung.  In  Hüdlicher 
Richtung  führte  eine  zweite,  1-4  km  lange  Strafse  nach  Novus  vicus  illechlein- 
heim;  Wolü",  Lim^bl.  S.  274).  Eine  dritte  steiitc,  nach  Osten  abbiegend,  die 
Terbindung  mit  der  Wett^an  her. 

Dentlieh  laaaen  sich  drei  Banperioden  der  Saalbnxg  unterscheiden.  Gegen 
Ende  des  ersten  Jalirhunderts  unserer  Zeifa«dmung  legten  die  Romer  ein  kleines 
Erdkastell  von  91  m  Länge  auf  der  PaTshShe  an.  Im  Jahre  1894  ist  es  Jacobi 
gelungen  (S.  6l  Ta£  TV),  innerhalb  des  jetzt  sichtbaren  Kastells  und  zwar  unter 
dem  Pflaster  einer  späteren  Lagerstrafse  die  Profile  des  dem  ErdkasteHe  7m- 
gehSrigen  Spitzgrabens  zu  finden  und  den  gshxen  Umfang  dieser  ältesten  An- 
lage festzustellen.  Im  zweiten  Jahrhundert  reichte  diesp  kleine  Festung  zum 
Grenzschutxe  nicht  mehr  aus.  Es  wurde  dnhiv  ein  etwa  viermal  so  gmises 
Kastell  mit  steinernen  Auisenmauern  angelegt,  ihm  gehcirt  ein  grofser  W  idmungs- 
stein zu,  der,  im  J.  140  n.  Chr.  dem  Kaiser  Antt)ninub  l*ms  zu  Ehren  gesetzt, 
bis  jetzt  die  älteste  am  Limes  gefundene  Inschrift  bietet  (S.  273).  Dieses 
Kastell  bestand  bis  etwa  220.  Darauf  wurde  das  letate,  jetst  noch  sichtbare 
Kastell  gebaui  Es  wurde  dabei  mit  grofser  Hast  TsrfiihrMi.  Gut  behauene 
Gew51bsteine  warf  man  in  die  Lficken  des  WaUes,  in  die  eine  Heng^  Brand- 
idmtt  hineingeriet  In  der  Wallerde  hat  sich  das  StOck  einer  Ghuscfaeibe  ge- 
ftunden,  deren  fibrige  Bruchstücke  in  der  bürgerlichen  Nicdi  rlassung  zusammen 
mit  einer  Münze  des  Septimius  Severus  (gest.  211)  zum  Vorschein  kamen,  und 
die  bei  der  Aufschüttung  der  Erde  in  den  Wall  hincingeratenen  Münzen 
reichen  von  der  Zeit  des  Antoninus  Pius  bis  auf  Caracalla  fgest.  2171  T^^ter 
Si'VtTUH  .M^'xander  (223  —  2*-?.')  i  wurde  diirch  das  Vordringen  der  Alanianutjn 
lii*;  Mainebenu  und  das  Tauimshmd  uusiiduucr  BoHitz.  Von  (fordianns  III. 
(238 — 244)  hat  das  Saalburggeluet  noi  li  114,  vua  PhilippuH  Arub«  (244  249} 
3  Münzen  geliefert.  Bald  darauf  ging  unter  Gallienus  (gest.  208)  das  über- 
rhemisdie  Gdnet  den  BSmorn  TSrloren,  mit  ihm  die  KAstelle  am  Limes,  die 
auch  Probus  (276 — ^282)  nicht  dauernd  behaupten  konnte. 

Das  uns  erhaltene  Kastell  aus  dem  dritten  Jahrhundert  ist  ein  Recbtecl^ 
dessen  Umge  Seite  221,45  m,  dessen  kune  Seite  147,18  m  mifst  Da  nun  der 
romische  Doppelschritt  1,479  m  hat,  so  liegen  offenbar  die  Mafse  150:  IfX)  passuft 
zu  Ümnde.  Die  Schmalseite  ist  demnach  um  ein  Drittel  kürzer  als  die  Lang 
»eite.  Damit  wird  die  Forderung  Hygins  «  rfüllt:  castru,  in  qHantutn  fieri 
potuerii,  tertiaia  tsM'  debtfyw^  (de  mutt.  castr.  21),  die  er  durch  das  Verhältnis 

Nmm  iaIuktolMr.   199»,  I,  IS 


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274   £•  Schulze.  r)ie  Anlage  de«  obergennaniacheu  Limeit  und  das  üöiuerkastell  Saalbtirg. 

3400  :  1600  Fuls  erföntert.  Eine  zweite  Forderung  Hygins  lautet:  angidos 
castromm  ewdnari  oportet  (c.  54).  Die  Abrundung  ist  an  der  Saalboig  mit  einem 
Halbmesser  von  40  Fufs  (8  passus)  vorgenommen  worden,  denn  an  zwei  Ecktn 
hat  die  Messung  einen  Radius  von  11,70  und  11,93  m  ergeben  (Jacobi  S.  81. 
Vgl.  u.  Taf.  I  Abb.  5).  Daa  Terrain  für  ein  Kastell  soll  mu:h  IIv„nTi  wo  möglich 
so  ausgcsuiht  werden,  dafs  es  sich  von  der  porta  decnmaim  iiüch  der  dem 
Feinde  zugewendeten  porta  praetoria  ein  wenig  senkt.  ^)  Genau  in  dieser  Weise 
ist  die  Saalburg  oingeriditet  Die  pwta  deenmaiia,  dnren  swei  Ein&lirlen  von 
Tfirmen  flankiert  werden,  liegt  an  der  höchsten  Stell«  des  QelSndes.  Von  hier 
senkt  neh  der  Boden  nach  dem  Feindeslande  za  nnd  etreicht  an  der  Nordosi- 
eeke  des  Kastells  mit  einem  Höhenunterschiede  von  6  m  seinen  tiefsten  Punkt. 
Dort  (Abb.  2Z)  fliclsen  die  sich  sammelnden  Wasser  unter  dem  Walle  hindurch 
ins  Freie.  Die  unterirdische  Kanalisation  des  Kastells  ist  auch  heute  noch  ao 
wirksam,  dafs  der  Baden  selbst  nacb  heftigen  Regengüssen  rasch  trocken  wird. 
Das  Kastoll  ist  von  einer  2  ni  dicken  Wallmauer  umgeben,  die  mit  Zinnen  zura 
Schutze  der  Verteidiger  ausgerüstet  waren.  Die  Mauer  war,  um  sie  vor  dem 
Eindringen  der  Feuchtigkeit  zu  schützen  und  ihr  ein  freundliches  Aussehen  zu 
geben,  mit  Kalk  veiputEt  nnd  angeetriohen.  An  Tfirmen  des  Limes  haben  sich 
Stttcke  gelben  Verpaises  mit  quadraiförmig  eingesdmittenen  roten  Fugen  er- 
haltm  (S.  44).  Die  Renne,  dar  sdimate  änlsere  Umgang  um  die  Uaner,  war 
mit  Steinplatten  belegt.  Ein  doppelter  Spifagraben,  jeder  von  7^  m  Breit^ 
erschwerte  dem  Feinde  die  Annäherung. 

Von  den  Gebenden  im  Innern  des  Kastells  können  wir  nur  das  Wichtigste 
hervorheben.  Das  l'rütorium,  ein  umfangreicher  Bau  in  der  Mitte  des  Lagers, 
hatte  zwei  »Stockwerke  und  enthielt  mehrere  heizbare  Häume.  V^on  einem 
Peristyl  sind  die  mit  Pfosteulöcbern  versehenen  Steine,  welche  die  Holzsäuleu 
trugen,  erhalten.  Als  Sockelsteine  sind  auch  drei  Stücke  der  oben  erwähnten 
Dedikationsinschrift  för  Antoninns  Pius  benutzt  Hier  im  Hofe  stand  «uf 
einer  steinernen  Basis  eine  fibwlebensgrolSM»  Bilddlnle  ans  Bronae,  Ton  der 
Bnichstttcke  erhalten  sind,  wahrscheinlich  eine  Vietoria.  Bin  kleiner  Steinban 
von  quadratischer  Grundfläche,  0,20  X  5,80  m,  war  das  Sacellum,  wo  die  Katser- 
bilder  und  Feldzeichen  aufgestellt  waren  und  wo  die  Ersparnisse  der  Soldaten 
aufbewahrt  wurden.*) 

Nördlich  vom  l'riltorium  ist  eine  elliptische  Vertiefung  von  27  in  Durch- 
messer in  den  Rockn  liineingeail)eitet.  Reste  von  Unterbauten  für  Zuschauer 
lassen  den  iiaum  aln  ein  eiiifuches  Amphitheater  erscheinen,  in  dem  --  nach 
den  Funden  von  Sporen  und  Hufeisen  zu  schUeAen  —  besonders  Reiterkunst- 


*)  Cap.  66:  Kam  gjuoä  aHtiiMi  nä  «oüt  deeHonm  «n  tMuenäa  «MfoKoee,  jpiimmm  loetm 
JuAent,  fiuu  tx  WMpo  in  ewitientiam  lenUer  nitoUuntur  ,  in  qua  potitUme  porta  iedmana 
eminent:>^imo  laeo  eowrttfwfaw,     r^füMws  eiw(rt«  wbiacemi,  Porta  praetoria  omper  hottem 

speclare  debel, 

*)  Vgl.  V«getiiM,  Epit.  rei  mtUi.  U  90:  JUml  vero  ab  aaH^i»  divhtitat  mriflMfum  toi, 
ut  ex  donafiro,  quod  taüiteg  eoiMwiMrtiir,  dümdiia  par$  a^jotttrarehir  apu4  oigna  tt  ^idtrn 
iptit  militilnu  $ertiarettur. 


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E.8ci«lM:  Di«  Aalag»  dei  obnjgvmMiiKhw  Umes  und  da«  Bdoierkastoll  Saalbm^.  275 

itQcke  vorgeführt  wurden,  um  die  Langeweile  des  Lagerlt-iiens  zn  verfchfuclu-n. 
Einen  38,f>  m  langen.  11.;')  m  breiton  Bau  ohne  alle  ZwiHcheumauern  südlich 
rom  Pratoriuiu  hat  von  Cohaunen  ab  Exerzierhalle  bezeichnet  Hier  kounteu 
bei  idileehteiii  Wetlw  neh  di«  Soldatai  in  B««i  Abteilungen  im  Werfen  dee 
POoine  ttben,  ihre  Feehfkfinete  gegen  ei]umd«r  oder  gegen  einen  Holqpfthl  ver^ 
ntkok  und  bewaffiiei  auf  ein  hdheniee  Pferd  ^ringen.  ^)  Reehte  und  linkB 
fom  Pritorinm  standen  die  Baracken  der  Soldaten.  Diese  hatten  Ter- 
iduedene  OrSlsey  4x8  bis  6  X  12  m.  Dae  Holzfachwerk  des  einstöckigen 
Biues,  das  mit  Lehm  Terpntafc  war,  mhte  anf  »Sockelsteinen.  Der  Fiifshoden 
wurde  her^stellt,  indem  man  auf  einer  Steinpackung  einen  sehr  festen  Estrich 
auf»  Lehm  mit  Einmischung  von  gohfirktom  Stroh  und  Farrcnkraut  und  mit 
Kmstreuung  feinen  Sandes  herstellte,  In  cler  ^^itte  hat  th^r  Hfiden  eine  von 
^p-oisen  St<')nen  inngrenzte  keilerartige  Vertiefung,  die  zur  Aul  i»e Wahrung  von 
Vorräten  diente  und  mit  Brettern  bedeckt  war.  Feuerstellen,  von  Steinen  um- 
stellt, Ündeu  »ich  auf  dem  Lehmboden,  den  die  Hitze  allmählich  zu  einer 
xiegelartigen  Masse  TerhärteteL  Der  Ranch,  fSr  dessen  Abaug  Schornsteine 
mdit  vorhanden  waren,  mulirte  dordi  eine  Öfihnng  des  Dadies  abaiehen.  Die 
Wina  worden  wohl  oft  mit  TierfUlen  TcrUingt,  um  das  Eindringen  der 
btten  Lnft  an  verhindem.  Um  das  Dach  heranstellen,  fang  man  anf  das 
I«ttenwerk  zuerst  eine  Schicht  Strohlehm  auf,  auf  diesem  befestigte  man  dann 
Legen  von  Stroh  oder  Schilf  So  wurde  das  Dach  fest  und  weniger  feuer- 
gefährlich. Stücke  von  solchen  mit  Lehm  verdichteten  Strohdächern  haben 
'^i'li  im  Sihiitte  gefunden.*)  Vielfach  wurden  atieh  ffir  hessere  Wohnungen 
cm  lange  Sehindein  aus  Eichenholz  für  <li<>  Rcdaehung  henntzt.'')  Zur  Er- 
hellung der  langen  Winternäehte  diente  chiH  otfene  Herdfeuer  und  «laneben 
Fackfchi,  deren  unteres  Ende  in  eine  in  die  Wand  eingeschlagene  eiserne  Hülse 
(Tat  46,  H)  gesteckt  wurde.  Talg  xmd  Wachskerzen,  deren  Gebrauch  durch 
die  Anffindiutg  vendiiedenarlager  Lenchter  bewies«!  wird  (Fig.  72  S.  460), 
und  Öllampen  waren  wohl  nur  im  Besita  der  Offisiere. 

Backofen  nnd  eine  EOche,  deren  Eessetommanerang  anf  gemetnschaft* 
liebes  Eodien  ftr  die  Hannsdiaflen  schliefsen  labt,  fanden  sich  anf  der  Osi* 
leite  des  Eaatells.  Anf  derselben  Seite  lag,  unweit  der  porta  decnmana,  das 


'  V^jl  Ve^'pt  IT  2^:  rV  tfiiiji^irr  hiimin  fle  tffiuli\  rrl  !sf!udHli<  .  .  Irgerrntur  ({iinrdmtt 
ttiut  bafiltcae,  in  quihm  ItmpesUiie  vcl  rmiis  aerr  turhato  ituh  tfcto  armis  muiieitatur 
wnUm.  I  11:  Non  tafUum  mane,  sed  ctiam  poai  tneridiem  excreelHintur  ad  palos  .  .  . 
OttOn  iUum  palum  tam^tam  eontn  advtnariHm  tiro  w  exetedbaif  mt  mme  fuati  capmt  ant 
facim  )K'Urcl,  nunc  a  lateribua  luinaretur,  interdum  t-onUnderet  poplHes  tntcddere.  I  18: 
Equi  iignei  hietiir  sub  trcto,  arstate  pftnthantur  in  campo;  supra  hos  iuninr^p  jrrimn 
MerMH»,  (Zum  coMueiudv  proficeret,  deindt  armati  coyebantur  (ticentiere  .  .  .  non  solum  a 
dirilTHi,  Md  etwa»  a  «tHMfri*  paiiiSbm  imriKm  H  äuSin, 

*,  S.  90  223  2,-!?.:  n.'konstruktioil  Tuf.  XI  1.  Vgl  Ovid.  Met.  VIII  CSÜ,  WO  «•  TOm 
Uau«e  Philemonfl  In  ifst:  >^i;>u/;s  et  ooNNa  keta  palwOri;  Caes.  6.  Q.  V  48:  amm,  fiiae 
*ore  Gallico  gtrautentts  rranl  Uctae. 

*)  Vgl  Plm.  Neil.  bist.  XVI  M:  Sea$tdtito  conUetam  üimam  fuitte  ad  P^rrki  ut^e 

18* 


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276      Scbttlse:  Die  Anlage  des  obetgenoaiüicben  Limw  imd  das  BAmerlowteU  SMdlraig. 

Magazin.  Der  lateiuiscbe  Name  hürreunt  ist  ana  durch  die  glücklich  auf- 
geftafidme  Bsninsdhrift  des  entapreelienden  GebSadM  der  Kapenbug  sicher  ge- 
stelli  ZaUreicihe  Panllelinsaftni  dienten  den  Balken  dieses  Gtebindes  als  StDtsa, 
damit  der  Boden  eine  grofse  Last  von  Ctetreide  tragen  könne.  Doppelt  ge- 
krfimmte  eiserne  Haken  und  Knochen  von  Tieren  beweisen,  dafs  hier  audi  die 
Vorratskammer  fiir  El.eiBch  war.  Die  Knochen  rülireii  von  Rindern,  Scliafeii, 
Schweinen,  Auerochsen,  vom  Sumpfschweinj  Edelhirsch  und  Reh  her.  Kleine 
Altäre  und  Steinbilder  des  Qenius  centuriae  standen  auf  steinernen  Sockeln 
an  der  Ln^ergasse  westlich  vom  Prütorium  (S.  4ü4j.  Das  Wasser  für  gewerb- 
liche Zwecke  wurde  in  nmden,  2 — 3  m  tiefen  Zisternen  Abi).  2C\.  die  mit 
Letten  ausgestampft  waren,  gesammelt  (S.  1-4Ö).  Um  zum  Trinken  uii*l  Kothen 
gutes  Wasser  zu  gewinnen,  gruben  die  Kömer  Brunnen,  deren  bis  jetzt  sechs 
im  Kastell,  ochtunddreilsig  in  der  bürgerlichen  Niederlassung  gefunden  worden 
sind.  Die  älteren  von  ihnen  sind  viereckig  und  mit  eiehenen  Bohlen  verschall^ 
die  jüngeren  sind  rand  und  mit  Bradisteinen  ausgemanert.  Über  den  BronaeD 
ging  dn  von  awei  Pfosten  getragener  Querbalken,  «n  dem  mittels  eines  Eisen- 
beschlags  eine  Rolle  aus  Eichenholz  angebracht  wurde.  Ein  Eimer  mit 
eisernem  Henkel  wurde  an  einem  Hanfseile,  das  über  die  Bolle  lief,  in  den 
Brunnen  hinabgelassen  und  gefüllt  wieder  herau^eaogen.  Alle  genannten 
ßegenstände  sind  bei  den  Ausp^-abnngen  gefunden  worden  und  jetzt  in  dem 
Museum  im  Kurhiiuse  ZU  Homburg  aufgestellt Die  Tiefe  der  Brunnen  geht 
von  6  bis  zu  14  in. 

Wie  an  bnudert  anderen  Orten,  so  entstand  auch  neben  dem  Kömerkasiell 
Saalbur^  eine  bürgerliche  Niederlassung.  Händler,  die  dem  Truppen- 
kSrper  getolgt  waren,  und  ausgediente  Soldaten,  die  ihr  Standquartier  und  ihre 
langjährigen  Kameraden  lieb  gewonnen  hatten,  siedelten  sich  Östlich  und  west- 
lich^ besonders  aber  auf  dem  Sfidabhange  vor  dem  Kastelle  an,  betrieben  hier 
Garten*  und  Ackerbau,  mandierlei  Ibndwerke  und  Tor  allem  Seh«ikwirt- 
Hchaft.'^)  Unweit  der  porta  decumana  liegen  parallel  mit  der  Hauptstrabe 
fünf  kleine  Wirtshäuser  (canabae),  in  denen  sieh  die  Soldaten  au  starken 
pflegten,  wenn  der  anstrengende  Dienst  zu  Ende  war.  Gut  gemauerte,  durch 
Kanäle  trocken  gehaltene  Keller,  in  die  eine  Treppe  hinabführt,  dienten  zum 
Aufbewahren  von  (ietrünken  und  Mundvorrat.  Grofse,  an  die  VV'rtnde  an- 
gelehnte Amplioren,  Bruchstücke  von  Trinkgläsern  und  Thongelülsen  und  die 
zum  Aufstellen  von  Milchtöpfen  geeigneten  Nischen  beweisen  dies.  tTber  den 
Kellcrmauern  lag  eine  horizontale  Decke  von  eichenen  lialkeii  und  darüber  er- 
hob sich  der  ans  Fachwerk  mit  Lehmi^nden  hergestellte,  mit  ein«n  Schiefer- 
dach abgeschlossene  Oberbau.  Hinter  jedem  dieser  Hauser  war  ein  Hof  mit 
Ziehbrunnen  und  kleineren  Nebengebäuden.    Die  Besatsung  des  Kastells  der 


S.  iöl;  vgl.  Veget.  IV  lU:  Si  natura  tum  praesUit,  sc.  pereooes  fontai,  cutH$iibet 
ttttittidinig  effodiendi  mnt  putei  aqnantmque  hamhts  f»nibu*  extrahemäL 

*i  Vgl.  rctemm  et  eivn  Bamam  eantktetita  ad  eainaha$  kgimi*  V  Maeedmukai 
C.  J.  L.  lU  6166. 


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E.  Schulze:  Die  Anla^T  <li  s  oberf^cnnaniiicbcn  Lünes  und  daa  Römcrkastell  Saalburpr.  277 

zweiten  Periode  hat,  wie  die  Funde  darthun,  manches  Geldstück  in  diese 
Kneipen  getragen.  Einer  der  Marketender  fcfinabenses)  ist  bei  einem  feind- 
lichen Uberfall  in  den  Keller  geflüchtet  und  dort  von  den  Trümmern  seines 
brennenden  Hauses  eracklHgeu  worden  (S.  117).  Ein  Schlachthaus,  von 
Wohn  uiul  Wirtschaftsgebäuden  umgeben  (Taf  XIV  1)  stand  an  derselben 
Stralse  nah  beim  Kastell.  Im  Hofe  war  eine  iiuäaltstcinplatte  eingeniiiuert, 
in  der  ein  grofaer  eiserner  Ring  befestigt  isi  Sin  dnrch  diesen  King  gez<;gene8 
Seil  diente  dun,  das  xnm  Sehlsehten  bestunmte  Tier  niedersusiehen.  Der 
Fond  Ton  Trensen,  WagNibeeehlagen,  Ketten  und  von/i^n  dicht  bei  einander 
fixenden  HnlÜBen  beknndet,  dafs  hier  anch  wt  Auaepann  fSr  die  aus  der 
Ebene  herHofkonuneuden  Pferde  war.  Dem  Handel  und  Verkehr  diente  ein 
50  m  langes,  östlich  vom  Kastell  an  einer  ins  Ausland  führenden  Römerstrafse 
gelegenes  Kaufhaus.  Es  hatte  eine  überdachte,  aber  nach  Ostei!  hin  offene 
ITalle,  in  der  an  Markttagen  Handelsgepchäfte  zwischen  Knmern  und  Germanen 
HbgoHthio.ssen  wurden.  Verschiedene  Hit'UDe  mögen  zum  Aufbewaliren  von 
•  ntreitle  und  als  8t«llnngen  zu  voniliergL-lieiider  Aufiialmit'  von  Vieh  gedient 
Labea.  Ein  Zimmer  war  durch  ein  Hyjtokaustum  heizbar  (S.  124  Fig  19). 
Vielleicht  brachten  die  Chatten  auch  Kriegsgefangene  feindlicher  Nachbar- 
«ttnue  Hierher  anm  Y^kanf.^) 

Dea  atattlieheie  von  allen  Gehenden  der  Saalbnrg  ist  die  aftdweatiich  vor 
dem  Kaaiell  gelegene  aogenannte  Villa.  Hure  Aufaenmauem,  die  anm  Teil 
heute  noch  2  m  Aber  den  Erdboden  herrorragen,  umaehliefaen  elf  gesonderte 
Räume,  von  denen  acht  durch  Hypokausten  heiabar  waren.  Der  schönste  Saal 
hat  eine  Länge  von  12,50  m  und  eine  Breite  TOn  6,25  m.  Er  ist  auf  beiden 
Seiten  durch  halbrunde  Apsiden  abgeschlossen,  war  durch  bemalte  Stuccatur 
der  Wände  verziert  und  besafs  in  bedmtenfler  Höbe  über  dem  Fufsboden 
Fensteröflfhungen ,  die  durch  Glasscheiben  da»  Sonnenlidit,  dem  die  «ine  der 
i\psiden  zugewandt  ist,  cinlielstin  ^S.  118 — 122).  Der  eben  erwäluite  Saal  er- 
iQuert  mit  seiner  nach  Süden  liegenden  Apsis,  seinem  Hypukaustuni  und  den 
Leitungsröhren  für  die  warme  Luft  an  ein  Zimmer  des  Landgutes  des  Plinius 
bn  Lanrentum.')  Und  wmn  Plinius  von  seinem  Landhause  aus  weithin  die 
bknen  Wogen  des  Meeres  überschauen  konnte,  so  schweifte  der  Blick  des 
höheren  Offiaiers  oder  Verwaltungsbeamten,  der  die  Villa  bei  der  Saalburg  be- 
wohnte. Ober  die  fruditbare  Mainebene  bis  hinüber  an  den  blauen  Bergen  des 
(Meawaldes. 

Ohne  Zweifel  waren  die  Fufgböden  einsbnalB  mit  Matten  und  Teppichen 
belegt  Ein  sehr  gut  aementiertes  Badezimmer,  das  aus  einem  nahen  Brunnen 


'  ^rmmacb.  £p.  TI  78:  (^htoninm  H^rvorum  per  Umitem  facUü  inveMtio  ei  früiiitm  toki 
tue  toUrabik,  te  dtprecor,  ut  XX  luvenes  itUteas  comparari. 

*)  Bpift  n  17,  8:  ckAhmInm  in  hap$iäa  eurtatum,  quod  tmbUvm  »qIU  fenutri» 
omnihua  uequitur  .  .  .  A^taent  doriuil"ri'im  inembrum,  trattsitu  inUriacenU,  qut  suspcnsua 
tt  tubulatug  concepttim  mjwrrm  .«ilubri  temperammto  huc  iUm  digerit  et  ministral ;  vgl. 
V  6,  24;  cwdtcuium  hieme  tepitiismmum,  quia  plunnu»  sole  perfundilur.  Cohaeret  hypo- 
«««•loa,  c(  f»  im  «aUliit,  minwmo  ««jnnw  «1»  mom  tugght. 


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278       Schulze:  Die  Anlage  des  obcrgertuaniHchcn  Litues  und  daa  Römerkiislell  .Saalburf^. 

mit  Wasser  versehen  werden  konnte,  diente  dem  Behagen  der  Bewohner.  Blei- 
röhren, die  über  einen  hölzernen  Kern  gehämmert  und  mit  Zinn  zusammen- 
gelötet waren,  vermittelten  den  Abtluls  des  Wassers.  Die  Villa  gehört  in 
ihrer  jetzigen  Gestalt  der  dritten  Bauperiode  des  Kastell»  an,  denn  es  ist  in 
ihr  ein  von  den  Katern  der  Fortuna  geweihter  Votivstein  aus  der  Mitte  des 


Abb.  .t.  PfeilerhypokaDitum  d«r  VilU. 
A  praefurniam;  K  eUiptitch  erweiterter  Heizraum  hu«  Ituialtiieiuea ,  m  Ziegelpfeiler;  C  unterrr  Boden  det 
HeUraumei;  A — i  SanditeUiplatte  alt  Vericbluri  »inM  zum  /weck«  der  Itcini^DK  f(el>**enen  KintteignliKboi : 
n  n  leobi  al«  Baachabzug  dienende  Uuhren;  rr  vertclillefitiarv  OffnaDgeD  im  KuTibodeD  zum  Kinlataen  der  b^ifioa 
Luft;  fj)  In  die  Wand  cingubauler,  nach  dem  Zimmrr  iiffener,  dup|>c>Ilvr  Kanal  zum  Veutilieri'U.  u  Laftkanal, 
der  frische  liOfl  in  den  Vorraum       dauu  durch  einen  gutrugeneo  Gang  dfi  in  dai  Hypokauatnm  fahrt 

zweiten  Jahrhunderts  als  Deckplatte  eines  Kanals  eingemauert  worden  (S.  277). 
Es  ist  daher  begreiflich,  dals  die  Verbesserungen  der  Wohnungseinrichtungen, 
die  in  Italien  im  ersten  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  Eingang  fanden  — 
Glasfenster  und  Luftheizung  —  in  diesem  vornehmen  römischen  Bau  des  dritten 
Jahrhunderts,  dem  rauheren  Klima  Gcrmaniens  entsprechend,  zur  Anwendung 
kamen.'  Über  die  Anlage  der  Hypokausten  giebt  Jacobi  (S.  24ö  —  260) 
auf  Grund  genauer  Untersuchungen  eine  ausführliche  Darstelliuig,  die  durch 


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B.  Sehnlxe:  Die  Anlage  des  obergermaniielieB  Umw  und  du  ESaierkaitel]  Saalburg.  2t9 

eine  Keihe  von  Abbildungen  noch  anschaulicher  gemacht  wird  (vgl.  Ahh.  'i). 
Der  Boden  des  Heizraumes  ist,  wie  Vitruv  (V  10,  2)  vorschreibt,  so  üiigclcgt, 
dals  ein  hineingeworfener  Ball  auf  der  geneigten  Fläche  zum  SchQrloch  zurück 
rolÜ  {sokim  ineUiiahm  ad  hypocausim,  «t  pUa  cum  witMiir  n<m  jpoBsU  itUn 
femfinvy  $eä  rwsua  reäeai  ad  proefunmm  ^nw  per  ae).  Die  aus  quadratiMhan 
fiMsksteineiL  hwgeitaltten  Pfeiler  bAben  eine  HoKe  von  dnrchadmittilick  74  cm. 
Auf  ihnen  liegen  grofse  Ziegelplatten  und  diese  tragen  den  15  bis  30  cm  starken 
Estriehy  der  die  Wärme  des  Fufsbodens  lange  gleichmafsi)^'  erhielt.  Dem  Schflr- 
loch  <:;egenüber  stehen  an  der  hintern  Waiul  seclis  ühortünchte  Hohlkachcln 
(tuhii,  die  an  Stelle  eines  einzigen  Schornsteins  von  grofsom  Qtifrdurchmesser 
deu  Huudi  durchs  Dach  ins  Freie  führten.')  (jeheizt  vrunle  nicht  mit  Holz, 
sondern  mit  Holzkohlen.  Nach  Erlöschen  des  Feuers  wurde  durch  einen  Seiten- 
kanal  frische  Luft  in  den  durchglühten  Heizraum  eingeführt^  die  den  Wohn- 
mam  erw&rmte  und  sagleich  vortreflnieb  ventiliarte.  Die  Yerwendimg  der 
HypokaitBten  rnebt  weit  im  Mitteklter  hinein.  Die  Ritter  in  Itarienbni^  nnd 
die  Mfinche  des  doetere  Menlbronn  beben  die  sehr  iweekmUsige  Hetseinricb- 
tnng  dee  Altertoms  beibebalten. 

Nur  ganz  kurz  sei  noch  der  Begräbnisstätte  gedücht,  die  sich  rechte 
und  links  un  der  nach  Süden  führenden  Hatiptjjtrafse  hinzieht.  Etwa  250  Graber 
Bind  geöffnet  worden  i  S.  133).  Sie  bergen  fast  ansHchliefslich  die  Gebeine 
wenig  bemittelter  Lente,  deren  Leichen  anf  einen  mit  Bruchsteinen  unter- 
mauerten, 6  m  im  Quadrat  mcbscudcn  VerbrenuungHplatze  (ustrina)  dem  Feuer 
übergeben  worden  waren.  Die  Knochenreste  wurden  dann  auf  einen  Thonteller 
gelegt  und  so  in  eine  mit  Steinen  lunstellte  Grabe  gethnn  nnto'  Bei|^be 
kleiner  Lampen,  Krflge,  Mllnnen  nnd  unbedeutender  Schmuckncben.  Mit  einer 
rohen  Steinplatte  wurde  sodann  das  Grab  geschlossen.  Ein  steinernes  Han% 
der  Ustrina  gegenüber,  inmitten  des  Friedhofs  gelegen,  das  seine  Thür  der 
Landstrafse  anwendet,  hatte  wohl  den  Zweck,  als  Leichenhaus  m  dienen.  Hier- 
her schaffte  man  die  Leichen  sofort  nach  Eintritt  des  To<le8,  nni  ««ie  nach  Ent 
femnng  ans  den  Wohnräumen  der  Überlebenden  einige  Tage  bis  zur  feierlichen 
Bestattung  aufzubahren. 

Versuchen  wir  es  nun  noch,  uns  ein  Bild  zu  machen  von  der  Thätigkeit, 
die  einstmals  im  Kastell  Saalburg  und  seiner  Umgebung  von  der  Besatzung 
mid  den  bürgerliehen  Ansiedleni  entfiJtet  wurde.  Wir  sehen  dabei  ab  von 
den  eigentlich  müitiriadien  Aufgaben,  der  tlglidbien  Übung  im  Harsebiaren 
und  im  Gebrauehe  dw  WalBm,  dem  Beudien  der  Wachen  an  den  Durchgängen 
durch  den  Wall  und  in  d^  benachbarten  Tflrmen  des  Limes,  dorn  Patrouillieren 
jenseits  der  Grenze  u.  s.  w.,  und  richten  unsere  Aufmerksamkeit  auf  diejenigen 
Arbeiten,  die  der  Hebung  der  menschlichen  Kultur  dienen,  und  deren  Aus- 
ühunsT  im  SaHlljurggebiet  dnreh  die  Fnnde  von  Werksseagen,  von  fertigen  nnd 
halbfertigen  Er/.uugnis8en  sicher  gesteilt  wird. 

*;  Vgl.  fcneca,  Ep  90,  2Ti:  Quifdam  nngtra  dem*im  prudix^f  wrmoria  scimu$,  Mt  tutpen- 
IMTM  bahußorum  et  impresto$  parietibut  tuboi,  per  gwoi  drcumfumkrdMr  ealor,  fui  inta 


D 


380      Schübe:  Die  Anlege  des  oberfennaniMhen  LiineB  und  des  ROmerkeatell  flaeUnng. 

Es  galt  als  Grundsatz,  daik  im  röuiiächen  Lagt^r  liniuiwerker  zur  An- 
fertigung aller  dem  Heere  nötigen  Dinge  vorhanden  sein  mülst«n.')  Für  die 
Erdarbeitoi  finden  «ich  die  nötigen  Werkseuge  wie  Hacken,  Spaten  und 
Sdiaofeln.  üm  Steine  f&r  die  Kastellmauer  und  den  Bäneerbau  au  gewinnen, 
haben  die  Rdmer  ein«i  Kilometer  Bfldlich  von  ilirem  Standlager  swei  Stein- 
brfiche  im  Tannua  angelegt,  ans  denen  eie  Qnanit  holt^  Sdiiefer  f&r  die 
Herstellung  der  Dächer  wurde  am  nordlichen  Fufse  des  Feldberg^ii  gewonnen. 
Basalt  lieferte  ein  Steinbruch  bei  Obererlenbach,  Sandst^  das  Ufer  der  Nidda 
bei  Vilbel,  doch  ist  der  feinkörnige  gelbliche  Sandstein,  aus  dem  eine  Geniu»- 
statue  hergestellt  worden  ist,  !»us  der  Gegend  von  Trier  herbei^schafft  worden. 
Durch  genaue  Untersuchung  der  Steinart<»7i  sind  die  Orte  ihrer  Herkunft  fest- 
gestellt worden.  Eiserne  Keile  und  Hämmer  zum  Losbrechen  der  Steine  sind 
zum  Vorschein  gekommen  (S.  218  Fig.  32),  auch  ieklt  es  nicht  an  Kellen  zum 
Auftragen  des  Mörtels  (trulla).  Den  Kalk  holten  die  Römer  aus  Gruben  aa 
der  Nidda,  die  aum  T«l  wegen  ihres  guten  Iflateriab  das  ganae  Mittdalter 
hindurdi  in  Gebrauch  geblieben  sind.  Ziegel  wurden  hauptsSchlieh  bei  HSdiit, 
wo  sieh  Brennöfen  gefunden  haben")  und  an  anderen  Stellen  der  £bene  hw- 
gestelli  Der  Lehm  wurde  sorgfältig  gereinigt,  gut  geknetet  und  dann  knchen- 
artig  festgeschlagen,  so  dnCs  die  römischen  Ziegel  sogar  die  modernen  Maschinen- 
ziegel nn  speaifischem  Gewicht  übertreffen.  Mit  den  reich  verzierten  Stempeln 
der  ^2.  Legion  versehen,  deren  Mannsclmflen  aus  MninT:  zur  Fabrikation  kom 
mandiert  waren,  wurden  Ziegel  in  gewünschter  Anzahl  an  die  Kastelle  im 
Taunus  al)gegel>en.  Die  Richtigkeit  der  Lieferung  wurde  durch  einen  Ab- 
nahmestenijie!  'im<tn»n  fecit'  bescheinigt. 

Holzurbeiteu  aller  Art  wurden  von  den  Römern  im  Tauiuis  selbst  aus- 
geführt. Der  Urwald,  der  dieses  Gebirge  bedeckte,  entiiidit  keine  Tannen,  denn 
Tannenholz  findet  sidi  weder  unter  den  bearbuteten  Stocken  aus  dem  Schlamnie 
der  untersuchten  Brunnen,  noch  unter  den  Besten  Terkohlten  Holses.  Auch 
steht  urkundlich  fest,  dab  erst  im  siebaehnten  Jahrhundert  bei  Homburg 
Tannen  angepflanzt  worden  sind.  Die  Eiche  war  der  am  meisten  verbreitete 
Waldbaum  und  wuchs  zu  Stämmen  von  gewaltiger  Gröfse  empor.  Dies  ent- 
spricht ganz  der  Beschreibung,  die  Plinius  vom  Hercynischen  Walde  giebt.') 
Die  Rönn  r  ]viben  diese  Riesen  des  Urwalds  gefallt  und  mit  Säge  und  Beil  tu 
Balken  und  Brettern  verarbeitet,  wie  sie  nur  ein  Stamm  von  mindestens  cui 
Durchmesser  liefern  konnte.  Aua  Eichenholz  haben  sie,  so  schwer  es  auch  zu 

*)  Yeget.  II  11:  Habet  praeterea  legio  fitlbiros  tignartos,  ^trudoret^,  mrpentarios,  ferrariot, 
piclores  reliquosque  nrtißcef;  ad  hibemorftm  netUficia  fahriinmht  .  .  .  [{ntichaut  cfinm  fiihrienf 
»cutariMfloricarias,arcmrtas.  Haec  enim  erat  cura  praecipua,  utguicquid  exercitui  nectt- 
«MttM«  tid^ahtr,  ntmigiiam  detmt  tit  eotkiB.  I  T:  I^abn»  ftrrarios,  earpeHtariM,  mae^anm 
H  egrrorum  aprorumqu«  venatom  eonamit  toeiwre  müitiae.  IL  U:  SahA  (fe^)  od  fottanm 
Optra  facienda  hidaites,  Itgone^,  ptilni',  rutrn ,  nlrpo»,  cofinoa,  quihus  terra  portetur.  Habet 
fitoque  dohifn-as,  secures,  ascias,  serras,  guibus  matcrie»  ac  palt  dedolantur  atque  tferruiUitr. 

')  Vgl.  G.  Wolff  im  Azdiiv  fflr  Fraakfarte  Gesditclite  und  Kunst         m  S1S^846. 

*)  Nat.  h.  XVI  S:  JZoforiNii  vattUa$  iwtacta  twti*  tt  eonfftnUu  wmndo  pnpe  immofUdi 


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E.  Schulze:  Die  Aiilago  des  obergerraanischen  Limes  und  da«  ROtnerkaatell  Saalburg.  281 

b««rimten  ist,  sogar  das  Dachgebälk  hergeBtelit,  das  z.  B.  beim  Exerzierhause 

einen  sehr  Ijicitcn  Raum  überspannen  mnfste.  Bei  tlem  grofsen  Waldrelchtnm 
des  Taunus  wurden  von  den  Röm» m  ;in  versehiedinfn  Stellen,  auch  nahe  bei 
der  Saalhurg  (S.  553),  Meiler  angelegt,  um  Hol /.kühlen  und  damit  ein  mög- 
lichst raurlifreies  Feuer  zu  erzielen.  Zum  Anbrennen  hatten  die  Meiler  eine 
horizoniai  in  den  Boden  eingegrabene  Zündgasse.  Mit  den  hier  erzeugten  Holz- 
kohkn  wurde,  ioweit  man  sie  nidit  im  Kastell  verbrauchte,  ein  reger  Handel 
m  die  Hftinebene  limab  getrieben. 

Heben  den  Arbeiten  des  Zunmermanne  irard«)  feine  Tiachlerarbeiten  Ton 
geachiekten  Handworkem  auf  der  Saalburg  hergeaieUi  Das  wiehtigete  Werk- 
»og  dea  Sdureiners,  der  Hobel  (mneina),  ist  in  Terschiedenen  Exemplaren  ge- 
fhnden  wordw,  und  awar  sind  die  Eisen  nicht  nur  zum  Hobeln  von  litten 
Flächen,  sondern  auch  zum  2^hnen  eines  Brettes  und  zum  Einschneiden  von 
Profilen  eingerichtet  (Textfigur  29  und  31).  Auch  feine  Zirkel  sind  zum  Vor- 
schein gekommen,  dnrnnter  einer  mit  vier  Schenkeln,  von  denen  die  zwei 
kiiraeren  ein  Drittel  der  Spannweite  der  längeren  messen.  Von  Drechslern 
sind  hölzerne  Schüsseln,  ninde  Sehaehteln.  IJollen  nnd  ähnliche  Dinge,  ferner 
Haarnadeln  aub  Horn  hergestellt  worden.  Da  sich  öfter  halbfertige  Nadeln 
und  angeschnittene  Stücke  von  Hirschgeweihen  gefunden  haben,  können  wir 
sieht  daran  sweifeln,  dals  die  Arbeiten  beim  Kaatell  selbst  gemaeht  wurden. 

Gerbereien  sind  im  nichstan  Umkreis  der  Saalburg  nicht  gewesen,  sondern 
dsB  Leder  mulste  aus  grSrseren  Fabriken  besinn  werden.  Aber  alle  mögliehen 
Lederarbeiten,  vor  allen  Dingen  die  derbnn  Söldatenadbuhe,  sind  an  Ort  und 
Stelle  angrfmfigt  worden,  denn  Schusterhämmer,  Messer,  Pfriemen,  Ahlen 
und  sonstiges  Schnhmaeherwerkzeug  sind  in  reichlieher  Menge  zum  Vorsehein 
gekommen.  Auch  Zaum-  imd  Riemenzeug,  Gürtel  und  Lederkoller  wurden  an 
gefertigt  und  anst^ebegsert.  Der  Brunnen  Nr.  18  hat  uns  ein  abgenutztes  und 
geflicktes  Lederwams  aufbewahrt. 

Sehr  eifrig  wurde  die  Bearbeitung  des  Eisens  auf  der  Saalburg  betricbeu. 
Im  Mai  1895  entdeckte  Jacobi  nördlich  vom  Pfahlgraben,  bei  Obemhain,  einen 
tiefen  Schacht,  in  dessen  obersten  Teilen  sich  Scherben  von  fränkischen  Qe- 
fafiKn  fimden,  wahrend  tiefer  unten  BruehstBcke  von  terra  sigillata  und  andere 
Ckgensiftnde  aweifellos  rSmisehen  Ursprungs  zum  Vorschein  kamen.  In  der 
TXÜtd  dieses  Eisenbergwerks  fanden  sieh  die  sehr  gut  erhaltenen  Ubwreste  von 
Schmelzöfen  (S.  556),  in  deren  Nachbarschaft  sieh  grolse  Schlackenhalden  aus- 
breiten. Auch  Meiler  zur  Bereitung  von  Holzkohlen  waren  zur  Zeit  der  Römer- 
herrschaft an  derselben  Stell'  in  Thatigkeit.  An  diesen  Schmelzöfen  ist  in 
der  Römerzeit  mit  gröfster  Anstrengung  gearbeitet  worden.  Vennntlieh  waren 
es  die  auf  der  Saalburg  als  Besatzung  liegenden  Käter,  die  ihre  heimatliche 
Vertrautheit  mit  Ber^rliau  und  Hüttonwesen  hier  im  Dienste  der  Kr)mer  be- 
wahrten. Bewundernswert  sind  die  grofsen  eisernen  Ambofse,  die  sie  mit  ihren 
nOTollkommenen  Vorrichtungen  herzustellen  verstanden.  Der  grölste  dieser 
Biienblöcke,  der  1,40  m  hoch  ist  und  484  I^nd  wiegt,  hat  seinrngleiclMn 
in  keuiem  anderen  Museum.  Er  ist  nicht  gegossen,  da  man  den  nötigen  Hitae- 


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282    K.  Schulze:  Die  Anlage  do«  obergennaniHchen  Limed  und  das  Itömorkiist«!)  .SaaUxirg. 


grad  zum  Eisengufs  nicht  erzeugen  konnte,  sondern  aus  zehn  einzeln  ge- 
schmiedeten Blöcken  allmählich  mit  unendlicher  Mühe  bei  Weifsgluhhitze  zu- 
aammengeschweifst  worden.  Auf  solchen  schweren  Ambofsen  schmiedeten  die 
Römer  in  Waldschmieden  beim  Dreimühlenborn  —  nicht  weit  vom  Pfahl- 
graben  —  Wagenreifen,  Brechstangen,  Meifsel,  Beile,  die  Thürangeln  für  die 
grofsen  Thore,  Hämmer,  Hufeisen  und  ähnliche  Dinge,  die  der  Erdboden  und 
die  Brunnen  zu  Hunderten  aufbewahrt  haben.  Auf  kleineren  Ambofsen,  die 
in  einen  Holzblock  eingesetzt  wurden,  wurden  feinere  Dinge,  wie  Messer, 
Scheren  und  Pfeilspitzen  geschmiedet.  Ein  Ambofs  von  eigentümlicher  Form, 
der  oben  ein  enges  rundes  Loch  und  seitwärts  eine  Öffnung  hat,  diente  beim 
Schmieden  von  Xägebi.  Ein  Eisenstabchen  wurde  zugespitzt,  glühend  gemacht, 
in  der  gewünschten  Lange  abgehauen  und  durch  die  obere  Öffnung  des 
Ambofsea  senkrecht  hineingetrieben.  Dabei  blieb  das  obere,  dickere  Ende 
aufsen  und  wurde  als  Kopf  des  Nagels  breit  geschlagen.  Eiserne  Giefslöffel. 
in  denen  man  Blei  flüssig  machte,  um  eiserne  ThOrhaken  in  steinernen  Pfosten 
zu  befestigen,  waren  im  Kastell  in  Gebrauch;  auch  Bleikugeln  und  bleierne 
Leuchter  wurden  in  Gufsformen  hergestellt.  Die  auf  der  Saalburg  gefundenen 
Hufeisen  beginnen  mit  der  ältesten  Form,  dem  Pferdeschuh  (solea  ferrea).  Diese 
annähernd  ovale  Schutzvorrichtung  wurde  dem  Tiere,  wenn  ea  auf  steinigen 
Wegen  gehen  sollte,  unter  den  Fufs  gelegt  und  mit  Stricken,  die  man  durch 
drei  hinten  und  zu  beiden  Seiten  angeschmiedete  Ösen  zog,  am  Hufe  an 
gebunden.  So  müssen  wir  uns  den  Eisenschuh  bei  dem  Maultiere  befestigt 
denken,  von  dem  Catull  sagt,  dals  es  ihn  im  Schmutze  verliert.')  S[^ter 
nagelte  man  die  Hufeisen  an  den  Pferdeschuh  an  und  machte  sie  —  was 
beim  Ziehen  bergauf,  besonders  bei  anhaltender  Nässe,  zum  Schutze  nötig 
war  —  breiter  und  stärker.  Alle  Werkzeuge  des  Hufschmieds:  das  Hufmesser 
zum  Beschneiden  des  Hufes,  Hauklinge,  Feile,  Hammer  und  Zange  sind  unter 
den  Fundstücken.  Auch  die  ganze  Ausstattung  einer  Schlosserwerkstätte  ist 
aus  den  Funden  der  Saalburg  zusammengestellt  worden.  Die  oft  sehr  ge- 
schmackvoll und  reich  verzierten  Bronzegrifle  der  Schlüssel  stammen  aus 
Fabriken,  aber  der  Kamm  wurde  oft  im  Kastell  zurechtgefeilt.  Sehr  beliebt 
waren  die  kleinen,  an  einem  Fingerring  angebrachten  Kassettenschlüssel.  Auf 
Einzelheiten  können  wir  nicht  eingehen,  doch  sei  bemerkt,  dafs  gerade  der 
Abschnitt  über  die  Schlösser  und  ihr  Zubehör  zu  den  gründlichsten  und  licht- 
vollsten Untersuchungen  des  Werks  gehört  (S.  462 — 480,  dazu  Textabbild. 
73—76  mit  191  Nummern). 

Die  besseren  Glaswaren  der  Saalburg  sind  gewifs  aus  der  Feme  ein- 
geführt, die  Glasscheiben  dagegen  sind  höchst  wahrscheinlich  in  der  Nähe  — 
am  Glaskopf  nördlich  von  Königstein  —  verfertigt.  Dort  sind,  dicht  am 
Pfahlgraben,  alte  Glasöfen  mit  Bruchstücken  römischen  Glases  unter  vielen 
Schlacken  gefunden  worden.    Das  römische  Glas  besteht  aus  Kieselsaure,  Kalk 

')  Ferream  ui  soltam  tenaci  in  roragine  i»h7«  (dtrelinquit^  Cat.  17,  26;  vgl.  Poppaea, 
cnnittnx  Ncronis  principi«,  »olem  delicatioribus  iutnenÜM  suis  ex  atiro  qtioque  induere  iusnt 
Plin.  Nat.  bist.  XXXIIl  140:  •  "^7.  g. 


I 


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B.  Scbnlze:  Die  Anlag«  des  obei'genianndi«!)  Lüne«  und  das  RihnerkBateU  Saalbnrir.  388 

und  Natron  und  ist  weniger  hart  als  das  moderne  KHli'jlH«;  '  i  Die  tiüssige 
Glasmasse  wurde,  mn  Fenftersclieihen  herzustellen,  nicht  geblasen,  sondern  in 
eine  quadratische  Form  von  30  cm  Seitenlänge  auf  eine  Unterlage  von  feinem 
Sande  gegossen.  Deshalb  ist  die  Dicke  der  Scheibe  ungleich,  die  Ecken  sind 
abgerundet,  und  die  eine  Seite  ist  rauli.  Völlig  durcluichtig  sind  Bolehe 
Sdieibea  nicht,  dennoch  leisteten  sie  fttr  Erhellung  der  Wohnriome  und  nls 
SchniE  gegen  die  KUte  unseliSlulmre  Dienste. 

Von  den  Arbeiten  snr  Oewinnimg  der  n6tig«i  Lebensmittel  sind  Gemttse- 
und  Obstbau  za  enrahnen,  wozu  die  nötigen  Werkzeuge  sich  vollständig  finden. 
Wir  nennen  nur  Hacke,  Grabscheit,  Reihen  und  Hippe  (falx  arboraria)'). 
Es  !«t  cl>ir»}iHU8  wahrscheinlich,  dafs  dir  Mirab»^'lk'n  und  Kirschen,  deren  Kerne 
ein  ßruiiueii  aufbewahrt  hat,  in  den  Gürten  der  römischen  Ansiedler  ^wachsen 
sind.  Zum  Mahlt'ii  des  (Tetreides,  das  man  zum  gröfsten  Teile  aus  der  Main- 
ebene,  wo  römische  Bauernhöfe  nachgewiesen  worden  sind,  herauffuhr,  wurden 
Hand-  und  Sknlmfililen  (molae  mannsriae  nnd  asinariae)  in  Befaridb  gehaltrai. 
Mahlsteine  haben  sich  mehr  als  hundert  von  88 — 82  cm  Dorchmesser  ge^ 
fluiden.  Sie  sin^  aus  der  Basaltlava  der  Steinbrttche  von  Niedw-Mendig  bei 
Koblenz  gefertigt.  Auch  der  Yiebstand  war  bedeutend.  Oloeken  aus  Eisen- 
blech, den  Schweizer  Kuhschellen  ganz  Shnüeh,  wurden  wohl  von  dem  im 
Walde  weidenden  Vieh  getragen.  Sichdn  (falz  fiienaria)  und  Heugabeln,  um 
Winterfutter  für  das  Vieh  einzubringen,  waren  in  bester  Ausführung  vorhanden 
(S.  446.  Textfigur  69\  Mit  Pfeil  und  Bogen  und  mit  dem  Jagdspeer  bo 
walfnet  zogen  die  SaalburgbewoLner  aus,  um  Hirsche,  Wildsehweine  und 
anderes  Wild  zu  erlegen.  Auch  hatten  sie,  wie  die  heutigen  Italiener,  eine 
greise  Vorliebe  f&r  gebratene  Uetne  YSgel.  Sie  fingen  sie  mit  w^tmasdiigen 
Netaen'),  die  ihre  Frauen  mit  einer  doppelseitigen  Filetnadel  herstellten  (s.  T«xt- 
fignr  71,  12).  Enodien  von  VSgeln  sind  unter  den  HansabfSllen  im  Kastell 
m  Tage  gekommen.  Die  Frauen  kochten  die  Speisen  in  In^femm  Sesseln . 
oder  in  irdenen  Töpfen  (S.  245),  das  Fleisch  brietoi  sie  auf  eisernen  Brat:  s^fi  n 
nnd  waren  für  Herstellung  der  Kleidung  mit  der  Spindel  und  mit  llRttmadein 
aus  Bronze  und  Eisen  thatig  fS.  45fi  503y 

Ein  re<;elmärsiger  starker  Watren verkelir  ist  bei  einer  Ansif-d'^luiiij  von 
der  Gröl'se  der  Saalburj;  an  sich  lüt  lit  zu  bezweifeln,  er  wird  aber  noch  bestätigt 
durch  das  Auffinden  von  Rädern  mit  gedrehten  .Speichen  aus  Eschenholz,  von 
eisernen  Linsenhaltem  znm  Befestigen  der  Seitenhölzer  des  Wagen:?,  von  Achseu- 
bfiehsen,  Deiehsdringen  und  Ketten.  Jn  Wagenladungen  schaffte  man  Back- 
steine  von  Hdchst,  Thongefftlse  von  Seulberg,  Sandsteine  nnd  Kalk  von  der 
Nidda»  Oetreide  aus  dw  Ebene  bei  Homburg  und  Obereschbach,  Bisenstdn  aus 

*)  Vgl.  Plin.  Nat.  bist.  XXXVI  In  Vnlturno  amne  Jtaliae  harena  alba  nnurrnx  .  .  . 
pUa  molave  tcritur.  Dein  mUcetur  tiibue  partibua  nitri  .  .  .  ac  liqtMtis  in  aiiof  fornaces 
tnmtfimMtm.  Ibi  fit  maam,  quae  voeahtr  hammomünm,  atqiie  kaee  reeoguUmr  tt  fU  «ärmH 
pttrum  ac  maam  vitri  candidi. 

*)  Vgl.  Hör  Kpod  •>,  I.'l:  rnu(ilcs(pie  fahe  ramon  nrffjmtaus  feUrii>rt$  inserit. 

*)  Vgl.  Hör.  £{)od.     äü:  Aut  amite  leti  rara  tendit  retia,  turdü  edacüms  dolos. 


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*iB4t  E>  Scbulse:  Di«  Anlag«  d«R  obenrenii«iii«!h«ii  Lim«»  und  du  RlIai«r1awteU  Soollnirfr. 

der  Lahngegend  ;iiif  div  IIölu'  und  licfuik'  dafür  den  Bewohnern  der  Ebene 
Holzkohlen  und  Wildbret.  Den  regelmälaigeii  Verkelu-  mit  Mainz,  der  Kesidenz 
des  Statthalters  von  Übergernmnien,  vermittelten  die  Kuriere  fveredarii),  die 
ihrem  Geuiu»  auf  der  benachbart<;a  Kapersburg  einen  Denkstein  geweiht  haben 
(vgl.  Hettner  im  Arck  Ans.  1896  S.  195).  Audi  der  Epona,  der  Scha^ottm 

Maultiere  und  Fferd^  ist  ebendort  ein  Relief  mit  InMärift  geweiht  worden.') 

Die  TUitigikeit  von  Ärsten.euf  der  Saalbnrg  iat  durch  Funde  sicher  ge- 
BteUt.*)  Sonden  (epectlla)  dielten  zum  Untersudi«!  von  Wimdm,  Piniefcten 
(TolseUa)  Bum  Herausnehmen  von  SoiochcnspUttem,  kleine  Trieht»  zum  Ein- 
träufeln von  Ol,  eine  Zange  von  vortrefflicher  Konstruktion  zum  Ausziehen 
kranker  Zähne  (s.  Textfigur  71,  6).  Von  Augenärzten  wurden  Salben  zum  Be 
streichen  kranker  Augen  verschrieben  (vgl.  S.  350  Okulistenstempel  des  Le])idus\ 

Auf  die  geistige  Arbeit,  die  in  der  (irenzfestung  geleistet  wurde,  können 
wir  mit  Sicherheit  von  den  bedeutenden  technischen  Anlagen  der  Horner 
schliefsen.  Dem  Bau  von  Wegen,  Schanzen,  Türmen  uui\  anderen  Befestigimgen 
muisten  genaue  militärisch  technische  Untersuchungen  und  Vennesaungen  vor- 
hergehen, und  die  Anlegung  von  Ziegeleien,  SdunebSlBii  und  OlftshQtten  ist 
undrakbar,  wenn  nicht  Torher  an  Ort  Und  Stelle  auafllhrliche  Baupläne  mit 
Berfichaichtignng  des  Geländes  festgest^t  und  geseichnet  wnrd«i. 

Sehr  viel  wurde  auf  der  Saalbnrg  gesdirieben.  Dies  bezeugen  127  bei 
den  Ausgrabungen  zum  Vorschein  gekommene  Griffel,  von  denen  einer  dur4^ 
spiralförmig  eingehämmerten  Ooldbrouzedraht  verziert  ist.  Auch  21  cm  lange 
Schreibtäfelchen  aus  Pinienholz,  die  früher  mit  einer  Wachsschicht  überzogen 
waren,  sind  uns  erhalten  und  Tintenfässer  aus  Wcifsmetall  und  Bronze,  die 
durch  einen  drehbaren  Deckel  nach  der  Benutzung  verschlossen  werden  konnten. 
Über  jedes  Kommando,  jeden  VVachtdieust,  jede  Beurlaubung,  über  Belohnungen 
und  Strafen  wurde  ebenso  Buch  gefuhrt  wie  über  die  Lieferung  von  Getreide 
und  Bekleidungsstücken. Auch  zu  rechnen  gab  es  viel,  nicht  nur  bei  Empfang 
und  Aussahlnng  des  ftbr  den  Sold  bestinunten  Oeldes,  sondern  auch  bei  Auf- 
bewahrung des  Ton  den  Soldaten  cremten  Geldes,  bei  den  Einzahlung^  fltr 
eine  Sterbekasse,  bdm  Absdilu&  von  Lieferungsvertrigen  und  bei  Quittungen 
Aber  emp&ngene  Zdilung.  Deshalb  sah  mui  darani^  unter  den  Rekruten  auch 
gewandte  Rechner  au  gewinnen.*) 

'l  Vgl.  Juven.  Sat.  8,  1^)6  i" :  Turnt  mlam  Epnnnm  et  fnn'e/i  olida  ad  praesepia  pictaf. 
*)  Veget.  11  10:  Aegri  contubemaie9  et  medtci,  a  ^uibus  curabanturt  .  .  .  ad  eiu»,  sc. 
praefeeti  caitronun,  MMfwfriiom  perHmbaiU.  Hygin.  grom.  4:  taithidilutria. 

")  V«get.  II  19:   Totius  leffioni«  rath  the  obsequiorum  «ttw  müUafium  muntrum  sivc 

pfcttninf  rnti'lie  n(hcri'httHr  acfis  inuiorf  jrrojtr  (UJtgi'ittia ,  qtmm  rcf  nnnonarin  i  cl  n'vi'lis 
polyptychia  adnotatur  .  .  .  ^uando  qHta  commeatum  acccpent  vei  quot  dierum,  adtwtatur  in 

*)  Veget.  ib.:  In  qitifnttdam,  sc.  tironibus,  notarum  peritia,  calaiUindi  compntamlique 
fIMM  eligitur;  20:  .Sflccii^.  V»t  quem  tota  legio  particulam  nhqunm  ranfi-n  hat.  sepuUurae  sctlicrt 
tanua  .  .  ,  ideo  »igniftri  eligebantur,  qui  et  servare  deposita  scirent  et  singuits  redäere 
roHonem,  Vgl.  Sueton.  Dowit.  7;  Zangemeittar  int  Lunetblatt  8.  75;  v.  DomuMiraki,  Die 
Rellgioa  im  rOm.  HeerM  8.  16. 


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B.  Sehnbe:  Die  Anlage  dea  obergemaniiekMi  LimM  und  da»  Rdmerkutell  Saalbnig.  285 

Ihre  Ergebenheit  ^egcn  die  Kaiser  hat  die  Besaisaiig  der  Saalburg  wieder- 
holt dnrdi  WeihinBchriftenj  die  sie  dem  Antoninus  Pius,  dem  Mareas  Anrelius, 
Sei»timiui  Severus  imd  Caracalla  widmete,  kimdg^geben.  Die  toh  Korn  aus 
eHassraen  Befehle  worden  aach  im  Tannns  pflnktlich  vollzogen.  Ein  im  Jahre 
1896  auf  der  Kapenbnrg  gefundener  Inschriftstein  bezeugt,  dafs  der  Name  des 
^Tf  ta,  den  Caracalla  schmälilich  ermordet  und  dann  für  einen  Hochverräter  er- 
klärt hatte,  auf  höheren  Befehl  ausgemeilkelt  worden  ist.*)  Ihrer  DaiikliarkLit 
pepen  dio  GrUter.  haben  einzelne  Offizierp  der  Saalburg  und  die  Kohorte  der 
RättT  iiu'hrfacli  auf  VotivstoiiioTi .  die  dem  .liippiter  Dolichcnus,  dem  Merkur, 
der  Fortuna,  dem  (Jeiiius  ceuturiae,  den  Quellnymphen  geweiht  sind.  Ausdruck 
verlielu  n  Die  Spuren  des  Bekenntnisses  der  christlichen  Religion  bei  der  Be- 
satzung den  Kastells  —  ein  in  Glasscherben  eingeritzter  Fisch  und  die  Inschrift 
eines  kleinen  bememen  Rohrchena  (S.  457  n.  573)  —  snid  niehi  nnbedin^ 
beweiskrikftig. 

Der  Zwaek  dea  vorstellenden  Beriehtea  war  niebi>  eine  Übersieht  Aber  den 
gBiuen  Inlialt  des  Jaeobisehen  Wer^  an  geben.  Kur  die  Hanp^nnkte  konnten 
besprodien  werden,  manche  Abschnitte  aber  —  s.  B.  die  Ober  GefaJainschriften, 
über  Schmucksachen,  Ober  die  Erhaltungsarbeiten,  über  Anlage  und  Einrichtung 
des  Saalburg -Museums  —  moTsten  ganz  übergangen  werden.  Dennoch  wird 
der  Leser  zn  der  l^erzeup^ung  pelanfTt  sein,  dafs  Jacnhi  durch  seine  zielJ 
bewnlste  Durchforschung  des  Saalburg- Gebietes  viele  kulturhistorisch  wichtige 
Thatsachen  ermittelt  und  festgestellt  hat  Seine  Untersuchungen  haben  bei 
der  nicht  zu  verkennenden  engen  Verbindung  römischer  und  germanischer 
Arbeit  auch  die  Einsicht  in  die  Kulturentwickelung  unseres  eigenen  Volkes 
geförderte 

Am  18.  Okiober  1897  hat  Kaiser  Wilhelm  in  Wiesbaden  den  Entsehlub 
aoBgesprodiini,  das  Priiorinm  der  Saalburg  wieder  aububauen  und  darin  das 
Museum  der  Beiclulimesforsohnng  au  erriditen.    Wenn  dieser  Bau  aur  Aua- 

fBhnmg  kommt  und  darin  die  wichtigsten  FVmdatltcke  nebst  grofsen  Karten 
der  Grenaanlage,  Modellen  der  bedeutenderen  Bauten  und  einer  Sammlung 
aller  notigen  Utterarischen  Ililfsinittel  vereinigt  werden,  ao  wird  in  schöner 

rmgpbnng  eine  enge  Yerbinching  liergestelH  sein  zwischen  den  Ergehnissen 
'ler  wissenschaftlichen  Forschung  und  den  grünen  VVallen  de»  hesterhaltiMien 
IjiiJK'skastells,  eine  Verbijuhing,  die  den  Ueist  des  Forschers  anlegen  und  j<'den 
i  reund  des  Altertums  durcii  Erweckuug  lebendigen  Verständnisses  für  die  grofa- 
artige  Anlage  der  Römer  erfreuen  mufs. 

■)  8.  Hettner  im  Archäol  Anzeiger  1896,  8.  IM;  Tgl.  CvMW  tHo  LXXVII  IS:  ntü  t«tt 

[Die  Clichda  zu  dun  fünf  Abbildungen,  diu  ubij^eiu  Auf«at7.e  beigegeben  worden  xind, 
Hrdaakcii  wir  den  firenadlidien  Entgegenkommeit  dw  Herrn  Baurat  Jaeobi  hi  Homburg.] 


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Zmt  ÄSTHETIK  D£S  TBAaiSOUJilN. 
Von  VsiT  Yaleiitih. 

Unter  der  Bezeichnung  ^Ästhetik  des  Tragischen'  hat  Johannes  Yolkelt 
Betraehtimgen  Uber  diesen  widitigevi  Qegeosiand  veidlbntiichl^  die  mit  ToUem 
Rechte  grolse  Beachtung  gefondeii  haben,*)  VoUcelt  versteht  ee  nicht  nur,  seine 
Oedanken  in  Uarer  Entwidtelung  su  geben,  so  dafs  sidi  ihnen  leidit  folgen 
VUUtf  auch  wo  er  schwierige  Pkrobleme  erSrtert:  <r  yersteht  es  axieh,  solche 
Uar  entwickelte  Gedanken  in  eine  meisterhafte  Form  zu  giefsen,  aus  deren 
rednerischer  Kraft  der  volle  Ton  der  Überzeugungssicherheit  erklingt  und  deren 
schöne  Gestaltung  zugleich  das  Gefühl  des  künstlerischen  Eindrucks  erweckt. 
Wf-r  flio  Fretule  gehabt  hat.  Volkelt  selbst  sprechen  '/u  hören  —  und  wir  in 
Frankfurt  haben  diese  Freude  mehrere  Winter  hindurch  in  den  Lohrgangen  des 
Hochstiftes  in  weiten  Kreisen  geniefsen  dürfen  -  wird  beijn  Lesen  überall 
den  Wohllaut  wieder  erklingen  hüreu,  der  aus  den  so  natürlich  flie£senden 
und  doch  so  kunstvoll  gegliederten  Perioden  beim  lebendigen  Vortrag  des  ge- 
schriebenen Wortes  noch  imkMmer  in  das  Qemfit  eindringt,  ab  es  für  den 
Leser  der  Fall  ist^  der  den  Ton&ll  des  Redners  nidit  ans  der  Erinnerung  hin- 
sofügen  kann.  Erhdht  diese  Erinnerung  den  Bindmck,  so  bedarf  ihrer  das 
gewhriebmie  Wort  keinesw^  mit  Notwendigkeit:  es  Iftfiit  auch  Ar  sich  allein 
deutlich  erkennen,  dafs  der  Forscher  auf  Isth^sdiem  Qelnete  selbst  andi  ein 
Srwecker  ästhetischen  Eindruckes  ist. 

Bei  der  Prüfung  des  Inhaltes  des  Werkes  wird  man  zunächst  den  Titel 
wohl  '/u  beachten  haben,  um  der  Untersuchung  gerecht  werden  */u  könrion. 
Volkelt  will  eine  'Ästhetik  des  Tragischen'  geben:  das  Tragische  s(  Ibst  ist  ein 
Vorhandenes.  Gegebenes,  und  bedarf  nicht  erst  einer  Weseiisuiitereuchung.  Es 
soll  vielmehr  der  Ausgangspunkt  von  der  Thatsachu  genommen  werden,  'dafs 
die  vorhandenen  Theorien  des  Tragischen,  so  viel  WertvoDes  und  Tiefes  sie 
auch  enthalten,  sich  mit  der  reichen,  vielgestaltigen  Fülle  dessen,  was  uns  in 
den  Dichtungen  als  trugisch  ergreift,  keineswegs  decken,  ja  meistens  Ton  ans- 
schlielsender,  nnduldsamer  Art  sind.  Das  Tragische  stellt  sieh  in  einer  ver* 
wickelten  Mannigfidtigkeit  von  Artm,  Abstufungen,  Übergangs-  und  Neben- 
formen dar.  Diesem  Ueichtum  ästhetischer  Gestalten  und  Werte  ist  die  Theorie 
dcB  Tragischen  bisher  nicht  gerecht  geworden.'  Volkelt  will  ihr  gerecht 
werden:  er  bestrebt  sich,  den  grolsen  Beiditum  tragischer  Fonnen  festsnsteUen. 


\)  Johannes  Yolkelt,  Ästhetik  des  Tragischen.  Manchen  1«»7,  O.U.  Beck.  XVi,  446  Ü. 


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7-  Valentin:  Zar  Ästhetik  das  Tragischen. 


Er  will  sa  diewm  Ziole  gelungen,  indem  er  *dM  Heaptaagenmerk  auf  die  Qe- 
wimrang  mi^^tidul  bedentangeroller  Selihelaaoher  GMttUefcypen  ridbtei*  Dem« 

gcmafi^  wird  'der  Hauptgeeichtspunkt  die  imturgemärse  Gliederung  der  Anleenmgs* 
weisen  der  ästhetisch  erregten  Seele  zu  bilden  haben.'  Wo  dabei  für  die  Formen 
und  Stufen  des  Tragischen  der  gewöhnliche  Sprachgebrauch  keine  festen  Be- 
zeichnungen hat,  werden  passende  Ausdrücke  erst  zu  suchen  sein.  Volkelt  hat 
jedoch  i]n'  Cber'/X'ugung  gewonnen,  dafs  *8ich  die  Katnr  des  Tnifp sehen  in 
miiiiigebencier  Weise  nur  an  den  Behöpfungen  der  Dichtkunst  studieren  läfst*. 
So  entnimmt  er  in  seinen  Untersuchungen,  nachdem  er  in  den  übrigen  Künsten 
das  Tragische  entweder  als  nicht  vorhanden  oder  doch  nicht  voll  zum  Aus- 
drack  gekngenil  gescUUleit  luA,  *die  ItUle  dee  T^sgiaelien  annelilielelieli  der 
Oidiftonet',  beeehrftnkt  aiek  aber  dabei  nicht  anf  die  UasetaGhen  Dichter,  son- 
dern sieht  mit  weit  aoegreifeiider  Belesenheit  aneh  die  neueren  nnd  die  neneeten 
Diekhmgra,  nnd  zwar  keineew^  nnr  ans  der  dentichen  Litteratnr,  wa  dieeem 
Zwecke  heran.  Er  beschrankt  sich  dabei  aof  Epoe  nnd  Drama:  nur  in  ihnen 
'erfährt  das  Tragische  seine  völlig  angemessene  Verwirklichung'.  Das  im 
Leben  vorkommende  Tragische  gewinnt  Volkelt  für  die  ästhetische  Betrachtung, 
indem  er  erklärt:  'soll  ein  Vorgang  des  Lobens  uns  tragisch  ergreifen,  ««o  muls 
^■r  v'in  uns  in  lebhafter  Anschauung  innerlich  nachgebildet  werden',  und  durch 
diese  innerliche  Nachbildung  wird  der  Eindruck  ästhetisch.  'Steht  die  Per.'^on, 
deren  erschüitenuiei^  ]>os  wir  erh'ben.  unserem  Herzen  nahe,  oder  sind  wir  gar 
selbst  die  tragisch  getroffene  Person,  so  kann  sich  der  Eindruck  des  Tragischen 
in  mts  nicht  rein  entwickeln.  Die  aehmeisvoUan,  betSnbenden  Affokte  be- 
benaehen  nne  dann  detarl>  dab  wir  des  Oradea  von  innerer  Freiheit  nnd  Stille 
entbehren,  der  snm  Entstehen  tragischer  Gefühle  erforderlich  ist.*  Erst  wenn 
der  Yorfiül  nns  leitlidi  entrückt  ist,  oder  *wimn  wir  die  orstannliche  Geistes- 
baft  besitzen,  tms  Aber  die  Stürme  im  persönlichen  Ich  in  den  Äther  des  All- 
gemein-Menschlichen zu  erheben,  beginnt  das  Ereignis  die  weihevollen  Zü^ 
des  Tragischen  in  entschiedener  Weise  anzunehmen'.  Somit  'fällt  auch  da« 
Tragische  der  Wirklichkeit  in  das  äathetiache  Ctebief  —  wenn  diese  Annahmen 
richtig  sind. 

Und   nun    eTiiwi»^kelt   Vülkeit   an    der    Hand    einer  lieihe  maf8gel)enihT 
Gesichtspunkte  vin  itiebe  Fülle  von  Ein/cdgestaltungen  des  Tragischen  in  «arg 
fältiger  Gliederung  A  1 ,  a,  a  u.  ü.  w.  iiuturbalb  der  »iaa&elaen  Kapitel,  indem 
•r  mit  erstannlicher  Virtuosität  allen  einaelnen  Nüancen  nachgeht  nnd  alle 
nicht  nnr  charakterisiert,  sondern  anch  benenn! Es  kommen  dabei  nach 

*)  Z.  B.:  Zweite  Btohimig  des  tothetiaeken  Gewinnes  darch  die  Aofiiahme  der  erhebenden 

Momente  in  das  Tragische:  A.  Erhebende  Momente  in  der  »ubjektiven  Haltung?  des  truglRihr  n 
Menschen.  1.  fSeiriiitKvcrhaltnis  zu  der  nt'f;<nimacht  :ii  Die  trotzifjo  Haltung  im  Untergang, 
b)  Der  Gleicbiuut  iiu  Untergang,  e,  Ergebung  in  das  Schicksal,  aj  Elrgebung  des  V'er- 
bnchm.  ^  Ergebung  des  Schnldkeen.  d)  Jnbelndea  Schreiten  in  den  Unteigang.  S.  Stellung 
des  QemQtefl  zam  Scheiden  ans  dem  Leben,  n)  Pessimistische  Form,  b)  Optimistische 
Form,  c)  Übergangsfälle  (zwischen  a  und  b  f^elegen).  .H  St.plbing  dp«  Üemütes  2ur 
Schuld,    a)  Moralische  lieinigung.    a)  Die  moralisch«  ii«iniguug  ais  Zerriittuug.   bj  Da« 


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I 


288  V  Valentin:  Zur  Ästhetik  des  Tratschen. 

und  nach  die  wichtigattm  Fragen  zur  Behandlung,  die  bei  den  Untersuchungen 
des  Tragischen  eine  grofse  Rolle  spielen,  so  dal's  sich  die  Gliederungen  der 
Formen  des  Tragischen  zugleich  zu  einer  Revue  der  verschiedenen  Anschauungen 
über  das  Tragische  gestalten.  Und  wenn  sich  nun  auch  keine  eigentliche  Dar- 
legung des  Wesens  des  Tragischen  findet,  so  ergeben  sich  unterweges  doch 
gelegentlieh  Hinweise  auf  'wesentliche  Erfordernisse'  des  Tragischen.  Ein  solches 
ist  das  'Öchicksalsmäfsige'.  Oder  'die  Gröl'se  des  leidenden  Menschen  giebt 
dem  tragischen  Eindruck  eine  charakteristische,  ausgezeichnete  Beschaffenheit'. 
Oder  es  ergiebt  sich  aus  einigen  Abschnitten,  'dafs  ein  wertvoll  eigenartiger 
Eindruck  entstehe,  wo  ein  grofser  Mensch  durch  seine  Gröfse  in  leidvolles 
Schicksal  und  Untergang  gerät  und  auf  diese  Weise  uns  den  Weltzusammen 
hang  in  furchtbarem  Lichte  zeigt':  dieser  ästhetischen  Grundgestalt  sind  wir 
berechtigt  den  Namen  des  Tragischen  zu  geben.  Die  Grundvoraussetzung  ist 
dabei  für  das  Tragische  dieselbe,  die  Volkelt  für  die  Kunst  überhaupt  macht: 
'wenn  die  Kunst  überhaupt  das  menschlich  Bedeutungsvolle  zu  ihrem  Inhalt 
hat,  80  gilt  dies  in  ganz  besonders  hohem  Grade  von  den  tragisch  wirkenden 
Kunstwerken  ...  die  Tragödie  soll  uns  mit  dem  Eindruck  entlassen:  wir  sind 
in  dem  Bewufstsein,  was  es  heifse  ein  Mensch  zu  sein,  reicher  geworden.*  Die 
dabei  zur  Wirkung  kommende  Lebens-  und  Weltanschauung  hat  jedoch  mit 
dem  Künstlerischen  als  solchem  nichts  zu  thun  und  darf  ihr  keinen  Schaden 
zufügen:  die  'Gestalt'  des  Tragischen  wird  eine  wesentlich  andere  sein,  je 
nach  dem  Boden,  auf  dem  die  gerade  vorwaltende  Weltanschauung  erwachsen 
ist.  Der  eine  Boden  ist  einer  besonderen  'Gestalt'  des  Tragischen  günstiger 
als  ein  anderer.  Allein  dieser  Gesichtspunkt  hat  auf  die  Gliederung  der  Formen 
des  Tragischen  keinen  Einflufs  und  bleibt  daher  in  der  Darlegung  der  von 
Volkelt  durchgeführten  Sjstematisierung  unberücksichtigt:  das  Material  für 
diese  wird  vielmehr  ohne  Unterschied  von  überall  hergenommen,  wo  es  sich 
findet.  Sollen  für  einen  bestimmten  Fall  Beispiele  gegeben  werden,  so  treten 
Romeo  und  Julia,  Othello,  Max  Piccolomini  und  Thekla,  Sappho  von  Grillparzer, 
Pastor  Rosmer  und  Rebekka,  Johannes  Vockerat,  oder  Klytämnestra  bei 
Aschylos,  Richard  UL,  Macbeth  und  seine  Gattin,  Goneril,  Regai>,  Edmund  aus 
König  Lear,  die  Marwood,  Philipp  II.  bei  Schiller,  der  Herzog  von  Gothland 
und  Don  Juan  bei  Grabbe,  Golo  bei  Hebbel,  Nero  in  Hamerlinga  Ahasver,  der 
Bischof  Nikolai  in  Ibsens  Kronprätendenten  nebeneinander,  und  so  überall  in 
reichster  Mannigfaltigkeit  ohne  Rücksicht  auf  Zeit  und  l'criode  der  Entwicke- 
furchtlose Bejahen  der  Schuld.  4.  Wirkunfj  de»  Unterganj^es  auf  die  Entfaltung  des  Innen- 
lebens, a)  Verkümmerung  des  Innenlebens  durch  den  Untergang,  bi  Erhöhung  des  Innen- 
lebens durch  den  Untergang.  —  U.  Erhebende  Momente  in  dem  objektiven  Ausgang  der 
Sache,  l.  Aussicht  auf  den  zukünftigen  Sieg  der  Sache,  a)  Allzufrühes  Vertreten  der 
Idee.  2.  Sieg  der  Sache  in  der  (»egenwart.  8.  Untergehen  im  Glauben  an  die  Sache 
4.  Hervorhebung  des  Wertes  der  unterliegenden  Sache.  —  C.  Erhebende  Momente  im  Tode 
selbst,  1.  Das  sittlich  Befriedigende  des  Tode«  im  Tragischen  der  Schuld.  2.  Üer  Tod  als 
Läuterung.  3.  Der  Tod  als  Erlöser  vdni  leidvollen  Leben.  4.  Der  Tod  als  gefOhlarnftTsig« 
Bezeugung  des  Siege«.  5.  Erhebender  Ausblick  auf  das  Jenseits.  —  D.  Die  Berechtigung 
der  Uegenmacht  als  erhebendes  Moment. 


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T.  Taleiitin;  Zur  ÄftlMtik  det  TrtgtMhMi. 


289 


lang  filr  jede  der  zahlreichen  Huhriken.  Man  wird  dies  auch  von  dem  Stand- 
punkte des  Verfessers  aus  ganz  gerechtfertigt  finden  —  es  (ragt  sich  nur,  wie 
CS  mit  diesem  Standpunkte  selbst  bestellt  ist. 

Volkelt  luA  sidh  mit  adner  Untersuchung  7M  einem  Linn^  der  Ästhetik 
des  Tngiachen  gemadit:  w  hat  auf  Qrund  *m6gliGhat  bedentnngiToIler  Ssäie- 
tischer  Geffiklsl^pen'  dn  kflnsUiehes  Systm  der  'Gestalten*  des  Tragiaehen 
aufgestellt,  indem  er  allen  Besonderheiten  ihrer  ErscheinungHwetsen  nachspürte 
und  sie  in  Klassen,  Genera  nnd  Speanes  gliederte.  Sobald  die  unterscheidenden 
Merkmale  stimmen,  erfolgt  ilif  Zuweisung  zn  der  besonderen  Einteilungsrubrik. 
E>!  i-^t  keine  Frage,  dafs  hierdurcli  manche  Klarheit  entsteht,  dafs  mancher 
Zusammeuhang  zwischen  subeinhav  Fremdartigem  aufgedeckt  und  ninncher 
dunkle  Punkt  einer  interessanten  BcluucLtuug  unterworfen  wird.  Nur  luufs 
man  sich  festhalten,  dafs  über  das  Wesen  des  Tragisehen  selbst  keine  neue 
KlSrung  gegeben  isi  Das  Werk  hat  also  eine  groTse  Bedeutung  für  die  Sieh- 
tung  nnd  Ordnung  dea  Bestandes  nach  einem  Sjsteme,  deeaen  Klarheit  selbst 
in  eifreulielier  Weise  wirkt,  das  jedoch  seine  Berechtigung  sehlieJalidi  dooh 
nur  in  der  subjektiTen  Auffassungsweise  seines  Urhebers  hat:  das  Werk  ist 
aber  kein  Fortschritt  auf  dem  Ctobiete  der  Frage  nach  dem  Wesen  des 
Tragischen  selbst  Man  kann  nnn  jene  Bedeutung  in  ungeschmälerter  Weise 
anerkennen  und  docli  der  l'berzeugung  .sein,  dal's  die  Lösung  der  zweiten  Auf- 
gabe von  noch  gröl'serer  und  wichtigerer  Bedeutung  sein  müfste,  Wie  (ioethu 
nach  der  Lrpflanze  forschte  und  über  die  Unterschiede  der  Klassen  und  Arten 
hinaas  nach  dem  Ursprung  suchte,  der  den  Zusammenhang  des  scheinbar  Ver* 
flchiedenen  herstellen  könnte,  wie  er  die  Bedingungen  aufweisen  woUte^  die  mit 
Notwendigkeit  die  besondere  einiehie  Gestaltung  als  Umgsataltung  des  Ursprflng- 
Udien  &falieh  machen  könnte,  so  wiU  es  scheinen,  dalh  auch  das  Uiphftnomen 
des  Tragischen  erforscht  werden  mula,  das  sidl  je  nach  den  besonderen  Be- 
dingungen von  Zeiten  und  Anschauungen  zn  den  einzelnen  Erscheinungen  um- 
gestalten konnte,  wie  sie  sich  ge.sehiehtlich  darstellen.  Es  ist  siclierlicli  sehr 
belehrend,  z.  B.  die  beiden  ')if'rf  rbtigten'  Formen  des  Tragischen,  des  Tragischen 
der  abbiegenden  und  de»  Tragischen  der  erschöpfenden  Art,  dargestellt  -/u  sehen 
und  zu  verfolgen,  wie  das  Tragische  abbiegender  Art  die  doppelte  Gestalt  des 
Tragischen  mit  versöhnendem  Ausgang  und  des  Tragischen  mit  ungewisson 
Ausgang  darbietet^  wie  das  letstere  in  der  Mitte  steht  swischen  dem  Tragischen 
mit  TersShnendem  Ausgang  und  dem  Tragischen  mit  Terderblichem  Ausgange 
wie  der  tragisdie  Untergang  sodann  drei  Formen  annehmen  kann,  so  dafii  nur 
leibliehsr  Untergang  oder  nur  innere  Vemichtong  eintritt  oder  endlich  &uCwrer 
Tod  und  innere  Vernichtung  zusammen,  u.  s.  w.  Aber  wenn  die  Frage,  warum 
jede  dieser  Formen  aus  dem  Wesen  des  Tragischen  lierans  'berechtigt'  ist,  un- 
beantwortet bleibt,  wenn  nicht  weiter  geforscht  wird,  wo  donn  das  Gemein- 
schaftliche steckt,  das  uns  berechtigt,  alle  diese  Formen  als  tragische  anzu- 
erkennen, und  worin  denn  nun  der  Kern  des  Tragischen,  das  Urtragisehe, 
besteht,  so  ist  von  dem  reichen  Grebiete  doch  nur  ein  Teil  und  zwar  der  äulsere 
behandelt.   Auch  daftlr  wollen  wir  dankbar  sein,  zumal,  wenn  es  mit  solchem 

X«M  JifeibaBbM;  im.  L  10 


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290 


V.  Valentin:  Zur  laUMlIk  d«B  Tkagiidien. 


Wohlbedacht  durchgeführt  ist^  wie  es  bei  Volkelt  der  Fall  ist:  aber  dieser 
Dank  darf  uns  nicht  verleiten,  hier  schon  die  letzte  Losung  gegeben  zu  finden - 
er  darf  vob  nielit  abbaten  va  erU&ren,  dafs  das  Wichtigete  hier  noch  nidit 
gegeben  ist 

Aber  dies  bitte  TieUeieht  an  einer  *apelcu]atiTen*  Astiietik  geführt?  Und 
Volkelt  lehnt  eine  wkhe  von  Timiberein  ab  und  etdlt  sidli  auf  den  Standpunkt 
der  peychologiaehen  Methode.  Es  kann  ihm  in  diesem  Gmndeatse  niemand 
warmer  zustimmen,  als  ich  es  thue.  Aber  man  darf  doch  dabei  nicht  überseheiii 
daTs  sich  das  Psychologische  keineswegs  Tom  Physiologischen  wird  trennen 
lassen,  dafs  vielmehr  ein  Übergang  ron  dem  einen  znm  anderen  gesucht  werden 
mufs  und  si<'berlich  auch  j>:efTindeii  werden  kann,  ich  selbst  habe  einen  dahin 
gehenden  \  ersuch  gemacht,  auf  den  ich  hier  hinweisen  mui's,  da  er  von  Volkelt 
in  seltsamer  Weise  mifsverstanden  worden  ist.  Der  rätselhafteste  i'in  kt  in  dem 
Wesen  des  Tragischen,  sobald  es  auf  den  Menschen  zu  wirken  anfäugi,  ist  die 
mit  dem  OefDhle  des  Tragischen  verbundene  Freude  am  Snhmen.  So  lange 
dieses  Phinomen  nicht  erkfibrt  ist,  wird  sich  auch  das  Wesen  des  Tragisebm 
nicht  verstehen  bmen  —  fol^  aber  daraus,  dalüs  beide  Fragen  identisch  sind? 
Ist  ee  wirklich  so  sdiwer,  sn  untersdheiden,  dalis  die  ErUSrung  der  Freude  ss 
einer  Schmerzerregung  nicht  dasselbe  ist  mit  der  Erklärung  des  Tragischen 
selbst?  Es  möchte  fast  so  scheinen,  da  mm  schon  der  zweite  Philosoph  an 
der  Festhaltuiig  dieses  Unterschiedes  scheitert.  Und  doch  liegt  die  Sache  so 
einfach.  Volkelt  läfst  mich  infolge  dieses  MiXaverstäudnisses  auf  S.  392  seines 
Buches  äageu,  ich  hätte  die  aul'serüsthetische  Wirkung  des  Tragischen,  'die 
Ruhe,  das  Gleichgewicht,  die  Schmerzlosigkeit',  die  sich  nach  den  Auf- 
regungen und  Schmerzen  'in  manchen  Fällen'  einstellt,  'zur  Hauptsache  des 
tragisdien  Eindmdcs  genlaeht^  Zum  Beweise  dafiOr  stiert  ar,  mit  den  ein- 
leitenden  Worten  *Es  ktmune  im  Tiagiflchen  auf  das  Erleben  ron  aehmen- 
liehm  Empfindungen  an'  die  durdi  Hinzusetsung  von  AnfBhrungBaeichen  mir 
zugesdiriebenen  Worte:  *die  kttnstlich  und  absichtlicfa  wregt  werden,  um  dann 
wieder  durch  ihre  Entfernung  in  uns  eine  willkomniene  Empfindung  zu  er- 
regen'. Ich  kann  zwar  nicht  finden,  wo  an  der  von  Volkelt  zitierten  Stelle 
oder  sonstwo  bei  mir  diese  Worte  so  stehen.  Indessen  sind  sie  dem  Sinne 
nach  meiner  Ansicht  entsprechend,  «jobald  sie  in  dem  richtigen  Zusammen- 
hange erfafst  werden.  Allein  dio^ien  Zusannnenhang  zerstört  Volkelt:  die  ein- 
leitenden Wort^  'Es  komme  im  rrniri sehen  auf  das  Erleben  von  schmerzlosen 
Empfindungen  an'  fügt  er  willivürlicli  hmzu  und  setzt  ein  Urteil,  das  in  dein 
richtigen  Zusammenhange  von  den  körperlichen  Schmerzen  gilt,  in  eine  Er- 
klärung des  Tragischen  nm,  wie  ich  sie  nie  gegeben,  vielmehr  ausdrOcUieh  be- 
stritten habe.  Yolkelt  aitiert  meine  AbhamUnng  *Das  Tragische  und  die 
Tragödie'  (H .  Kochs  Zeitschr.  für  Tcrgl.  Littentnrgeech.  X.  F.  V  395  ff.)  und 
sagt  auf  Grund  dieses  Zitates:  *£s  scheint  sonach  diese  Theorie  darauf  hinane- 
zulanfen,  dafs  das  Tr^eehe  sein  Ziel  in  dem  wohlthuenden  Gefiihle  finde,  von 
den  tragisilien  Schmerzen  und  damit  von  dem  Tragischen  selbst  loszukommsn.' 
Man  wird  doch  annehmen  müssen,  dals  Volkelt  die  zitierte  Abhandlung  wcn^- 


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V.  Vmlfltttiii:  Zur  Äi(het9c  dm  Tnmtiidi«ii. 


S91 


stens  an  der  zitierten  Stelle  gelesen  hahe:  ich  kann  mich  aber  nicht  des  Ein- 
drucks erwehren,  dafs  pr  sich  viel  mehr  als  durch  eigenes  Lesen  durch  den  Ein 
flufs  einer  karikierenden  Darstellung  eines  anderen  Philosophen  hat  leiten 
lassen,  dem  er,  zutreffenden  Falles,  allerdings  zu  viel  Vertrauen  gtstihenkt  hätte: 
die  Richtigkeit  der  Ansichten,  die  jemand  vorträgt,  steht  nicht  immer  im 
geraden  VerliSltiufl  m  dem  Aplomb  idiieB  Vortrages.  Ln  yerlaii&  meiner 
Entviekelimg  sage  ieh  Tielmehr  S.  370  jener  Abhandlnng:  Ich  ^nbe  dnrdi 
meine  Theorie  in  der  That  dargeihan  m  Haben,  dais,  insoweit  im  Tragischen 
die  Freude  au  Leiden,  die  Frende  am  Scbmerse  mitwirkt,  der  Grand 
fibr  diese  Freude  ar^  psychologischem  Boden  gesucht  werden  muTs.  Der  Pnnkt, 
wo  er  mit  dem  ästhetischen  Elemente  sich  verbindet,  ist  scharf  bezeidmetw  Ich 
bin  aber  nicht  so  einseitig,  zu  glauben,  dafs  mit  der  Erklärung  eines 
Elementes  <1^"j  Trap^ischen  dieses^  selbst  «eine  Erklärung  gefunden 
hätte.  Bei  der  Freude  ain  Tragischen  konunt  noch  eine  Fülle  anderer  Elemente 
hinzu,  die  aus  dem  Wesen  und  der  Eigenart  des  Kunstwerkes  überhaupt  ent- 
springen, sowie  aua  dem  Wesen  und  der  Eigenart  der  besonderen  Gattung 
von  Kunstwerk,  die  der  Künstler  in  seinem  besonderen  Falle  als  Trager  des 
l^sgisehen  angewendet  hat*.  Und  trotnlem  behauptet  Volkelt,  idi  hatte  die 
infiMTSsthetisohe  Wirkui^  des  Tragischen  *nr  Hauptsache  am  tragisehoi  Ein- 
dniflk*  gemacht!  Volkelt  hat  aber  jedaifiüls  —  denn  er  hätte  sonst  so  nicht 
urtsikn  kSnnen  —  die  Abhandlnng  nicht  beachtet,  auf  die  in  der  Zeitschrifts- 
Bbhandhmg  Tcrwiesen  ist,  weil  dort  die  Entwickelung  des  physiologischen  Ein* 
dnickes  bis  zum  psychologischen  Stufe  fQr  Stufe  nachgewiesen  ist  Er  hätte 
dort  gesehen,  dafs  ich  den  Kern  des  Tragischen  in  etwas  ganz  anderem  finde, 
Dort'  i  hp)T«t  es:  'Die  Empfindung  aber,  welche  in  uns  durch  ein  vorgestelltes 
seelisches  Leiden  erweckt  wird,  tlas  hei  an  nnd  für  sich  berechtigtem  Handeln 
durch  ein  anderes  an  und  für  sich  gleichfalls  berechtigtes  Handeln  entsteht,  ist 
die  tragische'.  Wo  ist  hier  von  einer  aulserästhetischen  W  irkung  des  kürper- 
Uchen  Schmerzes  anch  nor  mit  einer  Silbe  die  Bede?  Man  darf  aber 
Tsrlangen,  data  bei  der  Wiedergabe  einer  *Theorie'  der  physiologische  Aus- 
gangspiinkt,  die  psychologische  FortfOhrung  und  dßt  Ssthetische  Endpunkt 
fiehtig  untersdiieden  bleiben.  Hier  kommt  es  indessm  aanftchst  nur  darauf 
an,  festzustellen,  dafs  der  von  Volkelt  ausschliefslich  betonte  ps3-chologisehe 
Standpunkt  ein^  Erganzimg  bedarf,  weil  sich  das  physiologische  Element  Ton 
ihm  nicht  trenneti  lüfst,  vielmehr  zu  seiner  Erklärung  sehr  notwendig  ist. 

Volkelt  wendet  sich  nun  in  seinem  Kampfe  für  die  psychologische  Methode 
gegen  das  Abstrahieren  von  autoritativen  Beispielen.  'Da  wird  «ihiie  weiteres 
angenommen,  dals  an  yj-wissen  als  «klassisch»  anerkannt4>n  Traginiicn  —  etwa 
an  denen  von  Aschylos,  Suphukles,  Shakespeare,  Lessing,  Goethe,  Schiller  — 
die  Musterbilder  des  Tragischen  vorliegen,  und  dafs  es  darauf  ankomme,  von 
diesen  Mustern  das  Tragische  durch  Abstraktion  su  gewinnen.'   Aber  nach 

^)  8.  ItO  der  Abbaadlmg:  'Di«  Tragik  in  Weikea  belleniteber  Plastik*  in  dem  BucIm 
tber  Kimrt^  KfinsUer  nnd  Kunttwerke*,  Frankftui  a.  M.  18S9,  Litteramehe  Anstalt. 

19* 


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29S 


V.  Valentiii!  Zur  JUOieHk  det  TMgiidiMi. 


Volkelt  giebt  es  keine  Bürgsjchaft  dafQr,  dafs  tlurch  die  Tragödien  der  aua- 
gewühlten Meister  der  Eindruck,  der  den  Namen  des  Tragischen  verdiene,  her- 
vorgebradit  werde*.  Es  iet  niui  ucherlidi  nieht  riclitig,  sich  auf  einwiue  als 
'UaBsisch'  anerkannte  Meiator  und  ihre  Werke  xn  beecb^ken,  wenn  man  daa 
Tragiaehe  erkennen  will  —  berechtigt  dies  aber  an  einem  ZweiÜBl  daran,  dafii 
dort  fiberhaupt  dae  TragtBche  /ami  Ausdruck  irokommen  sei?  Man  kann  den 
aus  ihren  Werken  gewonnoiR  ii  Eindruck  sehr  wohl  als  'tragiach'  gelten  laaien 
und  braucht  sich  doch  nicht  gegen  die  Worko  niodrmer  Dichter  7u  ver 
schliefsen.  Natürlich  <1nrfen  auch  sie  nicht  als  ausschlicrslichc  Autoritätt;n 
gelten,  und  Volkelt  nimmt  auch  seine  B^'ifpiplf  aus  beiden  Fundgruben.  Das 
Wesen  des  Tragischen  freilich  ist  weder  tinseitiir  aus  den  Autoritäten  noch  aus 
den  Nichtautoritäteu  zu  erschlielsen:  der  Ausgaitg.^punkt  wird  vielmehr,  wie 
ich  ea  in  der  Abhandlung  *Daa  Tragiaehe  und  die  TragOdie'  gezeigt  habe,  die 
Wirklichkeit  aelbat  aein  mflaaen.  Volkelt  weUk  Belbatreiai&ndlich  aehr  gn^ 
daia  die  Wirklichkeit  mit  ^gik  wfiUlt  iat:  er  benntat  aie  aber  nich^  da  daa 
Wesen  dea  Tiagiaeben  zu  ergründen  aufserhalb  seines  Weges  liegt.  Nur  weil 
er  daa  Torkommen  dea  Tragischen  in  allen  'Gestalten*  feststellen  will,  lehnt 
er  sich  £ce<?f*n  die  einseitige  und  beschränkende  Autorität  der  klassischen  Dich 
tuTi'r  auf  und  gewinnt  sieb  damit  in  sehr  verflifistlicher  W^iso  für  'meinen 
spezieilen  Zweck  ein  reielie.s  Gebiet.  Er  weist  aln-r  div  Wirklu  likeit  von  einem 
ganz  besonderen  Gesichtspunkt  aus  zurück.  Für  Volkelt  gehört  die  Wirklich- 
keit aelbat  achon  in  daa  aathetiache  Gebiet,  sobald  aie  'in  lebhafter  Anachaumig 
innerlich  nachgebildet  wird'.  Ea  mUchte  freilich  dann  kaum  irgend  etwaa 
geben,  waa  nicht  ina  iathetiache  Oebiet  gehörte.  Denn  waa  Yoikdt  hierbei 
noch  Dir  Unterschiede  mach^  aind  nur  Verschiedenheiten  dea  Giadea,  nicht  des 
Wesens:  es  handelt  sidi  nur  darum,  ob  die  Anschauung,  die  innerlich  nach- 
gebildet wird,  eine  lebhafte  oder  eine  flüchtige  sei  —  in  dem  leteteren  Fklle 
soll  sie  nieht  ästhetischer  Natur  sein  Für  das  Wesen  des  Tnifrisphen  ist  es 
aber  zunächst  f.;anz  gleichgiltig.  ob  wir  den  einzelnen  Fall  unter  den  Gesichts- 
punkt »ies  Ästhetischen  stellen:  damit  kommt  in  das»  Tratrische  ein  Element,  das 
iiüu  durchaus  nicht  wesentlich  ist  und  von  dessen  Voi  ImndenHein  oder  Fehlen 
das  Tragiadie  in  aeinem  Beatande  keineawega  abhängt.  Aber  Volkelt  will  ja 
gar  nidlit  daa  Weeen  dea  Tragischen  ergrOnden,  aondera  den  Reichtum  dsr 
aathetiachen  Formen  dea  Tragiachen  darstellen;  so  kann  daa  Tragiaehe 
Wirklichkeit  fttr  ihn  erst  wirksam  werden,  wenn  ea  ftathetiach  geworden  iat  — 
geschieht  es  nicht  durch  die  künstlerische  Verarbeitung,  so  nnifs  es  weuigatens 
durch  die  lebendige  innere  Anschauung  ästhetisch  geworden  sein! 

Volkelt  leugnet  nun  keineswegs,  dafs  in  den  übrigen  Künsten  das  Tragische 
wenigsten?  dem  Ans.itze  nach  in  mehr  oder  weniger  entwickelter  Weise  vor- 
kmuiui  11  kann:  aber  nur  'in  der  Dichtung  kann  sich  das  Tiagisciie  in  seiner 
vollen  Entwickeluug  durch  alle  seine  Vorbereitungen  und  seine  JStuleu  bin- 
dnrch  darlegen  ,  woan  noch  der  Vorteil  der  Dichtung  durdi  die  Beatimmiheii 
der  Tüllen  IndividnalitSt  und  den  Reichtum  des  Voratellungs-  und  Gedanketi- 
gehaltes  hinzukommt  Das  Entacheidende  iat  jedoch  der  erate  Pnnkl^  die  volle 


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V.  Valontin:  Zur  ÄHthetik  des  Tragischen. 


293 


Entwickelung  in  dem  Verlaufe  der  IlaiKllung.  Denn  nach  Volkelt  int  'das 
Tragische  stets  ein  Entwickelungsvorgang'.  Diese  Annahme  hält  jedoch  vor 
den  Thatsachen  nicht  Stich.  'Das  Tragische  setzt  keineswegs  eine  Handlung 
voraus:  es  bezeichnet  vielmehr  zunächst  die  Eigentümlichkeit  einer  Lage,  einer 
Situation'  (vgl.  *die  Tragik  und  die  Tragödie'  S.  337),  das  Tragische  kann 
daher  ebensogut  in  der  Bildkunst  wie  in  der  Dichtkunst  vorkommen  und 
kommt  auch  thatsächlich  vor:  Nachweis  und  Beispiele  sind  a.  a.  0.  ausführlich 
gegeben.  Es  folgt  aber  daraus,  dafs  Mas  Wesen  des  Tragischen  nicht  in  dem 
unglücklichen  Verlauf  einer  Handlung,  nicht  in  dem  unglücklichen  Ausgamg,  in 
dem  Untergang  der  bestimmten  Persönlichkeiten  liege,  an  welchen  das  Tragische 
zur  Erscheinung  kommt':  Volkelt  erkennt  diese  Thatsache  und  schildert  sie 
als  das  'Tragische  der  abbiegenden  Art'.  Soll  der  Ausgang  gleichfalls  tragisch 
werden,  'so  ist  das  ein  Neues,  was  ursächlich  sehr  wohl  mit  Notwendigkeit 
erfolgen  kann,  nicht  aber  aus  dem  Umstände,  dafs  die  Lage  vorher  bereits 
tragisch  war':  ein  solcher  Gesichtspunkt  liegt  der  Untersuchung  Volkelts  fern, 
da  er  ja  auf  ein  ganz  anderes  Ziel  ausgeht  als  auf  die  Erkennung  des  Wesens 
des  Tragischen. 

Diese  Erkennung  kann  und  mufs  aber  nicht  auf  dem  Wege  der  von 
Volkelt  mit  Recht  verworfenen,  einseitig  von  einigen  Musterbeispielen  ab- 
strahierenden Methode  erfolgen:  sie  kann  und  muis  auf  Grund  der  psycho- 
logischen Methode  gewonnen  werden.  Das  Ergebnis  einer  auf  solchem  Wege 
erlangten  Erkenntnis  ist  für  mich  der  Satz,  der  schon  oben  angeführt  ist.  Es 
ergiebt  sich  aber  ferner  daraus,  dafs  das  Tragische  nicht  ein  Einfaches,  son- 
dern ein  Zusammengesetztes  ist.  'Es  wird  entstehen,  wenn  ein  Zusammen- 
strömen und  Zusammenwirken  mehrerer  Motive  auf  einen  Punkt  in  der  Art 
eintritt,  dafs  erstens  diese  Motive  untereinander  widersprechender,  in  ihrer 
Durchführung  einander  ausschliefsender  Natur  sind,  und  dafs  zweitens  jedes 
dieser  Motive  für  sich  betrachtet  eine  absolute  oder  doch  wenigstens  relative 
Daseinsberechtigung  hat'  (a.  a.  0.  S,  345).  Auf  Gnmd  dieser  Erkenntnis  wird 
man  über  den  irreführenden  Begriff  der  tragischen  Schuld  kommen  und  an 
deren  Stelle  die  tragische  Unschuld  zu  setzen  haben:  nur  wo  eine  solche,  ab- 
solut oder  relativ,  vorhanden  ist,  nur  da  kann  überhaupt  von  Tragischem  die 
Rede  sein.  Was  freilich,  absolut  oder  relativ,  als  berechtigt  zu  gelten  hat, 
hangt  von  der  jedesmaligen  Weltanschauung  ab,  auf  deren  Boden  eine  be- 
stimmte einzelne  tragische  Lage  entsteht.  Erscheint  sie  in  einem  Kunstwerke, 
«0  wird  sie  auch  hier  ihre  richtige  Beurteilung  nur  aus  den  Voniussetzungon 
heraus  finden  können,  auf  denen  dies  einzelne  Kunstwerk  sich  aufbaut.  Der 
gemeinsame  Kern  jedoch,  der  in  allen  diesen  Einzelerscheinungen  wiederkehrt 
und  der  die  unbedingt  notwendige  Voraussetzung  der  Thatsache  des  Tragischen 
überall  ist,  zeigt  sich  in  der  in  irgendwelcher,  von  uns  auf  Grund  der  voraus- 
gesetzten Weltanschauung  für  diesen  Fall  zugestandenen,  relativen  oder  ab- 
soluten Berechtigung  zu  dem  Auftreten  und  Handeln  der  Persiinlichkeit,  deren 
Schicksal  uns  tragisch  berühren  soll.  Durch  die  tragische  Unschuld  allein 
kann  sie  uns  sympathisch  werden:  dies  Moment  der  Sympathie  ergiebt  sich 


294 


Y.  VAleutw:  Znr  JUthetik  des  Tragiadien. 


mit  Notwendigkeit  aus  den  VerhaltiusBeii  selbat  und  ist  daher  eine  nicht  m 
nn^hende  VoraiMwtiung.  Dab  dagegen  iigendwdehe  menaciiliehe  GrSlke 
▼orUegen  mtÜBte,  ist  nidit  der  Fall  YoUwlt  kommt  an  dieeer  Behauptong 
nidit  ans  der  Natur  dea  Tragiadben  her,  aond^  er  nimmt  dieae  Fordemng 
aus  seiner  Definition  der  Aufgabe  der  Kunst  überhaupt.  Diese  soll  'das  mensch- 
lich Bedeutungsvolle  zum  Inhalte  haben*,  die  Tragödie  speziell  aber  'soll  uns 
mit  [dem  Eindruck  entlaaaen:  wir  sind  in  dem  BewuTstsein,  \vas  es  heifse  ein 
Mensch  zu  sein,  reifer  geworden'.  Ob  dieser  lehrhafte  Zweck  nicht  schon  an 
sich  dem  Wesen  der  Kunnt  widerspricht,  soweit  sie  ästhetischer  Natur  ist,  und 
daher  nur  für  manche  Zeiten  giltig  bleil)t,  mag  hier  unberücksichtigt  bleiben 
—  wenn  nur  der  Ausdruck  selbst  bestimmter,  die  bezeichnete  Sache  greifbarer 
wärel  Das  meuöchüch  Bedeutungsvolle  —  für  wen?  Für  den  Handelnden 
oder  ftlr  den  die  Handlung  Naeherlebenden?  Bin  aoldier  ZweiftI  daxf  iidi 
bei  einer  solchen  grundlegendai  Foiderang  nicht  erheben  —  Ansgai^P'  und 
Zielpunkt  dea  mensehlieh  BedetttongaToUen  mfibten  Idar  gestellt  sein,  somal 
wenn  ee  eich  um  ein  Prinaip  handelt,  von  dem  allee  abhangt  Gegenatend  der 
Kunst  ist  aufserordentlich  häufig  Nichtmenschlichea  —  also  wird  man  das 
dargestellte  Objekt  als  an  sich  'menschlich*  bedeutungsvoll  nicht  annehmen 
können.  Gegenstand  der  Darstellung  von  Menschen  ist  aufserordentlich  oft 
etwas,  von  dem  sich  als  Wesenseigcnachaft  das  'menschlich  Bedeutungsvolle' 
nicht  wird  behaupten  lassen:  also  wird  auch  der  das  Dargestellte  in  sich  Nach- 
erlebende nichts  im  !  schlich  Bedeutungsvolles  darin  finden  können.  Fafst  man 
das  menschlich  Bedeutungävulle  als  das,  waa  'bezeichnend  für  menschliches 
Leben  und  Streben'  ist,  so  muüs  unsagbar  viel  aus  der  Kunst  gestrichen  werden, 
was  fttr  yiele  schon  ist,  ihn«i  Freude  macht  und  hohen  asthetisefaen  Genub 
gewahri  Ein  toter  Haee  von  Weenix  oder  sein  wnnderroller  toter  weüter 
Pfon  in  Wim  ist  nicht  menschlich  bedentnngs?o]l,  weder  ala  Geg^tand  aelbsl^ 
da  er  fiberhaupt  anlberhalb  dea  Menschliehen  st^t,  nodi  ist  er  flr  maoadir 
liehes  Leben  und  Streben  beaeiehnend  — ^  man  mfilate  denn  die  'dabei  zur  Ter* 
Wendung  gelangte  künstlerische  Auffassungsweise  und  Kunatfertii^t  gelten 
lassen  wollen,  wovon  jedoch  ])ei  Volkelt  nichts  zu  finden  ist  und  was  anch 
kaum  seiner  Ansicht  entsprechen  mochte.  Aber  selbst  in  dem  »Titren  Sinne,  in 
dem  das  ineuöchlich  Bede\itmigsvolle  gelten  könnte  als  das,  waa  für  den  Menschen 
wertvoll  ist,  ist  der  Ausdruck  noch  viel  zu  allgemein;  es  giebt  nichts,  was  für 
den  Menschen  als  solchen  schlechthin  in  der  Weise  von  Bedeutung  wäre,  dafs  es 
für  jeden  Mexackufa  gelten  mtUste.  Welche  Unterschiede  schon  in  dem,  was 
fOr  Hann  und  Frau,  was  Ar  das  Kind  und  den  Erwachsenen,  ftr  den  Qebildelsn 
und  den  Ungebildeten  bedeutungsvott  ist  —  gans  dw  Unterschiede  an  ge- 
sohweigen,  die  durch  den  Wechsel  Ton  Zeiten  und  YSXksra  hinsukommen!  So 
muüs  der  Anadruck  entweder  in  seinem  Geltungsbereich  so  einschrumpfen,  dab 
▼on  einer  Allgemeingillagkeit  der  Vorschrift  keine  Rede  mehr  sein  kann,  oder 
aber,  wenn  er  allgemeingiltig  bleiben  soll,  in  seinem  Inhalte  sich  so  ver- 
flüchtigen, dafs  er  alles  nmfafpt,  was  für  irgend  einen  Menschen  in  irgend 
einer  Weise  bedeutangsvoll  ist:  dies  würde  freilich  der  Ansicht  Volkelts  am 


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V.  Valentin:  Zur  Ästhetik  des  Tragiftchen. 


205 


allerwenigsten  entsprechen.  Es  hängt  nämlich  diese  Definition  mit  einer 
anderen  grundlegenden  Ansicht  Volkelts  über  die  Aufgabe  der  Ästhetik  zu- 
sammen: sie  soll  normativen  Charakter  haben  —  also  muTs  es  auch  eine  all- 
gemeingiltige  Norm  geben. 

Volkelt  will  durchaus  nicht,  dafs  die  Ästhetik  in  Psychologie  aufgehen 
solle,  so  sehr  er  auch  für  die  Anwendung  der  psychologischen  Methode  ein- 
tritt: 'die  Ästhetik  unterscheidet  sich  von  aller  Psychologie  durch  den  mafs- 
gebenden  Gesichtspunkt  der  Norm.    Die  ästhetischen  Gefühle  werden  nicht 
blofs  beschrieben,  zergliedert,  eingeteilt,  in  ihren  gesetzmäfsigen  Beziehungen 
untersucht,  sondern  zugleich  nach  Wertmafsstäben  beurteilt.'    Es  ist  durchaus 
logisch:  soll  eine  Norm  aufgestellt  werden,  so  bedarf  es  eines  objektiven  Mafs- 
stabes.    Ob  es  aber  möglich  ist,  als  solchen  den  Begriff  des  Wertes  zu  ver- 
wenden, ist  mehr  als  fraglich.    Ob  irgend  etwas  Wert  hat,  hängt  nicht  von 
dem  Gegenstand  an  sich  ab,  sondeni  ganz  ausschliel'slich  von  dem  Bedürfnisse, 
das  der  einzelne  nach  dem  Gegenstände  hat:  der  Begriff  des  Wertes  ist  ein 
durchaus  subjektiver  und  wechselt  daher  beständig  mit  dem  Wechsel  des  Sub- 
jektes.   Begiebt  sich  der  Einzelne  seines  Urteiles  und  schliefst  sich  dem  Urteil 
eines  für  ihn  mafsgebenden  Subjektes  an,  thun  viele  Einzelne  das  Gleiche,  so 
entsteht  wohl  ein   verhältnismäfsig  allgemein   giltiges  Urteil,  das   auf  den 
gleichen  Gegenstand  Wert  legt:  es  ist  aber  kein  objektives,  sondern  doch  nur 
ein  auf  gleichartige  Bedürfnisse  gegi  ündetes  oder  zur  Mode  erweitertes  subjek- 
tives Urteil.    Wenn  zu  Zeiten  Raff'ael  geringer  als  Correggio  geschätzt  und 
Hobbema  kaum  beachtet  wurde,  so  waren  solche  Beatimmungen  des  Wertes 
wahrlich'  keine,  die  einen  objektiven  Wert  festlegten,  so  wenig  wie  die  es  sind, 
die  jetzt  den  Wert  der  Werke  dieser  Künstler  aufs  höchste  schätzen  lassen. 
Kann  man  aber  den  Begriff  des  Wertes  nicht  als  einen  objektiv  giltigen  er- 
weisen, so  wird  es  auch  mit  der  Feststellung  von  Normen  bedenklich  stehen: 
die  Wertbestimraungen  vermögen  nur  relative  Giltigkcit  zu  behaupten.    Es  ist 
dies  kein  Nachteil  für  die  ästhetischen  Urteile:  sie  erhalten  vielmehr  die  Mög- 
lichkeit, ihre  wahre  Aufgabe  zu  erfüllen,  nämlich  das  Verhältnis  eines  be- 
8timmt«n   Objektes  zu  einem   bestimmten    Subjekte   unter  den   Begriff  des 
Gefallens  zu  stellen  und  die  Gründe  dafür  aus  diesen  beiden  Elementen  nach- 
zuweisen.  Auch  eine  solche  Ästhetik  wird  Normen  aufstellen  können:  aber  sie 
werden  sich  auf  klar  bestimmte  Voraussetzungen  gründen  und  nur  für  klar 
bestimmte  Verhältnisse  Giltigkeit  haben.     Sie  wird  z.  B.  die  Norm  für  das 
Tragische  in  der  Feststellung  des  besonderen  Verhältnisses  finden,  wie  es  durch 
das  Entgegentreten  zweier  an  und  für  sich  berechtigter  Willcnsäufserungen,  sei 
es  in  einem  einzigen,  sei  es  in  mehreren  Subjekten,  entsteht.    Inwieweit  der 
einzelne  Fall  eine  tiefergehende  Wirkung  hat,  inwieweit  er  im  stände  ist,  seinen 
Geltungsbereich  über  die  in  Betracht  kommenden  Subjekte  auszudehnen  und 
Aber  die  wechselnden  Anschauungen  der  Menschen  je  nach  Zeit  und  Raum  zu 
behaupten,  wird  davon  abhängen,  ob  die  Voraussetzungen,  auf  denen  die  An- 
erkennung der  Berechtigxing  einer  Willensäufserung  beruht,  noch  anerkannt 
werden  oder  durch  Einleben  in  sie  noch  anerkannt  werden  können,  trotzdem 


296 


V.  Vftleotiu:  Zur  ÄBlhetik  des  Traf^chen. 


dt»  Fremdartige  tum  klaren  BewnlatBein  gehngi  Audbi  wenn  wir  nicht  mehr 

an  die  Einwirkung  der  Behandlung  des  Leichnames  auf  den  Zustand  seiner 
Seele  glauben,  so  fällt  es  uns  auf  Grund  der  pietatroUen  Fürsorge,  die  auch 
wir  dem  Leichnam  eines  Angehörigen  zukommen  lassen,  doch  nicht  schwer,  in 
tlie  Steigerung  der  Pietät  zur  Erfülhnig  otnos  göttlirheii  (iebotes  uns  ein 
zufühlen,  uiul  wir  halten  das  Auftreten  der  Autigone,  soweit  es  sich  um  die 
Erfüllung  des  göttlichen  Gebotes  handelt,  durchaus  für  berechtigt.  Wir  sind 
von  der  Notwendigkeit  des  Staates  vollständig  überzeugt  und  auch  davon,  dab 
die  EinielintereflSMt  hinter  dem  allgemeinen  Interesse  aorflcklrelett  mtlssen:  wir 
halten  fOr  dttrehans  berechtigt,  dab  Kreon  den  Neffen  nicht  anders  behandeb 
will  als  jeden  anderen  Bürger  auch,  der  g^en  die  Vaterstadt  gekämpft  h&tte. 
Wenn  nun  die  Leidenschaft  jedM  der  beiden  in  dem  Bestreben,  seine  berechtigte 
AafEsssung  durchzuführen,  zu  rücksichtslosem  und  dadurch  jeden  Vergleich, 
wie  er  sachlich  sehr  wohl  möglich  wäre,  ausschbefsendem  Vorgehen  führt,  so 
entsteht  die  tragi^clie  Luge,  die  uns  nur  deshalb  so  tief  ergreift.,  weil  wir  die 
Berechtigung  des  Auftreteus  jedes  der  beiden  (jegner  einsehen  und  daher  mit 
ihm  fühlen  köiuitii.  An  und  für  sich  ist  in  dieatr  Lage  die  Notwendigkeit 
des  tragischen  Ausgangs  nicht  cuthalten:  der  schroffste  Gegensatz  konnte  nach 
griechischer  Anschanung  doreh  das  DaBwischentreten  der  Qottheit  seihet  aof- 
gehoben  werden,  wie  es  bei  PhÜoktet  und  seinen  Gegnern  der  EVdl  war.  Dab 
ein  anderer  Weg  eingeschlagen  wird,  ist  Sache  des  Diehttts:  hier  Terwendet 
er  zur  TTerbeifOhrung  der  Lösung  des  Gegensaties  nur  Menschen  und  ist  da- 
durch in  der  Lage,  die  Mafalosigkeit  des  Zornes -Kreons  alle  Schranken  durch- 
brechen zu  lassen,  »o  dafs  die  Gottheit  nur  noch  strafend  einwirken  kann. 
Weil  die  Strafe  aber  so  ist,  dafs  der  berechtigte  Kern  in  Kreons  Auftreten 
vollständig  unberücksichtigt  bleibt,  weil  sie  also  in  einem  Mil'sverhültuis  zu 
seinem  Handeln  steht,  bleibt  ihm  bei  uns  immer  noch  Sympathie  gesichert: 
ohne  diese  könnte  seine  mit  immer  tieferem  Leid  si<^  erfiUlende  Lage  nicht 
tragisch  wiikra.  So  gründet  sieh  die  tragische  Wirkung  nidit  anf  die  Be- 
strafung seiner  Schuld,  sondern  auf  das  Gefühl,  dab  der  vernichtende  Zorn  der 
Gottheit  tlber  seine  relattve  Berechttgang  rficksichtsloe  forlsefareitei  Auch 
AntigoiK^  labt  ihrem  Zorne  die  Zflgcl  schiefsen  und  geht  weit  über  das  rechte 
Mafs  hinaus.  Noch  ehe  Kreon  ihr  ein  hartes  Wort  gesagt  hat,  bricht  ihre 
persönliche  Abneigung  gegen  ihn  in  schmähenden  Worten  hervor,  die  das  harte 
Auftreten  Kreons  wenn  auch  nicht  rechtfertigen,  «lo  doch  erklärlich  erscheinen 
lassen.  Und  ebenso  leidenschaftlicji  zielit  «ie  die  Konse(juenz  aus  der  tragischen 
Lage,  iu  die  sie  sich  gebracht  hat.  Aber  unsere  Sympathie  ist  ihr  trotz  alle- 
dem sicher.  Nicht  ihre  Schuld  und  nicht  die  Strafe  für  ihre  Schuld  macht 
ihr  Los  tragisch,  sondern  ihre  relative  Berechtigung,  ihre  rdative  Unschuld, 
der  gegenfliber  das  Schicksal,  das  Aber  sie  hereinbridit,  als  unverhiltnismalsig 
furchtbar  erscheint.  So  können  wir  mit  ihrem  Leiden  mitleiden,  und  da  dieaes 
Mitleiden  nicht  aussehliefslich  auf  Bannherzigkeit,  sondern  auf  Anerkennung 
ihrer  relativen  Berechtigung  beniht,  so  wirkt  ihr  Geschick  auf  uns  tragisch. 
Noch  tiefer  greift  dieses  QefOhl,  wenn  nicht  eine  relative,  sondern  eine  absolute 


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y.  T«l«Btüi:  Zur  JUtlietik  des  TcagiMfan. 


297 


Unschuld  vorhanden  ist.  Wenn  anf  Grund  einer  ganz  anderen  Weltanschauung, 
nach  der  das  Gr)ttlifhe  nicht  mehr  aktiv  und  unmittelbar  in  das  (leschick  der 
Menschen  einpjeift,  sondern  diese  ihren  menschlichen  Leidenschaften,  Neigungen 
und  Abneigungen  überlä&t,  wie  sie  sich  ergeben,  sobald  schrankenloses  Aus- 
leben des  WUlens  daa  Chndiick  der  Menschen  gestaltet,  Oordelia  dem  Vater 
die  erwartete  Lttge  Terrngt  und  die  unerwartete  Wahrheit  entgegenbringt,  so 
ist  hier  die  ahsolnte  ünschnld  vorhanden,  die  ToUe  Berechtigung  ihres  HandelnB, 
das  uns  mit  Tollster  Sympatiiie  erfttllt.  ünd  wenn  sie  mm  der  TQcke  snin 
Opfer  fallt,  nachdem  sie  ihre  echte  Liebe  zum  Vater  statt  durch  trügerische 
Worte  durch  opferwillige  That  bewährt  hat,  so  wirkt  das  Trai^if^c  he  nvit  der 
f^r^chüttemdsten  Wucht:  je  pröfser  die  Berechtigung  ihres  Auftretens  ist,  je 
greller  der  Widerspruch  der  Unschuld  und  des  Unterganges  ist,  um  so  ge- 
waltiger erscheint  das  Tragische  in  seiner  furchtbaren  Gröfse. 

Solche  Beispiele  sind  bequem  darzulegen,  weil  sie  durcli  die  Kunst  zur 
ästhetischen  Auffassung  hergerichtet  sind:  alles,  was  in  der  beziehungsreichen 
Welt  stSrend  und  unsere  Aulbssung  beeinträchtigend  eingrdfen  konnte,  hat 
des  Kfinstlers  sorgsame  Hand  beseit^:  er  hat  uns  einen  Xiebmskreis  geschaff(Mt, 
desien  Bedehungen  leidit  flbearsdihar  sind,  Ehrend  alies,  waa  anfserhalb  der 
von  ihm  ala  mitwirkend  und  giltig  anerlmnnten  Beaddrangm  nodh  eingreifen 
könnte,  von  Tomherein  ausgeschlossen  bleibt.   Gerade  durch  diesen  Prozefs  ist 
der  erste  Schritt  zur  asthetisdien  Beurteilung  und  zur  Anr^nng  einer  astheti 
5(lien  Betrachtung  des  Falles  gegeben.    In  dem  Tragischen  selbst  liegt  jedoch 
die  Verbindung  mit  dem  Ästhetischen,  die  Notwendigkeit,  ästhetisch  zu  wirken, 
in  keiner  Weise  enthalten.    Es  hat  vielmehr  einer  lange  dauernden  Kunst 
entwickelung  bedurft,  bis  das  Tragische  in  seiner  reinen  Gestalt  in  die  Kunst 
zum  Zwecke  des  Gefallens,  also  zur  Herbeiführung  einer  ästhetischen  Wirkung, 
aufgenommen  wurde.    Aus  dieser  Thatsache  entwickeln  sich  drei  Fragen,  die 
nicht  miteinander  TSimengt  werden  dlliien:  1.  Was  ist  das  Tragische  an  sich, 
das  reale  Tragische,  das  Tragische  der  Wirklichkeit?   2.  Wie  ist  es  möglich, 
dab  das  Tragische  nur  Gewinnung  eines  Ssthetischen  Eindrucks  verwendet 
werden  kann,  mit  der  ünterfrage:  woraus  erkl&rt  sich  die  isthetische  Freude  an 
der  Erregung  eines  Schmerzgefühles V     3.  Welche  Gestaltungen    nimmt  das 
Indische,  sobald  es  zur  ästhetischen  Verwendung  gelangt  ist,  auf  den  Ter- 
schiedenen   Gebieten   an,  in  denen  die  Kunstthütigkeit  des  Menschen  sich 
aafsert?    Dt  r  Reiintwortung  der  dritten  Frage  ist  Volkelts  Buch  gewidmet, 
jedoch  uut  dir  Beschränkung  auf  das  Tragische  in  der  Dichtkunst:  er  hat  sie 
mit  der   iluu   eigentümlichen   Schärfe   der  Beobachturtg   durch  Teilung  und 
GUederung  nach  einem  bestimmten  Systeme  gelöst:  hierin  liegt  der  bedeutende 
Wert  seines  Buches,  ohne  dafs  damit  zugestanden  wäre  oder  auch  nur  an- 
gestanden zu  werden  brauchte,  dafs  die  hier  gegebene  Ljteung  die  einaig  mög^ 
liehe  und  darum  absolut  gütige  sei.  Die  iweite  Frage  kommt  filr  Volkelt  nur 
soweit  in  Betracht,  als  sie  cur  Begründung  der  subjektiven  Wirkung  des  bereits 
ästhetisch  gestalteten  Tnigiachen  dient:  sie  ist  jedoch  einer  Lösung  an  sich  be- 
dfkrft^,  und  diese  muis,  wenigstens  nach  meiner  Auffassung,  ihren  Ausgangs- 


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298 


V.  Valeuttii!  Zur  ItUietik  d«8  rrasuehen. 


puukt  in  der  physiologischen  Beschaffenheit  des  Menschen  suchen.  Die  erste 
Frage  liegt  der  von  Volkelt  gegebenen  'Ästhetik  des  Tragischen'  als  besonderer 
üntenachungsgegeiistMid  gans  fem,  weil  ihre  Losung  auJberludb  des  ABihetiachen 
geraeht  werden  mufe.  Audi  aie  fanui  oliiie  Zuhilfenalmie  dee  physiologiflclMBi 
und  des  psydiologisehen  Unterbaues  der  dahingehenden  Untersuchungen  nieht 
gelöst  werden. 

Ganz  getrennt  von  diesem  Streben  nach  Erkenntnis  des  Wesens  des 
Tragischen  liegt  nun  aber  die  Anerkennung  der  Thatsache  des  Tragischen  in 
der  Welt,  und  diese  Thatsache  drängt  den  spekulativen  Kopf  zu  der  Auf- 
werfting  der  weiteren  Frage:  Was  bedeutet  das  reale  Verhältnis,  dna  wir 
Menschen  als  tragisch  bezeichnen,  in  dem  WcHeii  des  Weltganzen?  Das  Tragische 
muls  auch  als  'metaphysische  Kategorie'  betraclitet  werden.  Zu  ihrer  Erklärung 
Verden  diejenigen  metaphysischen  Zutsammenhäuge  aufzuzeigen  sein,  die  etwas 
der  ästhetischen  Grundgestaltung  des  Tragischen  Entsprechendes^  etwas  ihr 
Ähnliches  an  sieh  tragen.  Diese  Zusammenhinge  werden  als  Ihagik  in  dem 
prinupifiUen- Aufbau  der  Well^  in  der  inneren  Beschaffenheit  und  Entwiekelung 
alles  Seins  als  die  Tragik  des  ewigen  Wesens  der  Dinge,  ab  die  Tragik  des 
Weltgrundes  beasiehnet  werden  dibftn'.  Volkelt  thnt  diesen  Schritt,  und  er 
hat  recht  ihn  zu  thun  —  freilich  haftet  ihm  auch  hier  der  sein  Buch  be- 
herrschende Gesichtspunkt  des  Ästhetischen  noch  an,  der  bei  dieser  Betrach- 
tung doch  wohl  richtiger  ganz  beiseite  gelassen  werden  müfste.  Es  sollte 
indessen  damit  wohl  nur  eine  Berechti'^inig  für  die  hier  zum  Schlufs  auf- 
geworfene Frage  in  dem  Zusammenhang  mit  dem  herrschenden  Charakter  des 
Buche«  gewonnen  werden.  Thatsächlich  weifs  V  olkelt  sehr  gut  und  spricht  es 
in  der  Vorrede  ganz  ausdrücklich  aus,  'dafs  die  Theorie  des  Tragischen  von 
den  Darlegungen  des  letzten,  der  Metaphysik  des  Tragischen  gewidmeten  Ab* 
Schnittes  ^hudich  getrennt  und  unabhängig  ist'.  Wenn  wir  uns  nun  auch 
nicht  gani  des  Gedankens  nwehren  kQiHien,  ob  nicht  das,  was  wir  tragisch 
wauen,  nur  dn  Iirgebnis  unswer  irdisch  menschlichen  BcAraehtnngsweise  is^ 
imhrend  von  emci'  hSheren  Intdligeni  das  fttr  uns  Unlösbare  seine  Losung 
fände,  so  dafs  vielleicht  von  einer  metaphysischen  l^tegorie  überhaupt  keine 
Bede  sein  konnte,  so  folgen  wir  dem  Verfasser  dodk  gerne  *au  kurzem  Hinab- 
steigen in  die  Tiefe  der  Metaphysik'  und  fronen  uns  nicht  nur  über  diesen 
Sehritt,  sondern  auch  über  den  Führer.  Festen  Blickes  geht  er  auf  spiti  Ziel 
los,  die  bei  aller  Einheit  dennoch  zwiespältige  Natur  des  letzten  Weltgrundes' 
darzulegen.  Ihr  entspricht  die  auch  der  endlichen  Welt  als  solcher  inne- 
wohnende Tragik,  und  so  bildet  'die  widerspruchsvolle  Verknüpfung  des  End- 
lichen und  des  Unendlichen  den  tragisch -metaphysischen  Kern  menschlidien 
Wesens*.  Damit  kommt  Volkelt  wieder  an  der  'Schwelle  der  Ästhetik  des 
TVagischen'  an,  so  dafs  Gedanke  wie  Darstellung  gleich  harmonisch  und  einn> 
ToIl  sich  in  sich  abrunden  —  der  Ver&sser  ist  eben  selbst  von  kflnstlerisek 
gestsltender  Kraft  erfOllt,  die  auch  auf  seine  wissenschaftUohen  Schöpfungen 
ihren  wohlthuenden  Einfiufs  ausübt. 

Begiebt  sich  jemand  auf  ästheÜBchem  Gebiete  in  die  Beurteilung  ton 


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y.  Yalentiii:  Zur  Ästhetik  dm  Traflfiiehai. 


299 


£iiizelfrageD ,  so  erhebt  er  mit  jeder  Darlegung  seiner  Auffassung  ziigleich  ein 
neues  Problem,  das  je  nach  dem  besonderen  Standpunkt  der  weiteren  Beurteiler 
verschiedene  Lösungsverauche  hervorruft.  So  geht  es  auch  bei  Volkelt:  es  ist 
daher  nicht  zu  yerwundern,  wenn  in  der  Beurteilung  von  Einzelnem  Widttr- 
tpraih.  «ntatdit  Von  aolcben  Panklen  ad  hier  »bgeedieB,  imd  war  um  to 
mdur,  ab,  womuf  Volkelt  schon  aelhst  hinweist,  infolge  abweichendrar  Anf- 
bamiig  das  eine  oder  das  andere  Beispiel  in  Wegfidl  kommen  kann,  da  jeder 
iridit%sre  Ponkt  seiner  Darlegung  dnreh  lablreidie  andere  Beispide  noch  ge- 
stützt ist  Zugleich  aber  wirken  sie,  auch  wo  sich  berechtigter  und  begründeter 
Widerspruch  erheben  mufs,  anregend  und  eben  dadurch  auch  wieder  fordernd 
ein.  Hier  kommt  es  darauf  an,  den  Charakter  des  Buches  zu  beurteilen  und 
den  Standpunkt  des  Verfassers  klar  zu  legen:  auch  wo  der  Beurteiler  nicht 
instimmen  kann,  wird  er  gerne  und  laut  Ijetonen,  dafs  er  vor  einer  in  hohem 
Grade  achtunggebietenden  Arbeit  steht.  Die  wahre  Schätzung  des  Buches  wird 
sich  in  eben  dem  MaTse  steigern,  iu  dcni  man  sich  daä  Gebiet  klar  macht,  das 
der  Ver&sser  bearbeitet  hat.  Eine  Lösung  des  Problemes  des  Tragischen  ttber> 
btnpt  wollte  Volkelt  nicht  geben,  nnd  sollte  das  Buch  so  aufgefabt  werden, 
w  mflJste  im  Interesse  des  Ver&ssers  dagegen  Einspmdi  erhoben  werden.  De»- 
Inlb  ging  nnsere  Benrteilong  von  der  seharfen  Betimung  des  TMels  ans,  die 
die  Absicht  des  Ver&ssers  klar  ausspricht:  nicht  ein  Weck  Über  das  Tragische 
liegt  hier  vor,  sondern  ein  System  der  Formen,  die  das  Tragisihe  in  der  Kunst 
und  zwar  speziell  in  der  Dichtkunst  gefunden  hat,  und  dies  bezeichnet  Volkelt 
als  'Ästhetik  des  Tragischen'. 


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ANZEIGEN  UND  lüTTEILUNGEN. 


ZUM  HAUl'ALISCHEN  PROZESS 

Über  den  Haq)ali8chcn  Prozefs  ist  bis  auf 
den  heutigen  Tag,  soweit  os  sich  um  die 
Schuld  de«  Deniosthcnes  handelt ,  ein  tiefes 
Dunkel  ausgebreitet. '}  Um  eiiiigennafsen 
Klarlu  it  in  diese  Saehd  m  bringen,  sind  in 
folgendem  einige  Fragen  a«fg<MieUt  und  su 
beantworten  gesucht. 

1.  Hat  D«mfw1lieiiC8  wirUieh  SO  Talente 
an"  dptii  Ilarpalischen  Gelde  an  firh  p«'- 
nommen?  Die  Antwort  auf  diese  Frage 
kann  nicht  kweifSDlhaft  «ein;  die  Ansteige 
des  Areci]ia^'*'  vind  das  Ziigf.<f iiiuliii.s  des- 
Demosthenes  selbst,  diese  Summo  zu  eiueu 
Voneltiini  an  die  TheorikenkaeM  verwendet 
/u  haben*),  beweisen  zur  Qenflge,  dals  die* 
io  der  Tbat  geschehen  ist. 

8.  Wann  ist  dieses  Geld  in  die  H&nde 
dei  DemoHllit  ncs  gekommen'/  Au»  Pausanias 
n  38,  4  f  wcifs  man,  dafs  der  ?.u  Rhodos 
aufgcgrittene  und  von  Philoxenos  ins  Verhör 
tji'iiomnicne  KaBscnfOhrer  des  Harpalos  unter 
den  von  diesem  Bestoch^Mien  doii  Di  mostheneK 
nicht  nauate.  Also  buttf  der  Redner,  so- 
lange noeh  das  Iii  Id  dem  Harpalos  sur  Vcr^ 
fÖpuTip  stand,  keinen  Anteil  daran,  und  f\-^t 
als  es  auf  der  AkropoUs  lag,  kann  er  somit 
die  angegebene  Snume  entnommen  haben. 
Nun  flbemahm  Dernns^thrnes  zur  Feier  der 
114.  Olympiade  (im  Metagcitnion,  d.  i.  August- 
September  8S4)  im  Anftrage  des  Rates  die 

Liturgie    eiiu's    An  liitliecii  en  '  ;    dieset,  Amt 

aber  hätte  er  nicht  üboraehmeo  können^ 
wenn  er  damals  sdion  im  Verdachte  der 

Bestechung  gestanden.  Da  also  offenbar 
erst  nach  seiner  KQckkehr  aus  Olympia 

')  Pber  die  Kntstebiinp  und  drn  Vorlauf 
dieses  Prozesses  h.  A.  Schäfer,  Demosthent^.s 
und  seine  Zeit  III  304  ff. 

*)  Hyperid.  in  Dem.  fr.  104  und  105 
eol.  A;  Dtnareh.  in  Dem.  g  6:  rrpoxlijtffff  nal 

avyuKfavriai  ttuqü  »JijuofrOMoes-  ^xovfftj», 
inftdr}  oinos  &noni<f^ttvtai  ti'nuai  rülavta 
f;|rn)r  Youoiov  U.  Ö. 

»}  Hyiierid.  in  Dem.  fr,  102  coI.  B  C:  &art 
th  ftiv  Tigmtov  &tTO  Stiv  6tioloyBtt'  ftXjifpivtei 

•)  A.  Sch&fer  a.  a.  0.  in  814  f.;  Dinurch 

a.   a.  O    §  Sl»;     fyfififj  Tois'  (fvyä^ca; 


da«  Gerücht  aufgetaucht  ist,  dafs  auch  er 
20  Talente  de«  Harpalischen  Oeldes  eihalten 
oder  sieh  w iderrechlllch  angeeignet,  liejjf 
der  ächlui'B  nahe,  dala  er  das  Geld  bei  seiner 
Abreise  decthin  an  sich  gwicromen  habe 

3  Wann  ist  Harpalos  zum  zweiten  Male 
nach  Athen  gekommen,  und  wann  ist  er  cot- 
flobenf  Der  Umstand,  dafs  Harpalos  tob 
Philokles  aufgenommen  wurde '),  der  Ol.  11.3,4 
Htrat«ge  und  Hafenkommandant  war'j,  be- 
weist, dafs  er  (  Harpalos)  noch  vor  Ablauf  d«r 
Amt-'jteriode  diMes,  also  vor  Beginn  de« 
attischen  Jahres  am  1.  Hekatombäon  33  t 
(d.  i.  Mitte  Juli),  somit  auf  jeden  Fall  vor 
der  Feier  der  Olympien  dorthin  glommen 
sein  mufg.  Entflohen  aber  kann  er  erst  nach 
der  Rückkehr  des  Demosthenes  sein,  denn 
wenn  er  vor  der  Abreise  dieses  entkonunea 
wÄre,  so  hSttp  man.  da  man  ja  don  Redner 
beschuldigte,  sein  Entkommen  verunlaTst  tu 
haben*),  diesen  sicherlich  ebensowenig  nua 
Architbeoren  ernennrn  kWi!i:"'i  v,-ie  wenn  er 
zur  Zeit  schon  der  Bestechlichkeit  angeklagt 
worden  wAre.  Harpalos  kann  aber  audi 
iiii'ht  wrihrend  der  Aliwe-^enhcit  de<  Demo- 
stheacfl  entwichen  sein,  denn  sonst  wäre  eine 
Beschuldigung  de«  ^»dnera  in  dieser  Be- 
adrang  überhaupt  unmöglich. 

4.  Zu  welchem  Zweck  h^  Demosthenes 
dieses  Geld  an  sich  genommen?  Keineirwegi 
um  sich  zu  bereichern;  dafür  ist  seine  Un- 
eigeanfitaigkeit  zu  sehr  bekannt.  *)  Überdies 

')  Dinarcb  in  Phil  §  1 
■  *i  A.  Schäfer  a.  a.  U.  III  .WS  u.  Anm. 

»)  Hyperid.  a.  a.  0.  fr.  Iü2  col.  Y\:  eh  i'  h 
xn  ^pif^MfiOTf  xov  «rnfunin  a^od  ri]v  ^via- 
«V  ««raeenfeaff  mtI  oSf*  laleniDfi^rijv  i»' 

>(jd<äv  ofcs  wmäM^^mus  ve^  irffisee 

*)  Um  nur  einige  Beispiele  VOtt  »eber 
Uneigennatcigkeit  anauföhxen,  so  Ubemahia 
Dem.  im  Jahre  967  eine  freiwillige  Trieiawhie 

(Dem  de  cor.  ^'.lO' :  bei  seiner  zweiten  Gesandt^ 
Schaft  Uli  rhiii]ip  wies  er  das  ihm  von  diesem 
angeliotene  ifi  Hchenk  sttxfick  und  verwandte 
auf  dieser  Reise  ein  ganze«  Talent  <4500  M.) 
aus  eigenen  Mitteln  zum  Loskauf  athenischer 
< letaiiu'eneii  V.w  <lem  Hilfsgeschwader.  das 
dit^  Athener  nach  üysanx  sandten  i340  . 
schenkt«  Dem.  eine  Trier«;  nadi  der  Schlacht 
liei  Chäronea  gab  er,  a!"?  man  in  Athen  frei 
willige  Gaben  dem  Vaterlaude  darlintiht«', 
wieder  ein  Talent.  Zum  Vorsteher  des  .Muuer- 
baues  von  seiner  Phyie  erwfthlt,  fügte  er  dem 


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AmdgMi  lud  Ifitteilttiigeii. 


301 


fehlt  ea  ihm  an  6eld,  die  verhältniBniärsig 
geringe  Straftnmme  von  M  Talenten  zu  be- 
rahlfn,  tlHcr  die  er  Lei  -fincr  ikiicrkiiimtini 
Xücbteraheit  hätte  verfügen  mii««en.  wenn 
■eine  Offner  mit  der  BehBnptang  Recht 
hätten,  dafs  er  seine  ivolitischp  Thritigkeit 
tur  Geld  verkauft  habe,  'ji  Wenn  Demostheuea 
Mtti,  er  ImIm  die  M  Tnlente  cn  einen  Vor- 
■ehnfs  an  die  Thr>nnk«>nkaEiRe  benutzt,  oo  ist 
auch  dies  sweifellos  nicht  der  Wahrheit  ent* 
ipreehend,  denn  man  begreift  nidit  recht, 
vrir-  er  in  difsfui  Fallf  hritff  vr-rurffilt  wor- 
den kSiineQ.  Oli'enbar  hat  auch  der  Redner 
BBch  den  Worten  der  BTperideeitelle  fil» 

V(/üTOV  ätro  .  .  .  »('ini'  ursprfinj^liclie  Hf- 
baaptojQg  Ober  die  Verwendung  der  lielder 
Hiebt  enfrecht  eibnlten.  Nun  aber  tOat 
Hyperidee  in  Dem  fr.  102  rn]  C  fort:  x«! 
%tifue»v  Kvocifop  %al  oi  &iloi  (film  aitov 
Afrov,  Sn  drayiufeovet  «J^  äp9pmro9  vi 
alrtoifuvot  ff«  t('>  r(o  fn>or  ftf/x^rr.  a  o)'  ßov- 
Inat  Mcl  tinttv  äri  %<jt  dijiif»  HQoiti&vntnui, 
«II  fif^fun«  »h  #m{ki]0iv.  Denuiach,  so 
cdiliofst  .\  R.  liiif.-r  TTI.12:i  .\i\m  1  mit  Recht, 
handelte  es  sich  um  ein  Staatsgeheimnis. 

5.  Worin  beetand  dieeea  Stai^egeheinun«, 
und  wufi^tc  (lor  Areopag  daruur? 

Um  den  aweiten  Teil  der  Frage  zuerst 
BQ  beaatworten ,  so  glaube  ich  wohl,  dalb 
der  Areopag  die  Kenntnis  dieses  Geheiro- 
niflsee  mit  Demoitlienea  teilte.  l>enn  wie 
bitte  er  emist  (Iberbanpt  wiaeen  kOnnen, 
dab  der  Bedner  20  Talente  genoinnien? 
Üodaiiik  aefaeint  sein  ZOgera*),  womit  er  die 
laiflte  der  Schuldigen  heranagiebt,  nicht,  wie 
DinaKh*)  meint,  ana  der  Foreht'vor  der 

überwiesenen  Gelde  aus  eigenen  Mitteln  noch 
100  Minen  (7500  M.i,  als  Vorsteher  des  Ge- 
tretdewesens  ein  Talent  xa.  Dafs  er  auch 
flonat  im  Privatleben  wohlthfttig  war,  be- 
weisen seine  in  der  Kraasrede  f  868  offen 
au9ge«procheueu  Worte. 

Hyperid.  a.  a.  0.  fr.  102  cd.  B  und 
110  ooL  B:  xa)  Äirmoe^iv^  Kol  AiuuiÖtjP  d»' 
«hAp  r&p  iv      ■!i6Xh  '^q>tßaatta9  ««i  srpo- 

^ft'töiv  oiuui   rrifitü   ;j  *|»'xoirf;  x  äXuvr  u 

pinjitui;!  VOM  dem  Pcrs^irköiiis^  im  J.  .33."» 
300  Talente  an  Agitationszwecken  gegen 
Alexander)  wcrl  tAv  wsep*  *AXt^v9pov.  Vgl. 

femer  fr.  10**  rol  .\  n  n  ,  sowio  fMnarrh  in 
Dem.  ^  2H:    u(cö-6)To,-    auto»,    «ü  A^riifaiot, 

*;  Hrperid.  fr.  104:  raCr'  o«x  inAvtie, 
iW  into  To9  d^fHrv  «roUdw;  4ipay*u(6iit90t. 

'i  Dinarch  a  a  0  S  .':  ■xooorK'bou  i]  (iovli], 

lijHP  Kfiti  nifÜTTHv  ivvafup.  Wie  sollte  aber 
der  Areopag  noch  den  Demosthenes  fifirchten, 
wo  a^eii  aeinen  ArlOierett  Qegaera  noch 


Macht  der  Angeschuldigten  hervorgegangen 
in  sein,  vielmehr  bin  ich  geneigt  zu  glauben, 
dafs  die  .\reopagiten,  um  das  Staat-igeheim- 
nis  wissend,  den  Demofthenes  möglichst 
lange  an  «cbünen  suchte».  Warum,  eo  kann 
man  fraj^on,  Ijut  ilt'r  .^rcopap  sinnt»  .\nzfipr 
nicht  durch  Zeugnisse  und  Kewei»e  irgend 
welcher  Art  belegt?  (HTeobar  mochte  er 
da<!  ^taat^'^rflif^inmis  nicht  prfi-^rphr'n  und 
liel's  lieber,  als  er,  von  dem  Volke  gedrängt  'i, 
nicht  Iftager  aandeta  konnte,  den  Redner 
fallen.*  Am  Ii  liin  i«  Ii  vfr«nrht  zu  glauben, 
daTs  die  verhaUnism&rsig  geringe  Strafe  von 
60  Talenten,  wo  doch  nach  Dinardi  f  60  anf 
i'iiii  iii  V*  r;;fli(  II,  wie  og  Deraostbenos  schuld 
gegeben  wird,  entweder  der  Tod  oder  der 
sehnfiwbe  Betrag  veft  II  ^6z4?  li^fifiaretf  al« 
strufc  -«(aixl.  auf  den  EinfluA  dea  Areopag 
zurückzuführen  ist. 

Schwieriger  iat  die  Frage  nach  dem  Weeen 
dieses  Staatsgeheimnisfäf*  .\iif  jeden  Fall 
war  es  derart,  dafs  der  Areopag  nicht  da- 
von apredien  mochte,  nnd  dafe  Demoiitjienea 
selbst  nac}]  srinor  ZurncklMTiifiuig  >>u  h  lieber 
schuldig  bekennen,  als  davon  reden  wollte. 
Nnn  ist  es  nicht  unmöglich,  dafs  Demo- 
sthenes,  wie  oben  gesagt,  bei  seiner  Rtie»' 
nach  Olympia  die  SO  Talente  ans  dem  Uar- 
paliecben  Oelde  an  aidi  genommen  hat. 
Ferner  lilfst  eine  Stelle  bei  Dinarch  in 
Demoath.  §  Hl  r  tTtt)  .Vixufopt  9tä  vj)g 
9tmfueg  ivTvx^i^'  ffiori-no,  daranf  aehliersen, 
dafs  Deroosthenes  öfter  vor  seiner  Reise  den 
Wunsch  geUufsert  hat,  die  f Jclfi/inhcit  zu 
bekommen,  mit  (dem  ausStagiru»  gebürtigen) 
Kikanor  xu  reden,  ''i  Aufaerdem  iat  es  auf- 
flUlig,  dafs  I>emoBthenea  vor  seiner  Reise 


seine  bisherigen  Parteigenoasea  ihm  feind- 
lich gesinnt  waren  y 
')  Hyperid.  fr.  lOi. 

*y  DemosthiTn:-.^  scheint  dirü  iiiiht  er- 
wartet zu  hübeu.  Sein  Antrujn'.  daf-«  der 
Areopag  über  ihn  Untersuchungen  anst-  llen 
solle,  and  seine  Erklärung,  den  Tod  erleiden 
zu  wollen,  wenn  er  von  diesem  schuldig  be- 
funden würde  (Dinnrrh  in  l>cTn  ij  1  «40 
u.  ö.;,  beweist  deutlich  eutwtdcr,  daU  tr 
sich  vülUtilndig  unschuldig  fühlte  —  was 
aber  nach  dem  bisher  Gesagten  nicht  wahr- 
scheinlich ist  —  oder  sieher  darauf  rechnen 
zu   könni'ii  erlaubte ,   <lar«  di'r  .^rrajiaßr  aus 

fcwis»en  Gründen  ihu  mtljt  ueiiutii  würde. 
)ie«er  aber  mag  bei  der  herrschenden  Stim- 
mung im  Volke  und  bei  der  Unmöglichkeit, 
den  verbleib  dee  Geldes  anderweitig  an  er^ 
klären,  nicht  hüben  anders  handfh»  künnen 
'i  Daf«  sich  I>omostbenes  um  die  Liturgie 
eines  .Xrchitbeorcn  eifrig  beworben  hat,  be- 
weisen die  Worte  l^inarchs  in  Dem.  %  üi; 


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30» 


AueigeD  und  If  itteiliuigaii. 


gegen,  nach  derwiben  fflr  die  CHMtiieh- 

Bprecliung  des  Alexander')  goredot  hiit. 
SchUeTslich  giebt  die  Art,  wie  der  Bedner 
Ton  leiner  Straft  gdflat  wird,  jsa  deniten. 
Er  erhillt  nämlich,  wio  Ix-kannt,  den  Auftrag, 
deu  Altar  des  rettenden  Zeu»  für  'dag  erst 
•m  ScUiime  des  Jahn»,  idio  ungelUhr 
6  Monate  nach  soinor  Rfickkelir'  zu  feiernde 
Ppferfett  aufzurichten  und  zu  achmdcken, 
wofllr  Uun  der  Staat  die  gance  Somme  der 
zu  erlegenden  Bufse  von  üU  Talenten  auB  der 
Staatskasse  anweist.')  Wenn  wir  su  diesem 
allen  aus  Plutarch  Alex.  77  erfidmn,  dab 
sechs  Jahre  nach  dem  Tode  Alexanders  der 
Verdacht  entstand,  dafs  der  KOnig  an  Gift 
gestorben*},  wenn  wir  bier  hOren,  dafa 
Olymiiias  den  lollas,  den  Bruder  des  Eai- 
sander,  als  Thäter  in  Verdacht  hatte,  wenn 
wir  in  derselben  Schrift  §  74  lesen,  daSs 
Alexander  einmal  den  Kassander  in  der 
schmählichst eu  Weise  behandelte  und  dafs 
dieser  in  ^püturer  Zeit  bei  einem  unerwarteten 
An)ilick  der  Alexaadetstatne  in  Delphi  in 
grofsen  Schrecken  geriet,  wenn  wir  erfahren, 
dafs  Kassander  Ende  des  Jahres  318  seinen 
bisherigen  treuen  Freund  Nikanor  beimtfldn- 
Kcher  Weise  kurz  vor  der  Zeit  tötet«*),  da 
Alexanders  Mutter  Olymjpias,  nach  Macedonien 
nurflclqgekelirt,  «iffan  Kaesaader  and  dessen 
Bruder  lollas  des  Mordes  an  ihrem  Sohne 
seiht,  so  muTs  der  Verdacht  entstehen,  dafs 
DeaaoetlMMS  den  mkanor  mit  den  firagliehen 
20  Talenten  (90  000  M  .  bci^tochen  und  dafs 
durch  dessen  Yermittelung  Kassander*)  und 
loUa»  den  iinglllck]idie&  KOnig  ans  dem 
Wega  gMdtaftI  haben,*) 


Hjperid.  a.  a.  0.  fr.  III  col.  C;  Dinareh 
in  Dem  §  04 

*)  l'iutarch,  Demostb.  c.  27  j  Leben  der 
X  Bedner  i».  BMd  and  A.  Sehifer  III  870 
Anm.  1. 

*)  Man  vergleiche  auoh  Arn  an,  Aneb. 
VII  27,  wu  als  unverbürgte  Xuclirieht  das 
Gerücht  erwähnt  wird,  dal's  Aristotele»  dm 
Qüt  bereitet,  Antipater  es  durch  seinen  Sohn 
Kammder  nach  Babylon  geschickt  und 
lollas,  ein  f weiter  Selm  des  Antipater  imd 
Mund»fcbenk  Alexnnder^,  dieaes  dem  Könige 
gereicht  habe.  Dazu  Plutarch,  Alex.  77,  wo- 
nach ein  gewisser  Hagnot  he  Ulis  dies  von  dem 
Könige  AAtigonu«  gehurt,  haben  will. 

*)  Diodor  XVIlf  76  ,  Pulyaen  IV  11,  1. 

*i  Es  ist  mir  immer  uierkwürdig  er- 
schienen, dafs  Antipater  nicht  seinen  Sohn 
Kassander,  sondern  Pdjperdiott  bei  seinem 
Tode  «im  Beichsvecweeer  gemacht  hat 
Sollte  er  von  dem  yerbreehen  seines  Sohnes 
Kenntnis  gehabt  haben? 

*)  Im  Leben  der  X  Redner  p.  d49  wird 
sogar  erdhlt,  daTs  Hyperides  gleich  nach 


Bei  dner  solchen  Aiina.hwi^  werden  alle 

Erscheinungen   des   Harpaliscben  Prozesses 
klar.    £e  wird  klar,  warum  Democthenee 
erst  gegen  die  göttlidie  Ehrung  Alexanders 
spricht  —  damals  hatte  er  den  unheilvollen 
Gedanken  noch  nicht  gefabt  —  und  dann 
fttr  dieselbe  seine  Stimme  eriiebt.  Es  erkl&rt 
sich,  waram  der  Areopag  so  lange  mit  seiner 
Anzeige  zögert.  Offenbar  wartet  er  die  Nach* 
rieht  von  dem  Erfolge  der  Bestechung  ab. 
E»  erld&rt  sich,  wanun  man  den  Harpaloe 
entfliehen  Hefs;  man  wollte  ihn  nicht  an 
Alexander  ausliefern,  um  an  ihm  in  dem 
bevorstehenden  Kampfe  gflgw  Maeadonien 
einen    treuen    Helfer   zu   gewinnen  Die 
Worte,    die    Demosthenes    nach  I'Iutarch 
Demosth.  c  'IG  spricht  und  womit  er  sich 
über  die  Gefahren  der  politischen  Laufbahn 
beklagt  und  u.  a.  sagt,  dafs  der  Weg  »um 
Tode  dem  zur  Rednerbühne  vorzuziehen  sei, 
werden  durch  untrere  Annahme  erst  in  das 
richtige  Licht  gerückt,  und  die  Art,  wie  der 
Bedner  von  seiner  Strafe  gelOit  wird,  Errich- 
tung und  Ausschmückung  eines  Altars,  wird 
erst  recht  verständlich.  Zum  Schlufs  erklärt 
sich  das  Stillschweigen,  das  Demosthenes 
über  die  Verwendung  des  Geldes  bewahrt. 
Allerdings  mag  er  manches  Mal  zur  Zeit 
seiner  höchsten  Anfeindung  daran  gedacht 
haben,  das  Geheimnis  preis?:" gehen;  dafür 
spricht  die  oben  zitierte  Stelle  des  Hjperides, 
daTs  Ibosion  umhergegangen  sei  und  gesagt 
habe,  Demosthenes  habe  das  Geld  genommen 
tis  ritv  itolmioi»,  ein  Wort,  das  an  Perikles 
erinnert,  dar  naeh  dar  Bestechung  dea  nd- 
stoanax  f44.'j  hei  der  Recheuächaft.äiablage 
das  dasu  verwendete  Geld  als  im^iii vor 

dem  Tode  Alexanders  einen  Antrug  aaf 
Ehrung  de«  lollad,  der  den  Küuig  getötet, 
eingebracht  habe  (_»bgleicli  diese  Notiz  mit 
der  oben  aus  Flut.  Alex.  77  angefahrten  in 
Widersprach  sieht,  so  glaube  sie  dodi 
nicht  ganz  von  der  Hand  weisen  zu  dilrfen 
Es  künnti)  imim^rliiu  möglich  äciu,  duXü  däa 
(Verficht  von  einer  Ermordung  schon  gleich 
nadi  Alexanders  Tode  auftrat,  aber  in  der 
Folge  auf  Qrond  der  irstlidien  Teröffent- 
lichungen  (iqrqiisQiSei;  ßaalltioi  Arrian  VH  26) 
verschwand,  bis  es  dann  durch  irgend  einen 
Zufall  —  ich  nehme  an  Verrat  des  Nikanor  — 
wieder  zu  Tage  trat.  Dab  Aristoteles  dem 
Könige  das  Gill  bereitet  habe  (Plnt.  Alex.  77; 
Arrian  Vll  2"  ,  glaube  ich  gerade  so  wenig, 
wie  diese  Gcwährmllnner.  Möglicher  Weise 
aber  kann  der  Umstand,  dafs  sowohl  Nikanor 
wie  Aristoteles  aus  Stagiros  stammten,  sowie 
der  Wunsch  der  in  das  Gdieimais  ein- 
geweihten Athener,  deu  Verdacht  auf  falsche 
Fahrte  zu  lenken,  diese  Verwechselung  herbei- 
geAUirt  haben.  Vgl.  Stahr,  Aristotalea  I  IM 


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ßuumgm  nad  IGiteUw^gflB. 


803 


de  th  diw  MifllliTie.  *)  Ja,  weim  Hyperidw 

Demosthene«  habe  erklärt,  8rt  'AXtiüvitQtp 
f«fi|iQfi^  §V9kii  iptltlv  ttinitv  ßoilew, 
•0  «^«ut  auch  dies  darauf  biiuraweueD, 

dafs  Demosthenes  wohl  Andcutaagen  hat 
fallen  laawn,  aber  natArlich  von  dem  Nicht- 
eiageweiliteD  nieht  verrtanden  wurde. 

Es  fragt  sich  niu,  ob  die  Sache,  was 
Demoatbenea  betrifft,  psjchologiach  möglich 
ifL  Wae  dies  anbelangt,  ao  erinnere  ich 
aar  an  lein  Auftreten  bei  der  Todesnachricht 
dee  rhiUppas.  *)  Ein  Mann,  der  bei  dem 
Tede  eines  Gegner!  tainer  Freade  einen 
solchen  Auadmek  an  gaben  im  »<tatHle  ist, 
wie  dies  von  Demosthenes  uberliefert  wird, 
ist  von  einem  Schritt,  wie  Bestechung  zur 
Ermordung  des  gefälttUdllten  Feindes  seines 
Vaterlaudes,  nicht  gar  weif  entfernt,  bo- 
üoiidbrii  wu  dar  riuiußumord  bei  den 
Griechen  für  eine  verdienstliche  That  galt, 
wie  die  Yerherrlichong  des  Harmodini  and 
AristogitOD  beweist. 

Bei  Lykiug,  Leoerstoa  f  M  finden  neb 
die  Verse 

Stttv  jem  iuyii  damövap  ßXänty  riva, 

tbv  vovv  töv  ie^Xiv,  tts  ii  tiiv  {tt^cs  tfimn 
^v&iiriv,  tv'  tlS^  firjdif  anuifravti. 

Bieee  Worte  passen  auf  Alexander  den 
Groben.   Mit  «eineai  Verlangen ,  unter  die 

Götter  aufgenommen  an  werden,  berfinp  er 
weni^tens  den  Macedouit^rn  uuü  Üriechen 
gegenflber  einen  nicht  wieder  gut  zu  machen- 
den Fehler  Denn  dadnrcl)  machte  er  sich 
bei  diesen  verhafst,  ohne  bui  sei  neu  Göttern, 
in  deren  Kreis  er  sich  eindrängte,  Hilib  an 
finden.  Mit  richtigem  Blick  mochte  Demo- 
stbenes  erkennen,  dafs  jetzt  oder  nie  die 
Zeit  so  einem  ÄaieUage  gegen  den  6e- 

ffirchtctPn  pekommen  sei. 

Ob  ich  mit  meiner  Vermutung  das  Richtige 
gefafoifep  babe,  weilb  Idi  niebt.  Idi  übergebe 
fie  hiermit  berufeneren  Männern  zur  Be- 
urteilung und  bitte  nur,  sie  nicht  etwM  nur 
deabalb  sordektaveisen,  weil  sie  etefc  bente, 
nach  mehr  als  2000  Jahren  geilnfsert  wird 
leb  glaube  aber,  dafs  wir  durch  die  Über- 
tlefbning  in  den  Stand  geeeftzt  nnd,  gerade 
Ro  gut  wie  ein  Zeitgenoise  in  dieier  Saebe 
unser  Urteil  abzugeben. 

HtMH>  WituataCcmn. 


Plut.  Pericl.        Ariatoph.  Nub.  HM. 
*■)  Aeschin.  in  Ctesipb.  g  77  und  100} 
Plntarcb,  Demoetb.  c.  8S  u.  ö. 


ZWEI  HISTORISCHE  SAMMELWERKE. 

Tn  eeUiebtem  Oewande,  ibrem  in  engerem 
Sinne  wissenschaftlichen  Zwecke  gemäfs,  tritt 
die  Uiitoriiebe  Bibliothek  vor  die 
OffentücUceit.  Sie  iat  bervorgt^gung^n  aus 
der  bekannten  'HistoriBchen  Zeitschrift',  die, 
begründet  von  Heinrich  von  Sjbel,  jetzt  von 
Friedrich  Meinecke  herausgegeben  wird:  die 
hier  und  da  bemerkbare  Abneigung  der 
Gelehrten,  ihre  Forschuugner^'cbnisse  ku 
kürzeren  Aufsätzen  zu  verarbeiten,  hat  die 
Redaktion  dazu  geführt,  Abhandlungen  ge- 
mischten  Inhalts,  deren  L'nifunf,'  ülier  den 
Rahmen  eines  Zeit^SLhrifteniiuf-^atzeJi  hinauti- 
reicht,  auch  kleinere  Sammlungen  noch  un- 
bekannter Quellenstfleke  in  Buchform  in 
zwangloser  Folge  crschvinen  /.u  liwscn;  also 
VerOffbntlicbttngen ,  di«"  den  Anspruch  er- 
heben ,  neups  ^esehiclithches  \\  iss»en  zu  er- 
schlielsea,  für  die  aber  Verütandnis  auch 
bei  einem  weiteren  Leserkreis  voran«geeetct 
werden  kann.  Dap  erste  Rändchen  ist  dem 
grofsen  Mitarbeiter  und  für  kurae  Zeit  auch 
Mitherausgeber  der  HiatorifeheB  Zeiiidirift, 
Ileinriih  von  Treitschke,  gewidmet.  Theodor 
Schicmonu  erzählt  dessen  'Lehr-  und  Waoder- 
jafare  18M— IMe*  bis  xa  der  Bemftmg  an 
die  Universität  Kiel  und  der  Bepriindung 
eiaer  eigenen  Hiluslichkeiti  vielfach  gestützt 
auf  unbekannte  Briefe  und  urkuadliebe  Nach- 
riehten  ilber  die  ünfseren  LebensereipnisHe, 
eine  recht  lesenswerte  Vorarbeit  zu  einer 
kfinfUgenLebensgesdiidite  dieser  gewaltigen, 
reichen  nud  doch  lichtvollen  Persönlichkeit. 
Im  zweiten  Bande  bringt  Emil  Gigas  84  Briefe 
Samuel  Pnfendorft  an  Cbristiaii  Tbomaeins 
zum  Abdruck ,  wert \  rill  als  Bereicherung 
unsere«  Bildes  von  seiner  Persönlichkeit,  wie 
als  <)u«U«  tot  Oeistesgeschidite  seiner  Zeit. 
Der  <1  ritte  Hand  ist  dem  Andenken  Heinrich 
voQ  S>-bels  gewidmet  Conrad  Varrentrapp 
bietet  in  der  Einleitung  eine  Darstellung 
seines  Lebennganges  mit  einem  nach  der 
Zeitfolge  geordneten  Verzeiebnis  aller  seiner 
Scbriften.  Daran  schliefsen  sich  'Vorträge 
und  Abhandlungen',  von  denen  die  zur  Ge- 
schichte bedeutender  Männer  der  Geschichts- 
wissenschaft, sowie  die  Aufs&tze  über  die 
Berliner  MOntag«  1848  und  die  preufstaeb« 
Heert-sreform  von  l«6i)  besonderes  Intcrpsse 
erregen.  Im  jüngst  erschienenen  vierten 
Bande  behandelt  Rosenmund  Mie  Fort- 
schritte der  Diplomatik  seit  Mabillon  vor- 
nehmlich in  Deutschland-Österreich' ;  d.  h.  er 
sdüldert  die  Verdienste,  die  sich  hervor- 
ragende Gelelirti'.  verstorbene  und  lebende, 
namentlich  das  Haupt  der  Wiener  Diplo- 
matikersebttle,  derHerauigeberderdmlsdian 


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304 


Ammgm.  und  Mittarihmg», 


Kaiüerurkunden,  Tlieotlor  Sickel,  uud  ueben 
und  nach  ihm  Julius  Ficker  und  der  Berliner 
Hechtshistoriker  Heinrich  Bninner  um  die 
Fortbildung  dieser  HilfswjsnenHchaft  der  Ge- 
■ehiehte  erworbra  hilben.  Angekflndii^  ist 
flilie  Abhandlung  filior  'Territorium  und 
Stadt'  aus  der  Feder  des  auf  diesen)  Ue- 
biete  verdienten  Foraehera  O.  von  Belo«, 
sowie  eine  Darlo^juiif;  Heyc];^  über  'Adel, 
FOrsteotom  und  Königtum  bei  den  Uermanen'. 

Dient  die  Hiatotisehe  Bibliothdt  nur 
iiobeiiliei  der  Mehrung  des  geschichtlichen 
Wieaen«  unter  den  üebildeteu  Deutschlands, 
■o  wenden  sich  die  Monographien  xtir 
Weltgeschichte  'in  reich  illugtrierteu, 
vornehm  ausgestatteten  Bilnden^  an  diese 
fast  ausüchliefslich.  Die  Leitung  des  Unter- 
nehmens liegt  in  den  Händen  von  Ed.  Heyck. 
Die  Sammlung,  bestimmt  'einst  ein  Ganzes 
7.U  bilden,  dut$  die  Höhepunkte  der  geschicht- 
lichen Entwickelung  umfassen  wixd*^  soll  die 
vielbändigen  Weltgeschichten  ersetzen ,  die 
stt  blofsen  Nachschlagewerken  geworden  sind; 
angestreht  wird  'eine  Bebaadlnng  der  ein- 
zelnen  Zeitalter  in  der  Weise,  diifs  sie  an 
ihren  hervorragendsten,  für  die  Zeit  maTs- 
gebenden  und  chnnikteristieehen  ESvscbei- 
nun^;eii  dargenfellt  werden  sdllen',  Pis  jetzt 
liegen  drei  Bände  vor,  'Die  Mediceer'  aus 
der  Feder  deaHernusgebers, 'Königin  Elisabeth 
von  England'  von  Erich  Mareks,  'Wallen- 
stein'  von  Hans  Schulz.  Es  wird  darin 
eine  fesselnde  Persönlichkeit  von  allgemein- 
geschichtlicher Bedeutung  in  den  Mittelpunkt 
der  Darstpllung  giM  ückt ,  lebensvoll  her^'or- 
treteud  aus  dem  breit  aufgetragenen  Hinter- 
gründe des  Zustündlicheu  ihrer  Zeit.  Eigen- 
tümlich ist  diesen  Mouographitii  zw<ierlei. 
Einmal  der  Versuch,  auf  äufserst  knappem 
Raome  —  durehieiiiiitWdi  werden  es  bei 
Absug  der  Rilder  ßO  70  Seiten  «sein  —  ein 
ganses  Zeitalter  dem  Leser  so  vorzuführen, 
dafs  er  nicht  etwa  bei  völliger  Voraneeetzung 
der  Kennt nir.  de-  St.ifTrs  nur  all^renieine  Dar 
legungeu  über  den  Gang  der  Entwickelung 
erlOIt,  eondem  wirklich  ein  volles  Bild  des 
damaligen  Lebens  mit  beinahe  allseitiger 
Berührung  der  verschiedeneu  Lebensgebiete. 
Eine  solche  Behandlung  setzt  nngemeine 
Beherrschung  des  Einzelnen  im  Dasein  und 
im  Geschehen  des  dargestellten  Zeitraumes 
voraus,  zugleich  aber  eine  aufserordentlicbe 
Flhigkeit,  in  da»  Wesen  der  Dinge  einzu- 
drinf^en  Entschieden  ■geglückt  ist  die  Be- 
wältigung dieser  Aufgabe  in  den  Arbeiten 
von  Beyck  and  M«rcks;  ja  Mareks  bietet  bei 
seiner  KraO  der  ('IiaralJeristik .  bei  «einem 
hellen  Blick  tür  die  im  tiefsten  (»runde  be- 


wegenden Mächte  der  Zeit,  bei  seiner  Ver- 
wertung noch  wenig  bekannter  Gcschicbts- 
quellen,  s!  Fi  der  anziehenden  deutächen 
Iteiseberichte,  auch  dem,  der  mit  der  Ge- 
■ehldito  den  Zeitnunm  vwtmnt  ist,  eine 
Fitlle  von  Belehrung  J^chulz  beschränkt  sich 
in  höherem  Mafse  auf  das  Leben  seines 
■chickialsvollen  Helden,  daa  er  gcaAT«  den 
gegenwilrtiffen  Stande  der  Fnrschun«^  in 
schlichter  Form  erzählt  Es  wird  also  in  den 
Monographien  wiiUich  ein  Bildnngsanitlel 
geschaffen,  das  einem  uiileuj,'bareu  Bedürf- 
nis genügt.  Freilich  möchte  man  wänschen, 
dah  aUen,  denen  Geidiicbte  nidit  ein  er- 
götzliches Schauspiel,  ioadem  ein  tiefes 
und  ernstes  Mittel  zur  Herausarbeitung 
einer  eigenen  Lebensanachauung  ist,  diese 
MonograpiiieB  nicht  mehr  sein  möchten, 
aln  Anregung;  gelegentlich  ein  Ersatz  der 
umfstösenderen  Darstellungen,  aber  nicht  ein 
bequemes  Mittd,  jene  auf  die  Dauer  sa 
entbehren. 

Das  aweite  der  Sanunlnng  Eigentümliche 
ist  die  gatis  nngewObnlieh  reidie  Beigabe  von 

Bildern:  hier  'ritf  in  OeschichteweÄen  das 
Bild  zum  ersten  Male  völlig  ebenbfbrtig  dem 
Wort  nur  Seite;  es  teilt  den  verwendeten 

Raum  mit  jenem  so^'ar  sehr  ehrlich.  fJe- 
wifs  kann  nun  das  Bild  nicht  nur  künst- 
lerischer Schmuck  sein,  eondeni  auch  Er- 
kenntuismittel,  zumal  wenn,  wie  es  hier 
geschieht,  Kunstwerke  der  behandelten  Zeit 
selbst  in  ausgiebiger  Weise  verwendet  wer- 
den, wird  damit  einem  Wunsdie  von 
Ottokar  Lureu7,  entf^egengekommen ,  der  ee 
ItJUl  als  eine  der  lolinendsten  Aufgaben  be- 
zeichnete, 'wenn  endlieh  ein  liegestenwerk 
nicht  für  die  L'rl\undi'u,  Hondeni  für  die 
äufseren  Gestalten  aller  Itegierenden  und  der 
ihnen  nahe  stehenden  Penonen  von  einem 
Institute  für  (leschichte  besorgt  würde' 
Aber  die  in  den  Monographien  beliebte  Art 
der  nittstration  bedeutet  keine  otganische 
Verbindung  von  Wort  \ind  Bild,  die  höchst 
selten  su  einander  passen.  Eine  Verständnis- 
volle  Anfiialnne  des  Textes  wird  oft  geradesu 
unmöglich,  weil  die  Aufmerksamkeit  be- 
ständig abgelenkt  wird.  Es  ist  dringend 
zu  verlangen,  wenn  hier  ein  Bildanghmittel 
gesdiaffen  werden  soll,  das  ernsten  Zwecken 
dient  und  nicht  nur  dem  flüchtigen  Vor 
gnügen  des  SchauenH,  dal«  diuscui  t'belstaaU 
abgeholfen  werde,  trotz  der  gewifs  nicht 
geringen  terhnischen  Schwerigkeiteu  Erst 
dann  wird  man  das  Unternehmen  den  wirk- 
lich Gebildeten  in  nnserem  Volke  ohne  Vor- 
bdialt  empÜBililen  kOunen. 

KUDOL»'  KüTcscau. 


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Al<h  i.    Mmea  und  auigeilelDtci  Ortbohcn  nördlich  von  der  »<«alhurg 

Zu  S.  274. 


Abb.  5.    BckonatruktioD  der  /inneu  an  der  üudweilecka  dei  Kattelli. 


Nsux  JahkbC'crkr.    mU8.    I.  Aht.,  l.  ünri. 


JAHEÜANÜ  189Ö.   ERSTE  ABTEILUNG.    FÜNFTES  HEFT. 


DAS  PROBLEM  DEB  ÄSOPISCHEN  FABEL. 

Von  AüOUST  Hai-srath. 

Die  letzten  Jahrzehnte  unsoics  Tülirhnndprts  liahcTi  in  rillen  modernen 
Litteraturen  da»  Studium  dti  volkstümlichen  Gebräuche  und  Cberlicfcningon 
machtig  aufblühen  sehen,  das  joikivre  ist  eine  eigene  Wissenschaft  geworden. 
Auch  auf  dem  Gebiet  der  altklassischen  Litteratur  haben  anukjge  Bestrebungen 
ttne  Ffllle  neuer  Erkenntnis  geschaiSeu.  Man  hat  auf  das  achten  lernen,  was 
Wikmowits  mit  glucklidieni  Worte  als  die  'ungeschriebene  Littentnr'  be- 
leichnet  hni  Wie  die  Odyssee  einen  reiclien  Kranz  alter  Sdiiffersagen  von 
den  Wundem  mtd  Sdirecken  femer  Länder  ToraoBeetst,  so  hat  manche  tin- 
begreifliehe  Phantaslik  in  der  älteren  attiadum  Komödie  dnreh  den  Hinweie 
auf  versprengte  Reste  alter  Volksmarch^  ihre  glückliche  Deatnng  gefunden.^) 
Aaeh  der  dramatische  Dichlery  der  einen  rielbehandelten  SagenstofT  neu  formte, 
setzte  sich  nicht  weniger  sorgsam  mit  den  im  Volk  umlaufenden  lokalen  Tra- 
ditionen auseinander  wie  mit  den  Kunstschöpfungen  spiti»"-  1>erühmten  V(>rifnnü;er.*) 
Auf  diese  aligemein  bekannte,  nirgends  im  Zusammenhaug  aufgezeichnete  Über- 
lieferung beziehen  sich  zahlreiche  Anspielungen  in  den  Schriften  sj)iiterer  Autoren 
in  Griechenland  wie  Rom,  man  bmucht  nur  au  Xermphon,  I'lutaieh,  Lucian, 
tn  Varro,  Horatiuü,  Petroniua  zu  erinnern.  Überall  ist  sie  ztt  spüren^  die  un- 
gnehriebene  Litteratnr  des  Volkes,  nur  an  einer  Stelle  tritt  sie  uns  greifbar 
entgegen:  in  den  Bammlangen  der  iMpisehen  Fabeln. 

Denn  audi  in  das  merkwflrdige  Kon^omerat^  das  nnter  dem  Titel  Fodtdae 
AfS(*pica€  in  unkritischem  Dureheinandw  auletat  von  Halm  (1852)  neu  abgedruckt 
worden  ist  —  'bearbeitet'  kann  man  nicht  sagen  — ,  haben  diese  Forschungen 
etwas  Licht  gebracht.  Lehrte  die  Litteraturgeschicbte  seit  Tyrrwhitt  und  bis 
auf  Christ'),  dafs  diese  uv^oi  Jlücjjrftnt  in  ihrer  Gesamtheit  nichts  seien  als 
Auflöstmgen  (Irr  ^ivd^i'uujiot  dcti  Habiius,  so  wissen  wir  heute,  dafs  »las  nur 
Äof  den  ailerkleinsten  Bnichteil  derselben  /.utrifi't.  Die  Mehrzahl  ist  von  den 
Kunstschopfungen  des  spät^^n  »Syrers  völlig  unabhängig,  und  ein  leider  nicht 
BUt  absoluter  Genauigkeit  zu  bestimmender  Bruchteil  geht  auf  jene  volkstüm- 
Uchen  Traditionen  aurflcl^  die  jedem  kriechen  ron  der  Ammenstube,  der  Sehnig 
den  Gastgelagen,  wie  sie  in  Aristophanes  Wespen  geschildert  werden,  geläutig 
waren.   Aus  demselben  Boden  war  zu  der  Zeit,  da  der  epische  Sang  allein 

^^^^^^  * 

',1  Zieliuski,  MärchenVnmnrlir     Petersburg  IKt^ä. 

*)  V.  WUamowitz-Moeliendorft ,  Einleitung  ko  Eiiripideii'  Hippolytos  ä.  'Ab  ff. 

Gr.  Litlerai.  üeach.  *  S.  Iii. 
»•mJftfaiMahw.  tSia  L  SO 


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306 


A.  HMMitttli:  Dw  Problem  der  BeopiMlien  Fabel. 


hemchte,  sicher  schon  manche  ToUntfimliche  Diditnng  entqtrossen.  Die  Reste 
des  Margites,  jenes  nnlten  schenhalleD  Epos,  das  mia  dem  Homer  Mlbsfc  su- 
snsehreibeii  kmn  Bedenken  famg,  die  Bafaradioniaehie,  deren  nnhekannter  Ver- 
fiwaer  popnl&re  Tiendmiinke  zur  Parodie  des  Heldenepos  Terwandfce,  vertreten 

hier  eine  verloren  gegangene  Litleniter.  Derartige,  xunSchst  wohl  ebenso  wie 
die  grofsen  Epen  mfindlich  weiter  getragene  Dichtungen  und  die  im  Volk  um- 
laufenden, sich  stets  vermehrenden  Märchen  und  Fabeln  waren  dem  Archilocbos 
bekannt,  der,  wie  die  litterarhistorische  Forschung  des  Altertums  bereits  her 
vorhebt,  schon  vor  Asop  'äsopische'  Fabeln  verfalste. ^ i  Um  (><^^  herum  iiiiig 
dann  die  schriftliche  Fixierung  erfolgt  sein  in  SHmmlungen,  die  für  das  Volk 
bestimmt  waren.  Seitdem  ist  diese  gesamte  Litteratur  mit  dem  Namen  des 
Aaop  verknüpft,  dm  Herodot  auf  Qmnd  einer  fBr  uns  nidit  mehr  kontrollier- 
baren Kombination  som  Zei^enoaeen  der  Sappho  madii 

Neben  diesen  eben  charakterisierten  Yolksbtteliern  aber,  die  ihren  Inhalt 
dem  wechselnden  Gesdmiack  der  Zeiten  anpassen,  hat  die  neuere  Forschung  eine 
weitere  Quelle  erkminen  gelehrt,  die  bei  der  Herstellung  der  uns  vorliegenden 
Sammlungen  der  AUuoxtytd  reichlich  ausgenntat  wurde.  £s  sind  dies  Schul- 
bücher, wie  sie  der  im  folgenden  genauer  danuatellende  Betrieb  der  Khetoren- 
schulen  zur  Voraussetzung  hat. 

Was  so  auf  dem  Gebiet  der  äsojjisehen  Fabel  durch  eine  Reibe  von  Kinzel- 
nntersuchungen  ermittelt  ist,  soll  auf  den  folgenden  Blättern  zusammengefafst 
und  in  einigen  Ponktai  «r^biit  werden.  Als  Chrondlag»  dieser  StodieD  mnlii 
auch  bente  noeh  die  Abhandlung  Ton  0.  Keller  erwShnt  werden,  der  im 
4.  Snpplementband  der  Jahrb.  flir  dass.  FhiL  die  Gesehiehte  der  Fabd  im 
Altertum  zu  entwerfen  suelite,  wenn  auch  seine  Ausführungen  oft  der  nötigen 
kritischen  Schärfe  entbehrten  und  in  wesentlichen  Partien  tiberholt  sind.  Das 
Hauptverdienst,  dafs  wir  jetzt  über  Kellers  Ergehnisse  hinausgekommen  sind, 
gebührt  0.  Crusius,  der  nun  in  den  Prokgonionft  der  Babriusausgabc  und 
dem  Artikel  Babrius  bei  Paulj-VVissowa  diese  btudien  zu  einem  vorläufigen 
Abschlufs  gebracht  hat. 

Freilich,  über  Heimat  und  Ursprung  der  Fabel  weils  die  ueuere  Forschung 
nicht  mehr  an  kflnden,  ab  vor  50  Jahren  geboten  wurde,  wo  diese  Frage  viel- 
fitu^  erörtert  worden  isi  Im  Gegenteil,  man  hat  sieh  hier  daran  gewiHmty  die 
Grenzen  des  mit  Sicherheit  Erkennbaren  enger  zu  umschreiben.  Wenn  man 
froher  darüber  sfaritt,  ob  die  Fabel  aus  Indien  oder  Arabien  den  Griechen  xu- 
gebracht  worden  sei,  so  gilt  diese  Frage  heute  als  müfsig,  seitdem  man  er- 
kannt hat,  dafs  bei  dem  phantasievollen  V^olke  selbst  alle  Vorbedingungen  inr 
Entstehung  dieses  wie  anderer  Litteraturzweige  gegeben  waren. 

Ebenso  nialsen  wir  uus  beute  nidit  mehr  an,  zwischen  den  einzelnen  Unter- 
arten des  Alöi'oTruoc;,  für  die  uns  die  Rhetoren  eine  Fülle  von  Namen  — 
koyoi  yiißvOTixoC,  yiiyvsiTwi,  Kikixi^^  Ku^ixoi  u.  s.  w.  —  zur  \  erfügung  stellen, 


*)  Vgl.  Schol.  iu  Aristoph.  av.  662:  ea(pü>i  avixi&touv  AiootJta  ror»-  köyov^,  nai  tovror 
rhv  natfu      'AQx^oxtfl  ltf6iuww,  sn/tm  sr^ctf/tor^^  tvtt  (Schot  ed.  Dind.  lY  S  p.  801). 


A.  HMunfh:  Dm  FroU«ni  der  teopiMihen  Fabd. 


307 


mit  Sicherheit  scheiden  zu  wollen.  Keller  hat  hierauf  vergeblich  vielen  Scliürf- 
sinü  verwandt,  und  A.  Ludwich ist  ihm  dieser  Tage  trotz  seiner  Abnei^  ug 
gegen  'ins  Bliiue  hineinspielende  Hrpotheflen'*)  wieder  viel  zu  weit  auf  dies m 
Wege  gefolgt.  Schon  die  Notüuakunft  der  Hiietoren,  die  Fabeln  geien  <iaiiii 
kahsche,  wenn  der  Anfang  laute:  Kaifixbg  dvri(f  . .  .,  dann  kjprische,  wenn  sie 
be^bmen:  Kvxffia  yvvi^  .  . ,  vaad  bo  waitor  dnreli  «Ue  Möglichkeiten*),  beweist 
dentlidi,  data  die  Herren  echoii  za  Theona  Zeit  nicht  Idfiger  waren  ab  wir 
hente.  Nur  ron  «ner  der  bei  den  Bhetoren  aofgesSblten  Abarten  wies«!  wir 
Genaueres:  das  sind  die  I6yw  IhtßttQtnuoC,  r<m  denen  nodi  die  Rede  sein  wird. 

Was  nun  schliefslich  die  Persönlichkeit  des  Äsop  selbst  angeht,  so  heruht 
des  Urteil  hier  naeh  wie  vor  allein  auf  dem  Bricht  des  Herodot  (II  134  135). 
Er  erzählt  von  einer  weitverbreiteten  Tradition,  nach  der  Asop  am  Sitze  des 
Orakels  zu  Delphi  von  der  Hand  der  Priester  erschlagen  worden  sei.  Die  Blut- 
schuld rief  schweren  Groll  defi  Gottes  hervor  —  j4löämeiov  uiuic  i.Ti  tüv 
dv6u:i<n>i':iToig  xui  xaxoi^  ovfi'dsfSt  övvfxouh'Oüv  heifst  es  seitdem  im  Sprich- 
wort. Um  sich  zu  löafcn,  erboten  sich  die  Priester,  den  Nachkommen  des  Asop 
bohe  Sammen  su  zahleo.  SchlielBlich  meldete  eich  ein  Samier,  der  ein  Enkel 
dee  ladmon  sa  sein  Torgab,  in  dessen  Diensten  einst  d«r  SkJave  Äsop  ge- 
tfaunden.  Hau  siehi^  der  Vatw  d«r  OesehiditBclireibung  bietet  auch  hier  nichts 
laderea  ala  eine  novellistische  ErxShlnng,  wie  die  Gfdtter  den  Tod  des  ün- 
Bchnldigen  an  den  Priestern  r&dien.  Schon  zu  seiner  Zeit  alao  hat  sieh  die 
Volkssage  der  Persönlichkeit  des  Fabolieten  bemächtigt.  Spuren  dieser  volks- 
tfimhchen  Traditionen  Aber  Asop  finden  sich  noch  viele.  Schon  Leasing^)  hat 
bemerkt,  «IhTh  die  ältesten  Fabeln  immer  an  ein  bestimmtes  Hufferes  Ereignis, 
d.  h.  an  ein  Erlebnis  ihres  Autors  crckuiipit  erscheinen.  Sie  scheinen  also  mit 
einer  Lebensbeschreibung  des  Asop  zusammenzuhängen,  in  die  naehweislich  mit 
der  Zeit  vieles  aufgenommen  worden  ist,  was  von  andern  Lieblingen  des  Volks 
auf  Asop  übertragen  wurde. Eine  letzte  Überarbeitung  dieses  ßtog  liegt  uns 
heute  in  dem  sogenannten  Aeoproman,  der  falsehlieh  dem  Mazimns  Planndes 
mgesdirieben  wird,  in  iwei  Beaensionen  vor.  In  früheren,  im  einzelnen  nicht 
mehr  gman  ftetrastellenden  Fasenngen  glanbt  nnn  Cmsins  dieses  *Volksbnch 
vom  Iscp'  bei  Arittophanes,  Pinto,  Xenophon  wiederanerkennen,  die  daneben 
aUe  einen  bestimmten  Kreis  inhaltlich  gleichartiger  Erzahlnngen  als  äsopisch 
bezeichnen  Ob  wirklich  alle  diese  Fabeln  zuerst  im  Rahmen  einer  Bol<dien 
volkstümlichen  Legende  vom  weisen  Äsop  vorgetragen  worden  sind,  mufs 
einstweilen  dahingestellt  bleiben:  ein  starker  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser 
Annahme  scheint  darin  zu  li^en,  dafe  auch  Phädrua  offenbar  eine  Quelle 


')  Einleitung  zur  Batrachomacbie  H.  1  —  14  26  Sd  87. 
*)  Ebenda  8.  8  Anm.  IS. 

')  Theo,  PMgymD.  cap.  3  (Rhet.  gr  ed.  Wak  I  p.  17S). 

*)  Abhanfllunpen  übt^r  dif  FaVicln  I  iV  '.iM  I.;i<liiti;inn • 
Auf  die  in  mancher  Hczicbung  lehrreiche  PurallelK  zu  Till  Kuleuspiegel  hat  schon 
Buke  Ungewieten  O^ef  an  Leasing,  Nr.  488  der  Ausgabe  ven  R.  FOnter,  Abh.  d.  Silebii. 
0«.  d.  W,  ISST). 

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308 


A.  Eaxnralh:  Dm  FiroblMn  der  iaopiMhfln  Fabel 


benatsrti,  die  ihre  Fabeln  in  dieMr  Weise  mit  dem  Leben  des  Asop  in  Ver- 
bindung brachte. 

Wodoreh  nun  diese  Gruppe  von  f»if#ii»  Als6wom  innerlieh  suaammen- 
gduklten  wurde,  is^  irie  gesagi^  meiner  Anrieht  naeh  ein  heute  noch  nkdkt  ge- 
löstes Problem.  Das  Wichtigste  dabei  aber  ist  die  Thataache,  data  Aristophanee^ 
Plato,  Xenophon,  Aristott  U  s  mit  diesem  Wort  des  ftv#os  Aloioxov  einen  be- 
stimmten, feststehenden  Bt-irritf  verbinden.  In  seiner  Art  mufs  also  dieser  Mann, 
dessen  pei-sÖnliehe  Existenz  schon  durch  diese  Tliatsuche  allein  sicher  erwiesen 
wird,  in  der  Litteratur  der  Fabel  Epoehe  jfemaclit  haben.  Während  es  eitles 
Beginnen  wäre,  ermitteln  zu  wollen,  worin  etwa  seine  Neuerung  beütanden 
haben  könne,  i^t  es  wichtig,  den  Charakter  der  Erzählungen  festEusteUen,  die 
dureh  das  Zeugnis  Ton  Autoren  Uaseisclier  Zeit  als  dem  Qrnndstock  der  Sbo- 
pischen  Fabelsammlungeii  angehSrig  erwiesen  werden. 

Hier  hege^^en  wir  nun  Erfindungen,  die  wegen  ihrer  einfiwshen,  wirknngB- 
ToUen  Plastik  in  die  Fabelsammlungen  aller  Völker  übergegangen  sind.  Ich 
nenne  die  vielzitierte  ^  i  Fa]>el  vom  Fuchs  vor  der  Löwenhöhle,  der  aus  den 
Fnfsspuren  das  Schieksal  der  Gäste  in  dieser  Behuusiing  7M  erraten  w»mTs 
Aristophanes  erwähnt*)  unter  andern  die  (ieschichte  von  der  Feindschaft 
zwischen  Adler  und  Fnc-hs,  wo  der  erfindnnfrsreiche  Vierföfsler  sieb  avieh  an 
dem  betlügelten  Gegner  /u  rächen  weiik.  Aristoteles')  erv-iiiill  *iue  weitere 
Fnchsgesehichte,  mit  d»  Äsop  das  Treiben  der  Demagogeu  gekenmeidmei 
haben  soll  Der  Ftwha  bittet  den  mitleidigen  Igel,  der  ihm  die  Hundalfttiae 
ahlescn  will,  diese  lieher  sitaen  zu  hwsm,  da  sie  sdion  ToUgesogen  und  im- 
sehSdlieh  sei^  und  anderen,  geföhrlicheren  Peinigem  den  Plab  yersperrten. 

Was  hier  und  in  ähnlichen^)  altoD  Stücken  geboten  wird,  ist  praktiaehe 
Lebensweisheit  in  schlichter  Form  vorgetragen.  Ein  lehrhafter  Zweck  ist  kaum 
zu  erkennen.  I)ei-  Hörer  freut  sich  der  Klugheit  des  Fuchse»,  lacht  Qber  die 
Tbi)rboit  anderer  Geschöpfe,  ohne  dafs  es  ihm  in  den  Sinn  kommt,  nach  der 
ln'sonib'ren  Tiehre  zn  fragen,  die  gerade  in  dieser  Erzähhuig  stecken  soll.  Die 
epimylhia  der  uns  erhaltenen  Sammlungen,  die  oft  mit  wenig  (beschick  dem 
Leser  eine  Iforal  «ifiiötigen,  .stammen  aUe  aus  spaisrer  Zs^  —  In  derlei  altw- 
tfimlichen  Tier&behi  haben  wir  also  die  iltette  Schicht  der  Ssopischen  sa  er- 
kennen. Anzumerken  ist  dabei,  data  der  Kreis  der  auHretoidfln  Tiere  ein 
beschränkter  ist,  Fuchs,  Löwe,  Hund,  Esel,  Wolf  kehroi  immer  wieder.  Den 
Chorführer  aber  macht  bei  Asop  der  Fuchs,  der  auch  auf  einem  von  Philostratna 
gesdiiidertea  Gemälde  diese  Bolle  spielt.^) 

1)  ZntTHt  im  grütherea  Alkibiades  <1<8A),  der  iwar  nicht  von  Flaton  selbit,  jiMiocb 

ans  guter  Zeit  herstummt 

«)  Ave»  668  f.      Halm,  Fab.  Aeuop.  5. 

*>  Rhetor.  II  e.  90  «  Hahn,  Fab.  Aesop.  86. 

*)  Ich  verwende  hier  und  im  folgenden  absidbtlich  stet«  nur  drei  BBupiete. 

*)  Phib)8tr.  maior.  int   T       (ftXoaotpft       ij  y^atpi^  x«l  ra  tthv  urOrof  aifien«.  ^Tigia 
yuQ  cvfißtUiovetic  iv&QtnrToii  ittiftiatiiet  xoifov  rü  Aicöaitta  &n6  tt,i  intivov  aniipifs  cvnjtiücueu' 


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A.  Hamratli:  Dm  Froblflm  der  liO]ttMh«ii  Fabel. 


809 


Mit  der  Freude  an  solchen  harmlosen  Erzählungen  hängt  es  /.usiinuncn, 
daf?*  in  dtp  Sammlungen  von  ulter  Zeit  her  Stücke  aufgenommen  sind,  die  jcd«;» 
leiuhafU'n  Zuges  entbehrend  völlig  den  Charukt^r  des  Märchens  tragen.  Dahin 
gehören  in  den  PrOMwmmlwig^n  die  ErdÜblnng  too  der  FMndfchall  swiecben 
Adler  und  IGetkifer,  wo  der  erboeie  ndp^ttifos  eelbst  dem  Odtterrater  einen 
üblen  Streich  spielt,  das  HSrehen  vcm  geedrandenen  Wolf,  der  yersach,  die 
Eigoiseliaflen  der  Fledermaiu^  des  DomstranclM^  der  Naehteule  nach  Art  ätio- 
logischer Mythen  7m  erklären  (Hahn  7  255  306)  und  andere  mehr.  X'uh 
Bahr  ins  hat  solche  Enühlungen  im  Märchonton  eingemischt  —  man  vergleiche 
die  Erzählungen  aus  des  Löwen  Haushalt  (9ö  97  102  103  106  Crus.),  von 
denen  die  letzte  pim.  mit  Unrecht  von  Hutherford  (Babrius,  London  lü'tö)  als 
unecht  bezeichnet  worden  ist. 

.An  diesen  (iruii.l;^t<>ck  reihte  sicli  allniählich  eine  *rnnze  Menge  von  Kabeln, 
die  imu  Teil  dem  Muster  des  alten  Phrygers  ziemlich  genau  nachgebildet  »imi, 
bei  denen  jedoch  der  alte  duftige  Märcheutou  mehr  und  mehr  abgestieift  wird. 
Neben  behaglichen  Plaudereien  finden  eich  etnuim  aufgebaute  kurze  Saenen, 
die  bewnbt  auf  den  lehrhaften  Schlnlk  hinarbeiten.  Wahrend  die  Märchen- 
mihler  eigentOmliche  Erscheinungen  an  Tier  und  Fflanae  sinnig  zu  deuten 
aoditen,  werden  jetst  ohne  jede  Deutung  b^laubigte  und  nnbeglanbigte  Zflge 
ses  dem  Leben  der  Tierwelt  eingeschoben  —  man  fühlt  sich  an  die  prodkßa 
gemahnt,  die  in  mittelalterlichen  Fabeibflchern  eingestreut  sind  und  sich  aus 
diesen  bis  in  unsere  Volkskalender,  z.  B.  Hebels  Rliclnischen  Hausfremul, 
hinein  erhalten  haben.  Wenn  so  bei  den  Paradoxographen  AnIeih^•ll  gemacht 
wurden,  .'*o  sind  andererseits  aus  Florilejjien  und  Apophthegmensammlnnijen 
Anekdoten  und  Witze  aller  Art  t  ingediuiigen.  Was  lotztero  betrifft,  so  waren 
die  Grenz«»  hier  seit  alter  Zeit  tiüssig.  Neben  dem  köyos  und  ^ü^ug  yilötönHos 
steht  bei  Aristophanes  die  B^eichnung  Alisäxov  yikolov,  die  fÖr  kune  Wits- 
worte  gebraucht  wird,  als  deren  Schöpfer  eben&lls  Asop  galt,  ^et  bei  Suidas 
^^kti9  X6ywß  jMd  «broK^ifufrsMr  genannt  wird.  Ferner  seheint  es  eines  der 
venigen  sidiem  Resultate  aus  Nenbners  anspruchsroller  Arbeit*)  su  sein,  daTs 
die  Tier&bel  zuerst  im  Rfigegedicfat  Verwendung  fand.  Man  denke  an  den 
riten  uLvog  von  IQr^'^  xal  di^dtiv  in  Hesiods  strafender  Yttwamung  des  Bruders 
und  an  dp«  Archilochus  Affen-  und  Fuchsfabeln.  Wenn  man  verfolgt,  wie 
dieser  der  treulosen  Neobule  und  ihrem  wortbrfichicten  Vater  in  diesen  Fabeln 
zu  Leihe  riickt^  so  ist  der  Unterschied  zwischen  fiOdos  und  yekolov  oft  schwer 
anzugeben. 

Kaum  zu  trennen  aber  wind  von  den  y^löajJiov  ytkolu  die  HvßccQirXixa, 
die  schon  Aristophanes  mit  diesen  in  einem  Atem  nennt.  Ihre  Pointe  bestand 
in  möglichst  gesteigerter  Albernheit,  mit  der  eich  gelegentlidi  Anspielungen 
raf  die  sprichwdrtliehe  Üppigkeit  und  Weidilichkeit  der  Sybaritoi  Terbinden. 
Dehrn  gehört  die  Geschichte  vom  Sf/uviv^idtig  (Aelian,  Var.  hisi  IX  24),  der 
tvf  Rosenblätteni  lagernd  Schwielen  kriegt,  von  dem  Sjbariten,  der  sich  Tom 


■)  Apologt  Otaed  «ntiquisiimi  hutoria  eritiea,  Leipi.  Dm.  1887. 


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810 


A.  HmmcsUi:  Dm  Problem  d«r  aaopiBchen  Fabel. 


Zusehen  beim  harten  Arbeiten  einen  Bruch  snaog,  sowie  das  Prototyp  der  be- 
kannten Errählung  Tom  Lehrer,  der  dem  Schiller  die  mitgebrachten  Feigen 
wegnahm  *nnd  scheltend  selber  sie  gefressen'  (ÄeL  t.  h.  XIV  20).  W«m  nun 
Aristoi^uuies  (Weip.  1401 — 6)  den  vom  Gastmahl  heimkihnmden  Isop  einem 

ihn  an])Lllenden  Hund  den  weisen  Rat  erteilen  lalst:  i  nöov,  «njoy,  |  sl 

iwtX  «^fi  *<iyi-\i  ylatTiis  stod'lv  j  xvQovg  xpi'mo,  6(0(pQov(lv  Kv  fiot  doxolg  — ^ 
so  kann  dies  trotz  des  Sprechers  sehr  wohl  als  ein  Zr>ßaQiTtxbv  yeXnlov  be- 
zeichnet wcrdrn.  Von  dergleichen  bewuTHten  Albernheiten,  die  nur  in  der 
knappsten  Fassung  vorgetragen  ihre  Wirkung  thun,  finden  hicL  auch  Proben 
in  unseni  Fabelsaniinlungen,  freilich  von  spnten  Verfassern  oft  mit  stilwidriger 
Breite  erzShlt.  ich  nenne  die  Anekdote  vom  feigen  Koch,  der  dem  Huud,  der 
mit  dem  gestohlenen  Hfnrien  (altes  Ißrehenmotiv,  vgl.  Bahr.  96,  la.  243,  das 
Vorbild  Ton  Tetrus,  der  das  Leberl^  gegcbscu*)  davoneilt,  die  Worte  nach- 

/||M»t  waffHUx»  didwfttf  (H.  232),  die  Enihlnng  Tom  Wanderar,  der  dem  Kimbcn^ 
der  am  Ertrinken  war,  Vorwürfe  machte,  statt  ihn  an  retten  (Bahr.  165,  H.  362)^ 
vom  Manne,  der  den  Hund  auiforder^  die  inr  Beiae  notigen  Vorbereitung^  sa 
treffen  (Babr.  110). 

Mit  und  neben  diesen  £vßaQixix(i  sind  nun  in  die  Fabel  und  Unter- 
hultungsbücher  eine  Fülle  von  gnt^^n  und  schlechten  Wita&en,  Schwanken  und 
novellistischen  Erzählungen  eingedrungen. 

Unter  die  erste  Kategorie  rechne  ich  die  vielleicht  von  Babrius  ersonnene, 
jedenfalls  von  ihm  besonders  geschickt  vorgetragene  Erzählung  von  der  Krähe, 
die  die  Benommage  der  Schwalbe  Uber  ihre  mythologische  Vergangenlmit  mit 
der  Bemerkung  abschneidet,  sie  wäre  begierig  zu  erfiduren,  was  ne  erst  «rtfhlen 
wfirde,  wenn  ihr  Terem  nicht  die  Zunge  auagerissett  h&tte  (Babr.  12,  H.  10). 
Thöriehter  schon  ist  die  ähnliche  Nummer  (H.  37),  wo  der  Fudis  die  Pk»hlersien 
des  Krokodils,  das  sich  als  geübten  Turner  auftpielt,  mit  der  Bemerkung  ab- 
trumpft, man  sehe  es  schon  der  karrierten  Haut  an,  dafs  jenes  viel  Gymnastik 
getrieben  habe  —  auch  hier  sind  alte,  gute  Motive  ungeschickt  weiter- 
gebildet worden,  vgl  «Llaffiji  xid  sfagäaJUs  (Babr.  180  cf.  Flui  VII  cap.  12, 
Avian  40,  H.  42) 

Bei  den  Witzen  hat  man  eine  besondere  Gattung  zu  untei-scheideii  gesucht, 
die  sogenannten  'epiiogischen'  Witze,  die  meist  die  Form  des  Spruchverses 
haben  und  in  aller  VolksUtteratur  ungemein  beliebt  sind.  Als  Muster  dieser 
sprichwSrtÜchen  Wendungen,  der  Otto  Jahn  einst  mit  besonderer  Vorliebe 
nachgegangen  ist,  gilt  seit  aÜter  Zeit')  der  Vers  bei  Theokrit  (Adonias.  77): 
ivdoi  xSöM  6  tä»  whv  fui^  «broid^fffi;  dam  Tergleiohe  man  Kraftinns  fr.  232: 
tti&w*  «6tä  TCffdrm  *^Ktax*  di^  Mht  «o»dv,  und  ai»  Petronius  (45):  *Modo 
stc,  modo  sie'  iV/utV  rtistiats:  l  arium  poratm  percUdenU,  woan  sich  leicht  ans 
unserer  Spmchlittwatur  Parallelen  bringen  Uelsen. 

Aus  einer  derartigen  Wendung  herau^sponnen  ist  wohl  die  Eraähiung 


'j  Vgl.  Haupt,  Opuacula  II  396. 


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A.  Haunrath:  Dau  i'robleni  rlur  tlsopücheu  Fabel. 


311 


von  der  MQcke,  die,  im  Fleischkesael  ertrinkend,  einer  hedonistischen  Lebens- 
aafiGumuig^)  mit  den  Worten  Ausdruck  giebt:  dAA'  eymye  xal  ßtßgaxa  xal 
y/nrojxK  xal  XiXoviiai  xal  dvj^tfxovtfij  fif'Aft  uoi  (H.  292).  Auch  die  Ge- 
schieht« vom  äv^Q  (ffva^,  dem  die  Gotter  mit  gleicher  Münze  heimzahlten 
(H.  Ö8j,  scheint  auf  ein  Witzwort  dieser  Fassung  ziiriickwitrehen 

Dazu  kommen  dann  noch  kurz  antjodeutete  Xoveüenatofle  und  breiter  aus- 
geführte Schwäiiko,  zum  Teil  sehr  muiderwertiger  Art.  Manche  Stücke  dieses 
Genres  sind  in  die  gröfseren  bisher  allein  bekannten  Sanunluugeii,  wohl  ihres 
feiTolen  GharakterB  wcgcu,  nicht  aufgenommen  worden.  Aber  ans  bisher  nieht 
ansgenntEfeen  Handschriften  lassen  sich  hier  noch  Naehlarage  liefinm,  die  im 
Tod  mit  der  im  Altertom  weitbekannten  Geschichte  vom  allzvyangen  Bohlen 
{iv^ih  x«(l  fMi^öff»  auch  nnr  bei  Babrins  [116J  ftberliefert)  ftbereinstunmen. 
Nur  durch  die  Sammlung  der  sogenannten  Accnrsiana  bekannt  ond  TCrmutlich 
erst  in  spater  Zeit  entstanden  ist  die  Erzählung  von  der  Frau,  die  ihren  stets 
trunkenen  Mann  im  Rausche  auf  den  Kirchhof  schaffen  liefs,  um  auch  dieses 
Mittel  bei  dem  Unverbesserlichen  scheitern  zu  sehen  (H.  108\*^  Auch  die 
Witwe  von  Ephesos  ist  in  den  Kähmen  des  Asoprumaus  eingeschaltet  worden 
(H.  109).  Unter  den  Schwänken  verdient  die  von  Babrins  sehr  hübsch  aus- 
geführte Nummer  vom  lux(iüg  urtj^vo^  Erwähnung.  Er  be^jegnet  einem  i'aticnten, 
dem  er  das  Lebm  abgesprochen,  bei  detten  erstem  Aufgang  und  fragt  ihn,  wie 
es  dnmten  in  der  Unterwelt  aussehe.  Er  erfShrt  dann,  Pinto  habe  gerade  be- 
fohlen, alle  Arzte  rar  Stelle  ra  schaffen  —  doch  kdnne  er  anbesorgt  sein,  da 
4er  Pitient  flr  ihn  ein  gutes  Wort  eingelegt  habe,  mit  der  Ymichernng,  es 
sei  eitlee  Gerede,  dafs  jener  von  der  Heilkonst  etwas  verstehe  (Babr.  75, 
H.  168).  Zu  den  mifslungensten  Erfindungen  aber  gehört  (H.  Iü6)  xkixvti^ 
xal  xtcvdox^S,  eine  alberne  Verwendung  des  Werwolfglaubens,  die  Furia  aus 
einer  späten,  für  die  Kenntnis  der  volkstümlichen  Litterntnr  der  Byzantiner 
interessantes  Mat*'rial  bietenden  Handschrift  herau.sijt'f^ritl'en  liut. 

Überblickt  man  nun  diese  reiche  Fülle  vpr?«ehiedenartigster  köyoi,  die  sich 
neben  den  alten  schlichten  (iv&oi  AinJiniioi  in  unsern  Sammlungen  findet,  so 
kann  es  nicht  zweifelhaft  sein,  dafs  die  Erklärung  hierfür  eben  in  der  Geschichte 
dieser  Fabel-  nnd  ünterhaltungsbacher  ra  sndien  ist.  In  diesen  Wandlungen 
^dht  sidi  die  Bficksiefatnahme  auf  dm  Geschmack  weiter  Voikskreise  ans, 
Ah  die  diese  Bficher  sum  Oebraudi  des  gemeinen  Mannes  bestimmt  waren. 

Diese  Bdiebtheit  in  niederen  Schichten  haben  die  Fabdsammlnngen  auch 
im  Mittelalter  behauptet,  die  Sprache  der  Handschriften  liefert  hierfür  den 
schlagendsten  Beweis.  So  erklärt  sich  auch  die  übergrofse  Zahl  der  Hand- 
schriften, in  denen  die  Texte  zum  Teil  sehr  willkürlich  gestaltet  sind.  Trotäs- 
dem  ist  es  gelungen,  in  der  Masse  der  Rezensionen  drei  Haupttypen  zu  sckeiden, 
auf  die  alle  Übrigen  sich  zurückführen  lasaen.   Auch  über  diese  ist  ciu  kurzes 

'  Bur^jer,  Hermea  XXVII  8.  3Ä9— 62. 

'  Wdlil  ('r^\c  Vi^rwriulun;,'  flc?  Motive  vom  'bcffrabcncn  Ehemann',  mit  dem  Boccaccio 
il>ecam.  Iii  h:  Ferondo  nel  purgatorioj  und  Haas  Sachs  i^'der  Ehexuaoc  im  Fegefeuer')  so 
«MirtwUch  m  wirken  wiMen. 


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A.  Haasrath :  Das  Problem  der  äaopisdieii  Fabel. 


Wort  hier  mn  I*latze:  haben  doch  die  Aesopea  das  mit  dem  Alexanderroman, 
dem  Buch  von  den  sioboTi  Meisteni  (Syntipas)  und  andern  volkstümlichen 
Schriften  <;pm<'iii,  dal'a  in  ihnen  die  Geschichte  der  Stoffp  nnd  div  der  Texte 
unlöslich  verbunden  ist.  Die  ältestt;  und  wichti^stt;  Sammlung  ist  die  dt?* 
Aujriistaiuis  (Aug.  Mon.  064),  deren  Bedeutung  licreits  Lessing  mit  sicherem 
Blicke  erkannte*);  die  älteste  Handschrift  dieser  Gruppe,  der  Parisiuus  (390,  ent- 
■iaiiiiiit  dem  XI.  Jh.  Hit  wauda/t  rteht  die  oft  weit  ttbenduitote  Smnminng 
von  Monte  Gaesino,  von  der  eine  Handechrift  aue  dem  XII.  Jh.  (Vindob.  hiei. 
graec.  130)  erbalten  isi  Diese  Sammlung  Tereinigt  mit  den  im  Angoataniu 
in  knappster  Fasanng  gebotenen  Prosa&bdn  die  werttosen  Spielerden  bynanti- 
niscber  Mönche,  die  eine  uns  auch  gclhstandig  erhaltene  Prosaauflösung  des 
Bahrius  ^)  in  sogenannte  politische  Zwölfsilbler  verarbeiteten.  Die  dritte  Gxuppe 
ist  durch  zahlreiche  Handschriften  des  XUI. — XV.  Jh.  und  die  editio  princeps 
doH  Pisiaiiers  Bonus  Accnrsins  (1479)  vortreten.  In  ihr  sind  die  ebfn  angeführten 
und  andere  uns  zum  Teil  unbekannte  Sammlungen  benutzt  uim]  die  stilistisch 
oft  .sehr  verwilderten  Texte  des  Caainensis  nicht  ohne  Gehcinck  überarbeitet. 
Sprachliche  und  stilistische  Anzeichen  weisen  darauf  hin,  dals  der  Verfasser 
mit  dem  des  sogenannten  Äsopromans  identisch  ist  —  daher  wohl  die  Ton 
Bentley  aufgestellte  Vermutung^  dafs  es  Mazimiu  Planudes  sei,  die  schon  dnrdi 
das  Alter  der  Handschriften  widerlegt  wird.*)  Im  groben  und  ganaen  dflrfen 
wir  die  Entstehung  der  uns  flbwUefertm  Sammlungen  ins  XL  Jh.  verkgen,  in 
jene  Zeit,  wo  andi  der  Äsoproman  und  die  übrigen  fobnlae  Romanenses  nieder* 
gesehri^Mn  wurden,  wo  überhaupt  der  Sinn  für  diese  Art  von  Littmitur 
neu  erwachte.*) 

Diese  Einsicht  in  die  Genesis  der  uns  vorliegemleu  Sammlungen  zeichnet 
den  Weg  für  eiiif  kritis^che  Ausgabe  deuthch  vor;  die  heute  verbreiteten  Drucke 
gtih«  n  nur  eine  ])iHnIose  Auslese  aus  den  in  Handschriften  und  den  in  Autoren 
überlit^ferteii  Fabeln.  — 

Neben  den  Volksbüchern  aber,  die  im  vorstehenden  als  eine  HauptqueUe 
der  uns  fihei^ommenen  Aesc^iea  dargethan  wurden,  sieht  die  neuere  Forschung 
eine  weitere  Quelle  dieser  Sammlungen  in  den  Schulbflehem,  wie  sie  ftr  den 
Betrieb  in  Rhetorenschulm  bestanden  haben.  Da  die  aus  dieser  Erkmintnis 
für  die  Beurteilung  einer  grofsen  Anaahl  von  Prosafiibeln  sieh  ergebenden 
Schlfisse  noch  nicht  geaogwi  sind,  soll  auf  diesen  Punkt  etwas  naher  ein- 
getragen werden. 

Die  Fabel  wird  in  den  Rhetorenschulen  als  das  einfachste  litterarische  Er- 
zeugniH  an  den  Anfang  des  Unterrichts  gpstellt  und  zunächst  an  Beispielen 
studiert:  .Tpojroi'  ufi'  ()fi  .  .  .  staQadttyna  ^tqoötütthv  xol$  vfoig  ix^tcv&tiveiv 
(Theop,  Kh.  gr.  1  iöb  W .)  . . .  6  ^uq  ttakä^  xal  noXvxQwca^  dLily^tnv  mmI  fkv^op 

*)  Wolfenbüttler  Beiträge  I  72  (IX  67  LachmV 

Paraiihrasia  Bodleiaua  od  V  KiiHll,  Wien  1877. 

Die  aber  trotzdem  aoch  bei  Christ,  Gr.  Litt.*  S.  122  Anm.  ü  und  Kriunbacher,  By%. 
IM*  S.  6U  vertreten  ist. 

*)  Knmibaeher  a.  a.  0.  S.  886  ff.  und  A.  Eberhud,  Fabulae  BoinatiMifl«!,  pcaef.  DL 


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A.  MMurath:  Om  Problem  «kr  AioiMicb«»  Fabel. 


313 


Jaut^Hlue  luAüs  ntd  Uftoffiav  tfvi^tfci  (1 147  W.).  Dime  Beupiele  werden  mit 
Fodidbe  den  Historikwii,  Pbilosophen  und  Dichtem  entnommen,  aber  nach  Äsop 

findet  sieh  verwandt  (xaftijAo^  xBifutetv  ixt^>(ii^6a6K  xvtov  xgeag  qjtQovaet ,,, 
Tfaeon  I  177  u.  a.).  Für  die  Spftteren  dient  durchweg  der  von  Aphthonius  zum 
erstenmale  in  diesem  Sinne  verwandte  fivd^og  r&v  uvijuiIxcöv  xcd  r£bv  Tixriyajv 
XQOTQixav  Toiig  vtovs  Tf^i'ot'c,*.  An  dipwn  B<'i«yMck'n  werdi'ii  nun  verschiedene 
Übungen,  zunächst  sehr  tlenienturcr  Art,  Vürgeuomineü:  xXtT^'nv  Tovg  (iv&ovs 
dg  xovg  ccQixtjiovg  xa\  T(t^  ;rÄf(j'tag  TiruxJftg  (Theon  I  17C  W.)*),  dann  sucht  man 
sie  KU  erweitem:  tntxtHvioun>  zug  iv  r^  yiv9^  «QoCtaxoicoUag  /iijxvfonr^g  xcd 
Motafiuv  ti  totwHnv  dxtp^u^ovxis,  indem  man  die  Seenerie  genraer  Bohildert 
«der  die  Charaktere  der  handelnden  Personen  eich  in  Beden  entwiokehi  liUM  — 
liier  nahem  nek  |»tWo^,  dii^y^^  und  ^^oatoUit.  Dann  wird  wieder  das  Oegen^ 
teil  übt  und  die  Fabel  auf  eine  möglichst  knappe  Form  gebracht,  'so  dafs 
sif,  »lern  Wits  und  der  pointit  rlt  n  Anekdote  sich  nliliernd,  möglichst  direkt 
auf  «ins  lehrreiche  Epimythium  hinarbeitet:  o  Öl  Fttofth^g  rdde  aegl  r^g  rov 
^v9ov  (f'QaOeejg  kiyu  .  .  .  mg  ^  uv^ng  xttO''  itcvxbv  ykvxttav  i^ti  rip'  fvi'oiaV 
...  üx6kot>9^og  di  TctvTjj  nttvtejg  xal  Aorjr^  (pgatfig  KtpfXijg  xal  oaqfijg 
(Doxopater  11  170  W.).  In  letzterer  Vortragsweise  war  ApUthoiimw  Meister, 
wie  Doxopater  S.  183  W.  ganz  richtig  hervorhebt,  und  sem  Beispiel  hat  in 
den  Rbetorenschnlen  mafi^bend  gewirkt^  Eine  weitere  Übung  beatand  in 
der  YeiAnfipfung  Shnlieher  Fabeha  oder  der  B«fllgung  eines  geachichtUchen 
EreigniflMa^  daa  die  au%eatellte  Lehre  ni  bestätigen  geeignet  erschien:  SvfixXi- 
xoiuv  61  ade'  htf^i^voi  «öv  ft€4tty  im^i(f0^av  Öttiyr^iSiv  ...  vlov xaeXw^dpw^ 

hot6o\ifv  TO  öttjytiiia  xoDxov  xbv  xqoxov'  xaQtatiifjalöv  {loi  öoxit  xi  xa^elv 
xfj  xa^iika  ravrg  xal  KgolOog  6  yiväoQ,  xal  oXov  i<pe^ijg  xb  Stflyi^ua  xo  ttiqI 
«vxöv  iTheon  177  W,j.  Namentlich  Phädrus  verleugnet  in  dieser  Htzichung 
deu  RhetoreuHch iiier  nicht.  —  Nun  erst  erfolgte  der  letzte  Schritt,  indem  dem 
Schüler  aufgegeben  wurde,  selbständig  eine  Fabel  zu  ersinnen,  die  der  zuletzt 
behandelten  Lehre  zum  Beweise  dienen  könne:  toü  Idytiv  iikn^v  «brAi||v 
XQmtiveevtts  xffoiMiS^i^ttv  totg  vü&s  viov  ttvä  friiOo»  »Harn  Xffott^ivn 
K(fif$MU  obuiw  (Theon  I  178  W.).  Nur  die  Umkehrung  daTon  ist  die  Auf- 
gabe, aus  eintr  gegebenen  Fabel  eine  neue  Lehre  zu  ziehen:  yivotvxo  tvbq 
fiv^ov  xle£avt$  äUXoyoi.  md  Av^eüUv  ivog  ixUSyov  xäfumXkoi  fnO^  (ib.  178). 

')  Hieraus  erklärt  sich  wohl,  dafs  dieselbe  Fabel  in  der  eiueu  Sammlung  in  oratio 
reeta,  in  der  aadern  ta  oratio  obliqna  gegehm  wird. 

*)  Daher  flbprwipircn  in  unsem  •Samnilnngen  die  straff  gebauten  lehrhaften  apologi,  in 
denen  Herder  mit  Recht  den  Duft  der  voll  entwickelten  üsopischi'Ti  Kafn'l  vennifote  Er 
verglich  sie  mit  geprefuten  Blumen,  faTste  sie  aber  irrig  als  'byzantininche  Kx/.eq)tc'  alter 
«ditor  Aeaopicm  auf  (XV  660  Snph.).  And«reraeifa  bat  bekanntlidi  Leinng,  denen  Geist 
Gbfra]!  anf  e]>if,'rainmatiHche  Zuspitzung  doR  Problemfl  drUngte,  sich  ganz  der  AufTassung 
des  Aphtboniuti  angCHcblosaeu  und  nie  auch  theoretitich  gegen  i^afbittuine  als  die  'uRopiscbe' 
n  erwei«eu  gesucht  i,V  4U1>  Lachm.).  (Jegen  Le&üng  ist  für  dex  Fruiizoscu  'allerliebste 
rhelniidM  FloAtta*  Erich  Sdunidt  (Leasing  J  991  ff.)  dngetreten,  ohne  den  htetorieGb 
Umgebenen,  richtigen  Standpunkt  gewinnen  an  kftanen. 


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314 


A,  Hmiratli:  Du  Problem  der  iiopisdien  Fabel. 


In  Wirklichkeit  war  meist  das  Epimjthiimi  der  Ausgangspunkt,  wie  der  Seholisst 
au  Aphth.  (II  10  W.)  richtig  bemerkt:  &t  tf^g  unS  i»t^n9£ov  xuQMvitti&i  ol 
^^o^f  xhv  p/O^ov  ^qMdvovöiv,  Sv  (Alte?)  dwa       nttQiUvi0w  i>«ti^ap  pht 

Schlie0üich  wurde  in  den  alten  Rhetorenschulen  auch  noch  Kritik  an  den 
Fabeln  geflht,  indem  die  Unwahrschcinlichkeit  des  Erzahlten  darzuthun  war 
oder  die  Gegenaufgabe  gestellt  wurde,  die  6kubwürdigkeit  des  Fabulisien 
durch  Zusammenstellen  -ähnlicher  Züge  darzuthun:  c^vatfxfvrctfTt'ov  inv  SdxvvvTug, 
ort  ttxC^avu  xal  döviKfOQu  Aiyei,  xtttuöxttfaarf'ov  AI  ix  xCiv  ivcnnitov  (Tluon 
I  179  W.).  Auch  hier  tiaden  sich  Ober  die  Glaubwürdigkeit,  innere  Wahr 
scheinlichkeit  des  ftv^og  u.  a.  w.  eine  Reihe  guter  Bemerkungen,  vgl.  Thoon 
1 180 — 82  W.,  Doxopater  II  161 — 62  W.  Der  Zusammenhang  der  letztgenannten 
Üknngen  mit  den  hemvo%,  md  ^ö^'ot,  die  in  den  Progymnasmata  eine  so  grolse 
Rolle  spielen,  liegt  auf  der  Hand. 

Nimmt  man  nach  diesen  Vorstudien  die  HaJmsche  Sammlung  in  die  Ibnd^ 
die  nur  in  den  allerseltenaten  Fallen  die  Proveniena  der  einaelnen  Sttteks  an- 
giebt^  so  füllt  es  nicht  schwer,  mit  Sicherheit  eine  grofse  A"iF^hl  yon  Stficken 
als  Produkte  der  Rhetorenschulen  zu  erkennen.  Sieht  ninn  dann  sich  nach 
den  Quellen  um,  so  findet  man  bei  vielen,  dafs  sie  thatsächlich  den  Progymnas 
mata  des  Aphthonius,  Nicolnus  \\.  s.  w  «  ntnommen  sind,  und  «hi«  bestärkt  uns 
im  Urteil  über  andere,  in  den  Sammlungen  ohne  Automamen  überlieferte 
Kümmern. 

Zunächst  bietet  eine  ganze  Reibe  von  Stücken  in  übertriebener  Knapplieit 
mehr  ein  Gerippe  zur  Fabel  als  einen  vollen  ^vdog  —  es  sind  6v6tiXX6^ivtL, 
im  %ttQ«xTriQ  aq>BXi^q  des  Aphthonius  geschrieben.  So  die  Nummern  13  {AUtCoi'), 
21b  (dAäcro^£$)y  61b  {ytaQybq  tuA  dl<&an}|)  und  ein  halbes  Dutsend  andere 
die  alle  der  Fkibelsammlung  dieses  Sophisten  entnommen  sind.  Dafe  sie  ab- 
sichtlich auf  Kflne  hinarbeiten,  läfst  ein  Studium  der  Nummern  63b  {tcv^qmnq 
xal  kifov  ovvoöivoxniis)  und  78e  (ßitQa%o$  xal  aXani]^  erkennw,  da  uns  hier 
die  ausführlicheren  Muster  fflrhaltMi  sind.  Dafs  er  gelegentlich  auch  iicrei'vm' 
zu  schreiben  wulste,  beweisen  die  Nummern  174b  T^rrrot;  y/Qoyv),  204 h  (xöoal 
Xff?  «AcrrTjlV  404b  (roryoq  xat  aux^Xog),  die  ebenfalls  von  ihm  herstanunen 
Sein  getreuer  Nachahmer  ist  der  soi^enannte  Syntipas.  freilich  schon  ein  später 
Byzantiner.  Im  Xöyog  ß^fAtJi,'  liat  er  z.  B.  die  Nummern  43b  (^Xamril  xa) 
m'^ixog),  65b  («Mjp  xal  Titr^;,  164  (^(>evn)s;  xai  xvav)  verfalst,  vvühreiui 
51  (dv^Q^  tststog  mA  xS>Xos),  53  {ain)(f  xal  KMta^)  318  {Hpayifos  xal  ^og) 
sieh  dem  behaglichen  Tone  nahem.  Auch  die  Tom  Bhetor  Tbemistius  her- 
rührende Fassung  der  Fabel  von  den  2  Bündeln,  die  jeder  durchs  Leh«i 
schleppen  mulh  (H.  369)»  aeigt  dieselbe  absichtliebe  Knappheii  Aber  auch 
Aphthonius  ist  nicht  der  Erfinder  dieser  Technik,  sondern  nur  deijenige,  bei 

')  Auch  diesen  Brauch  Uut  Lessing  wieder  einzabürgera  verflucht  in  der  Abhandlnng 
'Von  daeb  heMuderen  Gebrauch  der  Pabdn  auf  Schulen*  <T  418— 9t  Lachn.),  die  dhrige« 
im  we«entlichon  nur  eine  Anregung  von  CamorariuH  iius^fuhrt  und  auf  eigantfimlick  Ober- 
triebenen  VoranuetKiuigea  vom  Wert  der  Belehrung  beruht 


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A.  HMuraih:  Dw  Problem  d«r  |iopi0cli«ii  Fiibel. 


31Ö 


dem  t>it>  um  um  duutlicliäteu  vur  Augen  tritt.  £r  »elbst  üuh  sie  dem  Heriuo- 
genes  ab,  dessen  Miistenujthus  von  den  AßeHf  die  eine  Stadt  bauen  wollen 
(fl.  361),  dieselbe  ttberfariebMie  Straffheit  der  Kompoaition  Mtfweist^)  Sdion 
frfiher  haben  Tolketainliche  Sehrifteteller  des  Wirkangsrolle  dieser  Vertrags' 
weise  erkannt  man  Twgleiche  die  drei  Ten  Baim  ans  Flntarch  angenommenen 
Hemmern  82b  ßogiaq  xai  ^^«0$,  238  xwos  olxCa  und  namentlich  282  Xvxoq 
uX  xomijvy  die  in  ihrer  Pragnanz  an  Lessing  erinnert  Auch  Lucian  giebt 
die  Geschichte  vom  Esel  in  der  Löwenhaut  in  der  j^odiängteBk'n  Kfirxc  (ll.'JSnb), 
ebenso  den  selbstrr^imrlcnen  ^vd'og  vom  HeitrT  auf  dem  wilden  Pferd,  Cyniciis  injO. 
Nach  diesen  Proben  auf  die  itegel  wird  es  leicht,  auch  unter  den  namenlos 
überlieferten  Fabeln  StQcke  nachzuweisen,  über  deren  Provenienz  aus  Khutoren- 
schulen  kein  Zweifel  sein  kann.  So  zeigen  viele  Nummern  in  der  Sammlung 
des  Angaatanns  daa  Bestreben,  die  lUml  anf  die  kfiraeste  Form  an  redimeren, 
E.  B.  H.  33  (iXAsnii  aal  ßdt^is),  H.  337b  (üvos  a«l  tht^r^),  H.  347  (9^ 
xnwi^ftfOfi)*  i>t  bisher  gewohnt^  in  solehen  FSIlen  *Ezasipte  ans  Bebriaa* 
oder  anderen  poetischen  Gestaltungen  anzunehmen,  aber  dne  genaaere  Analyse 
der  Prosasammlungen  lehrt,  dafs  vielmehr  bewolate  Net^eetaitimg  schon  be- 
kannter Fabelstoffe  vorlie|^t.  Wesentlich  exzerpierenfJ  verfahren  dagej»pn  die  Ver 
faeser  der  Oxforder  und  Pariser  Bahriuspariiplirasen,  denen  eine  <lritte  bisher 
unedierte  t^ammlung  im  Cod.  Vatic.  gr.  949  an  die  Seite  zu  steilen  ist.  Auch 
in  anderen  Hund^^clirifteu  sind  ähnliche  Machwerke  auf  uns  gekommen,  dahin 
gehören  bei  Halm  die  Nummern  151  {Zivs  »td  '^xöXXov)  und  394  (Xiav  xal 
tttVQoi  tQels). 

Einfiicher  liegt  die  Sache  bei  den  künstlich  erweiterten.  AI»  Mittd  nt 
dieeem  Zweek  nennt  Theon  an  der  oben  angefthrten  Stdle  antM-  anderem  die 
EinschieboBg  einer  ixipQttoig  .TnrrmoO.  Babrius  hat  aaeh  diese  Lehre  getreu 
befolf^t,  man  vergleiche  in  der  Fabel  von  der  Krähe  mit  den  gestohlenen  Federn 

die  hübsehe  EinlH^;e  fBabr.  72.  .^):  iöta^f  xir^i^^  cdyl  dvaßatov  x^inj  u.  s.  w., 
vi'iv  üVierhaupt  an  manchen  seiner  poematia  das  An/i»  hend«t<'  di«-  Ausführung 
solcher  geschinackvoll  jrewiihlter  Details  ist.-)  Dieselbe  Fabel  in  der  gleichen 
nur  noch  gesteigerten  Manier  linden  wir  bei  Libanius  (IV  853  Reiskej,  der  in 
derselben  Weise  auch  die  Fabeln  vom  Wolf  und  den  Schafen  und  vom  Wett- 
lanf  der  Sduldkrdte  und  des  Pfardea  (eUtt  des  Hasen)  ersShlt  (ib.  8041). 
Schon  Dio  C3u7BoetomnB  liebte  solche  behagliche  Breite  des  Vortn^  bei 
FabelatoÜMi  (vgL  H.  105  u.  106).  Spftteze  wie  Gregor  Ton  Nasians  (H.  416b) 
fallen  gar  in  unertrSgliehe  Oeechiriitni^eit. 

Aneh  f&r  diese  imtivigusim  faUt  es  nicht  seh^rar  in  den  Fabelsammlnngen 


')  Auch  Hprmogenea  «cheint  in  beidtni  ^^ätteln  gerecht  gevr^in^n  m  <^fm,  man  vpl  ilas 
Urteil  des  NicephoruB  (Bh.  I  435  W.)  6  fiif&os  ottog  (xcfi  ixxov  %tei  iidipttv)  ieri  fiiv  Aiem- 

Bokatiiitlich  t-ln  alter  K'rn-^tu'riä':  Honit  dt-  arte  pi»:-f   15:  Purjrftrt^ti  tntf  ipti  yplevriffjt 
wmw  et  alter  Adsuümr  ^nntu,  cum  lucust  et  ara  Ihanae  Et  properanttn  aguae  per 


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316 


A.  Havamih:  Dm  Ptobl««  d«r  OMpiMiiea  FtSM. 


Belege  zu  finden.  Dahin  gebort  die  wortreiche  Schilderung  des  Streit«  der 
Laud'  uud  Wusserschlange  (H.  147),  die  Beratung  der  Vögel,  wie  den  Nach- 
ateUungen  der  Mensdien  m  entgehen  aei  (H.  417b),  die  yaXeo(iuxiu  (H.  291  b)  n.«. 
GelflgwÜidi  etnd  so  FttbebOjets  ta  ToUBtimiigen  rhetoriiciien  SUiopoüen  vt- 
weitert,  wie  wir  sie  aoe  dm  Ihrogjmmuunata  sIb  eine  hdhere  Stuft  des  Unter- 
riehte  kennen.  So  kminte  H.  67,  wo  an  vieUeieht  ätr  Komödie  oder  dem 
Mimne  entlehntes  Motiv  weiter  ansi^eführt  wird,  sehr  wohl  die  Überschrift 
tragra:  tivecg  av  Xöyovg  (txot  üi'iji)  deilbs  kiovttc  xgvaovv  tvQav.  Dieselbe 
Provenienz  möchte  man  für  die  Geschichte  von  xatiiQ  detlbg  xal  vlog  yevvaiog 
{II.  340)  vermutet],  wo  der  von  der  Löwcnjii^d  /.uriickgehaltene  Sohn  das  in 
eine  Tapete  eingewirkt*!  Bild  eines  J^iiwen  apositrnphiert. *>  üiiter  die  iyjtafita 
lielse  sich  xavai^f  (11.  2o4i,  unter  die  tftjyx^ttfttt,"  aui'ser  anderen  xetiiav  xtcl 
euQ  (H.  414),  2^Aiddi'c$  xal  xvxi'tn  11.  41G)  einreihen.  Bei  manchen  dieser 
Fabeln  könnte  man  die  Vermntuug  hegen,  dafs  ein  poetisehes  Original  sn 
Gnmde  liege,  bei  dem  det  Zwang  des  Hetnims  und  das  BedOifnis  nach 
genauerer  Charakterisiernng  der  Handelnden  und  ^tt  dahin  fliebender 
Schüdemng  die  bei  der  Prosaliissung  stdrende  Breite  herbeigeilihrt  hdbe.  Das 
letstere  trifft  nur  auf  die  wenigen  an  Babrins  angeschlossenen  Stflcke  sa,  der 
Zwang  des  Mebnms  erklart  die  Umständlichkeit  vieler  Nummern  in  Furias 
Sammlung.  Denn  diese  sind,  wie  oben  wwahnt,  ursprünglich  in  sogenannten 
politischen  Zwölfsilblern  gebaut,  deren  einziges  Oesetz  in  der  Silhenzahl  und 
der  Betonung  der  vorletzten  Silbe  durch  dcü  \rcent  besteht.*)  Solche  StQcke 
liegen  vor  (bei  Halm  nicht,  wie  Korais  richtig  ^etlian  hatte,  nach  Verszeilen  ab- 
gesetzt): aktxtOQtg  i^li.  21  cK  kv^qcotto^  x(d  xvtop  (H.  Ö2),  i)uLm>og  (H.  157 )  u.  s.  \v. 

Wenn  bei  den  bis  jetzt  betrachteten  Fabeln  die  Art  der  Ausführung  auf 
die  Vorsehriften  der  Rhetonnsefanlen  hinniweMen  schien,  so  ist  von  TOmh^ein 
die  Annahme  berechtigt,  d&Is  die  Zahl  der  Fabeln  noch  gröfser  sein  muls,  die 
in  Anlehnnng  an  bestehende  Muster  als  Schnlezereitien  nen  gesdiaffm  sind.*) 
Hustem  wir  die  Fsbeln  des  Äphtiionios  und  des  sogenannten  Syntipas,  so 
lassen  sich  Ix  i  einigen  die  Vorbilder  leiclit  feststellen.  Aphthonius  hat  selbst 
die  alte  Kabel  vom  Hohr  nnd  der  Eiche  behandelt  (H.  T'-^ci,  die  dem  Sturme 
mit  ungleichem  Erfolg  zu  widerstehen  trachten.  Genau  diesem  Muster  hat  er 
dann  die  Fabel  vom  Ölbaum  nnd  Feigenbaum  nachgebildet,  die  im  Wint«r 
ein  ähnliches  Sdiicksal  haben  (H.  124).  Ebenfalls  nach  bekannten  Mustern 
hat  er  das  'Schuster  bleib'  bei  deinem  Leisten'  an  den  Weihen  iÜuatricrt,  die 


*)  Die  nächste  Parallilc  lii'^ton  ali'^r  auch  hier  wieder  «hV  Ri^diiipr;  vpl.  Libiuiin'<  IV  1021: 

1048:  r.  ä.  eßr.  l.  d$ilh9  tpiliifyv^  eip^p  xf<69$o*  |{q»o$. 

*)  Fedilc,  Priitjranini  des  Breslauer  ElisabetaiiH  1877. 

'  Kini^'es  der  Art  ,  liin^v  nicht  alles,  ist  von  Halm  erkannt  und  unter  die  Punin<'lfn 
verwiesen  worden.  Dies  ist  tust  der  einzige  Punkt,  der  in  Eatherford«  Uistorj  of  Greek  fable 
■elbsUUidig,  über  nicht  ohne  Übertreibung  ausgciRIlirt  itt.  VgL  s.  XL:  Oism  »  fabh,  «enite 
doNM  Ut  morai.  Given  a  morai,  wrüe  out  a  fMt  to  illustmie  «t.  Qinm  mkm  mawMh, 
«OMiMM  a  fM»  im  ukith  tt^  ect  m  thamder  ....  Foor  Uni»,  poer  muttnl  e.  w. 


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A.  HMiratb:  Dm  FtobleiD  der  toopiicboi  F»b«l. 


817 


sich  wie  dif^  SrhwHne  aufs  äingen  vcrlopton  TH.  ITOhY  Nur  eine  Weiter- 
bildung dieses;  Themas  ist  dann  die  eheufalis  v(.n  Aplithouiuti  herrührende  Er- 
zählung vom  Raben,  der  es  dem  Schwane  nicht  au  Ötimme,  sondern  an  Farben- 
adiSiiliett  nachthun  will  und  deshalb  die  Altare,  die  er  bisher  plflnderte 
(Anlehnimg  an  x<jp«c|  vot/Av  »ul  |Hftrq^  H.  208),  verlifet  und  sidi  ins  Wasser 
Mnk,  worin  er  umkommt  (H.  206).  So  seiet  aneh  Synttpas  an  die  Stelle 
des  Bocks,  der  Ton  dknr  Uaner  herab  den  Wolf  TCrliohnt  (R.  136,  Babrins  96, 
d(p'  v^Aot)  ftov  xatayekäg  Sprichwort  bei  Diogenian  III  24  Paroem.  Qott. 
I  217),  den  Fuchs  am  Löwenkäfig  (H.  40).  Wenn  der  Fabulist  einer  freien 
Zeit  den  Wolf  an  dem  von  der  Kette  abgeschabten  Hals  des  HunfUs  tTl<<'nr>«-n 
liil'st,  dais  dessen  Wohlbeleibtheit  allzu  teuer  erkauft  ist  f  Phaodr.  III  7.  B.ilir.  KA), 
Aviaiv  37,  H.  278),  so  fafst  Syntipas  (H.  'M^  die  Saihe  von  der  auderen  Seite 
und  iaüsi  den  wilden  Esel  vom  Löwen  zerrissen  werden,  während  den  zalimen 
der  Hirle  beedifttst. 

Aneh  nnter  den  namenloa  fiberlieferfeen  Fabeln  lassen  sieh  leicht  die  Kopien 
noch  erhaltener  Originale  «kennen.  Wenn  Pinto  schenend  einen  ftß^os  ersann, 
am  die  Bedfiifiiisloaigkeit  der  Orillen  m  erkUuren  (H.  899),  so  gab  er  damit 
das  Vorbild  zu  der  auch  von  Babrius  nacherzählten  Fabel  von  den  Weihen,  die 
ihre  klnnirvoll«'  Rtinime  auf  ähnliehe  Weise  einbflfsten  (Bahr.  73,  H.  170).  Wie 
Pf  zu  erklären  suchte,  warum  Freurle  und  Traner  sieb  ?iiet\(r  ablösen  (H.  liöß), 
so  «k'ntet  Plntarch  das  Verbfiltuis  von  F»'st  und  Katzenjaimner  i  H.  I'^'-Ji  imd 
Babnus  I  Hahr  1-S4,  H.  1)  v«'rallgemeinerud  (his  der  ayu&ü  und  xccxd,  und  dieaeibe 
Thatsache,  dal»  diis  Glück  wetterwendisch  ist,  suchen  dann  sowohl  die  Fabeln 
H.  S8  wie  H.  867  au  verwerten.  Die  Beobachtung,  dafs  das  Unglück  meist  von 
dn*  Seite  nahi^  wo  man  es  am  wenigslen  beftrchtet,  ist  von  einem  Fabnlisten, 
dem  die  alte  Yerwandlnngssage  vom  'jilKv6v,  die  noch  Lncian  mit  Liebe  er* 
aüilt,  nicht  mehr  lebendig  war,  am  Gesdiick  dieses  Yogdl»  illustriert  worden, 
der  Tor  den  Meeschen  auf  einsame  Slippen  flüchtet,  um  dort  Nest  und  Jvnge 
▼on  den  Fluten  Temichtet  zu  schauen  (H.  29).  Mit  abgeschmackter  Über- 
treibung bat  dann  ein  spitzfindiger  Jünger  der  Khetorik  danach  die  OeHcbiohte 
eines  Hirsches  ersonnen,  der.  auf  dem  cinf^n  Auge  ))Hnd,  sich  nach  iler  Küste 
zurückzog,  um  dort,  das  gesunde  Auge  sorglieh  ileni  Lurule  zukehrend,  zu 
weiden:  Schiffer  erlegten  ihn  vom  Meere  aus  (H.  12ih.  im  allgemeinen  haben 
die  Bearbeiter  der  nns  Überlieferten  Sammlungen  keinen  Anstofs  daran  ge- 
nommen, Terachiedene  Behandlungen  deeselben  ^Hiemas  aufiranehmen.  Aber 
das  uralte  Märchen  vom  gescfaimdenen  Wolf,  das  die  Grundlage  unseres 
geimanisehen  Tlerepos  geworden  ist^),  ist  doch  wohl  deswegen  nnr  in  der 
jüngsten  Sammlung,  der  s<^enannten  Accursiana,  flberliefert,  weil  in  den 
anderen  die  Parallelfabel  von  der  boshaften  Ziege  iiand,  die  dem  Esel  rat, 
sich  krank  zu  stellen;  der  Arzt  verordnet  dann  eine  Kur  mit  ZiegenVdnt,  und 
dip  Ziege  büfst  wie  im  Keineke  der  Wolf  (H.  \'^).  ReiH])ieh'  für  s(dehe  parallel 
laufende  Fabeln  lieüseD  sich  noch  zu  Dutzenden  anführen  j  wenn  man  den  Ver- 


Juc.  Griuliu,  keiuhui  t  Fuchs  8.  Li! 


318 


A.  Hausratb:  Da«  Problem  der  äaopischen  Kabel. 


such  macht,  die  wirklich  selbständigen  Typen  von  den  Variationen  zu  scheiden, 
schwinden  die  umfänglichen  Sammlungen  sehr  zusammen.  Die  Rhetoren 
arbeiteten  eben  mit  Vorliebe  mit  dem  altbewährten  Gute  und  zeigten  ihren 
Scharfsinn  nur  in  geschickten  Kombinationen. 

Die  Übung  der  Schule  hat  aber  auch  gewisse  r6:toi  (iv&av  geschaÖeu. 
Dahin  gehört  vor  allem  die  Anlehnung  an  die  Schöpfung  von  Mensch  und 
Tier  durch  Zeus  oder  Prometheus,  die  namentlich  bei  ätiologischen  Erfindungen 
passend  war.  So  erzählt  ein  Feind  des  ehrsamen  Handwerks  (H.  13C),  als 
Zeus  nach  der  Schöpfung  dem  Hermes  befohlen  habe,  allen  Handwerkern 
Lügengift  zu  trinken  zu  geben,  seien  die  Schuster  zuletzt  gekommen  und 
hätten  nun  den  ganzen  Rest  schlucken  müssen.  Woraus  sich  erklärt,  dafs  alle 
Handwerker  lügen,  am  meisten  aber  die  Schuster.  In  der  Sammlung  des 
Parisinus  suppl.  gr.  690  wird  die  Fabel  zweimal  fast  wortlich  gleichlautend 
erzählt,  nur  ist  an  die  Stelle  des  Schusters  im  zweiten  Falle  der  Arzt  getreten, 
invettto  ni  fnUor  recmtiorc,  wie  Crusius  zu  Bahr.  221  bemerkt.  Der  Nachahmer 
hat  sich  eben  die  Sache  hier  besonders  leicht  gemacht  und  sich  der  typisch 
schlechten  Rolle  erinnert,  die  die  Arzte  in  der  Fabellitteratur  (vgl.  Babr.  75, 
H.  107  169)  spielen.  Mit  ganz  ähnlicher  Wendung  erklärt  Himerius  in  einem 
duftigen  /ivdoi,'  die  verschiedene  Art,  in  der  sich  die  Liebe  bei  den  Menschen 
äufsert  (H.  142).  Ebenso  an  den  Schöpfungsakt  knüpft  die  unsaubere  Er- 
zählung Zfvg  ytal  Al6%vvr^  (H.  148)  an,  mit  der  verschiedene  bedenkliche 
Geschichten  bei  Phädrus  (IV  14  15  16)  zusammenzuhängen  scheinen.  Einige 
Reminiszenzen  bei  Plutarch,  Conv.  sept.  sap.  Cap.  3  lassen  vermuten,  dafs  uns  hier 
wie  öfters  die  griechischen  Originale  verloren  gegangen  sind.  Dasselbe  Motiv 
ist  noch  oft  verwendet,  so  z.  B.  in  der  Parabel  von  den  Menschenaltern  larrrot;, 
/3ovg,  xv(ov  xal  av&Q<03tos  (H.  173b)  und  dem  breit  ausgeführten  Paradoxon 
AiW,  IJQOfirj&evg  xal  ikitpag  (H.  261),  das  im  wesentlichen  nur  die  Über- 
arbeitung eines  Kapitels  bei  Achilles  Tatius  (II  21  f.)  darstellt. 

Eine  andere  vielgebrauchte  Szenerie  läfst  die  Tiere  vor  Zeus  Thron  über 
ihr  unglückliches  Los  Klage  führen.  Man  vgl.  övoi  :rp6g  rbv  dia  (H.  319), 
ö^Jtg  :Tßrovfi£vog  (H.  347),  xciftr^los  xal  Ztvg  (H.  184,  wohl  die  Vorlage  für 
Zeifg  xal  (liXiaöai  Babr.  183,  H.  287)  u.  s.  w.  Uralt  ist  auch  die  Form  des 
Wettstreits  der  Tiere  und  Pflanzen  unter  einander  um  den  Preis  der  Schönheit, 
Stärke  u.  s.  w.     Sie  benutzen  u.  a.  xoXoibg  xal  (H.  200),  ^6dov  xal 

äfiaQuinov  (H.  384),  kiuivu  xul  aAcS^r^l  (H.  240)  und  viele  andere.  Hiermit 
verband  sich  leicht  das  alte  Märchenmotiv  von  der  Königswahl,  so  in  äkantf^ 
xal  nC9riXog  (H.  44),  Zevg  xal  ukaTCrjl  (H.  149),  artdTjxog  xul  xajüTjAo«;  (  H.  365). 
Schliefslich  sei  noch  auf  die  häufige  Erwähnung  eines  Kriegszustandes  in  der 
Tierwelt  hingewiesen:  Xvxoi  xul  xvvig  (H.  267),  (iveg  xal  yaXal  (R.  291), 
6rQox>9oxtt}iT)kog  (  H.  391)  u.  s.  w. 

Wenn  so  die  Technik  viel  befolgte  Vorschriften  für  die  Ausführung  der 
Fabel  an  die  Hand  gab,  so  bildete  sich  bald  auch  eine  Tradition,  wo  die  Stoffe 
für  neue  Fabeln  herzunehmen  seien.  Man  knüpfte  dabei  gern  an  volkstüm- 
liche Überlieferungen  an,  -  wie  sie  im  Märchen  und  Sprichwort  in  Umlauf 


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A.  HMKmibi  Dm  Pn>bl«a  d«r  bopiaehen  Fkbel.  319 

waren    Xamentlich   das   letztere   wurd»^  in   solchem  Umfang  herbeigezogen, 
dafs  spätere  Theorie  ^Lucill  von  Tarrhae)  die  Fabel  überhaupt  als  xtcQoiftia 
^r^jilanivi]  bezeichnen  konnte.    Solche  aus  sprichwörtlichen  Sentenzen  heraus- 
gesponnene Erzählungen  verraten  sich  zum  Teil  schon  dadurch,  dais  für  die 
SnMdrang  des  ^eiehen  Worte  remhiedene  ErkförungBreTsnche  YorU^n. 
So  ist  nach  Snidas  ISvov  ancpaaN^frciD^  «n  Wort  gewesen,  das  ixl  tüv  waa- 
yiUtft»;  ihftut^puvto&vtav  gebrancht  wurde.    Seit  Korais  and  Furia  findet 
Bich  non  in  uneeren  Fabeltammltuigea  eine  Geachiehte,  die  berichtet,  dab  ein 
Esel  die  von  einem  TSpfer  ans  Lehm  g^onnten  Vögel  zerti  eten  habe  und  nun 
dessen  Herr  6vov  siccQccxöifftog  verklagt  worden  sei.    Dafs  diese,  dacu  nocb 
möglichst  ungeschickt  gefafste  Erzählung  (es  sind  zwei  Versionen  ineinander 
gearbeitet,   nach   der  anderen  hatte   der  Eael   TtccQtatvi'a^   Sue  r/Jg  f^vQfdog 
lebendige  V(")gel   :iiifgeseheneht,  die  beim  Aufflattern  nun  allerlei  Unheil  an 
richteten  I,  nur  einen  niiilsigen  Deutiingsversufh  der  Parömiopmpben  darstellt, 
beweist  dar  Umstand,  daik  in  der  Quelle  von  l's.-Luciaus  ih'o^  und.  Äpuleius' 
Metamorphosen  ein  sinnvollerer  Veraueh  tm  firidarung  dieser  dunkeln  Wendung 
g^macbt  wird.   Dort  schafft  sidi  nämlich  der  Held  wahrend  seiner  Metamor* 
phcse  selbst  wieder  neues  Unheil,  indem  er  sich  in  einer  geföhrlichen  Situation 
der  Natur  seiner  augenblieklidim  Erscheinungsform  gem&fs  neugierig  vom- 
aberbeugt  und  durch  seinen  Schatten  sich  und  seinen  Herrn  verriit:  xAk  t&rt 
^  inov  Ttgaxov  ^X&£v  tl^^  (h'^()äafOVi  ^  Xöyog  ovrog'  ^|  ovox)  xecQoxvtffeais 
(Luc.  613,  wo  das  ^  auffällig  ist),  vgl.  itndr  etiam  de  prospedu  et  wnbra 
asini  frf*ptens  nntnm  r.9f  prorerhinm  ( Apul.  Met.  IX  12).  —  Dafs  eine  Schwalbe 
keinen  Sommer  niiicht,  sclieint  aneli  bei  den  Üriechen  bereits  volkstümliche 
Weisheit  gewesen  zu  sein,  aus  der  tnit  ersichtlicher  Mühe  ein  Jünger  der 
Rhetoren  die  Geschichte  vom  viog  Scouto^  herausarbeitete.    Dieser  trug  den 
Winterchitou  ins  Leihhaus,  sobald  er  den  ersten  Sommerboten  erblickt  hatte. 
Ab  er  dann  TOr  Flroat  aittanid  am  SInnde  die  Schwalbe  tot  daliegen  sah, 
brich  er  in  die  Worte  aus:  i  jßlii6viov^  9^  ml  6k  Med      ixA3L§0as  (Babr.  181 
Yiellttcht  gehSrt  unter  diese  Kategorie  auch  die  umstindliche  Er- 
dUimg  Tom  iuiQtauegudiiKtts  eUij^jb;  utA  X^tog  (fi.  354),  die  der  volkstfim- 
liehen  Anschauung  Ausdruck  geben  soll,  dafe  auch  den  fifichtigsten  Verbrecher 
üe  hinkende  Strafe  ereilt.*) 

Für  einen  derartigen  Betrieb  sind  weitverbreitete  Handbücher  eine  not- 
wendige Voranssetziing.  Schon  das  mehrfach  erwähnte  Verfahren,  aus  einer 
l>fkannten  Fabel  durch  leichte  Abändenuigrn .  Hinpinflecht<»n  anderer,  ebenfalls 
"Ithewahrter  Motive  u.  s.  w.  neue  7.n  l)ihleii,  macht  die  Existenz  von  liuch 
teiteü  Wahrscheinlich.  Aber  wir  sind  auch  in  der  Lage,  die  Richtigkeit  dieser 
Annahme  strikt  zu  beweisen.  Es  kommt  nämlich  der  merkwürdige  Fall  vor, 
^  Ton  einer  Fabel  nch  verschiedene  Varianten  finden,  die  sich  nur  ab  aus- 
^i»ndergeh«ide  Heilungsverauche  einer  in  der  gemeinsamen  Quelle  — .dem 

*)  Vgl.HMBOd,Op.«ie  Bs.!  etirUa  yitQ  TQ^xtt  oQ%oe  uiia  ütolitjat  SUtjai  . cf.  The0|f .  S81  f.). 
^^■^tnua,  Leiilogn*  II  66. 


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SSO 


A.  Hauirmth:  Diu  Fkoblam  d«r  Siopudum  Fftbel. 


Haiulbuch  —  veristüiimielt  überlieferten  Fabel  erklären  lassen.     So  isfc  hei 
H.  257  {^kt(ov,  uXaxiji  xal  fiv$)  eine  Tabel'  der  Nachwelt  aufbewahrt,  die  tw> 
BinnlM  iiiy  dafii  mm  sie  anch  dem  fcbönchtesten  Khetorenschttler  nicht  sminntti 
mag.  Eine  Maua  iLuacht  aber  den  adilafenden  L5wen  dahin,  to  dab  dieaer  er- 
wadit  und  wild  am  «ich  bliekt  Der  Fvtdha  Terhohnt  ihn,  er  aber  erwidert: 
i»d  v6y       i^pofi^i9ipf,  HIA  t^v  xeat^v  66h»  xai  ti^  «iwifieMCV  iiwtQiitn*  So 
die  Ynlgata  (H  2.' Tb),  die  selbst  den  Abedumbem  dunkel  blieb,  so  dafo  es  in 
einigen  Handschriften  kurz,  aber  kaum  verständlicher  heilst:  aXlcc  n^v  xelQtt», 
Die  Beiubeitor  der  im  Auf^istanus  und  Casinensis  vorbVf^nrlen  Sammlnntjen  ver- 
fuhren radikaler.    Dort  i  H.  2ö7)  heifst  es:  alXa  xcaä  T»)g  yvmfirig  ennov  rriv 
6q}h]v  ti(o  {vQy{p>  Cas.,  aber  V}tI.  TrMzes:  ov  fivv  q)oßov^<it^  <^q>iXtttTrf^y  t?}i'  öl 
0(ffi-^v  ixT(fisi(o).   Aber  all  du»  ist  überÜUssige  Mühe,  du  der  ganze  Unsinii  nur 
die  Kadiwirkiittg  einer  korrupten  Stelle  in  der  gemeinnimen  Gründl^  ist,  die 
auch  in  den  Babrinatexfc  eine  doppelte  Fassung  hat  eindringen  lassra.  Wfthrend 
der  Athoua  dort  einen  der  oben  mitgeteilten  Vulguta  uuhe  stehenden  Text 
bietet,  ist  das  Richtige  bei  Suidas  fiberliefert:  xaitijv  Ö*  I^JLXs  rfyv 
x(ctai0x^veiv  (=  xutuxbX^iVj  vgl.  Crusius  zu  Babr.  82,  8),  so  dafs  also  der 
König  der  Tiere  seine  Furcht  mit  einer  derben,  aber  glücklichen  Wendung 
benwntelte.    Die  Fabel  257,  257  b  aber  ist  aus  unseren  Sammlungen  zw  tilfren.'i 
Ähnlich  liegt  die  Saebp  bei  der  Fabel  vom  Frosch  als  Arzt  (H  I^k  Iii 
der,  wie  wir  erst  dureli  tJruaius'  Ausgsibe  erfahren  haben,  nach  Ausweis  des 
Athous  auch  von  Babrius  (120j  befolgten  Fassung  benutzt  der  Fach«  die  ieichen- 
blaaae  Farbe  des  angeblichen  Heilkfinstlert  au  einem  Angriff  auf  deesm  Flhig- 
keiten:  «Ag  . . .  ällav  ii^tfg,      tfitwdy  oßva^  j^opov  tftnr«  oiD  tfo^tts;  die- 
selbe F^HMung  kannten  Aphthonins:  dit<&ri}|  tb  ifi^og  M  toO  x^Aiuerog 
i^i9yx*^  Babrius  abhSngige  Avian:  poMida  cootuUms  cm  mkt 

ont  dolor.  Dafs  aber  auch  hier  in  der  gemeitisainen  Quelle  die  Lesart  schwankte, 
beweisen  die  Sammlungen  des  (^asinensis  und  der  Accursiana.  Im  Caa.  nämlich 
wird  dem  Frosch  wenig  passend  snin  Hinken  vorj^oworfen  («tcvrov  nokhv 
ovxu  ^ij  &egusteveis),  die  Aeeursiaiia  aber,  die  sieh  auch  hier  aln  letztes  Glied 
der  Prosftversionen  erweist,  hilft  diesem  Mifsstand  dadureli  ab,  dafs  sie  j^oArfg 
betbeiiült,  aber  au  Stelle  des  Frosches  einen  uubehili liehen  Wurm  [^exijkti^) 
mm  Trager  der  Handlung  madit  —  womit  freiliGh  auch  die  SpitM  der  Br- 
sahlung,  die  sich  gegen  den  grofsmünligen  Schreier  riditete^  rettungslos  ver- 
loren gdit. 

Die  Existena  dieser  Handbücher  lalat  sich  weiter  aber  anch  aus  der 
Idtteratnr  beweisen.  Wenn  wir  an  verschiedaien  Zeiten  den  gleichen  Kreis 
von  Fabeln  mit  nur  geringffiL'iL--*  n  Abweichungen  in  der  Ausführung  wieder- 
finden, so  isf  der  Schlufs  geboten,  dafs  hier  eine  gemeinsame  Quelle  dieser 
Art  zu  Uruiide  liegt.  Daik  dieser  Fall  bei  Phädrus  und  Plutarch  vorliegt^  die 


'i  luturessant  ist,  il:ir>  die  Rabriua-  und  'Äsop'versioiK^n  sidi  scharf  scheiden:  Babr., 
par.  Uodl.,  Neveletaua,  Ignutiuü  (666^)  auf  der  eiuen,  AugiutauuB,  Cuaiuensi«,  Tawtsen  (^i^fiij) 
aaf  der  anderen  Seite. 


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A.  HMimih:  Du  Problem  d«r  iMpiseben  Fnbel. 


321 


eine  Reihe  von  Fabeiu  ziemlich  gleichlautend  erzählen,  ist  schon  lange  bemerkt 

worden.' ) 

Weiter  siiul  in  der  rümiscli  griecLischeii  Spruchlehr»'  des  l'seudo-Dositheus 
Fabeln  in  beiden  Sprachen  mitgeteilt,  wobei  die  lateinischen  in  der  Auswahl 
und  im  Text  snin  Teil  mit  der  unter  dem  Namen  des  Romulos  gehenden 
FhwunflBflnng  des  Fhadnu  stark  flbereinstünmen.^  Auch  f&r  die  griechiachen 
Texte  dee  Pa^-Donfhena  la&i  sieh  jetat  die  Vorlage  genauer  bestimmen.  In 
Palmjra  sind  Wachstafeln  gefunden  worden,  auf  den* n  *  in  des  (tri<-c1iiächen 
offenbar  nur  wenig  kundiger  Syrerknabe  (griechische  FabeLi,  w  i*-  es  .niheint 
nach  dem  Diktat  eines  etwas  ungeduldi<;en  Lehrers,  niedergeschrieben  hat.  Der 
Text  der.sell)en  stimmt  so  auffällig  zu  drin  cUt  ixhichcn  Fabeln  bei  l's.  Dusitheus, 
dafs  auch  hier  ottenbar  das  <;leiclie  Uandhuidi  /.u  Grunde  ifcletfcn  liat.''( 

Dergleichen  liandbücher  sind  in  der  Litterutur  ja  auch  nicht  ohne 
Parallele.  Wie  für  den  Elegiker  Gomelioa  Gallus  Parthenius  die  xa&i^iucTa 
i(fmnxd  zusammenstellte,  seheinen  auch  Itlr  den  Novellenschreiber  ahnliche 
Stoffinmmlungen  bestanden  au  haben.  Darauf  weisen  die  Eingangsworte  Ton 
Apnieius*  Metamorphoeen;  T3n  . . .  tarias  fahidas  amaaram.*)  Ähnliches  lifst 
sich  far  Lucian  erschliefsen,  der  Oberhaupt  in  hervorragendem  Mafse  mit  der 
Fabellitteratur  vertraut  ist.  In  seinen  Schriften  findet  sich  eine  nix  rrascbend 
grofse  Zahl  aus  den  Sammlungen  der  Aesopica  bekannter  Erzählungen,  die 
teils  unv*  rändert  übernouinicn,  teils  leicht  umi^earlicitct  sind.  Er,  der  ftir  das 
Wirkuii<rsv(>lli-  schliclit  vorj^etragener  ^v9oi  ein  inncs  N'erständnis  besitzt''), 
kann  auch  als  der  i*jrtinder  einer  neuen  Kunstgattung  auf  diesem  (lel)iet  be- 
zeichnet werden:  ist  doch  der  ganze  ziiowaus  (III  125 — 129  Jacob.)  nichts 
ab  ein  kunstgerecht  durchgefOhrter  fLv9os  vom  gottbegnadeten  und  vom  ge- 
meinen Zecher.  Der  AbschloHs  lautet:  fiÄ  %bv  /iC  odx  hf  hi  iatayd-yoi^ 
ix^fiv^iov^  6p£v«  ydtQ  fftfi}  meO^  8n  fvö^  ioixcc  fitfvc  ft/v  ti  sro^a- 
Ma£ei^v,  ^  {i^&Ji  uln'u,  el  dl  xtwtä  dö^Ht  tu  leyoneva^  <'>  2Jfth,i'bi;  t(Qci 
Tlfag.  Viel  ist  sicher  auch  sonst  bei  ihm  Produkt  der  eigenen  Phantttsie. 
Aber  für  all  die  Freundschaftsmärehen  des  Toxaris,  all  die  Spukgeschichten  des 
Philopseudes,  die  verschiedenen  Variationen  des  Wunschmarchens  im  Xiiviiriiim 
u.  a.  m.  wird  er  sich  wohl  el)enso  l>t'reitsteliciidcr  Sammlungen  Ixuln  nt  liulicii, 
wie  in  den  Het{irenl)riefen,  wo  manches  novellistische  Motiv  verwendet  ist,  das 
auch  bei  Alciphron  und  Aristaenetus  wiederkehrt. 

*)  Crusiufl,  Rh.  Mas.  XXXIX  606;  J.  Denis,  De  la  fable  daas  Tantiquit^  dsfliiqne. 
Caen  18>«3,  j).  49  -  r.i. 

*j  Überhaupt  hängen  die  uns  erhultuncn  griechii<i:huu  Fubflsaiuiuluugen  mit  den 
rthniiehen  des  PhSdnis,  Aviaoni,  Romtdas  n.  s.  w.  durch  die  mumigfachBten  Fftden  su- 
mnmen. 

*)  Vgl.  meme  'llntetracfaungeii  rar  Oberliel'erung  der  a80|iUGbe&  Fabeln'  S.  S99;  Cnuios, 
Babr.  S.  8. 

*)  Cniflids,  Pbflol.  XLVII  448. 

*)  Vgl.  den  oben  (S.  31f»)  angefüIiHcn  Mythos  vom  Roiter  auf  dem  rusonden  Pferde. 
*i  Vßl.  aacb  Scjrtha  868;  fioviteQt  ovv  ijdq  imt^fayt»      ^v9^  ti  tÜoi^  mg  |it^  «ht^oieg 

Vmu  ttMmibK,  IN«.  I.  Sl 


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322 


A.  Hauarath:  Da«  Prolilcm  der  äsopiacbeo  Fabel. 


Ob  und  wie  nnn  diese  Stoflbamniliuigen  f&r  den  Dichter  und  NoTellisieD 
mit  den  Volksbüchern  und  den  Handbficheni  fiir  Bhetorenschulen,  deren  Sparen 
im  vorhergebenden  verfolgt  wurden,  zusammenliangen,  ist  schwer  zu  sajifen. 
Schöpfungen  der  lebendiffon  volkstümlichen  Lu;^t  am  Fabulieren,  die  in  Griechen- 
land von  jeher  hoiniisch  war,  kreuzen  sich  hier  wunderlich  mit  den  schalen 
Produkten  euier  alternden  Uhetorik.  Diese  Verhältnisse  zuerst  richtig  erkannt 
zu  haben,  ist  eines  der  Verdienste  des  grofsen  Meisters,  um  den  heute  die 
Philologie  trauert,  Krwm  Kohdes.  Denn  auf  sein  wunderbar  abgerundetes, 
nie  versagendes  WesA  vom  griechischen  Romftn  nnd  den  bei  aller  Knappheit 
die  gesamte  Entwickelung  scharf  und  sieher  skiiaierenden  Vortrag  über  die 
griechische  Norellendichtnng  sind  die  wesentltchsten  Anregungen  zu  den  Studien 
surQclaaftlhren,  von  denen  hier  ein  Bild  zu  entwerfen  versucht  wurde. 


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ITALIENISCHE  FUNÜBERICHTE. ') 
Von  Hans  Qbabvek, 

Auf  dem  grieehimilieii  Fertknid  und  auf  den  grieehischeii  Inmby  ebenro  an 
den  Kflsten  Eleinaaiens  sind  seit  Jahnehnien  aUe  groloen  Nationen,  die  als 
Ti^eritinen  der  modemeD  Kaltnr  gelten  dflrien,  in  edlem  Wettslrait  bemflhi; 

dem  Schol's  der  Erde  die  Zcuj^en  ibrer  grofHen  Verganj^enheit  zu  entreil'sen, 
die  Überreste  der  klassiscbett  Kunst  Licht  zu  ziehen.  Aucb  die  Itiilieiier 
haben  H!<'b  an  (Jiesen  Hestrebungen  beteiiiijt;  ihnen  danken  wir  die  Auffindung 
der  wiclitif^cn  Inscluift- ),  weleli»'  «las  Stjultiecbt  von  Gnityn  enthält,  die  Unter- 
suchung den  d(»rtii^f  11  Apullotempcls  und  der  Zeusifrottt-  am  Ida.")  In  Italien 
»elbst  ist  es  indessen  dem  Fremden  versagt,  den  Spiitt  n  anzusetzen.  Als  vor 
twei  Jalircn  ein  Mitglied  der  Ecole  frauyaise  de  liuiue  in  der  Tenuta  Conca 
den  Tempel  der  Mater  Matnta^  das  Heiligtnm  der  alten  Vojakersiadt  Satrieum, 
entdeckt  hatte  und  ihn  blolnulegcn  begann^),  wurden  die  Arbeiten  von  der 
Regierung  tistiert^  die  dann  selbst  die  Ausgrabung  forteetste.  Wenige  Monate 
ipiter  beabsichtigte  der  Direktor  der  neug^rflndeten  amerikaniadien  Schule  in 
Kmii  zur  genaueren  Erforschung  Norbas  einige  der  Ruinen  von  dem  Schutt^ 
der  sie  teilweise  verdeckte,  zu  befreien"),  ihm  wurde  die  Erlaubnis  dazu  ver- 
weigert. Den  Ruhm,  die  Altci iiiinti  iliirs  I^audes  aufzudecken,  wollen  die 
modernen  Italiener  iriit  nioniuiulcm  tciltn.  .Man  ninls  ijestehen,  dafs  dio  von 
ihnen  veranstalteten  Ausgrabungfu  in  \  (nzuirlH  ln  i  Weise  auKgetuiirt  werden, 
die  Üntersuchungeii  der  Pfkhlbauniedcrlassungeu  m  >jordit&lieii,  der  Nekropoleu 

')  Die  uehftologiMfaen  Pnnde  in  Italien  w«»rden  in  Mugeseichneter  Wmse  bekanal  g«- 

uiacbt  durch  verschiedeiic  porioiÜHchc  I'ublikutiuneii,  deren  Orf^aniHutioii  gcnchildert  int 
ilurch  V  Dubn,  Neue  Heidelberi^er  Juhrbb.  VI  lH5)ß  S.  21.  Ks  Kind  vor  allem  die  Notizic 
degli  scavi  und  da«  BulleUnu  di  |»aletnoIugia  itulianu.  Dum  treten  die  Monumenti  auttchi 
iMbbl.  dnU'  AccMleniia  dei  Lincd,  Atfci  della  R«wle  Aecademia  di  NapoU,  du  Bnlletino 

della  commisRiune  archeol.  coniunale  di  Roma.  Aus  den  Fundberichlen,  die  in»  Jahrj^an^ 
IHÖI  der  betrefi'en«len  Organe  nit«derj^elt'jft  »ind,  int  im  folgenden  da«  Wichtijfi>  auHffe7.o>,M-n. 

*>  S.  die  Publikation  iu  ci«'n  Alouunieuti  untichi  pubblicuti  per  ruru  dellu  Ii.  Accudemia 
iti  Unca  III  1898. 

')  S.  Monumenti  etc.  I  IHUO  S  1  und  Muse«  italiano  di  nnticliitA  cla^si-  a  II  ihm  S.  6>*y 
*>  8.  ficole  frani-ai"!'  ilf  Hmiif,  Mt-langea  d*archt'<d.  et  tl'liiNtoin'  W  l  isufi  I3l  tf. 
bei  Tempel  lag  nicht  innerliulb  der  Stadt,  Uereu  Tlata  nocli  nicht  mit  Mciierlieit  tent- 
gMrtellt  iit^  sondern  iMliert  auf  einem  Hflgel.  Die  aufgedeckteii  Grundmauern  zeigen,  dafii 
dtT  alte  Tempel  zweimal  erneuert  ward,  jeder  Neubau  hatte  eine  etwas  veränderte  nml 
v»T£rT-r.r»«|.rt«  Gestalt.  Zalilreirlic  Kcsle  der  'J'errakof ten ,  welclie  «lii>  Tciupcl  yierten,  und 
t'itie  Fülle  von  WeihgeHcheukeu  auM  Thon,  Brouxe  und  iieruttteiu  ward  getündeu. 
*)  8.  American  Journal  of  arcbaeology  II  aeries  I  1897  t$.  6ft  ff. 

tl* 


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324 


n.  (iraeven:  Italieniflcho  Fundberichte. 


in  Sizilien  können  als  musterhaft  j^elten');  aWr  die  Mittt»l  sind  beschriinkt.  an 
vielen  Orten,  wo  ergiebiges  Material  zur  Erweiterung  unserer  Kenntnis  «les 
italischen  Altertums  zu  erwarten  ist,  wird  es  lange,  vielleicht  für  immer  be- 
graben bleiben. 

Wie  unendlich  reich  der  italienische  Boden  ist,  davon  zeugen  Jahr  für 
Jahr  die  zufälligen  Kunde  sowie  jeder  noch  so  bescheidene  Tastversuch,  der 
vorgenommen  wird.    Die  Direktion  der  Museen  und  Ausgrabungen  in  Nea|)el, 
die  eine  systematische  Erforschung  der  südlichen  Provinzen  anstrebt,  hatte  in> 
vorletzten  Sommer  einen  jungen  Archäologen  zu  einer  kurzen  Rekognoszierungs- 
reise ausgesandt;  auf  verhältnismiifsig  kleinem  Gebiet,  im  Norden  des  alt^n 
Lacaniens,  komite  er  nicht  weniger  als  ein  halbes  Dutzend  pelasgischer  Mauer- 
ringe besuchen,  die  teilweise  noch  ganzlich  utibekannt  waren.    Drei  derselben 
lassen  sich  identifizieren  mit  lucanischen  Städten,  die  in  der  litttTarischen  (  ber- 
lieferung  vorkommen.    Numistro  und  Blanda  worden  in  der  Geschichte  des 
zweiten  jjunischen  Krieges  erwähnt;  bei  dem  ersteren,  in  der  Nähe  des  heutigen 
Muro,  fand  210  eine  unentschiedene  Schlacht  zwischen  Marcellus  und  Hannibal 
statt  (Liv.  XXV'll  2);  Blanda,  unfern  der  Küste  im  Gebiet  des  heutigen  Tortora, 
gehörte  zu  den  Städten,  die  mit  den  Karthagern  ein  Bündnis  eingegangen  waren 
und  214  von  Q.  Fabius  zurückerobert  wurden  (Liv.  XXIV  20).   Consilinuui,  da» 
man  auf  einer  Höhe  unweit  Padulas  wiedergefunden  hat,  nennt  Cassiodor  in 
einem  Briefe  als  civitas  antiquissima  (Var.  VIII  33).    Gerade  von  dem  nächst 
Numistro  bedeutendsten  Mauerringe  wissen  wir  nicht,  welche  antike  Sta<lt  er 
umgab.    An  ihrem  Platze  liegt  der  kleine  moderne  Ort  Atena,  er  nimmt  nur 
den  höchsten  Punkt  eines  zweigipfeligen  Hügels  ein,  sein  Vorgänger  umfal'ste 
beide  Gipfel,  deren  jeder  eine  Akropolis  bildete.    Die  Anlage  entspricht  hoch- 
altertümlichen vorhellenischen  Gründungen  auf  Kreta,  z.  B.  bei  Gulks  und  Kani 
Kast<dli.    Die  Befestigung  der  lucanischen  Stildte  besteht  aus  zwei  Parallel 
mauern  von  unregelniäfsigen  grofsen  Blöcken,  die  ohne  Mörtel  aufeinandergefiigt 
sind.    Ihre  Höhe  ist  nicht  mehr  festzustellen,  da  nie  mehr  als  zwei  oder  drei 
Steinschichten  erhalten  sind;  der  etwa  3  m  breite  Zwischenraum  der  beiden 
Mauern   war   mit  kleinerem  Geröll   ausgefüllt.     Die  Akropolen   hatten  ihre 
eigenen  Ringe,  zu  deren  Herstellung  aber  minder  schwere  Steine  verwandt  sind. 

Von  den  Menschen,  die  vor  den  Erbauern  der  Burgen  jene  Gegend  be- 
wohnten, eraihlen  uns  zahlreiche  dort  befindliche  Höhlen,  in  deren  einer  nun- 
mehr auch  bei  einer  Versuchsgrabung  Steinwaöen  zu  Tage  gekommen  sind. 
Die  Fortsetzung  der  Ausgrabungen  einer  Terramare  nahe  bei  Forfi  hat  eben- 
falls die  dortige  Sammlung  v(m  Steiiigeräten  bereichert,  und  Einzelfunde  dieser 
Erzeugnisse  einer  primitiven  Kultur  sind  in  verschiedenen  Teilen  Oberitaliens 
geniiicht  Winden.  Minen,  in  denen  das  Material  für  Steinwerkzeuge  gewonnen 
wurde,  hat  man  in  Sicilien  aufgespürt.  Nahe  bei  Ragusa  liegt  ein  Kalkhügel 
Montetabuto,  in  dessen  Flanken  niedrige,,  aber  geräumige  Kammern  unregel- 


')  S.  F.  V.  Duhn,  Neue  HeiilelberKor  JuhrUb.  VI  IS'.tC  S.  19  fl'.:  Über  die  arcbüologiHche 
Durchforschung  Itiilii'iifi  innerhalb  der  letzten  acht  Juhro  (1887  — 1896). 


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H.  Grucvcu:  Itaiieuischc  Fundbcricbt«. 


325 


niJsigar  Form  auagehohlt  sind,  um  Yon  ihnen  auB  Gang^  ine  Innere  des  B^ges 

zu  treiben.  Sie  haben  eine  Lange  von  15—40  ni,  sind  aufserordeutllth  eng 
und  erweitern  sich  nur  da,  wo  in  der  Kallutchicht  die  für  Waffen  brauchbaren 
Steinarten  häufiger  sind.  Basaltbeile,  deren  einige  in  den  Grotten  aufgelesen 
wurden,  bildtten  die  Werkzeuge,  mit  denen  die  alten  Siculer  ihren  mtthaamen 
fiergbau  betrieben. 

Aus  dem  Lande  der  At  cjutr  wird  uns  von  neuent^lickttw  polygonalen  Bauten 
berichtet.  Auf  einem  liügel  oberhalb  des  alten  NerKue,  dessen  Lage  im  Qcbict 
von  CiTiteUa  Salto  durch  Inschriftenfunde  fest^ostelii  war,  sind  die  Beete  einer 
polygonalen  Ringmauer  TerhaitnunuSJaig  vrohlerhaltai  und  hatten  bereits  die 
Anfinerkeamkdt  Stterer  Archäologen  auf  sich  gelogen.  Sie  umsehliefsm  ein 
Viereck,  dessen  Seiten  annähernd  90  m  hmg  sind.  Die  Sttdseite  xeigt  einige 
8tti(^  der  Maner  in  der  ursprfin^ywhen  Höhe  Ton  6  m,  neun  Reihen  von 
Blocken  lagern  hier  übereinander.  Die  Vorderseite  derselben  ist  geglättet,  und 
die  nnregelmäfsigen  Kanten  sind  wohl  aneinaudergepalst,  so  dals  die  Mauer 
ach  yergleichen  lüfst  mit  der  viel  bewunderten  Befestigung^  Alntris  im  Herntker 
land.  An  »b  r  Ostecke  der  Südmauer  sind  auf  ein«  in  St«  in  zwei  einander  zu- 
gekelirte  Phalli  ausgf'meifscit.  ein  oft  vprwundtes  Ajxitropiiion.  Wenige  km 
von  diesem  Ringe  entfernt  liegen  die  bisher  uubvuchtcteii  Trümmer  einer  ähn- 
lichen Konstruktion  unter  alten  Eichen  und  Gestrüpp  verborgen. 

In  geschichtliche  Zeit  fuhren  uns  die  Reste  einer  Mauer,  die  man  in  einer 
ViUa  b«  Porto  d'Anzio  aufgedeckt  hai  Sie  besteht  ans  Schichten  regel- 
miCriger  Qnadem,  die  0,60  m,  d.  i.  2  rSm.  Fnls  hoch  sind,  und  wird  im  YII. 
oder  VL  Jahrhundert  nun  Schnti  der  Yolskeratadt  erbaut  sein.  Bei  Nepi  sind 
ebeoMs  Teile  der  alten  Stadtbefestiguug  blofsgelegt,  die  im  System  von 
Bindeni  und  Läufern  errichtet  ist  gleich  der  Senrianischen  Mauer  in  Rom. 

Eine  eigenartige  Befestigiuig  hat  der  unermüdliche  Orsi,  durch  dessen  fast 
zwanzigjährige  Thätigk*  it  über  die  älteste  Geschichte  Sicilien?  nnrrcnhnf^'s  T/i<  ht 
verbroitft  ift,  jüngst  aai  Monte  FiiKK  i  lufn  aTis'jograben.  An  den  Hängen  des 
Bcrpos  tindeji  sieh  altHi\ulisi:hf  Ntkroixtlcn,  ilio  gemurs  der  Grabanlage  und 
Jen  Beignben  der  Tuten  vom  X. — VII.  Jh.  im  Gebrauch  gewesen  sind;  auf  dem 
(hpfel  des  Berges  muis  die  »iaxu  gehörige  Niederlassung  gcstauden  haben.  Der 
selbe  iSttt  nach  drei  Seiten  steil  ab,  so  dafs  er  einer  kfinstliehen  Befieetigimg 
bier  nicht  bedurfte,  um  aber  den  Aufgang  zu  verteidigen,  ist  auf  dem  Istimius, 
der  die  Kuppe  mit  einem  Bflcken  verbindet,  eine  Bastion  errichtet.  Die  Kon- 
itntktion  der  Maner  ist  ähnlich  wie  bei  den  Incanisdien  Burgen,  eigentttmlich 
vt  dem  sicilischen  Bau,  dafe  aus  der  geraden  Manerlinie  ein  gröfserer  und  ein 
Weinerer  Halbkrei?«  vorragt.  Die  Festungsmauern  der  mykenischcn  Epoche 
haben  nur  eckige  Türme  und  Vorsprünge,  Anlut^m  Ltleich  der  unsrigen  kennen 
Wir  en»t  nw^  altgriechischcr  Zeit  sowohl  im  Mutterlande  nls  anch  in  Sicilien 
wibst,  wo  Megara  Hyblaea  solclie  biete!  l>:Mlurch  wird  Orsi  /u  dem  seliarf 
sinnim'ii  Schlüsse  geführt,  dals  die  altou  iJewidiner  des  Monte  Finoeeluto  die 
Bcfestigiuigskunst,  die  sie  bei  den  Griechen  kennen  gelernt  hatten,  angewandt 
l*beB  beim  Bau  jener  Bastion,  als  sie  sich  gegen  die  von  der  Küste  ins  Innere 


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326  H.  Graeven:  Italienische  Fundberichte. 

Tordrftngenden  Hellenen  veiteidigen  mubten.  Sie  haben  sidi  üirer  nicht  su 
erwehren  gewulki   Da  die  Reihe  der  Orabfonde  mit  denen,  die  der  erste» 

Hälfte  des  VII.  ^fh.  angehören,  abreifst,  ist  es  sicher,  dafs  die  Niederlassung 
damals  zu  Grunde  gegangen  ist,  tind  zwar  ist  anlker  der  Basticm  keine  Spur 

▼on  ilir  geblieben. 

Reste  einer  nfx  Ii  älk  ren  siculischen  Siedelunj?  wurden  dagegen  von  Kizzo, 
einem  Hchüler  Orsin,  in  der  A^rigentiner  Gegend  anfirefnnden.  Unj^^efälir  km 
vom  Meer  entfernt  auf  den  Hügeln  von  Cannatello  zuKsehen  dem  gleicbminii^eu 
Flusse  und  dem  Fiume  di  Naro  wurde  ein  Terrain  \on  etwa  KH)  qm  zur  Be- 
pilanzuug  von  Grilben  durdifurcht,  die  etwa  0,70  m  breit  und  1,40  in  von  einander 
entfernt  waren.  Die  ansgehobene  und  auf  die  Stege  geworfene  Erde  seigle  an 
vielen  Punkten  schwarze  Flecke  und  war  hier  mit  Tiorknodien,  Kohle  und 
Scherben  durdisefst.  An  den  betrefienden  Stellen  der  Grilben  lag  eine  min- 
destens OjöOm  tiefe  gldche  Sehichi  Riiio  mafs  in  zwei  Parallelgraben  die 
kon  es]>ondierenden  Flecke,  in  einem  waren  sie  2,85  m,  im  andern  1,00  m  lang. 
Da  sie  bei  der  kurzen  Entfernung  der  Gräben  nicht  als  Reste  zweier  Hütten 
angesehen  werden  k5nnen,  mufs  man  entweder  auf  Trapezfonn  der  Hütten 
sehliefpen  oder  annehmen,  dafs  die  Flecke  Kreissegmente  sind  mit  tingleichem 
Abstaride  vom  Mittelpunkte.  Dals  die  Hütten  kreisf(>nnitj  waren,  wird  durch 
eine  andere  Überlegimg  waluäscheinlieh.  Die  (Jiiilier  jitlegeTi  ein  Abbild  der 
Häuser  zu  sein,  welche  die  Toten  uaiirend  ihrcü  Erdcndasein»  bewohntt'n, 
unsere  Niederliuaung  aber  gebort  nach  ihren  Thongefäieen  und  Bronzen,  die, 
wie  mitgefundene  Giefsfonnen  beweisen,  teilweise  an  Ort  und  Stelle  ent- 
standen sind,  der  zweiten  siculischen  Periode  an;  in  dieser  waren  die  Giiiber 
backofenförmig. 

Nicht  alle  siculischen  Niederlassungen  teilten  das  Geschick  der  Schweatem 
am  Monte  Finocchito  und  auf  den  Hügeln  Cannatellos,  deren  Bewohner  einst- 
mals vernichtet  oder  vertrieben  worden  sind;  andere  siculische  Orte  hielten 
sich,  wurden  nber  rillmälih'cli  gräeisiert,  Dii'  Sfndt  N/carnv  (Netum)  z.  B.,  die 
an  Stelle  des  U)U3  durch  Enlbeben  zerstörten  Ni>t<i  Wcchio  lag,  war  eine  alte 
sii  nlische  Gründung  Diese  Annahme  der  Historiker  hat  jetzt  durch  Orsis  Kr- 
foisehung  der  Nekrt»polcn  ihre  Bestätigung  getundeji.  Die  Anlage  der  grieehisehen 
Stadt  oder  gar  die  ihrer  Vor^ngeriu  zu  untersuchen,  wird  durch  die  liurüber 
gelagertoi  Ruinen  der  mittelalterlichen  Stadt  unmöglich  gcmacfai 

Besser  steht  es  um  eine  untergegangene  Stadt  Umbriens,  von  der  wir  ge- 
legentlich dort  gefundener  Thonreliefe  hören  (s.  u.  S.  334).  Sie  hg  halbwegs 
an  der  Strsfee  v<m  Sassoferrato  nach  Aroevia  auf  einem  Hfigel,  dessen  Name 
Civita  Alba  die  Erinnerung  an  eine  ehemalige  Stadt  bewahrt.  Die  litterarische 
Überlieferung  2^nr  wpils  von  keiner  Stadt  Alba  in  jener  Gegend,  doch  war 
dieser  Name  für  Städte,  die  auf  dem  Berge  schimmerten,  sehr  gebrauchlich. 
Oerade  die  Lage  auf  einem  Berge  ^n^ammen  mit  etliehen  Einzelfnnden  be- 
weisen, dals  die  ötadt  keine  römische  Gründung  war,  sondoru  schon  bestand, 


Uohu,  Aus  dem  klofliüischCD  Süden,  oben  S.  131. 


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H.  6meT«n:  Italieniiche  Fandberichte. 


327 


ah  fliV  Römer  295  bei  Sentimim  <H<>  vereinigten  Samniten  und  Gallier  besiegten 
n;i(i  jtiies  Gebiet  r.n  kolonisieren  In'tiaiiiicii.    Ihre  (irümiirnjitii  sind  in  die  Ebene 
gefüclct.    Unbekuiuit  ist,  wie  lani^«-  die  Stailt  auf  Civitä  Alha  bewohnt  blieb; 
erst  gjstematische  Ausgrabungen,  die  seit  Jaliren  geplant  sind,  aber  immer  ver 
lehobea  werden  muJbien,  können  hier  Licht  bringen.  Der  Lauf  der  Stadtmauer, 

aas  grolsen  Kieseln  und  Travertinquadern  besteht^  lafsi  sieh  voUst&ndig  fest- 
Bldlen;  dentUeli  wkennbur  ist  eine  Akropolis  mit  besonderem  festem  Hanerringe. 
Bei  FeMsrbttten  ward  einmal  ein  langes  Stflck  Stnise  freigelegt,  gq|»flastert 
mit  denselben  Eieseln,  die  in  die  Mauern  verbaut  sind;  ein  andermal  kam  eine 
Was&crrinne  zum  Vorsdiein  und  ein  Töpffinfi-n  ^li-icL  drn  zu  Heddernheim 
uad  Nocera  ontdeckten.  Man  sticfs  auch  auf  Mosaikfufsbödcn  und  auf  bemalte 
Hauswande,  die  noch  bis  r.wr  Wöhc  von  0,r)f)  m  aufrecht  stehen.  Die  Häuser, 
von  denen  eine  Probe  durch  Versuchsgrabungen  freigelegt  wurde,  zeigen  den 
Pompejanischen  Typus. 

In  Pompeji  ist,  seit  das  schoiu-  Haus  der  Vettier  vo«  seiner  Sehuttdecke 
befreit  wurde,  in  dessen  Niichbarsciiait  weitei gegraben  worden,  ohne  dals 
Wichtiges  dort  gefunden  wäre.  Die  glficklichen  Finder  der  antiken  Villa  in 
BoBCoreale,  welebe  den  reichen  nach  Paris  verkanflen  Silberschafa  spendet^ 
hsben  anf  einem  ihnen  gehörigen  Landgut  eine  aweite  Villa  rustiea  freigelegt^ 
M  «hJs  wir  fiber  derartige  Anlagen  jetzt  gnt  untmichtet  sind.  Mauerreste 
und  Mosaiken ' )  von  römischen  Bauten  sind  an  manchen  Orten  zu  Tage  getreten, 
besonders  zahlreich  in  der  Nähe  Homs.  Die  Unii^t  bung  der  Hauptstadt  war 
in  der  üppigen  Kaiserzeit  mit  Landhäusern  besät;  Trümmer  von  solchen  und 
mannigfache  Kesto  ihre»  SkulpturenaehTnm-kes  ?ind  in  Tastel  Gandolfo,  am 
Monte  Cavo,  in  Frascati  und  Monteeellio  dem  I^oden  entstiegen. 

Da  die  Wohnungen  der  Lübiiiden  der  Zerstöruni;  und  dem  Verfall  weit 
mehr  ausgesetzt  waren,  als  die  der  Tuten,  sind  tliese  t>ftuials  die  einzigen  Über- 
blflibael  von  den  Bewohnern  einer  Gegend.  Auf  den  UUgebi  zwischen  dem 
buiineDiieh«!  See  und  dem  Ton  Chinsi  z.  B.  muls  ^ne  Reihe  etruskiseher 
Ollidiiilteii  gelegen  haben,  die  im  SuUanischen  Kriege  zerstört  sind;  ron 
wenden  nur  sind  Trfimmer  erhalten,  und  diese  iufserst  dttrftij^  aber  von  Zeit 
m  Zeit  stöfiit  der  Landmann  anf  wohlerhaltene  Grabkammem.  Drei  derselben 
wurden  jüngst  etwa  1  km  vom  trasimenisehen  See  im  Gebiet  der  Badia  di 
S.  Cristoforo  geöffnet.  Ein  langer  in  den  Tuff  gehauener  Gang  bildet  den  Zu- 
l?»ng;  längs  der  Kammerwände  sind  Nischen  angebracht,  jede  mit  einem  Ziegel 
verschlossen,  der  des  Toten  Namen  trägt.   Die  Asche  ruht  entweder  iu  einem 

ein  Mosaik,  da»  bei  Torre  Annunziata  ««"fniidcn  ist,  wird  unten  ausRilu Ii«  liPr 
Kehaudelt  werden.  Seit  der  AufGnduog  de»  SUberscbat^e«  von  Boacoreale,  der  von  Koth- 
■diOd  mit  einer  halben  IGllien  besolili  wurde,  tund  viele  Oitindbesitser  der  Utnfr^nd  um 
''i*  KrlaubniH  üinj^ekoiunion ,  AuH^ralningen  anf  ihren»  (»rund  und  Boden  zu  machen  Nur 
ilie  Sjjfnora  Manucci  d'Aquin'»  hat  einen  nennenswerten  Erfnlir  oiziclt;  auf  ihrem  F?c«»itztum 
^ud  (Stell  anter  den  Trümmern  eines  antiken  Uauses  da.s  Mosaik,  das  sogleich,  da  ilic 
^«piter  Arehioloffen  seine  Bedentimg  erkannten,  um  60000  Lire  für  da«  Keapler  Museum 
•«gAasfl  ward. 


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328 


H  Gracven:  Italienische  Fundberichte. 


henkelloscn  bauchigen  Gefafse  oder  in  einer  viereckigen  Thonciste,  auf  deren 
Deckel  eine  in  den  Totenmantel  gehüllte  Figur  lagert.  Die  vierzehn  Urnen 
dieser  Art  zeigen  auf  der  Vorderseite  ein  Relief;  fünfmal  ist  der  Brudermord 
des  Eteokles  und  Polyneikes  wiederholt,  neunmal  sehen  wir  einen  mit  der  Pflug- 
schar bewaifneten  Mann  im  Kampf  mit  gerüsteten  Kriegern.  Dieselbe  Dar- 
stellung kommt  sehr  häufig  vor,  und  man  deutete  früher  die  Hauptfigur  als 
Echetlos,  der  in  der  Schlacht  von  Marathon  die  Pflugschar  als  Waffe  benutzt 
haben  soll;  jetzt  hat  man  die  wahrscheinlichere  Deutung  aufgestellt,  dafs  es 
Kadnios  ist,  der  die  aufgegangene  Saat  der  Drachenzähne  vernichtet.  Neben 
einer  dieser  Urnen  lag  innerhalb  der  geschlossenen  Nische  ein  römischer  semi» 
mit  dem  Jupiterkopf  und  einem  Schiffsvorderteil,  dadurch  wird  als  die  Zeit 
des  Grabes  die  erste  Hälfte  des  II.  Jh.  bestimmt.  Weit  älter  muls  das  Grab 
sein,  das  auf  demselben  Terrain  unter  einem  künstlichen  Hügel  verborgen  ist. 
In  dessen  oberen  Schichten  hat  man  Gi-äber  Hadrianischer  Zeit  gefunden,  auf 
seinem  Gipfel  stjuul  eine  Sonnenuhr  aus  dem  dritten  vorchristlichen  Jahrhundert 
oder  aus  noch  früherer  Zeit;  sie  verrät,  dals  sich  hier  ein  Auguraltempelchen 
befand  oder  ein  ager  efiatus,  auf  dem  Auspicien  veranstaltet  wurden.  In  den 
Kern  des  Hügels  ist  man  noch  nicht  vorgedrungen. 

Eine  neue  siculische  Nekropole  ward  von  Orsi  bei  Licodia  Eubea  unter- 
sucht. Die  dortigen  Gräber  zeigen  drei  Typen:  es  giebt  rechtwinkelige  Kammern 
mit  flacher  oder  giebelfÖrmiger  Decke  und  mit  kleinem  Pavillon  vor  der  Thür; 
daneben  kommen  rechtwinkelige  Brunnenschachte  vor  mit  einer  Grabstätte  im 
Boden  und  mit  je  einem  loculus  an  der  Langseite,  der  eine  ausgestreckte  Leiche 
aufnehmen  konnte.  Der  dritte  Typus  ist  eine  Verbindung  der  beiden  anderen: 
in  einem  Brunnenschachte  mit  den  loculi  öfliiet  sich  an  der  Schmalseite  die 
Thür  einer  Kammer  mit  Totenbetten.  Vasen  einheimischer  Fabrikation  mit 
geometrischen  Mustern  und  griechische  Erzeugnisse  von  der  Zeit  des  korinthi- 
schen Stils  bis  zu  der  des  strengrotfigurigen  (VII. — V.  Jh.)  bilden  die  Aus- 
stattung. Wir  lernen  hier  zum  erstenmale  eine  Nekropole  aus  der  vierten 
siculischen  Periode  kennen,  in  der  sich  die  Kultur  der  alten  Einwohner  mit 
der  der  Eindringlinge  mischte. 

Von  den  zahllosen  übrigen  Gräberfunden  verdienen  mir  noch  zwei  Er- 
wähnung. Bei  Palestrina  stiefs  man  in  dem  Räume,  der  zwischen  der  1H76 
gefimdenen  hochaltertümlichen  und  aul'serordentlich  reichen  tomba  Bernardini 
und  einer  Gnippe  von  92  ärmeren  Gräbern  später  Zeit  liegt,  auf  zwei  dicht 
benachbarte  Grabanlagen  an  der  Seite  einer  antiken  Stralse.  Von  dieser  aus 
wurden  kurze  Gänge  in  dem  neben  der  Strafse  ansteigenden  Terrain  ausgehoben, 
an  deren  ausgebauchtem  Ende  die  schweren  Sarkophage  niedergesetzt  wurden. 
St^irben  später  Angehörige  des  zuerst  Beigesetzten,  so  ward  das  Grab  erweitert, 
um  ihre  Särge  ebenfalls  aufzunehmen,  wodurch  die  Form  der  Gräber  mehi 
oder  minder  unregelmälsig  ward.  Das  eine  der  neugefundeneu  enthält  vier 
Särge;  zwei,  ganz  naihe  aneinander  gerückt,  ])argen  offenbar  ein  Ehepiuu",  neben 
ihnen  ruht  ein  junges  Mädchen  und  ein  Kind.  In  dem  zweitt>n  Grabe  ward 
zuerst  ein  Manu  bestattet,  dann  eine  Frau,  die  in  vorgerücktem  Lebensalter 


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H.  Graevua:  Italienische  Foudberidite. 


329 


livb,  wie  die  Enochenbildnng  und  die  abgenutzten  SUine  erkennen  lassen. 
Bei  ihrer  Beerdigung  haben  die  Tote&giiber  den  Deckel  des  alteren  Sarkophags 
tetlweiN  lertrtlnuneii,  um  die  Leiche  ihrer  Beigaben  an  berauben.  Die  vier- 
6el%eo,  echmuckloHCTi  Surkophnp'  aus  Pppmn  haben  grofse  Dimensionen  (der 
Innenraum  ist  bis  2,'24  m  lang,  1  m  breit  und  tief),  von  den  Deckeln  ist  nur 
einer  t^phflfiirmig,  die  ilbritiPTi  sind  flach,  auf  ihnen  wurden  in  mehreren  Fällen 
Kalksteine  pefiindcn.  Sic  sind  iti  Erinneninsj  an  den  ulten  Rranch,  über  dem 
Grabe  einen  iSteinhHtjfen  errichten,  von  den  Angehörigen  auf  den  Sarg  ge- 
legt, gleich  wie  bei  uns  die  Leidtragenden  eine  Hau«!  voll  Erde  in  die  Grube 
in  werfen  ptlegen.  Im  Innern  zweier  Sarkophage  fand  sich  ein  Stück  aee  nide, 
dv  in  Praenesfiniseben  Chübem  bis  mm  m.  Jb.  abwfirte  oftmals  Torkonunt. 
In  diene  Periode  weisen  andi  die  übrigen  Beigiben,  anmeisi  campanisches  und 
apatiscben  Fabrikat.  Der  Mann,  dessen  Grab  unberOhrt  war,  hatte  an  der 
rechten  Seite  eine  Lance,  die  rechte  Hand  hielt  eine  Striegel^  eine  zweite  lag 
neben  der  linkm  SMmIftT  ond  neben  der  Linken  stand  ein  OlgefiUa  an  Kettchen. 
Das  Kindergrab  barg  Reste  von  I/eug;  die  Frauengraber  waren  am  reichsten 
ausgestattet.  Goldplättchen  und  fäden  rühren  vom  Besatz  der  Gewander  her, 
aus  demselben  Metnil  sind  Ohr  und  Halsschmnrk  sowie  Fingerringe.  Zu 
Haupton  der  Leidien  staiidi'n  S;!!!i<rf»f;UVe  aus  Thon  oder  Alabnstor,  ihre  Rechte 
hielt  den  Spi<'<^n'I.  r.xi  ihren  Kulsen  hatten  sie  vernchieclt  iiaitigi!?»  Thongerät, 
Arbeitskfirbcben  und  Webegewichte.  Neu  und  uugewöhnlitii  ist  es,  dals  neben 
jedem  Schenkel  des  jungen  Mädchens  ein  aus  Thon  gefertigtes  und  bemaltes  Ei 
bi^  eue  Nachahmung  wirklicher  Eier,  die  in  etmskisdien  Gräbern  nicht  selten 
lind  und  als  Wegiehrnng  fBr  den  Toten  oder  als  Lustrationsopfer  gedacht  waren. 

In  Tarent  ward  eine  Grabkammer  der  Verborgenheit  entrissen,  die  aus 
wohlgefQgfcen,  aber  nicht  mit  Zement  ▼obundeoen  Quadern  erbaut  ist.  Den 
Thürbsilkm  stfit/te  eine  ernste  dorische  S5ule,  deren  altertii  i'  I  i-  Form  der 
ersten  Hälfte  des  VI.  Jh.  angehört.  Dem  entsprechen  die  attisciien  Thongeföfiie, 
weil  hl  die  Grabkammer  enthielt,  der  Mehrzahl  nach  Kyliken  mit  schwarzen 
I  i;ftin'n.  Die  Hnupt^Hrf tcllim«;  findet  -iich  :ni  drr  AnrHenweite  in  t'iiiciii  Streifen 
unmittelhar  unter  dem  St  Inih-iirand«'.  Ein  W'iKjrnrennt  n,  die  kaiydonische  Jagd, 
der  Kampf  der  l'ygmaeen  gegen  die  Kraniehe,  Ai  Hill  und  Penthesilea  sind  die 
Gegenstände  der  Malereien,  ihr  Stil  i.st  verwandt  mit  dem  der  sogenannten 
Kleinmeister,  die  um  die  Mitte  des  VI.  Jh.  blühten.  Zwei  unserer  Gefiifse 
tragen  unter  dem  Fulse  den  Namen  ihres  Verfertigers,  eines  bisher  unbekannten 
Tdpfers,  ANTIACOPOC.  Die  Bemalung  seiner  Produkte  scheint  er  yer- 
icliiedenen  Händen  anverfanut  au  haben,  sie  sind  unter  sich  nicht  ^eich- 
artig  und  stehen  an  Feinheit  den  meisten  Ton  den  deinmeistem  signierten 
Werken  nach. 

Nicht  minder  wertvoll  als  die  Beigaben,  mit  denen  die  Lielie  der  Hint<«r- 
bhebeneii  die  Toten  ansstattetr',  sind  für  uiis«'re  KenntTiis  der  antiken  Kunst 
die  Wcihguhen,  welche  frommer  Sinn  (h»n  (ir.ttt  rn  darhraciite.  Vier  km  von 
dem  sicilischen  Städt<'hen  Granmichele,  das  erst  nach  dem  Erdbeben  von  KUlii 
gegründet  ist,  führt  ein  IlQgelkomplex  den  Namen  Terra vecchia;  emer  der  Hügel 


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390 


H.  OrAeren:  Italie&twbe  Paiidbericbte. 


tragt  die  Trümmer  des  dtircli  das  Eronielien  zerstörten  Ortes  Oeehiola,  aber  von 
der  elu'iiialigen  Gräberstadt,  wclt  lif  aui  diesem  Terrain  lag,  sind  nur  zerstreute 
dürftige  Spuren  vorhanden.  In  grofser  Zahl  sind  nur  am  Abhang  des  Pojo 
deir  Aquja  Terrakotiafiguren  ans  Licht  gekommen,  die  eine  lange  Entwickelung 
repräsentieren,  denn  die  Sltesten  reichen  hodi  bis  ins  VI.JL  lunauf,  die  Jüngsten 
stomnuni  ans  dem  Ende  des  IV.  Jh.  Sie  sind  in  versdiiedenen  kflnstlichen 
Grotten  aufgelhnden,  wo  sie  offmbar  geborgen  wurden,  als  das  Heiligtam  von 
alteren  wertlosen  Weihgeschenken  befreit  werden  sollte.  Die  meisten  stellen 
Frauen  dar,  sitzend  oder  stehend,  eine  Krone  oder  ein  Modius  schmückt  das  Haupt 
vieler  der  Gestalten,  als  Attribute  erscheinen  in  ihren  Händen  die  Fackel,  die 
Mohnblinnp,  der  Granatapfel  und  das  Schwein.  Die«  führt  zu  der  Yeriniitung, 
dnl's  auch  au  diesem  Platze,  inmitten  einer  sehr  fruchtbaren  Gegend,  ein  Heilig- 
tum der  Demeter  und  Kora  bestand,  die  in  Sicilien  besondere  Verehrung  ge- 
nossen. Vom  Tempel,  der  den  Gipfel  des  Pojo  dell'  Aquja  eingenommen  haben 
wird,  ist  indes  keine  Spur  va  entdeciken;  es  ist  nieht  ausgeschlossen,  dals  ee 
nur  ein  Holzbau  gewesen  ist. 

Überreste  von  steinernen  Tmpeln  sind  an  mehreren  Orten  auftaucht. 
In  der  Nachbarschaft  von  Pnduhi,  unmittelbar  neben  der  dortigen  Certoaa, 
liegen  Architekturstiu  kc  ionischer  Ordnung,  die  aus  dem  Kalkstein  der  Gp«jend 
gearbeitet  sind  und  noch  unbeeinflufst  scheinen  von  romischer  Architektur. 
Ebenfalls  aus  Kalkstein  sind  die  Baniilieder  eines  Tempels,  der  unterhalb 
der  polygonalen  Uingc  im  Aetpierlande  ^s.  oben  S.  325)  laij.  unt^T  ihnen 
ist  ein  korinthisches  Ka|ntell.  Koriutluäch  ist  auch  das  gewaltige  Mariuor- 
kapitell,  das  auf  der  Area  de^  kapitolinischen  Juppitertcmpels  dem  ruuiisclieu 
Boden  entstieg.  Das  berUmiteste  der  stiidtisehm  HeiUgtClmer  war  merst  unter 
den  Tarquiniem  von  etruskisdien  Baumeistern  errichtet  worden,  und  bei  allra 
Neubauten  hatte  der  alte  Grundplan  beibehalten  werden  mflssen;  nur  durch 
grdfsere  Höhe  tmd  gröFsere  Kostbarkeit  des  Materials  hatten  die  Späteren  den 
nrsprflnglichen  Bau  überbieten  können.  Die  letzte  Erneuerung  geschah  durch 
Domitian,  nachdem  das  Werk  »eines  Vaters  nach  kaum  zehnjähriger  Dauer  in 
Flammen  auf<?e<jrnntien  Avai-,  Märlitii^i'  Säulen  pentelischen  Marmors  trugen  das 
Gi'hälk  di'fi  Ncul)aus;  aus  riucui  Kapitell,  das  ^'ti^tm  Ende  des  XVI.  Jh.  ge- 
funilea  ward,  konatf  Fluminio  Vacca  den  Löwen  verfertigen,  der  vom  Grola- 
heraog  Toscanas  best<dlt  war  und  der  jetzt  an  der  Loggia  dei  Lanzi  in  Florenz 
die  eine  Tn  pi)enwange  BchmQckt.  Das  neugefundene  Kapitdl  hat  einen  Durch- 
messer von  fast  2  m,  leider  sind  die  Zierformen  desselben  sehr  zerstört 

Der  romische  Boden  hat  femer  den  köpf-  und  armlosen  Torso  einer 
kolossalen  Minerrastatue  gespendet,  der  beim  Palasso  Sciarra  am  Corso  be- 
graben lag.  Das  nachs^legene  antik«  B^uiwerk,  dem  die  nichtige  Figur  mit 
Wahrsclu'inlichkeit  zugewiesen  werden  kann,  ist  der  Tempel  der  Minerva 
Chalcidica.  do-^son  Platz  die  Kirche  S.  Marin  sopra  Minerva  einnimmt.  Nach 
einer  aitcu  Naclu  icht  in  der  Thn<;ebung  der  Kirclio  die  berühmte  Miiu-rvii 
Giustiniani  gcluudeii,  div  deshalb  gewöhnlich  als  Kultbild  des  untergegangenen 
Tempels  angesehen  wurde.   Doch  jeuer  ^iutiz  steht  eine  andere  gegenüber,  die 


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H,  Oneren:  Ibklteniscbe  Fnndbarichte. 


331 


den  Fandori  der  Giustinianischen  Statne  in  die  Nahe  der  Porta  Maggiore  ver- 
legt Gesefast  aber  auch,  diese  Figar  stamme  aus  dem  Bereich  des  alten 
Tttnpels,  es  ist  nichts  Ungewöhnliches,  dafs  mehrere  Bilder  einer  Gottheit  in 
ihrem  Heiltgtiim  standen,  und  die  Ueineo  Dimensionen  dar  Oiustinianiscben 

Statne,  die  nur  2  m  hoch  ist,  »prechen  *  iitschieden  dagegen,  dafs  sie  das  Knlt- 
bild  des  gröfsten  römischen  Minervatempel?  <j:<'w(»8en  ist.  Die  neuentdeckte 
Stahle,  (leren  Toi-sio  2.^3  m  mif8t,  war  viel  eher  dazu  geeignet.  Sie  rcprii- 
sentit-rt  rienst'lhoii  Tvpii^i  wie  die  aiu  li  in  <l<  r  firofiap  üViereinstimmende  Pallas 
Vi'llttii  im  Ijouvrc,  (l(r(>n  Arbeit  aber  geringwt?rtig»  r  ist  Beid«»  fTphen  auf  ein 
attiHcheä  Original  den  V.  Jh.  zurflck,  das,  wie  Münzen  wahrscheinlich  machen, 
in  Athen  aufgestellt  war. 

In  Rom  ward  auch  die  Zahl  der  isolierten  Ältir^  die  in  den  leisten  Jahr- 
hunderten der  Republik  lokalen  Gotttieiten  errichtet  wurden,  mn  ein  neues 
Exemplar  Termehrt.  Der  bekannteste  dieser  Alüre  ist  der  an  der  Sfldwestecke 
des  Palatin  stehende,  einer  Gottheit  gewoilii.  \  m  der  es  ungewifs  war,  ob  sie 
eine  mannliche  oder  eine  weibliche  war  (SEI  DEO  SEI  DEIVAE).  £in  anderer 
ward  dem  Gotte  Verminus  aufgestellt.  Welcher  Gottheit  unser  Altar  zugeeignet 
war,  wird  durch  die  Inschrift,  die  an  Stelle  der  urspriinglicbon  Wcihiing  auf  ver- 
tiefter Flache  stoht,  nicht  vermeldet,  sie  nennt  nur  die  Konsuln  Nero  Claudius 
Di  u.suä  Germanicus  und  T.  Quinctius  Crispinus  (9  v.  CL)  als  diejeiiigen,  welche 
die  Ära  restituierten. 

Aus  andern  Tdlen  Italiens  zeugen  einige  neugefiindene  Inschriften  von  der 
Verehrung  des  Jnppiter  Doliehenus,  der  Matronen,  der  Bona  Dea  and  der 
H«:«en.  Fttr  den  Kult  der  letsteren  sind  in  den  Hfigel,  der  die  Griecbenstadt 
Netum  trug  (s.  oben  S.  326),  awoi  geraumige  Kammern  hineingearbeit»  t  mit 
zahlreichen  Nischen,  die  in  Relief  oder  Malerei  die  Bilder  heroisiert  ?  Toter 
enthielten.  Im  Tynipanon  einer  Nische  ist  noch  an  lesen  HPCüC  APAÖOC, 
nnter  einer  anderen  ANTAAAoi;  MPiuc 

Von  neuen  Inf>rbriftt  n ,  <lie  unsere  Kenntnit*  des  oflFentlieber  und  privaten 
Lebens  zu  erwciteni  vennöifen,  ist  die  silti'ste  nnf  einem  cyliinlertormigen  Cippus 
der  (iracehiscben  Ackerverteilung.  Solcher  Cippen  waren  bisher  sechs  bekannt, 
drei,  ans  dem  Gebiet  Ton  Aeclaoum  stammend,  nennen  als  tres?iri  u(gri8) 
i(adicaDdis)  a(dsignandi8)  M.  Fnlvins  Flaecns,  G.  Gracchus,  C.  Papirius  Carbo. 
Fbceus  und  C^rbo  waren  gewShlt  worden  an  Stelle  der  verstorbenen  P.  Licinius 
CrssBUS  nnd  Appius  Clandias,  die  zunächst  nach  dra  Tiberius  Gracchus  Tode 
mit  seinem  Bruder  das  Kollegium  gebildet  hatten.  Der  jinifist  i  i  At  la  t  iitdeckte 
Stein  trägt  auf  einer  Seit<^  des  Cylindermantels  die  Inschrift  C  •  SEMPiiONIVS  • 
TI  F  •  I  AP  •  CLA\T^)IVS  .  r  .  F  j  P  T.K^INIVS  P  ■  F  ■  |  ITT  VTl?  A  T  A. 
Dust  llx'n  Namen  kehren  wieder  auf  tleii  im  (ithiet  von  C-apuH,  Suessula,  (\>iv 
."ilinuni  gefundtiieii  Cippen,  alle  vier  mü«stn  daher  den  Jahren  1.32  und  131 
angehören.  Da  Consilinum  und  Atena  dicht  benachbart  sind,  werden  die  be- 
treffenden Cippen  T4m  ein  nnd  derselben  Yermeesung  herrflhren.  Leider  ist 
hei  dem  stark  korrodierten  Stein  aus  Consilinnm  keine  Inschrift  auf  der  Kopf- 
Ißehe  erkennbar;  ob  der  Stein  aus  Suessula,  der  verschollen  ist,  dort  eme  In- 


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U.  Graeven:  italiemüche  Fuodbcrichte. 


Schrift  trug,  ist  nicht  konstatiert  worden;  der  Stein  aus  Oapua  bietet  an  dieser 

St<;lle:  h(artio)  uufbcmus  d(ccutnanns)  primtts.  Am  Stein  aus  Atena  ist  auf  der 
Seite  des  Cjlindermanteb ,  <lie  der  Haupttnsclirift  gegenüberliegt,  eingegraben: 
h{ardni  st'pfhnus;  m\(  der  Kopffläclie  int  in  der  Mitte  ein  Kreis,  von  (hm  vier 
gerade  Linien  in  tilriilit-m  Al>«tand  dem  Kande  zulaufen.  An  einr  (It  iscUxMi 
lehnt  sich  ein  kleiner  Hulhkn  irt  an.  der  je  naeh  dem  Stand|Mmkt  als  C  odt-r  D 
aufgefafst  werden  kann.  Die  Bedeutung  dieses  gromatischeu  Zeichens  ist  noch 
nickt  ergründet;  nur  soviel  läTst  sich  mit  Sicherlteit  sagen,  dafe  im  G^nsate 
zu  den  Cippen  aus  Aeclanum,  welche  nur  die  Festsetsnng  der  Grenxe  zwischen 
5fibntlichem  und  privatem  Eigentum  bezeichnen,  der  Ateneser  wie  der  Capuaner 
Cippus  sich  auf  die  Verteilung  des  öffentlichen  Ackers  bezidien,  d«r  durch  fest- 
gelegte cardiues  und  deeumani  par/.clliert  ward. 

Um  eine  Scheidung  zwiws  In  n  »iffentlichem  und  privatem  Besitz  handelte  es 
sich  Hiirh  hp\  der  Tormtnutioii  der  TÜHnifer  in  fJnni  durch  die  Consorcn 
M.  Valerius  Mt'ssala  und  Scrviliiis  Isauricus  (T)4  v.  Ch  i.  Von  den  Cippen, 
die  sie  auftitellttin  zur  Hi'/rirlmnii'^  <lcr  Liiuf,  bi&  zu  wi-lchiT  da.s  l  t'cr  dem 
Staate  gehörte,  sintl  uns  verhältiüsniiiisig  viele  erhalten,  y,u  15  bereits  vor- 
handenen  sind  jetzt  zwei  binzugekonumen.  Sie  standen  am  link«i  l^berufer, 
etwa  dem  ersten  Meilenstein  der  Via  Flaminia  entsprecheiul,  mit  der  Inschrifk 
dem  Flusse  zugekehrt,  von  dessen  Rande  sie  etwa  6  m  entfernt  waren.  Ihre 
Entfernung  von  einander  betrug  28,i50  m,  d.  i,  100  rSm.  Fufs. 

In  Praeneste  sind  zwei  Fn^pnente  aufgetaucht,  deren  eines  zu  den  am 
dortigen  Forum  aufgest<'llten  Konsularfasten  gehört*»,  während  das  andere  vom 
Kniender  de?  Verrinn  Fluccus  stammt.  Es  enthält  di*'  Angabe,  dafs  am  1.  August 
zur  Kriniicriini:  an  die  Einnahme  Alexandriens  gemäls  einem  Senat^beschhifs 
der  ^  ictnria  und  der  \  ictoria  Virgo  am  Palatin  sowie  der  Spes  am  Fnruin 
Hoiitoriiun  geopfert  werden  mufste.  Durch  eine  Inschrift  aus  ("agliari,  die  auf 
die  Zeit  vom  1.  Jan.  bis  13,  Sept.  83  n.  Gh.  zu  datieren  ist,  weil  Domitian  darauf 
die  Titel  TRibunicia  FOTeetate  II  und  COnSuI  Villi  f&hrt,  werden  wir  be- 
Idirt,  dals  damals  Sardinien  einen  procurator  Augusti  hatte.  Nnto  hatte  67 
die  Provinz  dem  Senat  ttberlaasen,  und  unter  Marc  Aurel  wird  sie  von  Pro- 
konsuln verwaltet;  dafs  aV»  r  in  der  Zwischenzeit  die  Insel  wieder  unter  kaiser- 
licher Verwaltung  gestanden  bat,  war  dxirch  eine  Inschrift  aus  Vespasians 
Regierung  wahrscheinlich  geworden.  Jetzt  erhalten  wir  ilafiir  eine  Hrstäti^-un'^. 
In  Sardinien  ward  ferner  «in  Klirendekret  der  Sulcitaner  für  Hadnan  vom 
Jahre  Iis  aus  der  Erde  gezogen  und  biUlet  ein  neutiü  Zeugnis  für  die  Lage 
des  alten  Sulci  beim  heutigen  S.  Antioco. 

Einer  Inschrift  des  III.  nachchristlichen  Jh.,  die  am  Golf  von  Bajae  ans 
Licht  kam,  danken  wir  die  AufUirung  einer  bisher  dunklen  Stelle  in  Ciceros 
Briefen.  M.  Gaelius  Rnfiis  schreibt  dem  Freunde  gegen  Ende  Mai  51  (Ep.  ad 
fam.  Vni  1,  4):  Te  a,  d.  VIIH  K,  lun.  subnatram  —  guod  iUorum  cajj^ 
sii  —  flissiparant  inriise:  urbc  ac  f'oro  foto  maximus  rnmor  fuit  te  a  Q.  Pom- 
peio  in  ithtere  oecisum.  E^o  gui  setrm  Q,  Pomiietui»  Am2»  mhaauticam  fuare 
et  iiflsae  eo,     egw»  mserem'  cnis^  cstirM^  nan  wm  eommt^us,  3tatt  der  Lesart 


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H.  OnMven:  Italieniseh«  Fiuidb«Hchte. 


333 


tlts  Laureut.  49,  9  (M)  haiilis  mthmtn Untm  steht  im  Paris.  17^12  fR")  Jmuliaem 
hcmiimm.  im  Hurleiau.  2773  ((i  j  bauli  mm  hn/rfitant ,  \vnihU-  Kurruptelen  des 
im  Lttuf.  Uberlieferten.  Da  das  Wort  emlm4-N*tuatn  uirgciids  anderswo  vor- 
kommt und  sein  Sinn  nicht  ergründet  werden  konnte,  haben  Terachiedene  Kri- 
tiher  zu  ändern  gesueht;  der  letzte  Herausgeber,  Mendekaohn,  setate  ein  Kreuz 
an  die  Stelle  und  bemerkte:  *Mihi  —  idemqne  veterea  quidam  editorea  aen- 
Mront  —  Pompeios  neeeaaitate  eo  adductua  videtur  eaae  ut  ei  sordidnm  opi- 
fioiuni  aliquod  vitae  sustentandae  causa  Baolis  exeroendum  esset,  TOCabulani  tanion 
qiiod  placeat  non  reperio.'  Da.H  überlieferte  Wort,  das  nur  einer  ganz  kleinen 
Korrektur  bedarf,  giebt  den  gefordert»  n  Sinn,  wie  die  folgende  Insdirifl  xeigt: 
D  M  ;  T.  t  CAECILIO  DIOSCORO  |  f  V  UATOIU  AVGY8TATJVM  [  CVMANOR  » 
Pi:i!I'ETVO  ^  I  I'PKMQVI-:  -  AVGVSTALl  j  DüPL  ■  PVIEOLAaNüR  •  |  ET 
CVKATülU  PEUl'K  r  ' ,  IvMliAENlTARIORVM » |  iTi  P1S(JINIENSIVM » |  VIXIT 
ANNIS  »  LXXUI  •  MVÜI  »  ]  CAErilJVS  HERMIAS  »  FATRONO  '  H  »  M  »  F  ' 
In  d^r  dritten  Zpüp  von  iinttu  int  du»  Zeichen  iTl  wahrscheinluh  aufzulösen 
ais.  trHratn\  da.s  Wurt  cmhuetiUarii  ist  abgeleitet  von  ^fißutvi^eiv  und  wird  liier 
gebraucht  zur  speziellen  Bezeichnung  der  Schiffer,  die  in  den  Piscinen  thätig 
waren.  Sogliano,  der  die  Inachrifk  herausgegeben  hat,  erinnert  an  den  Ge- 
branch  dea  italienischen  gandoUeref  das  nicht  allgemein  den  Barkenf&hrer  be- 
zeichnet, sondern  nur  den  BarkenfOhrer  in  den  Lagunen.  Daa  Handwerk  der 
mbamiiarii  hieb  offenbar  enAaeniHca,  und  embaenitieam  faeere  ist  daher  an 
der  Cicerostelle  zu  schreiben  atatt  des  überlieferten  emhavneticam ,  das  nur  er- 
kürt werden  könnte  ab  Ableitung  von  i^ßaiva  durch  fidsche  Anaio^ebiUhing 
nach  :tUQaivixiyi6g,  iii:ro^frix6g.  Die  Piscinen  tles  Golfs  von  Bajae  waren  hoch 
berühmt-  zwar  die  grofsartigsten  «geboren  erst  der  Kaiscr/fit  an,  wie  das 
Ütagnum  Neronis  und  ilir  Schöjitnni^t-n  des  AlexancUr  Severus,  aber  auch 
in  der  Cieeronianischea  Epoche  ichlte  es  d<»rt  nicht  an  derart ij^en  Anlagen. 
Vom  Redner  Q.  Hortensius  eraihlt  l'Uniu«,  Nut.  bist.  L\  81:  Apud  i>'«M7o.s"  in 
parte  Baiana  piaeinam  fuUmU  ,  .  .  in  qua  muraenam  aätso  düexit,  ut  emni- 
mtam  fies»  eredatm,  und  Varro,  De  re  rasi  III  17,  5  hebt  herror,  dafs  die 
Pisdnen  dea  Hortenaiua  magna  pccunia  erbaut  worden  seien.  Vielleicht  war 
CS  gerade  des  Hortenains  Fischteich  bei  Banii,  wo  Q.  Pompetus  dem  elenden 
Lebenaerwerb  nachgehen  muTste,  der  selbst  daa  Mitleid  seine«  ehemaligen  An- 
klägers erreirte. 

Die  Zahl  <lei-  jibisfisdien  Werke,  welche  letzthin  in  Italien  gefuncU^n  worden 
xind,  ist  nicht  erheblieh.  Den  Min«'ivatf)rso  aus  Rom  haben  wir  bereits  kennen 
gelernt  (S.  iVM)'>,  die  Skulpturen  aus  den  oln'n  erwähntt-n  V^illen  (S.  ^^27)  sind 
'i'-ki>rntive  Dut/eiulware.  In  Tarent  war<l  drr  Torso  ctnrs  nilienib'n  Flerakh's 
siu.-igegraben ,  der  interessant  ist  als  neue  lu  )>Hk  einer  Statue  des  jüngeren 
SkopuK.  Die  Zeit  dieses  Bihlhauers  ist  noch  nicht  mit  Sicherheit  festgest<dlt, 
Mio  Werk  aber  kennen  wir  aus  einer  Reihe  von  Nachahmuugt  u.  unter  denen 
bisher  nur  eine  Rondfignr  war.  Ein  Relief  des  den  Stier  bändigenden  Heraldea, 
ZQ  Tramutola  in  einem  Treppenhauae  eingemauert,  aoU  der  Statte  dea  alten 
dmmentum  entstammen  und  ist  in  einem  Sandstein  der  dortigen  Gegend  ge- 


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334 


H.  GxMv«ii:  Italieiiiaelte  Fimdberiebte. 


arbeiWt.  Der  Stier  strebt  nach  rechts  /m  eiitspringLU,  Herakles  aber  hat  mit 
der  Linken  daä  eine  Uum  desselben  gupackt  und  greift  mit  Rechten  in  das 
Fell  iemes  Hdsee;  das  Eompositionssclkema  ist  dawelbe  wie  anf  einer  Met<)|»c 
des  Theseiona  in  Athen,  doch  ist  deren  Darstellung  freier  und  bewegter.  In 
dem  lacaniedien  Relief  erinnert  die  Bildung  des  Stieres  ganz  an  arehaiaehe 
Bildwerke^  der  menschliche  Körper  aber  wost  trotz  einiger  Fehler,  die  der 
Ungeschicklichkeit  des  lokalen  Künstlor?  zuzuschreiben  sind.  Mit  eine  Zeit,  die 
vollständige  Kenntnis  der  Anatomie  besal's;  die  Stellung  der  Beine  —  das  eine, 
im  Profil  gesehen,  steht  fest  auf  dem  Boden,  das  andere  in  Vortleransicht  ist 
gehoben  —  ist  von  der  Art,  ^vie  sie  auf  Htti<»chen  Vanon  vom  Ende  des  V.  Jh., 
auf  süditalischin  dts  Jh.  begegnet.  Bei  der  groi'sen  Seltenheit  lokaler 
Skulpturen  der  isüdituliseheu  liiimenlandsclmft^n  ist  dies  R<^lief  nicht  nnwichtig, 
weil  es  uns  in  charakteristischer  Weise  das  Ringen  der  eingebureneu  Künstler 
mit  den  Leistungen  dw  i^eehischm  Plastik  vor  Augen  stellt 

Der  unaweifeUiaft  wertroUste  Fund  der  letaten  Zeit  ist  ebenlalls  ein  £r- 
aeugnts  einer  einheimischen  Konsl^  das  in  der  Stadtruine  auf  dem  llflgel  Givita 
Alba  (S.  326)  zum  Yoradiein  kam.  Ein  Landmann,  der  einen  Graben  zur  An- 
pflanxung  von  Obsttömnen  und  WeinaiScken  zog,  entdeckte  in  der  Tiefe  von 
1  m  auf  einem  etwa  4  m  lann;eii  Kaum  vereint  die  Bruchstücke  zahlreicher 
Terrakotten,  teilweise  in  einer  Reihe  liegend,  teilweise  übereinander  geschichtet 
Die  Ordnung  und  Zusammensetzung  der  Fragmente  ergab  mehr  als  zwanzig 
Fig;nren,  einige  völli|r  frei  gearbeitet,  der  Mehrzahl  nach  an  einen  Keliefgnmd 
anii;ehhnt.  Sie  lassen  sich  in  zwei  Serien  sondern;  ilie  eine  uinfafst  Figuren 
von  l),üi'>  ni  iliihe,  die  alle  dem  bakchischen  Kicise  angehören,  die  andere  bietet 
(lentalten  einer  Öallierschlacht  von  0,4;')  m  Höhe.  Die  erstereu  bildet^-n  tirei 
geplünderte  Ghroppen.  Diejenigü,  die  sich  am  vollständigsten  rekonstniieren  liels, 
stellt  die  AufSndang  der  Ariadne  dnrch  den  Thiasoa  in  ähnlicher  Kompositioa 
dar,  wie  wir  sie  Ton  Sarkopbagreliefs,  campanischen  Wandmalereien  und  Mosaiks 
her  kamen.  Die  verhuMene  Oeliebte  dea  Theseua  schlummert  am  Boden  aus- 
gestreckty  die  Rechte  aufs  Haupt  gelegt;  ein  Satyr,  der  von  links  herbeieilt,  bebt 
da«  Gewand  der  Schlafenden  empor,  so  dafs  der  schöne  Oberkörper  derselben 
entblöfst  wird.  Hinter  Ariadne  ragt  eine  ruhig  stehende  weibliche  Gestalt  auf, 
die  Linke  auf  die  Hüfte  stützend;  sie  ist  fast  nackt,  nur  fällt  ihr  von  der 
linken  Schnlter  ein  Gewand  herab,  das  zwischen  die  Beine  geklemmt  ist.  Da 
(in ich  gleicht  sie  vollständig  der  Venus  auf  zahlreichen  etrnskischen  Aschen 
innen,  wo  die  Göttin  bei  der  VViedererkennnng  des  Paris  durch  seine  Eltern 
zugegen  ist;  den  Namen  Venus  dürfen  wir  daher  auch  unserer  Terrukottatig»»r 
beilegen.  Rechts  von  ihr  werden  zwei  von  rechts  kommende  Satjrn  sichtbar, 
die  ihr  Erstaunen  über  die  SchSnheit  Ariadnea  anadracken  und  andere  Begleiter 
herbeirufen. 

Der  ersten  Gruppe  entsprach  in  vollslSndiger  Symmetrie  die  Auffindung 
einer  Nymphe,  von  der  indes  nur  zwei  Figurw  bisher  zusammengesetzt  werden 
konnten.  Die  Nymphe  kehrt  dem  Reschauer  den  entldöfsten  Kücken  zu,  und 
mUirend  Ariadnes  Kopf  nach  rechts  hin  liegt,  erscheint  der  ihrige  links.  Der 


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B.  Qnwven:  ItaliemMfae  Fnndberidite. 


336 


Satjr,  der  ihr  Gewand  lüftete,  kam  Ton  rechts  herbei.  Auch  hinter  ihr  steht 
eine  Venus,  die  ein  genaues  Pendant  zu  der  der  andern  Gruppe  bildet 

Von  einer  driüen  Qrnppe  sind  drei  weibliehe  Flflgelweeen  erbalien,  die 
ein  gro&es  Gewand  bftldnehinartig  ansBpBnnen.  Eine  der  Genien  wird  ober- 
halb  des  Gewandes  siditbar,  die  beiden  andern  sind  anf  die  reehte  und  linke 
Seite  geatellt,  dne  fiein  obgenmdefee  Komposition.    Die  Mitte  des  Gewandes 

weggebrochen,  vor  ihr  befanden  sich  die  Haup^)erBonen  der  Szene.  Brizio^ 
der  die  Terrakotten  herausgab,  erinnert  an  eine  Qrabume  aus  Ghiusi,  die  unter 
Pinera  von  zwei  Frauen  ausgebreiteten  Gewand  zwei  Männer  und  eine  Frau 
zeigt.  Man  deutrte  sie  als  Brautpaar  mit  dem  Bnmtvater  und  meht  in  der 
Darstellung  i-inen  altitalischen  Horhzeitsbrauch.  X.u  li  dirspr  Anuloirjc '  i  lälst 
mh  in  der  Teirakottagruppe  das  iföttlicho  Hrautpaiu-,  Dionysos  nnd  .Aiiadn*^, 
vurauiiötit/A;!!.  Die  Vermutung  gewiruit  an  \V  uiuscheinlichkeit  durch  eine  Kiii/.t^l- 
figiur,  die  mit  dieser  Gruppe  offenbar  in  Znaammenhang  stund;  es  ist  der  elegante 
Torso  eines  nackten  geflügelten  .lüuglings.  Er  sebreitet  nach  rechts,  aber  der 
OI»erk5rper  und  der  jetst  Terlorene  Kopf  waren  umgewendet;  die  Bedite  schultert 
eine  Esckel,  das  AtMbut  des  Hymenaeus.  Es  kann  kein  Zweifel  sein,  dab  die 
letste  Gruppe  die  Mitte  einnahm  zwischen  den  beiden  anderen  ganz  symmetrisdi 
SOgeordneten  Gruppen. 

Die  kleineren  Terrakotten  ergeben  keine  aus  mehreren  Figuren  znsammen- 
gesetzten  Gruppen,  sie  lassen  vielmehr  eine  friesartige  Anordnung  erkennen. 
Eine  Darstellung  der  Gallier  aus  die.ser  Grs^rnd  verdient  besond^rr-  Rcuclitang, 
da  den  Künstlern  der  Stadt,  dio  kaum  vier  MimIcii  von  Hena  tialln  a  «'nttVmt  war 
und  unmittelbar  an  diuj  üobiet  von  vScntinnin  ificn/tc,  m  wils  die  Gallier  durch 
eigene  Anschauung  bekannt  waren.  Der  Typua  und  daa  Kostüm  derselben  sind 
daher  in  der  That  mit  scharfer  Charakteristik  wiedergegeben.  Aus  den  bisher 
gpfiindeneii  Fragmenten  liefsen  sieh  l&nf  Gallier  mehr  odor  mimkr  vollslandig 
wiederherstellea.  Das  Haar  ist  lang  und  struppig,  Aber  der  Stirn  einen  auf- 
strebenden Schopf  bildend,  mit  der  Ausnahme  eines  Mannes,  dessen  Stirn  kahl 
ist  Alle  trag^  starke  SchnurrlriUte^  dazu  kommt  b«  einem  «m  diditer  Voll- 
Wrt,  bei  einem  andern  ein  gefurclitci  Kncl»»  Ihart.  Die  Adlernasen,  die  Fsltm 
aaf  der  Stirn,  die  Augen  mit  tief  i  in^i^rtabcnen  Pupillen  verleihen  den  Ge- 
sichtern einen  finsteren,  trotzigen  Ausdruck.  Da  es  bei  den  Galliern  Sitte  war, 
dals  die  mutitistfn  nackt  in  den  Kampf  stürzten,  nur  mit  »  incin  um  dio  Ufifton 
peirftrtftei I  Tau,  stdicu  wir  auch  hier  eiin'n  Krieger  so  daint  stcllt.  Aulsrr  dem 
Tau  trii^  vv  nocli  die  TorquCi»,  statt  ihrer  ist  bei  zwei  anderen  t-in  kleines 
^lüntcichen  um  den  Hals  geschlungen;  sie  schützen  sich  mit  einem  ublongcu 
^ild,  dbNwn  Oberfläche  durch  einen  erhöhten  Band  nnd  ein  aufgelegtes  Kreuz 
gcö&ere  Festi|^eit  erhidten  soU.   Eine  gegürtete  Tnnica,  die  aber  die  reehte 

'  Kinp  noch  trcftVudero  Anulnrric  Lintot  ffnu  andere  Anchenurnc  niis  ("liiusi,  die  in 
der  Sammlung  Scalambrini  war  i:Cutulo};ü  della  Colleziouc  Giuseppe  Sculuiubrim,  Kuiu 
1888,  tav.  Vm).  Braut  und  Brftutigunt  Hitzen  einander  gej^enüber,  hinter  ibnen  Mteht  je 
eine  Fnui,  eine  dritte  in  der  Mitte;  jede  bebt  ein  grobes  tiewand,  nni  e«  aber  die  KOpfe 
tfci  Paarw  za  holtea. 


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336 


H.  Graeven:  Italieoiache  Fundbericbte. 


Sehulter  frei  föfst,  trägt  allein  der  bärtige  Mann,  der  auf  einem  mit  vier  Pferden 
bespannten  Streitw;i|^n  ti  i-rscheint.  Dir  Benutsung  der  Streitwagen  durch  die 
Gallier  bezeugen  die  alten  Scliriftst*'iler;  in  unseren  Reliefs  dient  er  dazu,  den 
Anführer  auHZUzeichnen.  Der  letzt«-  der  (iallit-r,  der  nicht  am  Kampfe  teil 
nimmt,  soikUth  im  He<fritl'  ist,  eine  ^rolse  Vase  \veir/,usciile|t|>eii ,  hat  st-iiien 
()l)erkt»rj>er  mit  einem  zottigen  Fell  umhüllt.  Von  den  Kämjtt'eni  sind  zwei 
bereit»  in  die  Knie  gesunken,  die  übrigen  eilen  flüchtig  nach  link»  und  wenden 
entutit  den  Kopf;  die  Wagenpferde  sprengen  Aber  einen  au  Boden  geennkenen 
Kri^ier  dahin,  um  die  Wildheit  der  Flacht  zu  kennaeichnen. 

Von  den  Gegnern  der  Gallier  iat  biaher  nur  eine  kopflose  Figur  zu  er- 
mitteln gewesen.  Sie  tragt  einen  ärmellosen  Chiton,  der  Mantel  ist  um  den 
Leib  gegürtet,  ihre  FOf^e  stecken  in  Kothurnen,  ihre  Hechte  schnellte  einen 
Pfeil  vom  Bogen.  Die  Deutung  der  Figur  als  Artemis  wird  gesichert  durch 
die  völlige  Übereinstimmung  derselben  mit  der  Artemis  in  der  liigantomacbtc 
des  Pergamenischeii  Zeusalturs.  Die  L  Ijeiemstimmung  ist  zu  grols,  um  eine 
zutiiüige  zu  .sein,  der  uiubrische  Künstler  muls  eine  KepUk  jeiu-r  Figur  vor 
Augen  gehabt  haben,  wodurch  wir  einen  festen  Ansatz  für  die  Zeit  unserer 
Reliefe  gewinnen  nnd  sie  dem  II.  Jh.  anweisen  können.  Die  Figur  der  Artemis 
beweist  augleieh,  dafs  wir  keinen  rein  historischen  Kampf  vor  uns  haben, 
sondern  es  ist  die  Vertddigung  Delphis  durch  die  Oötter  dargeatellt  Nach 
einer  Version  haben  die  Gallier  im  Jahre  378  das  Delphische  Heiligtum  ge- 
plündert und  siiul  mit  reicher  Beute  abgezogen,  nach  einer  andern  Version 
wurden  sie  durch  Apollo.  Artemis  und  Athena  an  der  I'lünderung  verhindert. 
Der  Thonkünstler  hat  die  beiden  Versionen  vereinigt;  der  eine  Gallier  hält  ein 
geweihtes  Ueials,  tlas  er  dem  Heiligtum  entwendet  hat,  in  den  Händen,  zwischen 
den  Beinen  der  Krieger  sehen  wir  Opferschalen  liegen,  die  den  Uaubem  eut- 
faiieii  sind,  als  sie  die  göttliche  Strute  ereilte. 

Es  ist  EU  helfen,  dals  neue  Ausgrabungen  auch  die  Gestalten  der  bttdos 
andern  Gdtter  liefern.  Wird  der  Apollo  hier  der  berflhmten  Statue  des  Bel- 
vedere  entsprechen?  Von  ihrem  Original  wird  bekanntlich  angenommen,  dab 
es  xur  Verherrlichung  des  Si(^  Aber  die  Gallior  geaduffian  sc»,  und  man  er- 
gänzt die  Statue  mit  einer  Aegis  in  der  Linken,  der(!n  Anblick  die  Feindo  Ter* 
trieben  habe.  Den  neuen  Auagrabnngmi  iat  daher  mit  Spannung  entgegen- 
zusehen, wir  dürfen  von  ihnen  auch  weitere  (lallierliguren  erwarten  und 
Aufschluls  ül>er  die  Verwendung  der  Terrakotten.  Der  friesartige  rharakt4'r 
der  .Schlacht  legt  die  Verniutung  nahe,  dals  sie  den  F'ries  an  der  (.'ellawand 
eines  kleinen  lleiligtuui.s  bihlete,  während  die  drei  tiruppen  im  Giebelfelde  auf- 
gestellt waren.  Die  Vereinigung  von  Bildwerken  aus  dem  apollinischen  und 
bakdiischen  Kreise  an  demselben  Tempel  hat  nichts  Befiremdliehes,  der  grofee 
Tempel  in  Delphi  bietet  dafttr  das  klassisdie  Beispiel  Der  eine  seiner  Giebel 
aeigte  ApoUo,  Artemis,  Leto  und  die  Musen,  der  entgegengesetzte  Giebel  ent- 
hielt Dionysos  unter  den  Thjiaden. 

Obwohl  an  Kunstwert  den  Terrakotten  bedeutend  nachstehend,  hat  doch  das 
oben  (S.  327  Anm.  1)  erwähnte  Mosaik  aus  Torre  Annunziata  seines  Inhalts 


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H.  Omem:  Italieniidie  Fnadberiehtd. 


387 


wegen  weit  mehr  Beachtung  gefunden.^)  Es  hat  quadratische  Form  (80  X  85  cm), 
ringrain  laiiit  eine  reiche  Ghurlande  von  irautem,  Blumoi  und  Frflehten,  mit 
bakdiiMhen  ISsAea  in  den  vier  Ecken  und  in  der  Mitte  jeder  Seite.  Das  Mittel- 
feld leigt  erae  Terwunmlang  Ton  sieben  Philcflophen  oder  Gelehrten  onter  freiem 
HtmineL  Links  erheben  sich  zwei  Pilasier  mit  einem  ArchitraT  darauf,  der  drei 
Vasen  tragt;  rechts  davon  steht  ein  belaubter  Baum,  von  dem  ein  kr&ftiger  Ast 
unter  dem  Architrnv  durch^ewachHen  iflt.  Ähnliche  Darstel Inneren  sind  auf  den 
sogenannt^>n  helleiiistiHchen  Relief bildern  und  Huf  I'oinpejHnischeii  Bildern  «elir 
häufig;  wir  dürfen  daraus  schliefsen,  dafs  die  Vorbilder  derselben  in  den 
damaligen  (Hrten  nicht  selten  waren.  Jedem  Besucher  Fraäcatis  wird  duä 
malerische  Thor  der  YiUa  Faloonieri  erinnerlich  sein,  aus  dem  ein  grofser 
Zweig  der  dahinter  stehenden  Eiohe  herrorragt,  ein  Zeuge  dalttr,  dab  der  Ge- 
srJimack  der  Ahnen  in  den  Enkdn  fortlebt  Im  Hintergrande  des  Mosaiks 
sieht  man  redite  eine  uounanerte  Stadt  mit  emer  beeondeni  nrnmanerten  Akro- 
polis.  Im  Vordergrunde  befindet  sieh  eine  halbkreisförmige  Steinbank  mit 
Fufstritt  und  Lehne,  hinter  deren  Mitte  eim  Sihüe  mit  Sonnenuhr  aufsteigt. 
Halbkreisförmige  Bänke  wurden  oft  als  Ausstattung  eines  Gralimals  angelegt; 
zwei  derselben  finden  sich  vor  dem  Staliiaiier  Thor  l'ompejis,  zwei  vor  dem 
^lolaner  Thor,  auch  unmittelbar  an  der  Porta  Salaria  Roms  liegt  eine  gleiche. 
Noch  geuauer  entspricht  aber  der  Darstellung  des  Mo.saiks  die  scolu  et  iwroloyium, 
die  laut  der  Inschrift  von  den  Duumvirn  L.  Seponins  Sandiliauus  und  M.  Uerennius 
Epidianns  anf  dem  Fomm  trianguläre  in  Pompeji  erriditet  ist 

Vor  der  Sinle  sehmi  wir  einen  der  yerBammdten  auf  der  Lehne  der  Bank 
oder  auf  einer  an  dieaer  Stelle  befindlichen  ErhShnng  situn;  er  sttttst  den 
reehten  Ellenbogen  auf  das  Knie  und  logt  das  Kinn  auf  die  Hechte,  nm  auf- 
merksam den  Worten  des  Protagonisten  zu  lauschen,  der  links  von  ihm  auf 
der  Bank  selbst  sitzt.  Dieser,  ein  ehrwürdiger  Greis  mit  weifsem  Bart  und 
Haupthaar,  stützt  den  linken  Arm  auf  die  Lehne  der  Bank,  der  Ki)|>f  ist  vorn- 
übergebeugt, unil  die  Rechte  weist  mit  eineni  langen  Stabe  auf  eine  vcm  Zonen 
kreuzweise  umzogene  Kugel,  die  im  Mittelpunkt  des  Uanzen  auf  eiuem  Gestell 
ruht.  Der  Vortrag  betrifft  demnach  ein  Kapitel  der  Astronomie.  Auf  die 
Hinunelakngel  lind  die  Blidbe  einea  dritten  tthnnee  gerichtet^  der  swiechen  den 
beiden  erwÜmten  hinter  der  Bank  steht,  und  ihr  wendet  >idi  auch  das  rechts 
befindliche  Pbar  mt  Der  eine  satst  auf  dem  Ende  der  Bank  und  hebt  mit  der 
Rechten  eine  Bolle,  eine  Bewegung,  die  das  Staunen  aber  etwas  eben  Gehörtes 
anszndrficken  scheint.  Die  vor  der  Bank  stehende  Figur  erscheint  ganz  in 
Vorderansicht,  dieht  aber  den  Kopf  dem  Mittelpunkt  zu,  ihre  Rechte  ist  an 
das  obere  Ende  der  geschlossenen  Holle  gelegt,  welche  die  Linke  hält.  Durch 
die  Bewegimg  wie  durch  die  Haltung  wird  di  r  Eindruck  erweekt,  als  ob  dieser 
Mann  in  Bereitschaft  stehe  zum  Widerspruch  gegen  das  Vorgetragene.  Dar 

Publiziert  ward  daa  MoRaik  zuerst  von  Sogliano  im  AugiJsthefl  der  Notizle  dej^li  sravi 
I8ö7  S.  .H.*)?;  eine  bessere  Reproduktion  brachten  Chiapelli  und  Stein  im  An  hiv  für  (icHch 
der  Philosophie  1897  S.  180.    Petereen  vereinigte  mit  dienern  Mosaik  eines  aus  Sarsiaa 
i.  Baten)  in  den  UittsiL  des  anOi.  Insi  BOati.  Abt  XH  1897  S.  888  f. 

X«M^«kiMMMt.  Uta  X.  88 


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338 


H.  Oraeren:  ItaUeniidM  FniKlb«ri«1ite. 


gegen  ninunt  das  gcgenHWliagende  Paar  an  dflm  Yortrag  gar  kmnen  AnteO. 
D«r  ^oa  linln  stellende  Hann  betmchtet  etwas,  das  er  in  der  halbgeachlowenen 
Rechten  Yor  die  Brust  hili,  und  der  war  ihm  auf  der  Bank  sitsende,  dem 
er  die  Linke  auf  die  Scbulter  legt,  wendet  seinen  Kopf  demselben  Gegen- 
stände zu.  Zwischen  ihnen  am  Boden  steht  ein  Kasten.  Vielleicht  war  ihm 
der  betreffende  Gegenstand  entnommen,  doeh  UUiBt  sich  auch  an  einen  BoUen- 
behalter  denken. 

Die  Mehrzahl  der  Versammelten  ist  einfach  mit  einem  Mantol  bekleidet, 
der  gewöhnlicli  die  rechte  Hälfte  der  Brust  unbedeckt  läl'st,  nur  die  niittelst»- 
Fitriir  träj^t   unter  dem  Mantel  einen   <'hiton.     Alle  äiiid  bärtig  unil  u 
iudividnelle,  ausdrucksvolle  Gesichter,       Uals  es  auf  den  ersten  Bliek  klar  ii^t, 
wir  haben  bestiuiiute  ausgeprägte  Purtrüts  vur  uns,  die  von  dem  Mosaikarbeiter 
gut  und  scharf  wiedergegeben  sind.   Weniger  ist  dies  der  Fall  bei  emm 
VkagBi  bekannten  Mosaik  ans  Sarsina^  das  dem  neagefondenen  sdir  nahe  steht 
und  auf  dasselbe  Original  aurflckgeht,  aber  weit  roher  gearbeitet  ist  Eine 
Reihe  Ton  Abweichungen  ist  daher  gewilb  der  NaehlSssigkeit  des  nmbrisohen 
Mosaikai-beiters  zuzuschreiboiy  a.  B.  die  We^aasung  des  Baumes  und  des  Kastens, 
aber  es  sind  hier  auch  wesentliche  Änderungen  der  Komposition  mit  Absicht 
vorgenommen.    In  dem  Raum  zwischen  der  Bank  und  der  Stadt,  die  kleiner 
gebildet  ist  und  ohne  Andeutung  der  Burg,  ist  ein  charakteristisches  Gebäude 
eingeschoben;  wir  sehen  in  einen  Ilof,  der  auf  den  Seiten  von  Gemächern 
flankiert  ist  und  in  eine  halbkreisfürmige  Apais  endigt.    Die  (liruppierung  der 
\  erHuuimeiten  ist  zwar  uuniiliernd  dieselbe,  aber  der  Trutugonist  hat  seine 
Uollc  abgetreten  an  den  ganz  rechts  stehenden  Mann.    Dieser,  ins  Protil  ge- 
rttckt,  hat  den  Stab  in  der  Rechten  und  berflhrt  damit  den  QlobuB,  wihrend 
der  Vortragende  des  campanischen  Mosaiks  gespannt  der  Anseinanderaetniiig 
des  Jüngeren  folgt  Der  hinter  der  Bank  aufirsgende  Mann,  der  auf  dem  Sor- 
sinatischen  Mosaik  bartlos  ist,  legt  die  Rechte  wie  sor  Begfitigang  dem  Alten 
auf  die  Schulter.    Bartlos  sind  auch  die  beiden  links  befindlichen  Personen 
geworden,  und  sie  wenden  jetzt  ihre  Aufinerksamkeit  auch  der  Himmelskugel 
zu.    Derjenige,  welcher  auf  dem  andern  Mosaik  einen  kleinen  Gegenstand  den 
Augen  näherte,  hat  die  Rechte  gesenkt^  hält  aber  in  ihr  eine  kleine  Schlange. 
Sif  gJilt  älteren  Erklärern  als  Zeichen,  dals  hier  eine  Versammlung  von  Ar/tcii 
dargestellt  sei,  gleichwie  in  einer  Miniatur  der  Wiener  Dioskurideshandsciinf^ 
wo  der  Nikander  eine  am  Boden  liegende  Schlange  betrachtet.*)    Indessen  die 
Schlange  kann  auch  das  Studienobjekt  eines  Philosophen  sein,  der  sich  ein- 
gehend mit  Natorwissenachaften  beschäftigt. 

Bs  ist  sdir  au  bedauern,  dafs  auch  auf  dem  nengefondenen  Mosaik  Nsmens- 
beischriften  fehlen.  In  Afrika  ist  Tor  nicht  langer  Zmt  ein  Mosaik  entdeckt 
worden  mit  inadiriftlidi  beghmbigtem  Portriit  Yergils,  und  der.  yom  Mosaik* 


*}  Abgeb.  Winekelmwin,  Mon.  aai.  bed.  Tttf.  185  IT.  V|r1.  Heibig,  Führer  dwdi  die 
SauiuiIuugeD  in  Ilum  II  8.  115. 

Abgeb.  Visconti,  leoaogmphi«  gtecqiie,  Paris  1811,  Taf, 


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H.  Oraoraii:  ItaUeniidi«  Fnndberidite. 


SS9 


&brikanten  Monnus  verfertigte  Fufsboden  in  Trier  bietet  die  rorträtköpfe  des 
Hesiod,  finnios,  Meaander,  Cicero  u.  s.  w.,  die  Figur  des  Arai  mit  der  Urania^ 
und  neben  anderen  Husen  einige  Weise  des  AltertnmB,  von  deren  Leistungen 
wir  sehr  dnnkle  Knnde  haben,  wie  Thamyris,  Agnis,  Aciearns.  FOr  die  Den- 
tm^  anserea  Mosailn  sind  wir  auf  Yenoratangen  angewiesen.  Zwei  Qelehrie 
nun,  ChiapeUi  und  Stein,  haben  bereits  f&r  alle  Personen  Namen  gefunden. 
Sie  adien  die  Darstellung  als  eine  Vorliuferin  der  Raphaelschen  Schule  von 
Athen  aa,  dM'in  die  Häupter  vDrschiedeoer  Philosophenschulen  vereinigt  seien: 
Pkto,  Zeno,  Epikur,  Sokrates,  Pythagoras,  Aristoteles;  nur  in  Bezii£^  auf  die 
siebente  Figur  sind  die  beiden  Forscher  nicht  p^leicher  Meinun<j;,  dem  einen  ist 
sie  Theophrast,  der  andere  schlagt  für  sie  die  Namen  Pyrrho,  ArkosUann  oder 
Karneades  vor.  Den  Ausgangspunkt  dieser  ganzen  Erklärung  hiUlet  die  An- 
sicht, dais  Porticus,  Baum  und  Säule  die  Stoa,  deu  üarteu  Epikurs  und  die 
Ahademie  symbolisieren  sollen*.  Ein  Epistyl  auf  zwei  Pilastern  ist  aber  keine 
Polüeas,  sondern  ein  bedentongsloser  Gartoischmnck,  und  die  Siele  mit  der 
Sonnennhr  ist  das  flbliehe  Zubehör  jeder  beliebige  Seola.  Damit  wird  der 
phantssieTcUm  Deatnng  der  Boden  entMgen. 

Eme  antike  YorUinfenn  des  Raphaelsdien  Gemaides  würde  sehr  merk- 
«flrdig  sein.  Bis  jetzt  ist,  id^^ehen  von  TJnterwelteszencn,  keine  Darstellung 
sns  dem  Altertum  bekannt  geworden,  die  Personen  Terschiedener  Zeiten  in  dem- 
selben Räume  vereinigt  zeigte.  Zwar  in  der  erwähnten  Miniatur  der  Dioskurides- 
Landschrift  und  in  einer  anderen  desselben  Codex  »eben  wir  jedesmal  sieben 
Ar/t<',  deren  Lebenszeiten  durch  Jahrhunderte»  von  einander  getrennt  sind;  aber 
hier  sind  nur  Einzelbilder  auf  dieselbe  Mäche  gesetzt,  die  Personen  stehen 
Dicht  iu  irgend  welcher  Beziehung  zu  einander,  uie  beüudeu  »ich  nicht  in  einem 
beetimmt  charakterisierten  Baume.  Anders  ist  es  auf  den  Mosaiken.  Wie 
■dion  der  wate  Herausgeber  des  campanischen  Mosaiks,  Sogliano,  erkannt  nnd 
Petersen  lüQier  begründet  hat,  ist  hier  die  Akademie  dargestellt.  Die  Stadt 
mit  der  Akrqfiolis  entspricht  dw  Ansidit  Athens,  die  man  von  dem  Flatse  der 
Akademie  mi  NNO  hatte.  Das  Gebäude,  welches  auf  dem  Sarsinatischen 
Mosaik  vor  der  Stadt  erscheint,  kann  der  Form  nach  als  Gymnasium  gelten 
und  soll  jedenfalls  zur  schärferen  Charakterisierung  des  Lokals  dienen,  denn 
Diogenes  Laertius  III  7  liefert  folgende  Beschreibung  von  der  Akademie:  t6 
iöjl  yviivdötoi'  :TQn(x(freiov  uXöädes^  <^*<^  rivag  "jQOiog  ^i'ouaötflv  'Exudf'jUniK 
Mit  dem  erhöht+^-n  Sitze  der  Mittelfigur  des  campanischen  Mohiniks  verirleuht 
l'fct-erscn  ein  lleroon  der  Stadt  Terniessus  Maior  in  Pisi<lieu.  Dort  ist  aus 
(leui  uatürlicheu  Fels  eine  Imlbkrtiisförmige  Bank  geächnitteu,  deren  Lehne 
nseh  der  Mitte  zu  ansteigt  und  an  der  hdehsten  Stelle  eine  Aushöhlung 
zeigt,  das  Gnb  eines  ala  Heros  verehrten  Toten.  Die  Akademie  hatte  ihren 
Kmea  Tom  Heros  Hekademos,  die  scola  des  Mosaiks  ist  wshrscheinUdi  ds 
Min  Qrabmal  an&n&ssen.  Das  umengekrfinte  Epistyl  mit  d4m  Baume  ist 
gnade  an  dieser  Stelle  neben  einem  Qrabe  besonders  passend,  ein  Baum  des 
Hekademos  wird  direkt  erwähnt  vom  Sillographen  Timon,  in  dessen  Versen  es 
m  Pkto  heilst: 

82* 


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340 


H.  Ohmvi»:  ItaUMiach«  Fnndberidite. 


Der  den  CikBden  Tei^^ichbue^  woliliauteiid  redende  Ploto  iai  in  dem  Alten 

zu  erkennen,  der  auf  dem  campanischen  Mosaik  das  Wort  führt.  Leider  sind 
die  Gesichtszüge  desselben  hier  teilweise  zerstör^  aber  auf  dem  andern  Moeaak 
ist  gerade  der  Kopf  ilii  ontsprechtnidcn  Figur  verliültnismäfsig  sorgfaltig  ge- 
arbeitet; beiderwärts  ist  die  Ähnlichkeit  mit  den  gesicherten  Platoliernieti  •) 
ersichtlich.  Wer  über  sind  die  Sehnler,  die  den  Meiüter  umgeben V  Für  den, 
der  auf  dem  tSarsinatischen  Mosuili  das  VVurt  ergriffen  hat,  ist  der  Name 
Aristoteles  vorgeschlagen  und  dabei  an  Aeliana  Erzählung  erinnert  worden 
(Var,  biet  III  19),  wonach  der  Stagirite,  wahrend  Xenokrates  veireiat  war 
nnd  Speuaipp  krank  hg,  in  die  Akademie  gekommen  wea,  um  den  acktBigjihrigen 
Plate  annigreifen.  Sein  Gegttaflber  würde  man  gerade  geneigt  sein,  Spensipp 
zu  nennen,  von  dem  es  bekannt  ist,  dals  er  naturwissenschaftliche  Studien  trieb. 
Für  ihn  also  würde  die  Srli!:uvri  in  der  Hand  als  Stadienobjekt  passend  er- 
scheinen Doch  mit  Holelieii  Mittelu  lassen  sich  ikonographische  Kin  n  ti  nicht 
entscheiden.  Bisher  gie)<t  <"=  von  keinem  Schüler  Plfiios  ein  insrln  ittln  h  be- 
glanl)igtt!s  Porträt,  ohne  solche  wird  die  weitere  AuHdeutung  di  s  M  iH  i  ks  un- 
möglich sein.  Aber  wie  viel  neue  Funde,  wie  viel  ungeahnte  Aulsciilüsse  dürfen 
wir  noch  von  dem  Boden  des  kkseischen  Altertums  erwarten!  Die  Eeichhidtig- 
keit  dieses  Berichte,  der  sich  anf  Italien  beBehxaukt,  nur  die  Funde  eines  kuraen 
Zeitraums  umiabt,  ja  aus  ihnen  nur  das  Wichtigste  ausgdioben  hat,  ist  ona- 
dafflr  eine  auYerlfissige  Btirgschaft 

*>  a.  Winter,  Jahrb.  des  arch.  lost.  V  1890  8.  ibSi  Collignoo,  Hist.  de  la  scolpture 
grecque  D  8.  846. 


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0IE  BESIEDELÜNG  SACHSENS. 


Von  Robe  KT  Wuttke. 

Unt«r  allen  Aufgaben,  die  der  deutschen  Gtoschichtschreibung  gesiellti  Bind, 
ist  dio  DursUluiig  der  iniiprpn  KoloniHattnn  und  Effifdoluiig  Drutschlaiidfs  oine 
der  interessant^'ston.  Von  welcher  S<*ite  iriHn  nuch  dies  Problem  betrachten  mag, 
immer  führt  et»  zu  einer  Reihe  der  wichtig><ten  Fragen  unserer  (ieschicht^'. 

Die  Prähistorie  berichtet  uns  von  den  Ureinwohnern  Deutschlands.  Erst 
mit  dem  Beginn  der  Kolonisationsbewegung  setzt  die  Geschichte  ein.  Der  l'ber- 
gaug  von  einer  zur  anderen  Forschungtimethode,  das  In-  und  Nebeneiuandcrgehen 
Ton  FHUiiMtorie  und  Geacbidite,  die  ichlierBlidie  Trenniing  dieser  beiden  WimenB- 
Bwuge  bietet  ftr  die  OeBchiehtadireibang  grofsen  Beis.  Die  Bededelungs- 
gnehichfe  flihrl  nne  munittelbMr  in  die  Gegenwftri  Dareh  die  Koloniflation 
haben  wir  erst  unser  heutiges  Stammesgebiet  errungen.  Die  Ritter,  die  erobernd 
hinraBEOgen,  die  Bauern,  die  in  barter  Arbeit  dae  Land  urbar  genMcht  und  den 
Slawen  deutsche  Sitte  und  Sprache  aufzwangen,  legten  den  Qrund  zu  unserw 
jeteipen  Machtstellung.  At)er  nicht  allein  die  Grundlagen  unseres  heutigen 
pohtischen  Ansehens  danken  wir  jenen  Kolonisten;  mich  unsere  bpütige  soziale 
und  wirtschaftliche  Ordnung  hängt  von  den  Formen  der  damaligen  Besiedelung 
ab.  Wie  die  Örundherren  und  Bauern  das  Dorf  anlegt^'ii,  wie  sie  die  Feid- 
flur  ausmafsen  und  unter  sich  verteilten,  wurde  malsgebeud  für  ihre  Nach- 
bnunen  bia  auf  unsere  Zeiten.  Jeder  Fortschritt  in  der  VolkBwirladiaft  Idirt 
ma  mehr  nnd  niehr  die  enge  WediBelwirknng  der  Verteilang  Ton  Qnmd  and 
Boden  an  den  Handeln  nnd  Uran  der  Menaeben.  Auf  der  einen  Seite  aeben 
wir  die  Nator  als  Siegerin;  der  Hensoih  mnlk  sich  der  Ton  ihr  geadiaffiBnen 
l4[ge  anpassen,  sich  ihr  unterordnen.  Auf  der  andern  Seite  zeigt  sich  die 
Nator  durch  Menschenkraft  besiegt.  Entscheidend  flir  diesen  Kampf  zwischen 
Natur  und  Mensch  ist  die  erste  Besiedelung  des  Landes.  Sie  bildet  den  Aus- 
gangspTinkt  für  die  Thiltiglceit  aller  kfinfiigen  Gesclil echter;  sip  giebt  aber  nwh 
gleichzeitig  den  Uahraen  ab,  innerhalb  dessen  sie  sich  })ewegen  müssen.  Die 
erste  Anlage  wird  meist  für  die  F'rage,  ob  der  bäuerliche  Grundbesitz  oder  der 
Grofsgruudbesitz  vorwiegen  werde,  entscheidend,  damit  aber  auch  für  die  soziale 
Schichtung  und  für  die  Kräfteverteilung  auf  dem  Lande.  Nur  unter  greisen 
SohwierigksitBii  Blbt  sich  Grofsgrundbesits  in  BauembSfs  aufteilen,  nnd  nnr 
nach  schweren  Eampfen  ist  daa  Bauemgui  zu  gunsten  des  Gmndherm  ein- 
gm^pen  worden.  Überall  in  Dentsehhuid  werden  wir  bä  den  agrarpolitischen 
Frsgen,  die  die  Gegenwart  beherrschen,  auf  die  GnindbeBitarerteilung  geftthrt; 


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342 


B.  WtttUte:  Die  Besiedelnng  8ac)u«n«. 


Ton  ihr  b&ngt  in  erster  Linie  die  jeweilige  Znnafame  der  BerSlkerung,  des 
Urquells  aller  VoUiskraft,  ab.  Sie  entscheidet,  welcbe  Stftnde  und  Khssen  in 
der  politischen  und  wirtschafUichen  Entwidbelung  eines  YoUtes  die  malsgebrade 
Bolle  spielen.  So  greift  die  Vergangenheit  uDmittdbar  in  die  Gegenwart  ein. 
Die  ersten  Besiedelungsformen  eines  Landes  bestimme  auf  Ji^hnnderte  hinaus 
die  treibenden  Kräfte  des  Volkes. 

Eine  Geschit  lii''  dir  deutschen  Besiodelung  schreiben  heifst  also  die  Grund- 
lagen unseres  heutigen  Volkslebens  tntwickeln.  Liegen  aiuli  Jahrhunderte 
hinter  der  Zeit,  wo  die  ersten  Kolon isaton-ti  sich  niederlioIstMi .  die  Wirkung 
ihrer  Arbeit  können  wir  heute  noch  t>püren.  Mau  sieht,  es  wird  wenige  histo- 
lisohe  FrtMkm»  geben,  die  eine  Shnlidhe  Tragwette  beeitaen. 

Das  Pkvblem  der  Besiedelung  zeigt  auch  in  der  Methode  der  Erfbrsdrai^ 
Eigenartig^.  Wo  kann  man  sonst  in  der  Oesehichtschreibung  an  der  Hand 
der  Gegenwart  und  aus  ihr  heraus  so  erfolgreich  die  Vergangenheit  eninfEeni? 
Die  heutige  Agrargeschichte  arbeitet  nicht  mit  der  philologischen  Deutung  der 
Dorfnamen,  sie  legt  darauf  wenigstens  keinen  grofsen  Wert;  wohl  sucht  sie 
das  ganze  vorhandene  Urkundenmaterial  zu  benutzen,  ihre  Hauptkraft  setzt 
sie  jetlocli  ein,  um  aus  der  gegenwärtigen  Gestaltung  der  Dorfmark,  des 
Dorfe?;,  «Ics  Hauses  die  ursprüngliche  Anlage  zu  erkennen.  Die  Xatur  t)ietet 
ihr  hilfreich  die  Haud,  luu  auf  Grund  der  heutigen  Ank^  den  alten  Formen 
nachzuspfiren.  Einem  Historiker,  der  nur  in  Bftchem  Tergraben  süct,  der 
nicht  in  FeUl  und  Flur  sich  lebensfroh  umzuschauen  Teimag,  blttbt  diese 
Forschungsmethode  fremd. 

'Verhaltnismafsig  früh,  ehe  man  in  anderm  dsutachen  Ländsm  daran  daoht«^ 
fing  man  in  Sachsen  an,  sich  mit  der  Feldmark  und  der  Dorfanlage  zu  be- 
schäftigen. So  erscheint  schon  am  Ausgai^f  des  XVin.  Jahrhunderts  ein  Buch*), 
das  in  seiner  »ganzen  Anlage  sieh  den  neuesten  Forschungen  verwandt  zeigt. 
Der  Vertassi  r  ist  ein  Geistlieher,  der  anschaulieh  die  Bewi  i  Im  haftnng  der 
Dörfer  im  duuiahgen  Knrkreiö  schildert.  Er  ist  meines  Wi.ssenb  der  erste, 
dtr  die  slawische  Dorfform  mit  dem  sprechenden  Namen  'Rundling"  bezeichnet 
Besondere  Aufiuerksiunkeit  schenkte  er  den  flämischen  Dörfern,  die  sich  zer- 
streut im  Kurkreia  fimden,  und  es  ist  recht  beieichnend  für  den  «eiteren  Fort- 
gang der  deutsdien  Dorfforschung^  dalk  man  mehr  Interesse  den  eingewanderten 
Flümüngen  als  den  Slawen  und  Deutsdien  suwandte.  Eine  ganae  Reihe  von 
Arbeiten  erschienen  fibtt  die  Flämlinge  und  machten  uns  vertraut  mit  ihren 
Sitten  und  Gebräuchen  wie  mit  ihrer  Sprache,  die  noch  Anklänge  an  ihr  altes 
Hcimatsland  aufwies.  Sie  st  hildern  eingehend  die  Fluranlagr,  die  Be-  und  Ent- 
wäs^eningsarheiten,  die  DortTorm  u.  s  w  T)!Ps<'  üntersuehungen  frliiclt^-n  einen 
gewissen  Alischlufs  durcli  die  grunrilegenüe  Ari)eit  von  A.  v.  VVtrselje,  'Über 
die  niederländischen  Kolonien,  welche  im  nördlichen  Teutschlande  im  Xli.  Jahrh. 
gestiftet  worden*  (Hannover  1815 — 16,  2  Bde.).  Aber  merkwürdigerweise  schlägt 


*)  J.  £.  Spitzflcr,  Die  Landwirttchiift  in  Oemeinhciten  .  .  .  nach  der  Einriciitung  im 
Kurkreit.  Leipsig  1791. 


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SL  Wnttke:  Die  Bepiedelmig  a«cb«eu. 


843 


diese  Forschung  nicht  breitere  VVurzelu;  die  slawischen  und  gt  rnmnischcu  Dorf- 
formen werden  nicht  weiter  verfolgt.  Es  ist  eine  Blute,  die  keine  Früchte  tragt. 

Ais  dann  der  Sinn  fttr  alte  deataehe  Art  in  unserem  Volke  wieder  er- 
wadiie^  und  als  man  mit  Begeietening  in  die  Spraehe  und  Volksdiditnng  eich 
Tertiefte,  mit  neu  wieder  angenommenem  Vent&ndnis  den  vaterfiindiachen  Sitten 
nnd  Gebrauchen  nachforochte,  da  leigte  man  trotadem  kein  IntereHe  'fBr  die 
urqirlbiglichen  Fonnen  der  Besiedelung.  Wie  so  oft  in  der  dents«  hoi  Xultur- 
geiehidite  kam  Ton  anfsen  die  Anregung.  Der  Däne  Olafsen  wurde  bei  seinen 
Studien  auf  die  jT^rmanische  Fhirointeilung  geführt  und  wandte  ihr  bald  seine 
Neigung'  zu.  Seine  Arbcitt'ii  fuiKlen  Wiedorhall  in  der  noch  jugendfrisehen  Seele 
des  öpätt'rt'U  Führers  und  Mfisters  der  lU'utschen  Agrargeschichte,  in  Georg 
Hanssen,  der  als  junger  Privaliit/z-Aiit  von  Kiel  nach  Kopenhagen  !il>  Kainmer- 
sekretär  berufen  wurde  und  dort  die  Bestrebuugen  Olafbens  kennen  lernte.  Die 
«mp&Dgenen  £iudrficke  eudite  er  dnrch  eigene  Foraehong  auf  d^tschem  Boden 
m  erweitern  und  zu  Terti^w.  Er  wandte  sieh  jedoeh  in  seinen  Ail»eiten  ror- 
wiegend  der  Erforschung  der  germanischen  Flureinteilmig  zu  —  ein  grolises  und 
weites  Gebiet;  die  slawiadie  Dorfrerfiusung  lieb  er  beiseite  liegen. 

Hier  setaten  v.  Haxthausen  und  Victor  Jacobi  ein;  letzterer  kommt  für 
Sachsen  in  erster  Linie  in  Betracht.  Hanssen  war  von  1842 — in  Leipzig 
Professor  der  Kameralwissenschaft,  unter  ihm  habilitierte  sich  Jacobi,  und 
sicherlicli  ist  dieser  in  seinen  Bestrebungen  von  Hanssen  unterstützt  worden. 
Von  allen  deutsehen  tJelehrten,  die  da«  Dunkel  der  älteren  deutschen  Agrar- 
geschichte  aufcihellen  versuelit  haben,  war  vielleicht  keiner  für  die  £igenart 
dieser  Forschung  m>  veraniagt  wie  V.  Jacohi;  leider  hat  er,  einer  unglücklichen 
Neigung  zu  philologischen  Untersuchungen  nachgebend,  die  glänzenden  Erwar- 
tungen, die  seine  ersten  Schriften  erwedien,  entünscht  und  seine  «genen  wert- 
vollen Leistungen  verdunkelt.  Jacobi  war  sowohl  als  praktischer  Landwirt  wie 
als  Ksmeralist  ausgebildet  worden;  er  urbeitete  mit  unennüdlichem  Flei6e  in 
den  ArduTen;  dodi  blieb  er  hierbei  nicht  stehen,  sondern  durchslarolfte  das 
Land  nach  allen  Richtimgen  nnd  beobachtete  mit  feinstem  Sinn  und  Verständnis 
die  bäuerliche  Eigenart.  Er  hüie  seine  Arbeitsweise  in  den  Worten  'Natur 
und  Karten")  zusammen.  Ihm  verdanken  wir,  wenn  auch  nicht  die  Entdeckung; 
80  doch  die  eigrntliche  Erforschung  des  slawischen  Dorfes  Fr  stellte  zuerst 
die  als  typisch  erkannton  Dorffnrmen  auf  und  suchte  die  Ajila^'e  des  Dorfes  in 
BeziehunfT  zu  \\'a»ser,  Berg  und  Thai  zu  setzen.  Sein  feiner  Natursinn  zeigte 
ihm,  wie  dieser  oder  jener  Stamm  Neigung  hatte,  sich  am  Gehänge  tider  längs 
Moes' Baches  anzusiedeln.  Von  ihm  stammen  die  ersten  eingehenden  Arbeiten 
in  DeutKhland  .Uber  den  Ackerbau  und  die  Volksart  der  Slawen.  Fabt  man 
dsa  Ergebnis  seiner  Studien  susammen,  so  kann  man  sagen:  was  er  fiber  den 
'Rundling*  ausführte,  gilt  heute  als  Gemeingut  der  Wissensehaft;  was  er  Aber 
i»»  innere  Leben  der  Slawen  sehrieb,  ist  dagegen  weit  flberholt  worden  und 
bnn  nur  als  ein  erster  Versuch  gelten. 


')  Slawen  und  Teutachthum  8.  M% 


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344 


B.  Wvttke:  Die  Beneddung  Sadneni. 


Ein  äulserer  Umstand  führte  Jacobi  auf  dieses  seiner  Begabung  am  meisten 
suBagende  Gebiet  Der  Herzog  von  S.*Altenburg  erlieüb  ein  PreiiwMedimben 
Aber  die  Qcedueliie  dee  altenburgieehen  Oeterlandee.  Hit  deutaclier  QrOndlii^- 
keit  fing  Jacobi  die  Uniennehiing  mit  der  Beeledelung  dee  Lendee  an;  darflber 
hinaas  ist  er  aacb  nicht  gekommen.  Er  legte  die  ersten  Ergebnisse  seiner 
Arbeit  in  einem  Artikel')  nieder,  der  1845  in  der  Leipziger  Illustrierten  Zeitnng 
und  später  selbständig  erschien.  An  Kartenbeispielen  erläuterte  er  vier  ver- 
schiedene typisclic  Dorfarten,  die  sich  in  Sachsen  finden.  Auf  Grund  dieser 
Arbeit  wurde  von  der  Kp^\.  Gesellschaft  der  Wisfenschaft  in  üöttiugen  durch 
Preisaufgübe  eine  Unkrsuchitng  der  von  den  Wtiidon  abötammenden  Nieder- 
lassungen im  Liiueburgischeu  angeregt.  Aud  der  Bearbeitung  dieser  Aufgabe 
entaiaad  ein  gr5fteres  Buch  von  Jacobi:  'Slawen-  nnd  Tentaehlluimf  in  coltor- 
ttttd  agrarbistoriechen  Stadien  zur  Anschauung  gebracht,  beeondmn  ane  Lftne- 
bu^  und  Altenburg.  Quellenmalirige  Beiträge  zur  Geeddehte  der  Dörfer  und 
Landwirthsehaft  in  Teutschland.  Hannover  1^0/  In  diesen  Arbeiten  bat  Jacobi 
die  GrundzQge  der  slawischen  Besiedelungsarten  festgeetellt.  Er  fand  für  seine 
Ideen  einen  hohen  Förderer  in  dem  Prinzen  Johann.  Schon  1849  hatte  der 
Prinz  in  dem  Kgl.  sächsischen  Altcrtinnsverein  einen  Vortrag  über  die  W«ihn- 
sitze  der  Deutschen  und  Slawen  am  linken  Elbufer  gehalten,  und  un  Jahre 
1852  bet^prach  er  in  die«!em  Verein  die  hi3t/)rische  KolonisationskHrt^»  den  Pro- 
fessor Jacobi 'j,  über  die  er  urteilte,  es  sei  eine  sehr  interessante,  auf  grüiid- 
lichea  Foradiui^ai  berubeiMh^  in  der  Haaptsadie  Mn  richtiges  ReenUat  lielemde 
Vorarbeit,  weldie  zu  weiterer  umfiaaender  Behandlung  des  G^natandea  aof- 
fordere.  Leider  ist  weder  dieae  Karte  noch  die  Erlanterong  daau  von  Jacobi 
im  Dradt  veröflPentlicht  worden.  Jacobi  wandte  sich  um  diese  Zeit  von  dtfr 
Besieddang^eechichte  ^tchsens  ganz  ab  und  anderen  wissenschidliidiett  Fmgfin 
zu.  Prinz  Johann  hat  dann  auf  seine  Kosten  den  Archivar  Landau  zur  £r- 
forsebnriL^  der  li'MTTn*«ehen  Dnrfformen  wie  des  Hausbaues  auf  Reisen  geschickt. 
Der  frühe  Tod  Landaus  liefs  die  Erü;el)iiisse'^  i  dieser  Studienreisen  nicht  aus- 
reifen. So  tritt  nun  in  den  aeehziger  Jahren,  nachdem  die  Erforsehunj^  der 
ältesten  sachsischen  Agrurgeschichte  so  klüftig  eiugesetzt  hatte,  ein  völliger 
Stülatand  ein.  Jacobi  lieb  seine  Arbeiten  bUen,  der  Prinz  Johann  wendete 
anderen  FVagen  sein  Interesse  zu,  und  Hanasens  Nachfolger  in  Leipzig,  WüheJm 
Roscher,  lieferte  uns  wohl  in  grundlegender  eystematlsoher  Daratellong  die  erste 
Agrargeschichte,  aber  den  vielen  ongelSaten  Fragen  auf  dem  Gebiete  der  sach- 
sisdhen  Besiedclung  trat  er  nicht  nSher. 

Unterdessen  hatte  in  Preufsen,  unter  Fflhmng  von  A.  Meitzen,  die  Agrar- 
geschichte einen  neuen  Aufiachwung  genommen.   Von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt 

*)  For»chuagea  über  das  Agrarweseo  des  alteDburgiBcben  OsterlaadeB  mit  besonderer 
Berflckiichtiganfir  ^  Abstammungsverbtitoiase  der  Bewohner.  Vit  9  in  d«B  Text  gedrodttea 
Flur-  und  Dori'karten.    Leipzig  1846.  4. 

*'  Mitteilungen  des  Kgl.  sächs.  Vereins  für  £rfor«chung  und  Erhaltung  vaterländischer 
Altertümer.    1862.    6.  Hft.  S.  2&. 

*)  D«  HMubsn.  1859— «8. 


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R.  Wnttke:  Die  Beneddung  SAcfaieiis. 


346 


artieiiete  sich  Meitzen  mehr  ond  mehr  mm  anerkannten  Führer  und  Meister 
m  der  SUeren  AgrargcBchiehte  herauf.  Das  blieb  eehlielUliQh  nicht  ohne  Rfiek- 
w^kung  auf  Sadiaen.  1889  atellte  die  JabkmowskiBehe  Geeellechaft  die  Prei»- 
sii%pd>e:  Geediiehie  der  Kdoniaatioii  ond  Gennaninenrag  der  wettinieehen  Lande. 
Doch  erat  1895  wurde  der  Pk«ia  Ed.  O.  Sehnlae  fBr  seine  Aibat:  *IHe  Eohmi- 
eierung  und  Q^rmanisierong  der  Gebiete  zwischen  Saale  nnd  Elbe'  (Leipz.  1896) 
la  teil  Fast  gleiclizeitig  erschien  das  grofse  Werk:  'Wanderungen,  Anbau  und 
Agrarrecht  der  Völker  Europas  nördlich  der  Alpen'  von  A.  Meitzen,  in  dessen 
zweitem  Bund«'  <\\*'  Rflckerobenini»  rj«  r  Slawengebiete  in  Osterreich,  Bayern  und 
Sachsen  auHtührlich  behandelt  wird.  Beide  Gelehrte  sind  nicht  unabhängig 
nebeneinander  hergegjingen.  Sie  standen  während  ihrer  Arbeit  in  gegenseitiger 
Ffihlung  und  in  ihren  Ergebnissen,  soweit  sie  die  Grundzflge  der  sächsischen 
Besiedelung  botreffen,  weichen  sie  nicht  von  einander  ab.  Man  kann  wohl 
sagen,  dab  mit  dieeen  beiden  groAen  Werken  die  iltere  Agrargesohielite 
SeeheeiiB  in,  gewinem  Siime  ni  einem  Abaddnls  gekommen  ist  E«  wird  sich 
deihalb  empüriileii,  die  ErgebniBse  der  beiden  Foredier  knrs  snBammenatiatellMi. 

Über  die  VerfiMsuig,  Wirtschaft  und  die  soaiale  Gliedenmg  der  8orb«i, 
die  seit  dem  VI.  Jahrhundert  die  Elbe  und  die  Saale  besiedelten,  erhalten  wir 
durch  diese  beiden  Arbeiten  ein  anschauliches  Bild.  £s  ist  kein  Volk,  das 
unser  Interesse  zu  wecken  vermag  und  dessen  Untergang  durch  die  (iermanen 
irgend  ein  Geffihl  des  Bedauerns  hervorruft.  Schulze,  der  mit  grolser  Sorgfalt, 
fast  mit  Liebe  die  Sorben  schildert,  charakterisiert  sie  als  voll  von  Rachsucht, 
binterhstig  und  treulos,  stets  bereit,  das  dem  Gegner  gegebene  Wort  zu  brechen; 
geneigt  zu  Zank  und  Streit  untereinander,  uubotmärHig  gegen  ihre  Führer, 
Toll  wilder  Grausamkeit  und  wahrhaft  teuflischer  Lust  an  den  Qualen  ihrer 
Feinde.  Aber  gelegentUeh  leigen  sie  ancih  ein  frenndliehea,  ftst  gutmütiges 
Weeen,  ond  ihre  Gastfirenndsdiafit  wird  B%emein  gerfihmt;  sie  ging  bis  aar 
Teracihwendinq^y  ja  mm  ihre  Oiste  reidilieh  an  bewirten^  Tergrilfon  aie  ntk  an 
fremdem  Qnt, 

Die  Familie  bildete  bei  ihnen,  wie  wir  ee  noch  heute  bei  den  Südslawen 
finden,  eine  Art  Genossenschaft,  die  sich  von  aulsen  abschlofs.  Eine  solche 
Familie  pflegte  ein  Dorf  zu  bewohnen.  Die  Dorfer  waren  deshalb  sehr  klein, 
sie  bestanden  aus  wenigen  Häusern;  grofsere  Dörfer,  wie  wir  sie  bei  den  Ger- 
manen treffen,  kannten  die  Slawen  nicht.  Auf  die  l  eidarbeit  verwendeten  sie 
keine  grofse  Mühe;  sie  suchten  sich  den  am  leichtesten  zu  bearbeitenden  Boden 
&uä.  Meist  breiteten  sie  sich  in  der  Ebene  au»;  das  Gebirge  und  die  groiseu 
Wsldmassen  dee  Erzgebirges  sachten  sie  zu  vermeiden.  Die  Feldmark  teilten 
ne  nicht  wie  die  Deutschen  in  einadne  Hofen  and  Gewa&ne  ein;  sie  lerfiel  m 
lOgBnamite  Blöcke,  orbar  gemachte  Streifen  Lande«  yoa  Tersdiiedener  Grolbe 
nad  Form,  die  anregehm&big  dorcheinander  lagen. 

Zwei  Dorfformen,  das  Straleen-  oder  Qassendorf  und  der  Rundling  sind 
bei  ihneta  verbreitet.  In  Sachsen  findet  sich  vorwiegend  der  Rundling.  Die 
einzelnen  Gehöfte  waren  RicherfÖrmig  oder  hufeisenförmig  angeordnet.  In  der 
Mitte  dee  Dorfee  lag  der  Dorfplata,  meist  mit  einem  Wassertfimpel  Tersehen. 


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846 


R.  Wttttke:  Die  Beneddiing  SacfiMUB. 


Bei  der  Anlage  war  man  auf  Schutz  v<ir  etwaig;»'!!  Feinden  bedacht  gewesen. 
Nur  ein  Eingang;  fiihrt*  in  das  Dorf.  Hinter  den  Gehöften  kamen  zunächst 
Gärteu^  die  dann  Bckliei'slich  durch  eine  Hecke  mit  einem  Graben  al>get>chloBseii 
worden.  Kodi  heute  ketin  mea  fiui  überall  im  aiehfliadiai  Lende  auf  Dörfer 
aUttteai,  die  gans  xein  die  tursprflng^chenl  dawimdiexi  Formen  zeigen. 

Zwei  Hachte  suchten  vom  IX. — XL  Jehrk  weehidMittg  die  Herraeheft 
filier  die  Sorben  zu  erringen:  die  ehrietliche  Kirche,  um  neue  Gläubige  und 
mit  ihnen  neue  Steuern  und  Abgaben  zu  gewinnen,  und  die  deutschen  Hfisrwi, 
die  erst  ihr  Land  vor  den  Einfiillen  der  Slawen  zu  schützen,  dann  sie  zu  unter- 
werfen trachteten.  Am  Ausgang  des  XI.  Jahrh.  war  die  deutsche  Oberherr- 
schaft befestif^t  und  die  Erobenni<i  des  slawischen  Landes  vollendet.  Die  Sorben 
hatten  einen  neuen  Herrn  bekommen,  aber  im  wr-'^entbehen  waren  sie  im  Be- 
sitze ihres  Landes  gela^^sen  worden;  ihr  Pflug  l)e^<te[lte  noch  den  väterlichen 
Boden;  bald  jedoch  sollten  sich  diese  Verhältnisse  ändern. 

Seit  dem  XI.  bi»  in  das  XIV.  Jaiirii.  druugie  aus  dem  Süden  und  Westen 
DeutsdhluHb  eine  VölkerweUe  nodi  dem  Ostm  tot.  Der  politischen  Erobe- 
rung der  Slawenländer  durch  die  deutschen  Ritter  folgte  nun  die  planmafsige 
Bssiedehu^  des  Landes  durch  dm  deutschen  Bauern.  ZunSchst  nahm  er 
die  von  den  Slawen  freigdassenen  Gebiigssflge,  dann  den  in  der  Ebene  un- 
bebauten Boden,  schliefslich  aber  drängte  er  den  Slawen  aus  seinem  Dorfe 
^in^|.^  Das  sorbische  Dorf  war  aber  für  ihn  zu  klein,  er  suchte  durch  Um- 
legung  der  Feldflur  es  zu  erweitem.  An  die  Stelle  des  kleinen  slawischen 
Weilers  trat  nun  das  detitsche  Dorf.  Meitzen  schätzt  die  Zahl  der  flbrig- 
pfebliebenen  slawischen  Dörfer  auf  ein  Prittol  bis  auf  ein  Viertel  der  früheren 
Zahl,  und  anschaulich  zeigt  er  an  Karten beispielen,  wie  ein  slawisclier  Weiler 
in  deutsche  Gewanne  umgelegt  wurde.  Lange  bat  die  sächsischt'  Lokal 
forschuug  das  Dunkel,  das  über  der  Zerstörung  und  Erweiterung  rcsp.  Um- 
Inldtmg  sorlNseher  Dörfer  lag,  durelL  TTntersnehimg  der  Dcwfiiam^m  Teigebüeh 
SU  liehtea  Tersucht.  Die  Namenforschung  labt  hier  im  Stich,  denn  die  slawisdie 
Benennung  einee  Ortes  ergiebt  keinen  sicheren  Anhalt,  ob  wir  es  mit  einer 
ursprünglich  slawischen  Anlage  zu  thun  haben.  Sefauhe  weist  Qbersengend 
nach,  dafs  die  deutschen  Bauern,  dem  Zug  zum  Fremdartigen,  der  unser  Volk 
leider  beherrscht,  nachgebend,  ihren  neu  angelegten  Dörfern  häufig  slawische 
Namen  gaben.  Treffend  ist  sein  TTinweis  darauf,  dafs  auch  heute  noch  die 
Siedler  in  Amerika,  .\n<<tralien  und  Afrika  die  Ortsb^ichnung  oft  dem  Sprach* 
schätz  der  Ureinwohner  entnehmen. 

Mit  der  deutschen  Eroberunjj  wurde  die  ^anze  sorbische  Bevölkenmg  unfrei. 
Entsprechend  der  älteren  sozialen  Gliederung  des  Volkes  können  wir  aber  ver 
schiedene  Stufen  der  Unfreiheit  beobachten.  Eine  etwas  bessere  Stellung  nahmen 
die  Supane,  Witbasen,  eine  Terachtete  die  Smnrden  ein.  Nachdem  der  deutsche 
Bauer  das  Land  besiedelt  hatte,  versehwinden  in  Sechsen,  man  kann  tui  sagen 
lautlos,  die  Slawen.  Es  entstand  allnmhlioh  seit  dem  XHL  Jahrh.  diüe  einheit- 
Udie  Berdlkerungsmasse.  Nicht  flbeiall  ist  ein  derartiger  Ausgleidi  beider 
Völker  gdungm.  Li  der  Lausitz  haben  bis  heute  die  Wenden  Sprache^  Trsdit 


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WntÜre:  Di«  BededdiUK  Sadweiw. 


347 


nod  Eigenart  bewahrt.  Diebe  VerBehiuelzung  hatte  aber  tiefgreifende  Folgen 
flr  d»  deatMÜie  biuerliebe  BefSOnxtuig.  Wir  ttofiimi  auf  «b  Frobkoi,  da« 
nodi  nidkt  genügdiid  aü%eUftri  iit;  mn  konnte  sagen,  die  Baehe  der  nnter- 
gciModen  Sorben  eeM»  hier  ein.  Ab  Bieger  fiber  die  Sorben  lieb  sich  der 
deataehe  Bauer  nieder,  bald  aber  wurde  ihm,  der  als  fVeier  ine  Land  ge- 
kommen war,  die  Freiheit  genommen.  Die  Unfreiheit  der  Slawen  drückte  den 
Deutschen  herab,  und  der  Besiegte  übertrug  seine  Kettt  n  auf  den  Sieger.  Als 
im  XV.  und  XYI.  Jahrh.  der  Gegensatz  zwischen  slawisch  und  deutsch  langst 
geschwunden  war,  da  war  auch  der  Bauer  zur  Hörigkeit  licrnKpeHuiikcn.  Der 
Ritter,  der  ihn  in  das  Land  trcrufcn,  dem  er  das  T.aiirl  mbar  gemacht  und 
beätelit  hatte,  der  ihm  »eine  bttvliunt;  t^ftron  die  fSorben  vrA  befestigen  geholfen, 
drückte  ihn  zur  Erbunterthänigkeit  lierab.  Und  dort,  wo  sich,  eingesprengt  in 
die  deutöche  Bevölkerung,  Reste  Ton  Slawen  erhalten  haben,  finden  wir  unsem 
deaiMihen  Bauem  seit  der  Befonnation  in  einer  Lage,  die  neb  nur  mit  Leib- 
eigBueekaft  bewiebnen  Iftbi  —  Die  deutsche  Pditik  bat  verecbiedene.Wege  rar 
Genaanieiening  der  wetliniacihen  Lande  eingeecUagen.  Zuerst  galt  e^  aidi  vor 
den  Einfftllen  der  tlawiicbeii  Ydlker  an  aehlltMn;  dann,  als  dies  errudht  war, 
ging  man  zur  Eroberung  des  Landes  fiber.  In  dem  nengewonnenen  Gebiet 
aekton  sieh  Herren  und  Ritt«r  fest  und  beherrschti^n  die  unterworfene  slawische 
Berölkerung.  Noch  aber  bestand  die  Masse  der  bäuerlichen  Klasse  aus  Slawen; 
eret  mit  der  Einwanderung  des  deutschen  Bauern  ward  Toilendet,  was  die 
deutschen  Könige  begonnen  hatten. 

Die  (ieschichtschreibiinc:  hat  in  der  Beurteilung  der  Politik  Heinrichs  I. 
und  üttoH  d.  Gr.  melirtaih  geschwankt.  Die  Ziele,  die  Heinrich  verfolgte, 
werden  in  der  neueren  Geschichtschreibui^  enger  gefafsi  Er  gilt  nicht  mehr 
•b  «n  Hebrar  des  BeM^is  Mdi  dem  Osten,  dmn  die  Sroberung  d«r  slawisdien 
GTsn^bider  strebte  er  nicht  an.  Er  woUte  seinen  Landen  Sdiuta  gegen  die 
Einfille  der  Slawen,  besonders  der  alles  TerwOistNiden  Ungarn  gewahroi,  er 
bdknd  sidi  noch  in  der  Verteidigong  gegen  die  dawische  Hochflut.  Der  Weg^ 
den  er  einschlug,  war  ein  wahrhaft  staatsmännischcr.  Langsam,  Schritt  vor 
iSchritt  ging  er  vor  und  gewann  gesicherte  Grundlagen  fta  die  spätere  staat- 
liche Entwickelung.  Da  er  den  Schutz  seines  Landes  vornehmlich  ins  Auge 
gefafft  hatt^,  legt^  er  den  Schwerpunkt  seiner  Tiratigkf'it  '-i  militärische  Mafs- 
nahmen.  Er  gcliuf  ein  schhij^ferti^es  lioiterlieer  und  uinHüunite  sein  Land  mit 
einer  Kette  von  Burg^varteu,  die  nun  eine  Art  von  Militärgrenze  bildeten.  An 
eine  Kolonisation  der  slawischen  Länder,  die  ihm  nulu  facii  zugeschrieben  worden 
ist,  dachte  er  nicht.  Erst  unter  Otto  d.  Gr.  ging  man  von  einer  mehr  pastuven 
n  «ner  aktiven  deutschen  Politik  Aber.  Nidit  länger  wollte  man  sidi  defensiT 
gegen  die  Slawen  verhalten,  man  wOnachte  jetat  ihre  Unterwerfung,  um  ihre 
kriegerischen  Gelfiate  im  Zaum  au  halten  und  dem  Beidi  den  Freden  lu  sichern. 
Eng  verknilpft  mit  dem  Gedanken  an  den  Beichsfrieden  war  der  an  die  Christiani- 
siening  der  Heiden.  Das  Christentum  machte  aber  nicht  durch  sich  getiag^ 
unter  den  Heiden  Fortsc  Ii  ritte;  nur  wn  der  dtnitsche  Herr  bebbl,  vennoehte 
«s  m  langeamer  und  stiller  Arbeit  sich  aosaubreiten. 


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348 


R.  Wuttke:  Die  Beriedelnng  Saehaeiii. 


Dio  eigentliche  Gernuinisi«  i  iin^'-  der  Sorbenlnnde  begann  nach  Schulze  tim 
950,  Thüringen  war  der  Ausgangspunkt  der  Bewegung;  aber  noch  bis  zum 
XI.  Jahrh.  konnte  man  nicht  von  einer  eigentlichen  German isierung  den  Landes 
sprechen,  sondern  allem  von  einer  Festsetzung  und  Ausbreitung  der  deutschen 
Henvehttft.  Die  Berölkernng  auf  dem  platten  Lande  blieb  durchgängig  sor- 
bisch, und  eine  freie  unabbangige  BanemBchaft  g|ab  ea  aueb  nidit.  Überall 
im  Lande  setston  aicb  «eltlftibe  und  geistUcbe  Giundberren  feaf^  gleichBam  wie 
ein  Nefat  mit  engen  Haeeben  das  ganae  i4»l»Mbe  Land  ilbemebend.  Sie  baUen 
sich  unter  dem  Sebnta  der  Landeaherren  die  Herrachaft  errangen  und  den 
Sorben  sich  dienstihar  gemacbi 

Damit  sind  wir  am  Ausgang  des  XI.  Jahrh.,  an  einem  wichtigen  Wende 
punkt  der  innerpolitischen  Entwickelung  angelangt.  Die  Frage  stand  offen:  sollen 
diese  Lande  nur  von  deutschen  Herren  beherrscht,  oder  sollen  sie  deutscher 
Kultur  erschlossen  werden?  Bei  dem  grofsen  Gebiet,  das  die  Deutschen  den 
Slawen  abgewonnen  haben,  können  wir  verschiedene  Formen  der  Eroberung 
wie  der  Besiedelnng  der  slawiscben  LSnder  unterscheiden.  Die  spätere  Eni^ 
wiekelnng  bat  gezeigt,  welcher  Wert  fttr  die  CfevmaniBierang  jeder  dieser  Fornen 
snkommt.  Die  Entwickelung  in  Sacbsen  batte  im  XI.  Jabrii.  an  gaoa  Sbn- 
lieben  Zuatfaiden  geftthrt,  wie  wir  sie  beute  noeb  in  den  ruasiscben  Ostsee 
Provinzen  finden:  Herrscher  und  Beberrschte  durcb  Basse  ges<Aieden;  auf  der 
einen  Seite  der  Grundherr,  auf  der  anderen  die  unterworfene  Bevölkerung;,  kein 
Bindeglied  zwischen  beiden,  keine  eingewanderte  deutsche  bäuerliche  Land* 
bev()lkening.  Und  das  Ergebnis:  der  deutRohe  Ritter  hat  wohl  die  russischen 
OstseeprovinzcTi  zu  erobern,  aber  nielit  zu  germanisieren  vermocht.  Aueh  hent^ 
finden  wir  in  (ier  OberlauHitz  noch  wendische  Volksart  weit  verbreitet.  Sie  Init 
sich  in  alle  den  Gegenden  ^  wo  der  deutsche  Adel  lieber  mit  unfreien  Wendeu 
fortwirtachaflete,  als  dals  er  freie  deutsche  Bauern  ansiedelte,  zu  erhalten  ver- 
mocht Nur  wo  der  deutsche  Bauer  eindrang,  ist  die  Germanisierung  der  Land- 
bevölkerung gelungen. 

Die  Oescbidite  volhdeht  sich  nidit  nach  dem  Darwinschen  Geeets  der 
natflrlicben  Auslese;  ^te  es,  dann  lAtte  der  geistig  hochstehende,  nnter« 
nebmungslustige  und  thatkriflige  deutsche  Ritter  den  Sieg  fllr  das  OermaneD- 
tum  erfechten  müssen.  Der  handfeste  deutsche  Bauer,  der  nichts  von  der  Reg- 
samkeit und  Gewandtheit  des  Slawen  besafs,  oft  ihn  kaum  geistig  Qberrugt*, 
der  aber  an  harte,  schwere,  entsagungsvolle  Arbeit  gewöhnt  wur,  wurde  Jedoch 
zum  Träger  der  diiiitschen  Kultur! 

Zum  Glück  für  unsere  politische  Mucbtstelluug  in  Europa  nahm  die 
Entwu  kc  lung  in  Sachsen  einen  anderen  Verlauf  als  in  den  Ostseeprovinzen. 
Im  XII.  und  Xlll.  Jahrh.  begann  der  Zuzug  von  Bauern,  uud  erst  mit  ihrer 
Einwanderung  jfoan  man  von  einer  eigentlichen  Germanisierung  des  Landes 
sprechen.  Nicht  aus  eigenem  Antrieb  ksm  der  deutsdie  Bauer,  politisdie  und 
wirtBcbaMiche  Vor^nge  in  seinen  Stanunlindem  unterstfitsten  seinen  Abing; 
die  Anregung  daau  ging  von  den  Gmndberren  und  den  KlSstem  aus.  Sie  ve^ 
sprachen  sich  von  der  Besiedelung  des  Landes  mit  deutsdien  Bauern  mannig* 


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R  Wutlk«:  Die  Bedadatniig  SMhniM. 


349 


£dtige  Vorteile:  Stärkung  des  di»ui»clien  filementes,  Zunahme  wehrfaftfter  und 
mnaSanfgst  Mbuier,  dann  wiftMÜiirfllielie  AttmutBang  dea  Wald-  und  Ödlandea 
und  Steigen  der  Einnahmen  aus  Abgaben  and  Dienaten.  Fttr  die  Kirehe  kam 
beaondera  der  hShere  ErtragBEehnt,  den  der  Deutsche  im  Ctegenaata  zu  dem 
fixierten  Zehnt  des  Slawen  zahlte,  in  Betracht. 

Die  eigentliehen  Kolonisatoren  waren  die  Ritter  und  die  kleinen  Qrund- 
herren.  Sie  zogen  mit  Yeraprecliungen  die  iBauem  heran,  und  ihrer  Ycmntte- 
long  bedurfton  die  Fürsten  und  die  Kirche,  wenn  sie  Land  besiedeln  wollten. 
Zahlreiche  rrktinden  zeigen  unHcbaulicli,  wie  dieses  'Untfriu'hiuL'rtum'  arbeitete. 
Die  Bauern  holte  es  sich  zumeist  aus  den  henaebbartvn  Gauen.  Saehsen,  Thüriiigtin, 
Franken  lieferten  den  Stamm  der  neuen  Annietlier.  Einzelne  sächsische  Durftiamen 
weisen  aucit  aui  di^n  Zuzug  aus  anderen  deutsoLeu  Guueu  hin.  Eine  besondere 
Stellung  nahmen  die  Niedeiiander  oder  Flimliuge  ein;  zerstreut  in  kleinen  An- 
siedelungen traf  man  sie  im  Norden  wie  im  Sfiden  d«i  ReidieB  bia  au  den  Kar* 
paflien.  Sie  vermieden  gebirgige  Gegenden  und  lieben  sich  lieber  nieder,  wo 
«B  fiel  Waaaer  gab.  Die  Elbthalniederungen  und  die  Maredbien  ventanden  sie 
kanstroll  zu  entirifamm.  Von  der  deutschen  wie  wendiech^n  Bevölkerung  lebten 
sie  abgeechlosaen,  und  nur  sehr  allmählich  sind  sie  von  den  Deutschen  auf- 
gesogen worden.  Der  Bauer  pflegte  mit  dem  Grundherrn  einen  Vertrag  ah- 
zuschliefsen.  Die  noch  erhaltenen  Vertrage  zeigen,  dafs  die  Ansiedler  ihre  A'olle 
Selbständigkeit  und  Freiheit  /u  erlinlten  verstiinden.  Der  Bauer  verwahrti  >ich 
uitist  gegen  jeden  Eingriff  des  Grundherrn  wie  seiner  Beamten  in  seine  persön- 
lichen Rechte.  Er  verpflichtete  sich  nur  mr  Zahlung  eines  Erhzinaes.  Der 
Zins  war  eine  Vergütung  für  da^  überlassene  Land  und  bedeutete  nicht  etwa 
des  Zeichen  irgend  einer  rechtlichen  Abhängigkeit  vom  Orondherm. 

Das  ganae  Anriedelungswerk  hatte  mit  einem  Sdilage  die  Stellung  des 
deutschen  Bauern  amm  Grundherrn  völlig  geändert  Die  Feeseln^  die  den  Bauer 
itt  gebor  alten  Heimal^  in  Franken  vrie  in  Thflringm^  an  seinen  adeligen  Herrn 
banden,  warf  er,  als  er  nach  Sachsen  zog,  ab,  um  als  freier  und  unabhängiger 
deutscher  Mann  sich  neben  dem  Sorben  niederzulassen.  Seine  Freiheit  aber 
hat  er,  wie  wir  schon  anführten,  nicht  behaupten  können.  Im  XVII.  und 
X^^II.  Jahrh.  wurde  die  gesamte  sächsische  Bauernscbui't  zur  Hörigkeit  heiab- 
gedrückt,  und  erst  die  liauernhet'reiung  in  dicscin  Jahrhundert  hat  ihm  seine 
poUtische  und  wirtschaftliche  Freiheit  wieder  gebracht. 

In  Meitzeus  grofs  angelegtem  Werke  wird  die  Erobcrtmg  und  Befieiiehmg 
Obersachsens  nur  als  eine  Episode  in  der  deut«icheu  lUtkeroberuug  der  Slawen- 
gebiete behandelt;  Sd.  0.  Schulze  dagegen  wendd;  bewundere  S(»gblt  auf  die 
Darstellung  der  sosialen  Schichtung  und  der  Lage  der  banerlidien  Bevölkerung 
in  Sachsen.  Sein  Budi  erweitert  sich  an  einer  Agrargeschidite  Sachsens  bis 
nun  Ausgai^  dea  Mittelalters.  Noch  ist  die  Geschichte  der  Beaiedelung  der 
wettuiischen  Lande  nicht  zum  völligen  Abschlufs  gebracht.  Über  die  Gründung, 
die  erste  Anlage  der  Städte,  wie  die  Entwickelung  des  tifirgertums  in  den 
Städten,  im  Gegensatz  zur  ländlichen  Bevölkerung,  fehlt  uns  eine  abschliefsende 
Arbeit   £8  ist  jedoch  begründete  Aussicht  vorhanden,  daü»  in  kurzer  Zeit 


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850 


R.  Watkk«:  Die  Meddiug  SaeliBeu. 


▼<m  b«rttfener  Seite  dieeem  Mangel  abgeholCm  werden  wird.  Fenier  hat 
■ich  die  Kgl.  rikheiBdie  Eommieeion  fttr  Gesdiichto  ein  grolSwe  YerdieDst 
erworben^  indem  sie  ron  der  bewShrton  Hand  Bd.  0.  Schuhee  einen  Flor- 
tartenathia  zur  Geschichte  der  Besiedelung  und  des  Agrarwesens  in  Sachsen 
herausgeben  will.  Der  Atlas  soll  40 — 50  Tafeln  enthalten,  und  auf  50 — 60 
Bogen  Text  soll  die  Entwickelung  der  agrarischen  VerhaltniBae  von  der  Sorben- 
zeit und  der  ersten  deutschen  Einwuiiderung  bis  in  unser  Jahrhundert  be- 
schrieben werden.  Wenn  dieses  grol'se  Werk  abgeschlossen  vorliegt,  werden  wir 
Gelegenheit  nehmen,  die  Ergebnisse  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  voi-zufUhren. 


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SCHILLER  UND  PLUTABCa 
Von  Karl  Fbibs. 

Wenn  Kaiser  Uüdrian  den  Bliik  ron  seinem  weltbehfrrschenden  TVirnne 
aus  in  die  Niederungen  der  arbtnUi:den,  rastlosen  Menbchbuit  gh^iten  liel's,  so 
tmil'ste  fr  mit  Befriedigung  einen  eigenen  CJlaiiz  iiher  dieser  ganzen  Welt  wahr 
iieiuueii,  eiucu  (iluiiz,  debseu  StruLieu  ulle  auf  ihn  zurücktielen,  in  seiner  Kruue 
flureo  Brennpunkt  hatten.  Wie  gern  ecninte  eidi  der  eelbeigetällige  Clear  in. 
4er  Fradii  seines  Werkes,  wenn  rings  die  Leiern  erUangen,  die  Grabstichd 
nch  r^^n,  die  KJlen  der  Fhilosophtti  und  Blietoreu  vom  Beifidl  der  Menge 
crdrShnten.  Dieser  neue  Frühling  des  Geisteslebmis  —  sein  Werk!  Und  dodi 
konnte  er  der  schonen  Gegenwart  nicht  froh  werden.  Wie  rein,  wie  korrekt 
man  die  Atthis  anch  schrieb  und  sprach,  der  neue  Aiif-^rlnvung  v?ar  kein 
organisch  gewordener,  es  fehlte  der  Ausdruck  der  Freiheit,  der  Natur,  der  Un- 
Wmifptheit  in  den  Mienen  dieser  boinliastisehen  Sophisten,  dieser  gleifanerischen 
I'iiiu'gvriker.  Tausend  warnende  Zeichen  verkündeten  es,  dals  der  jfhv^^'ste  Tag 
dieser  Kultur  nahe,  dafs  nicht  Kunst  und  nicht  Gewalt  den  di ul  i  nd- n  Strom 
dtr  Zeit  und  der  Entwickelung  hemmen  würden.  Klug  wulkte  (ier  Monaick 
noch  einmal  alle  lleerschareu  der  Bildung,  des  Klassizismus  um  seinen  Thron 
sn  Bammeln,  um  den  AngrüEnnaehten  der  Zersetanng  und  Barharei  dnrdi  das 
9M116  Bild  einor  blendenden  Parade  Einhalt  sn  gebieten.  Aber  Tergebens  er- 
sdidpften  jene  Dio,  jene  Plntarch  und  Fansanim  ihre  Kraft  in  der  Nadiahmnng 
der  Antike,  die  besdiworeiien  Geister  konnten  nidit  retten.  Ifan  ^idi  dben 
Bchliefslich  dem  Geist,  den  man  begriff,  nidit  demjenigen,  aus  dem  die  Werke 
der  Perikleischen  Zeit  hervorgegangen  waren,  mochte  man  sie  auch  noch  so 
begeistert  rühmen.  Bo  schritten  diese  antiken  Uomantiker,  die  Aogm  auf  die 
Terainkende  Sonne  gerichtet,  den  Weg  der  Geschichte  dahin. 

Vielleicht  darf  zwischen  jener  lievcdiition,  an  der  das  Heidentum  der  alten 
Welt,  und  derjenigen,  an  der  der  Despotismus  einer  bevorrechteten  Gosel Ischaits- 
klaese  im  Frankreich  des  vorigen  Juhrhuudcrtsi  zu  Grunde  ging,  eine  i'arallele 
gezogen  werden.  Dort  wie  hier  um  sieh  greifende  Korruption,  dort  wie  hier 
Sebisadit  nach  AnnnersnDg  infizierter  Teile,  nach  tiefster,  völliger  Begmeration. 
Wenn  aber  dort  die  Bildmig  in  den  Dienst  der  absterbenden  Zeit  trat,  Kunst 
and  Wissenschaft  an  den  Stufen  des  Thrones  sich  mit  den  3f astem  der  Ver- 
gnigeiihett  durchdrsogen  und  sich  an  ihnen  idealisierten,  so  ruft  hier  die  Kultur 
nach  dem  Neuen,  Kommenden,  Niedi^ewescnen;  von  Iloifnungen  durchglüht 
iiiht  sie  der  Schwelle  des  Jahrhunderts^  um  sie  im  Thumpli  su  überschreiten, 


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352 


K.  Pries:  Schiller  und  Plutarch. 


Montesquieu  und  Rousseau  blicken  auch  auf  das  Altertum  zurück,  aber 
nicht  mit  jener  halben  Resignation  Hadrians,  sondern  in  dem  frohen  Gefühl, 
in  den  antiken  Aufserungen  des  Freiheitsdranges  und  MenschengefUhles  Prä- 
zedenzfälle ihres  eigenen,  allerdings  kühneren  Denkens  und  Handelns  zu 
finden. 

Wenn  Rousseau  freilich  in  dem  Johannistrieb  der  Antoninischen  Zeit  sich 
einen  Helden  erliest,  so  ist  das  ein  verfehltes  Beginnen.  'Plutarch',  äufscrt  er 
bei  Sturz*),  'hat  danini  so  herrliche  Biographien  geschrieben,  weil  er  keine 
halb  grofsen  Menschen  wählte,  wie  es  in  ruhigen  Staaten  Tausende  giebt,  sou 
dern  grofse  Tugendhafte  und  erhabne  Verbrecher.'  Das  trifl't  für  die  Biographien 
des  Artaxerxes,  Lucullus,  Crassus  u.  a.  schwerlich  zu.  Aufserdem  kam  es 
Plutarch  bekanntlich  hauptsächlich  darauf  an,  die  Charaktere  berülunter  Männer 
psychologisch  zu  beleuchten  und  mit  einander  zu  vergleichen,  während  ihm 
der  etwas  geschraubte  Rousseausche  Begriff  der  'Gröfse'  an  sich  ganz  fremd 
war.  'Plutarch  glänzt  durch  Detailschilderungen,  die  wir  nicht  nachzuahmen 
wagen.  Er  hat  eine  unnachahmliche  Gabe,  grofse  Männer  in  kleinen  Zügen 
zu  schildern,  und  er  ist  in  der  Wahl  derselben  so  glücklich,  dafs  oft  ein  Wort, 
ein  Lächeln,  ein  Gestus  ihm  genügt,  seinen  Helden  zu  charakterisieren'  (Emil 
II  211).  —  'Ich  ziehe  einzelne  Lebensbeschreibungen  vor,  wenn  ich  das 
Menschenherz  studieren  will;  da  enthüllt  der  Mensch  sein  Inneres,  der 
Historiker  folgt  ihm  überall  und  gewährt  ihm  keine  Ruhepause,  keinen  W^inkel, 
sich  vor  dem  durchdringenden  Blick  des  Betrachters  zu  flüchten.  Je  mehr  er 
sich  zu  verbergen  glaubt,  je  mehr  wird  er  enthüllt.  Diejenigen,  sagt  Mon- 
taigne, die  Biographien  schreiben,  verweilen  lieber  beim  Wägen  ihrer  Helden, 
als  ihrem  Wagen,  mehr  bei  dem,  was  aus  ihrem  Innern  kommt,  als  bei  dem, 
was  draufsen  vorgeht;  sie  stehen  mir  näher,  das  ist  der  Grund,  weshalb  in 
jedem  Betracht  mein  Mann  Plutarch  ist'  (ebd.  S.  210  f.).  Plutarch  also  ist  ihm 
das  Ideal  des  Historikers,  des  Seelenkünders,  er  ist  der  rechte  Lehrer  Emils,  der 
ihm  den  wahren,  grofsen  Menschen  zeigen  soll.  Demgegenüber  möge  Plutarch 
sich  selbst  äufsem.  Er  sagt  im  Anfang  des  Cimon:  'Man  verlangt  von  einem 
Maler,  der  schöne  Personen,  die  viele  Reize  haben,  abbildet,  dafs  er  die  Flecken, 
die  etwa  das  Original  hat,  nicht  ganz  weglasse,  aber  auch  nicht  zu  genau  aus- 
drücke, weil  jenes  das  Gemälde  unähnlich,  dieses  aber  es  häfslich  machen 
würde.  Ebenso  mufs  man,  da  es  schwer,  ja  wohl  unmöglich  ist,  das  Leben 
eines  Menschen  ganz  untadelhaft  und  fehlerfrei  darzustellen,  bei  guten  Menschen 
die  Wahrheit,  als  die  Ähnlichkeit,  vollkommen  beobachten,  aber  die  Fehler  und 
Vergehungen,  welche  von  einer  Leidenschaft  oder  politischen  Notwendigkeit 
nach  den  Umständen  herkommen  und  sich  in  die  Handlungen  einschleichen, 
mehr  für  Mängel  der  Tugend  als  Bosheiten  des  Lasters  halten  und  sie  nicht 
gar  zu  absichtlich  und  weitläufig  in  der  Geschichte  erzählen,  sondern  eine 
gewisse  Ehrfurcht  vor  der  menschlichen  Natur  haben,  wenn  sie  keine  ganz 
vollkommene  Schönheit  und  keinen  ganz  tadelfreien  tugendhaften  Charakter 


H.  P.  Sturz*  Schriften,  erste  Sammlung  (Leipzig  1779;  S.  145^ 


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353 


hervorbrinj^.'  Das  entspricht  i'igentlicli  nicht  recht  dem  Standpunkt  des 
von  Kousseau  geschilderten  Historiker?«  und  l'sychologen.  Phitarehs  stilisierte, 
für  t'in^^n  romeille  recht  zugestutzte  Helden  haben  mit  dem  verloroiicn 
und  wit'<l('r  o;(  fuiulenen  Menschen  des  Housseauschen  Paradieses  ni<  lit^  zu 
thiin.  W'iis  der  Franzose  seinen  Landaleuten  in  l'lutarch  enttleckt  zu  hal>en 
glaubte,  das  &nd  der  Germane  LesBing  in  dem  grofsen  britischen  iia»8en- 
bmder,  deoaen  Name  wie  Feuer  in  den  Zunder  der  Sturm-  und  Drangstimraung 
«eUag  und  Wirkungen  endelte,  an  welche  die  des  Griechen  nicht  im  ent^ 
fmitesten  heranreichen.  Boniseau  aber  erhob  Plutarchs  Kamen  snm  Schlag- 
wort, und  ein  Wort  von  ihm  wirkte  orakelhaft.  *Pltttarch,  mein  Lehrer  und 
Troster!'  Imlltc  is  in  allen  jungen  Genies  nach.  'Soll  ich  nun  weiter  lesen  in 
Brutus'  L«  lH  ti  V"  fragt  Grimaldi  in  Klingers  Zwillingen,  und  .Inlio  in  der  'Neuen 
Arria'  h;it  ilcn  'Plut-arch  im  Fieber  gfUson'.  Goctius  Plan  zum  Julius  ('ii?<ar 
ist  gewil's  durcli  Shakespeare,  vielleiclit  uiu  Ii  v(m  Plutareh  eingegeben.  Eiue 
Erinnerung  an  jene  Zeit  findet  sich  viclki«  lit  in  der  Stt  llc  der  kiüSäiächen 
lf\  alpurgisnacht,  wo  von  der  Schlacht  bei  Pbursalus  tiie  Rede  ist: 

Hier  träumte  Magnus  früher  Gröl'se  Blüt^^ntag, 

Dem  schwanken  Zfinglein  lauschend  wachte  OSsar  dortl 

Die  Benntaung  Lucana  für  die  Episode  ist  nachweisbar,  aber  daneben 
dOrfte  der  Dichter  doch  audi  in  die  Plutarchisehe  CÜsanrita  geblickt  haben. 
Hl*  r  traumt  Pompejus  ror  der  Schlacht,  er  befände  sich  auf  dem  Theater  au 
Rom  und  werde  von  den  Romern  mit  Handeklatschen  begrüfst.  Casar  aber 
opfert  vorsichtig  vor  der  Schiacht  und  fragt  den  Priester,  ob  er  auch  in  dem 
Opfer  glnikliche  Zeichen  wegen  des  Ausj^inj^'s  fl*  r  Srhlfirht  b(>nierke.  —  Wie 
hoch  der  Dichter  jedenfalls  Plutarrh  norli  in  siült*  rm  .luhn  ii  st»  lltr.  «^oht  aus 
tiii-lirt  rcii  Stfllcn  der  Tm^ebfiflit  r  und  dt  r  (irj*j)räi  he  lu'rvi)r.  Wt-mi  fr  /..  fV 
ein  Buch  über  Lord  Hvmn  besüiidtn»  UiUvn  will,  nennt  er  es  'eines  Plutareh 
wttrdig'  (Eckerm.  II.  Juni  l.S2r)).  An  der  Stelle,  die  Goethe  hier  besonders 
herrorhebt,  wird  der  Abstand  awischen  dem  britischen  Edelmann  und  seinen 
bürgerlidmi  Benrteilem  und  der  Nachteil,  der  daraus  fttr  Byron  enraehst^  her- 
vorgehoben. Etwas  Plutarchischea  iSfst  sich  darin  schwerlich  finden;  es  ist 
klar,  dafa  der  Grieche  hier  im  Rouaseauschen  Sinn  als  Tjpus  und  Muster  des 
grorseu  Historikers  aufgefafst  wird.  Dafs  die  'Mfltter*  ans  der  Marcellus- 
biographie  stammen,  ist  bekannt 

Von  allen  jungen  Genies  trieb  Schiller  den  Plutarchkultus  am  weitesten. 
Ohne  Rousseau  wiire  or  freilich  wnhl  nie  zu  dieser  Vorliehr  «je  kommen,  denn 
'inr  innere  Verwandtschaft  konnti-  ihn  kaum  an  den  Gne*'hiii  tcsschi,  von 
'It.ssen  Person  und  Schaffen  i  r  vidlcirbt  recht  weui<i  wufste.  Und  Joih  miH^hti: 
ftUH  den  Biographien  den»  jungen  Dichter  ein  Geist  des  Ernstes,  der  j»hilo- 
sophischen  Würde  entgegentreten,  die  ihn  auch  ohne  liuusaeaus  Empfehlung 
angesprochen  hatten.  Waren  dodi  beide  Männer,  ohne  ein  eigenes  System  au 
bilden,  Ton  tiefem  "Hmg  zur  Philosophie  erfüllty  der  eine  dem  Neuplatonismus 
mit  seiner  Ekstase,  seinem  Damonenglauben,  seiner  gelftuterten  GottesTorstel- 

Xmh  JthrMkdMr.  IM«.  I.  23 


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354 


K.  Priei:  fichtUer  und  FlnUtch. 


lung,  (ItT  andere  dem  Kiaitischeii  Idf/aliainus  üugttlian.  Bt'itle  wirken  durch 
die  bestechende  Form  und  die  Aulricbtigkeit  ihrer  Gesinmuig  für  die  Yer 
lyrettung  ihr«  Liebltngsdogmen,  beide  vereinigen  mit  der  Philosopliie  die 
Qeaehidite,  ohne  wiBsenechafUiehe  Gesiditspiinkte,  der  eine  mit  etiuscher,  der 
andere  mit  ästhetischer  Tendens,  beide  ohne  produktive  Gründlicbkeit,  aber 
beide  voll  sittlichen  Ernstes,  beide  von  edlem  nationalem  Feuer  beseelt  trota 
der  Ungunst  der  äufseren  Verhältnisse.  *Ich  setze  die  Arbeit  ans  eigener  Lust 
fort,  indem  ich  die  Vortrefl'lichkeiten  der  bescbriel)enen  Männer  in  der  Geschichte 
Ko  wie  in  einem  Spiegel  betrachte  und  mich  ihnen  gleich  zn  bilden  suche.  Und 
<s  i^t  soviel,  als  wenn  man  einen  fortgesetzten  vertrauten  Umgang  mit  dicMen 
Mäiineni  uuterljielte,  wenn  man  sie  aut»  dar  Geschichte  gleichsam  bei  sich  aul- 
nimmt,  bemerkt,  wie  wie  vortrefflich  jeder  gewesen,  und  die  merk- 

würdigsten  und  schönsten  ihrer  Thaten  ausseichnei  Welehes  Vergnügen 
könnte  gröfser  sein,  welehes  nur  Verbessening  miserM  Charakters  wirksamer!* 
schreibt  Plutarch  (Aemil.  PauL  1),  und  jedes  Wort  bitte  Schiller  als  Dichter 
und  Historiker  unterschreiben  können,  AJle  diese  Übereinstimmungen  hätten 
aber  doch  eine  nähere  Beziehung  awischen  ihnen  nii  !it  bewirkt,  wenn  Rousseau 
Hcineni  Jünger  nicht  diese  Bahn  gewiesen  hätte.  Plutarch  war  nicht  der  Mann, 
den  man  iii  iliiii  vereinte,  und  dn^  Kiinstlieb(»  des  Verhältnisses  zwischen 
Schiller  uiul  ilmi  tiuij^  ein  (iruiul  (l;itur  sein,  dals  inim  es  bisher  versäumt**, 
die  Wechselwirkung  zwischen  ihnen  zum  Gegenstand  einer  besonderen  Betiach 
tung  zu  wählen. 

Die  erste  Hinweisung  auf  Plutarch  empfing  Sdhiller  auf  der  Akademie. 
Im  Jahre  1779  hörte  er  bei  Friedrich  Ferdinand  DrOch^  der,  wie  sein  Schfller, 
in  Marbach  geboren,  3d;^rig  als  Professor  der  alten  Sprachen  an  die  Akademie 
berufen  wurde  und  die  Schriftsteller  des  Alt<  rtiuns  iiliil(il<i<j;iseh  und  historisch 
erklärte.  'Recht  im  Widerspruch  zu  der  in  der  Akatlt-niie  herrscln  n(ien  Sub- 
ordination stellte  Drfhk  seinen  Zöglingen  die  politisehen  Ideale  der  (iri»rhen 
und  Hönier  z.ur  Naelirifeninij;  liin'  «aj^  Minor  von  ilini  il  lli.^)).  Er  war  also 
ein  echtfi  .Schüler  Rousseau.^,  und  er  wit-s  Sdiillcr  iuit"  l'Iiitarch  hin,  dessen 
Biographien  bald  die  Lioblingslektüre  des  jungen  Eleven  bilden  sollten.  Als 
dieser  im  Desember  1780  die  Akademie  verlieft,  schafite  er  sieh  die  Über- 
setzung der  LeboisbesdiTeibungen  von  Gottlob  Benedikt  Schirach  an,  die  in  den 
Jahren  1777 — 1780  bei  Decker  in  Berlin  erschienen  war.  Das  Werk  behielt 
Schiller  immer  bei  sich,  und  es  findet  sich  noch  jetzt  in  der  Scbillerbibliothek.*) 
Jeder  Band  ist  mit  einem  Titelkupfer  versehen,  und  jedem  geht  eine  Widmung 
an  einen  adligen  Freund  des  Ubersetzers  und  eine  historische  Einleitung  des- 
selben voraus.  Srliiiiich  vertritt  ülicrull  die  strengste  arist<>kratisclie  Auf 
fassung.  Nur  an  f*iebenten  Band  werdt  ii  die  Uberj^ritt'e  des*  römischen  Adels 
gerügt.  Aber  der  Tadel  eines  Braun.seliwtiger  lie/.ia.scuten  veruuliilst  Scliinioh 
im  uächsten  Bunde  (^S.  Will  f.j  zu  folgender  Palin<»die:  'Keine  Staatsverfassung 


'j  Ks  lohute  rticb,  dies  Kxcujpliir  einmal  auf  etviui^'e  UajiUbciuerkimgeu  SchiUers  hiu 
4iurehziiiiebeii,  di«  vielleicht  manchen  nfitslicb«ii  Hiuwcü  fülr  onser  Thema  enthalten. 


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K.  FrioR*:  Schiller  und  Plutarch. 


355 


ist  schlet'hter,  als  die  demokratische,  und  man  verstand  mich  falsch,  wenn  man 
j;laubte,  dafs  ich  in  der  Vorrede  zu  dem  vorhergehenden  siebenten  Theile  meiner 
Übersetzung  des  IMutarchs,  der  reinen  Demoknitie  das  Wort  geredet  hatte. 
Ich  halte  die  demokratische  Uegierungsform,  mit  dem  Plato,  für  einen  Jahr- 
markt aller  Kegierungsverfassungen ,  für  ein  buntes,  vielfarbiges  Kleid,  an 
welchem  sich  Kinder  und  Weiber  ergötzen.'  —  *Zu  unseren  Zeit^m  sollten  er- 
leuchtet* Männer  aufhören,  sich  wider  die  monarchische  Uegierungsform  zu 
erklären,  und  der  repulilikanischen  Freyheit  das  Wort  zu  reden.'  Im  Leben 
<les  Dion  fürchtet  der  Übersetzer,  wie  er  in  den  Anmerkungen  sagt,  dafs 
Plutiirch  seinen  Helden  in  zu  günstigem  Licht  erscheinen  läfst  und  den 
Dionysius,  der  in  der  Vorrede  auf  jede  Weise  entlastet  wird,  zu  .streng  be- 
urteilt. Es  ist  ein  eigenes  Spiel  des  Zufalles,  dafs  Schiller  gerade  aus  solcher 
Hand  die  Nahrung  empfing,  die  die  Begeisterung  für  (iedankenfreiheit  in  ihm 
errej^te.  Die  Übersetzung  ist  in  flüssigem  und  ansprechendem  Stil  geschrieben, 
und  ihre  Anmerlamgen  bringen  in  textkritischer  und  sachlicher  Hinsicht 
manches  Brauchbare. 

Charakteristisch  für  Schillers  damalige  Stimmung  ist  eine  Stelle  in  dem 
'Bericht  von  den  KrankheitsumsUind<'n  des  Eleven  Grammont'  vom  11.  .luli 
17>S0,  den  Schiller  als  Medikus  abzustatten  hatte.  Er  schreibt  an  den  Obersten 
Si'eger:  *Er  liefs  sich  von  mir  einige  Zeit  aus  den  Biographien  des  l'lutnrchs 
vorlesen.'  Selbst  am  Krankenbett  vergafs  er  seinen  Liebling  nicht,  wie  er 
denn  überhaupt  in  der  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis  öfters  durch  plötzliche 
Besuche  der  Muse  gestört  wurde. 

Alles  Grofse  und  Kühne  ent'<prach  dem  Ideal  der  Sturm-  und  Drangzeit. 
Wenn  Plutarch  im  Anfang  des  Demetrius  sagt:  'Beide  Männer  (Demetrius  und 
Antonius)  bestätigen  das  Urteil  des  IMato,  dafs  grolse  Naturen  sowohl  grofse 
Laster  als  grofse  Tugenden  zu  haben  pflegen',  so  mufst<'  das  eine  willkommene 
Bestätigung  ihrer  Theorie  sein,  und  Ilousseaus  Zustimmung  wirkte  elektrisierend. 
Einen  grofsen  Mann  suchte  auch  Schiller,  als  die  Gestaltungskraft  sieh  zuerst 
in  ihm  regt«'.  Der  Held  <ler  'Räuber'  ist  ein  Kousseauscher  'grofser  Ver- 
l>recher'.  'Mir  ekelt  vor  die.sem  tintenklecksenden  Säcnlum,  wenn  ich  in  meinem 
Plubirch  lese  von  grofsen  Menschen.'  Er  legt  das  Buch  weg  und  zieht  jene 
vernichtenden  Parallelen  zwischen  Altertum  und  Neuzeit,  zwischen  Alexander, 
Hannil)al,  Scipio  und  den  Pygmäen  seiner  Zeit. 

Vieles  in  den  lläubern  mahnt  an  Plutarch.  Der  Stoff"  ist  freilich  modernen 
Quellen  entnommen,  obgleich  das  Schicksal  des  Moorschen  Hauses  an  den  To<l 
de«  Königs  Philipp  111.  von  Macedonien  erinnert,  der  den  Verleunulungen  seines 
einen  Sohnes  Gehtir  schenkt,  den  aiuh'ren  ins  Ver<i«'rl»«'n  stür/.t  und  später  aus 
lieue  und  Verzweiflung  darüber  stirbt  (Aemil.  Paul.  III  SO  Schirach),  und  zwar 
besonders  deutlich,  wenn  man  das  Genauere  ])ei  Livius  nachliest.  Der  Hunger- 
tiirm  des  alten  Moor  geht  gewifs  auf  Vorbihler  bei  Gerstenberg  und  Lenz 
zurück.  Aber  was  vom  Aufenthalt  des  jungen  Crassus  in  der  Hr»hle  und 
seiner  heimlichen  Ernährung  durch  den  Sklaven  erzählt  wird,  mag  gleichfalls 
in  der  Erinnerung  des  Dichters  lebendig  gewesen  sein  (Crassus  V  91). 


356 


K.  Fries:  8oluller  vmä.  Plotarefa. 


Mit  einiger  Zuversiciit  wird  man  dagegtn  folgende  Stelle  aus  dem  Lel>en 
des  Brutus  uiit  gewissen  Partien  der  ^KHuber'  in  Zusammenhang  briugc-ii 
dürfen  (VIII  432  ff.  Sebir.):  Bratus  ging  Hnch  Yelia  am  Meere.  Von  hier 
wollte  eben  seine  Gemahlin  Poreia  wieder  nach  Rom  mrficldceliren.  Sie  enchte 
soviel  wie  mSgUeh,  ihren  schweren  Kummer  au  verbergen.  Aber  sie  Terrielli 
ihn  doch,  SU  herzlich  sie  sonst  war,  bey  Erblickuii^  eims  Gimähldes.  Dieaee 
war  ein  grieehieehes  Gemählde,  und  stellte  den  Abschied  der  Andromaehe  vom 
Hektor  vor,  wie  sio  von  seinen  Armen  ihr  Kind  widemimmt,  tind  ihn  iiiiljlickt. 
Porcia  konnte  hev  th--  Betrachtung  dieses  (iemähides  ihre  Hüliruiit;  nicht 
zurückhalten;  sie  zcrilois  in  Thriinen,  und  j^ien^  darauf  viehnals  hin,  und  be- 
trachtete weinend  dieses  (ieuiäklde.  Ein  gewisser  Acilius,  ein  Freund  des 
Brutus,  brachte  bei  dieser  Gelegenheit  die  Worte  der  Andromaehe  gegen  den 
Hektor  an:  Hektor,  Du  bist  mir  Vater,  bist  mir  thenre  Mnttor,  und  Bruder, 
Du,  mein  geliebter  Gemahl!  Brutus  sagte  dazu  mit  LSchehn:  Aber  ich  kann 
gegen  die  Porda  das  nicht  sagen,  was  Hektor  sagt  —  Befiehl  Deinen  Dieimrinneii, 
fleifsig  zu  weben  und  zu  spinnen  —  Denn  obgleicli  ('  leia  durch  die  Schwach- 
heit ihres  Körpers  verhindert  wird,  es  uns  an  tapferen  Thaten  gleich  zu  thun, 
HO  t})ut  nio  o<(  doch  ^;e\virs  an  hershaftem  Muihe  förs  Vaterland,  ebenso  gut 
wie  wir,  alk-ii  andern  zuvor.' 

Es  kann  w»)hl  kein  Zweifel  sein,  dafs  Schiller  durch  dies«'  Stelle  zur  Ab- 
fassung des  Gedichtes  'Hektors  Abschieil'  inspiriert  wurde,  und  nicht  durch 
Homer,  wie  man  bisher  annahm.  Dieaen  hat  er  jedenfalls  erst  nach  der  An- 
regung durch  die  Brutusstelle  aufgeschlagm.  Von  Homeriachm  direkten  Sin- 
flfissen  ist  bei  dem  jungen  Schiller  nirgends  eine  Spur  zu  bemerken.  Die 
Gewibheit  des  Plutardiischen  Ursprungs  j^ner  Konseption  grQndet  sich  auf  die 
Rolle,  die  das  Gedicht  in  den  Räubern  spielt.  Wir  können  noch  weiter  geben 
und  behaupten,  dal's  die  gnn^o  S/onenreihe  swischen  Amalia  und  dem  als  Graf 
auftretenden  Karl  stark  unter  dem  EinHufs  jener  Episode  steht.  Auch  Amalia 
und  Karl  stehen  vor  einem  (ieniiilde.  das  sie  ;ni  ihr  eigenes  l  ii^^mach  erinnert, 
imd  auch  Amalia  weint  Ijei  seinem  Aidilit  k  liV  2),  auch  sie  kehrt  trauomd 
zu  dem  Gemälde  zurück,  auch  hier  wird  die  Situation  in  ein  Wechselgesprach 
zwischen  Hektor  und  Andromaehe  eingekleidei 

Eine  andere  Koinsidens  ärgiebt  sich  aus  der  folgenden  Stelle  des  Bratns 
(VÜI  489  Schir.):  Inxwischen  bemühte  einer  von  der  Gesellsehafly  den  selbst 
durstete,  dafs  auch  Brutus  durstig  war,  er  lief  daher  mit  dem  Helme  an  den 
Flufs,  um  damit  Waaser  au  holen.  Weil  unterdessen  ein  Lärmen  an  dem  jen- 
seitigen Ufer  entstand,  so  lief  Volumnitts,  und  der  SchildtrUger  des  Brutus, 
Dardanns,  etwajs  voraus,  \\m  Kundschaft  einzuziehen.  Wie  sie  bald  dniuf 
wieder  zurückkamen,  fragten  sie,  ob  kein  Wassi  r  mehr  fiii'  sie  lia  wiireV  Hrutiis 
sähe  den  Volumnius  mit  einem  aiisdrucksvollen  Lächeln  hu,  und  sagte:  4 Es  ist 
alles  auÄ^etrunkcn,  aber  es  »oll  auch  wieder  anderes  geholt  werden.»  Es  wurde 
derjenige,  der  Torher  das  Wasser  gebracht  hatte,  wieder  abgeschickt,  aber  er 
lief  Gefiihr,  von  den  Feinden  gelängen  zu  werden,  und  entkam  mit  genauer 
Noth  und  verwundet  zurfick.' 


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K,  Fric»:  SdiiUer  und  Pliitordi. 


857 


Sofort  fällt  um  die  Epinode  im  dritten  Aivt  tui^  in  der  Schweizer  uiit 
iebensgefahr  dem  TWwhniBehtenden  Hauptmann  Wasser  im  üut  bringt.  Ja, 
befanchien  wir  die  ganze  Plutardutelle  im  Zusammenbang,  die  webmOtige  Ein- 
aamkeit  des  BrotuB  mit  ivenigen  Getreuen  nach  der  Schlaclit  Ton  Philippi,  bo 
wcfden  wir  an  die  DoBanazene  erinnert  *Bratne  gieng  fiber  einen  Bach,  der 
mit  Gebüschen  bewachsen  war  und  ein  steileB  Ufer  hatte.  Von  da  gieng  er 
nicht  viel  weiter,  da  es  schon  ganz  finster  geworden  war,  sondern  setzte  sich 
in  einem  tiefen  Gruiule  nieder,  vor  welchem  ein  cjrofser  Felsm  stand'  (S.  4^7). 
Die  Dekoration  ist  ditselbe  bei  Schiller:  'Gtireml  an  der  Donan.  Die  liäuber 
^lagert  uuf  einer  Anhöhe,  unter  Bäumen,  die  Pferde  weiden  am  Hügel 
hinunter/  Im  Phitarch  heilst  es  weiter:  'Es  wiiren  nur  wenige  von  seinen 
Officieren  und  Freunden  bey  ilnn,  er  l)liekte  an  den  Himmel,  der  eben  voller 
Sterne  war,  und  sagte  zwe^  Vert>e  her,  davon  Volumnius  nur  den  einen  in 
seiner  Nachricht  daron  anführt:  —  Jupiter,  es  entgehe  dir  nicht  der  Urheber 
dieser  Übel!  Den  anderen  aber,  wie  er  vorgieht,  vergeesen  hat'  Dieser  andere 
wird  dann  in  der  Anmerkung  nacl^holt:  *EIende  Ti^endl  Du  warst  also  nur 
ein  Wort;  ich  verehrte  Dich  als  etwas  wirkliches?  Allein  du  bist  eine  SUarin  / 
(It's  dhUks.'  Auch  Karl  Moor  klagt  über  die  Nichtigkeit  der  Welt  und  mensch- 
hchen  WoUens,  'dieses  bunte  Lotto  des  Lebens,  worin  so  Mancher  seine  Un- 
schuld und  —  seinen  Himmel  setzt,  einen  Treffer  zu  haschen,  und  —  Nullen 
«iiul  der  Auszug  —  am  Ende  war  kein  Treffer  darin.'  —  ^Es  giebt  ein  frucht- 
bares Jahr.  —  Meinst  Dti?  Und  so  würde  doch  ein  Schweifs  in  der  Welt 
Viezahlt.  Einer?  —  Abtr  es  kann  ja  über  Nacht  ein  Hagel  fallen  und  alles 
•lu.  Grunde  schlagen.*  Auch  Karl  Moor  blickt  zum  Himmel  auf  und  vergleicht 
sich  mit  der  untergehenden  iSonne.  Y^on  Brutus  heilst  es  weiter  an  dcrsclbcu 
St^e:  ^Knrae  Zeit  darauf  ermihnte  er  jeden  snner  FVeund^  die  in  der  Sdilacht 
vor  seinen  Augen  umgekommen  waren,  namenttieh,  besonders  seufisete  er  bey 
der  Erinnerung  an  den  Fbivius  und  Labeo^  Ton  welchen  dieser  sein  Legate  and 
FlaTitts  Oberaufseher  dwr  Zinunerleute  gewesen  war.'  1^1  Hoor  sagt:  *Es 
war  ein  heifser  Nachmittag  —  und  nur  einen  Mann  verloren  —  mein  Roller 
starb  einen  sehonen  Tod.*  Wir  werden  demnach  nicht  Anstand  nehmen,  die 
ganze  Szene  an  der  Donau  als  eine  Nachbildung  der  Brutusszene  nach  der 
Schlacht  bei  Philippi,  wie  Plutarch  sie  schildert,  anznsebpn.  Brutus  scheint 
üborhaupt  der  Liebling  Schillers  gewesen  zu  sein,  und  man  wird  daher  dessen 
Biographie  besonders  genau  beachten.  Brutus  safs  *in  der  Nacht  vor  dem 
Übergang  seiner  Armee  aus  Asien  nach  Europa,  in  einer  stockfinsteren  Nacht, 
bey  dem  dunklen  Scheine  einer  Lampe  in  seinem  Zelte,  da  im  ganzen  Lager 
ickon  allgemeine  Stille  herrschte,  und  war  mit  tiefen  Gedanken  beschäftigt, 
als  es  ihm  auf  einmal  Torkam,  als  wenn  jemand  zu  ihm  hereinkäme.'  Es 
folgt  die  Erscheinung  CSsars,  die  ihn  vor  Philippi  warnt  Ebenso  ruht  Karl 
Moor  yor  der  entscheidenden  Turmsaene  im  Walde,  auch  in  tiefe  Gedanken 
versunken.  Die  Räuber  'lagern  sich  auf  der  Erde  und  schlafen  ein'.  Da  er- 
Hcbeint  auch  ihm  Cäsar,  »eine  Phantasie  ruft  ihn  herbei,  und  er  stimmt  den 
Wechselgesang  zwischen  Brutus  und  Cäsar  an.   *Den  Rdmergeeang  mufs  ich 


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358 


K.  Fries:  SchiUer  oad  Plutwch. 


hören,  dafs  mein  schlafender  Genius  wieder  aufwacht'  Wenn  auch  der  CSsar 
des  Brutoa  eine  gamt  andere  Rolle  spielt,  ala  der  vor  d<ar  TumsMne  bedungene, 
BO  sieht  mau  doch,  wie  immer  Plutarchisdie  Vomtellungen  in  der  poetischen 
Werkstatt  des  jungen  I>rBniatikers  Eingang  finden.  Der  Dichter  wird  hier 
wohl  nicht  nur  aus  Shakespeares  *Juliu8  Cäsar'  geschöpft  haben.  In  dem 
'RomcrirtsaTig'  drückt  sich  trots  der  mythologischen  Einkleidung  doch  eine 
mehr  liistiH  iscIie  (rnindstininmu«;  huh.  der  Vorfassor  kommt  offeiib;ir  t'li(>n  von 
eifi  i;^'rr  lirscliättiguii'^f  mit  ih  r  Zeit  di  r  ]{iir}^'rrlcrirge  zurück,  es  ist  ein  geschicht- 
lichth  liitrn-jfse,  das  ir  am  Stoffe  nimmt.')  Auch  das  Foltjemle  in  der  Stelle 
der  Biographie,  Brutus"  Unterredung  mit  Cassiiis  über  den  irinuii  und  die 
rationaliitiachen  Auseinandersetaungen  Uber  dm  natfirlichen  Ursprung  der 
Wahnvorstellungen  und  Trilume,  scheint  seine  Spuren  in  den  FranzsEmen  des 
letaten  Akts  und  den  Erörterungen  Ober  die  Bedeutung  der  Traume  znrfick- 
gelassen  zu  haben.  An  Plutareh  werden  wir  aber  auch  sonst  in  einselnen 
Stellen  utul  Worten  erinnert,  so  wenn  Kosinsky  auftritt  und  sofort  den  Haupt- 
mann erkennt:  *lch  habe  mir  immer  gewünscht,  den  Mann  mit  dem  vernichten- 
den Bücke  zu  srlion,  wie  er  sal's  auf  ilni  Kninen  von  Karthago  —  .]t't/-t  wiitisch' 
ich  es  nirlit  mehr.'  Hier  liut  Stliillt  r  zwei  l'lutarchstoüon  komlnnicrt.  rrsti^ns 
die  G'  faiij^'i'u Schaft  des  Marius  in  Miiiturnä,  wo  t  r  ermordet  werden  ndlte: 
*l)aa  Zimmer,  worinnen  Manu»  lag,  war  dunkel,  und  es  kam  dem  Suklaten 
roTy  als  wenn  eine  grolse  Flamme  aus  den  Augen  des  Marius  fllhrey  und  ihm 
eine  Stimme  aus  der  Dunkelheit  xuriefe:  *Du  unterstehst  Dich,  den  Cajus 
Marius  umaubringen?*  (IV  177  Schir.)  und  aweitens  die  Stelle,  wo  er  Tom 
Prator  aus  Afrika  ausgewiesen  wird:  ^Dieser  Befehl  machte,  daTs  Marius  vor 
Traurigkeit  und  Schwermut  keine  Worte  finden  konnte,  sondern  eine  lange 
Zeit  stillschweigend  den  Geriehisdiener  mit  starrem  Blick  ansah.  Der  (jericbts- 
diener  fragte  ihn  endlich,  was  er  denn  dem  Prätor  fUr  eine  Antwort  bringen 
sollte?  Marius  antworifte  mit  rinem  tiitVii  Spufzor:  »Sag'  ihm,  du  hättest  den 
Cajus  Marius  als  einen  Flüchtling  aul  den  liuincn  \im  Kurtliai^o  sit/.ni  ge- 
sehen»' (S.  180  Schir.J.  Dieser  Manu  ist  es,  den  Kosinsky  sucht  mul  in  Moor 
findet.  Im  Lied  von  der  Mftnnerwärde  findet  sich,  wenn  auck  nicht  in 
heroischem,  sondern  in  burschikosem  Bfligerscbem  Stil,  dieselbe  Erinnerung 
an  Marius: 

Behl  ilir  den  Hünu>r  sloU  und  kraus 

In  Afrika  dort  »^it/pn? 

Sein  Aug*  speit  Feuei-sHammen  aus, 

Als  nnhi  ihr  Heida  blitzen. 

Da  konnnt  ein  Bube  wohlgemuth, 
Giebt  manches  xu  Terstehen  — 
'Sprich,  du  hättet  auf  Karthago'«  Schutt. 
Den  Marius  gesehen.' 

lu)  Aotichlur«  daran  uiag  au  die  Viguelte  am  ächliilH  iii<r  crnteu  Ausgabe  erinnert 
werdco,  auf  der  BratoB  und  Caaor  in  Cbarons  Nacken  stt  igcnd  dargestellt  aind.  Braluu 
Schiller  I  ISO. 


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K.  FriM:  Schiller  und  Plutorch,  359 

So  spricht  der  stolM  RSmctamann, 
Der  Bub'  th&t  fOMk  eilea; 

Das  dankt  der  stol/e  Höniersmaniti 
T>n<:  dankt  er  seinen  Pfeilen! 

Auch  hier  die  Verbindung?  beider  Stellen,  denn  von  einem  Feuerblick  in  Kar- 
thago hören  wir  nichts,  desto  lebhafter  erinnern  die  *FeuerHammcii'  und  der 
'blitzende  Hekl.i'  un  die  andere  Stelle.  —  Auch  einige  AnHdrii<'kp,  wir  S|»it'<iel- 
iHTgs  *freie  l'a^sage  zu  Cäsar  und  Catilina'  oder  Rollers  %>liii<  ( )lH  rliiiu]»t  <;ing 
liom  und  Sparta  zu  Grunde'  u.  a.  m.,  litlbeu  »ich  zur  Di>kumentierung  der 
PlntarchiBcben  Stinmiuug  des  Oicliters  anführen,  zu  der  sieb  dieser  ja  auch 
selbst  bekenni 

Aoek  sonst  in  den  Gedichten  dieser  Zeit  findet  sich  dieselbe  Erscheinung; 
wenn  es  s.  B.  in  dem  oben  zitierten  Qedicht  heilst: 
Pompejus  bat  mein  Talisman 
Bei  Fhaiwlns  bexwongenf 

oder  in  spaterer  Fassung: 

Den  Perser  hat  mein  Talisman 

Am  Granikns  bezwungen, 

80  werden  auch  hier  rSsar  und  Alcxnndor  dem  entarteten  Jahrhundert  als 
Muster  ullt  r  mtinnlichen  Vollkommenheiten  voriiclialton. 

Bei  Stuiz  HHgt  Rousseau:  *In  der  nenoti  (itsLliulito  gab  es  einen  Mann, 
der  seinen  (IMutarchs)  Pinsel  verdient,  und  das  ist  der  Ctraf  von  Fiesque,  der 
eigentlich  dazu  erzogen  wurde,  um  sein  V^aterland  von  der  Herrschaft  der 
Doria  so  befreien.  Hau  leigte  ihm  immer  den  Prinzen  auf  dem  Thron  von 
Qessa;  in  seiner  Seele  war  kein  anderer  Gedanke^  bSb  der,  den  Usurpator  zu 
itünen.'  Den  Anfang  der  Stelle  zittert  Schiller  in  der  Vorrede  zur  zweiten 
Auflage  der  BSuber,  und  aneh  in  der  'Erinnerung  an  das  Publikum*  1784 
wird  darauf  angespieli  Also  anch  beim  Fiesko  haben  Rousseau  und  Plutareh 
Pete  gest^mden. 

In  den  Räubern  wird  in  die  Abgründe  der  Menschennatur  hineingeleucht<?t. 
f^if  Probleme  des  Stoffs  rulien  auf  der  denkbar  breitesten  Untmlac;«',  ps  int  die 
Kain-  und  Abel  Trafi^ndie.  die  älteste  der  Menschheit,  die  sirli  wieder  abspielt. 
Der  leitende  Umins  des  r)i(litiTJ«  war  bi<»r  der  p-ofse  Fran/.Ksr,  der  jene  Ur- 
probleme  w^ieder  aufgerührt  Imttc.  i'lutiirths  Eintlufs  konnte  nur  ein  gelegent- 
iidier  sein  und  in  einzelnen  Episoden  hervortreten.  Die  fundierenden  Thesen, 
die  Charaktere,  die  Idee  haben  nichts  mit  ihm  gemein.  'Ich  habe  in  meinen 
Bäsbem  das  Opfer  einer  ausschweifenden  Empfindung  zum  Vorwurf  ge- 
sominMi.  —  Hier  ▼ersuche  ich  das  O^enteil,  ein  Opünr  der  Kunst  und  Cabale* 
Ittilst  es  in  der  Vorrede  zum  Fiesko.  Während  also  die  Räuber  den  Menschen 
im  weitestt'ii  Sinn  angehen,  wendet  sich  die  zweite  Tragödie  nur  an  das 
'P  'liti^cho  \V'(  sen',  politisdu  r  Sturm  und  Drang  ist  ihre  Grundlage.  Sie  steht 
•n  viel  höht'rt  in  Grade  unter  dem  Einflufs  Plutarchs.  als  dii'  Häuber,  und  in 
'hr  sucht  der  Dichtt  r  lich  mit  den  Fjindrüekfn  s»  iiicr  l'lutarchlektüre  ab 
zofinden.  Idee,  Handlung,  Charaktere  des  ''republikanischen  Trauerspiels*  atmen 


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360 


K.  iit'm  :  Schiller  and  FluUrch. 


antike  Orainnung.  Der  Verrina  iti  gleichaani  wörtlich  aus  dem  Plutarch  flber- 
setei  Er  hat  den  starren  Sinn  CatoB  und  begeht  die  That  des  Brutus.  Auch 
Appius  Claudius  war  sein  Muster,  wenn  er  wie  Lesait^  Odoardo  die  Ehre  der 
Tochter  schützen  will.  Fiesko  trägt  viele  ?chöne  Züge  von  Cäsar,  und  Minor, 
der  Brutus  sein  Vorbild  nennt,  denkt  wohl  hauptHuehlich  an  die  iliifsero  Tlaiid 
lung.  Indessen  «»obärdcff  s\ch  doch  atieh  Cilsar  /jiiiärlist  als  Befreier  vom 
Joch  der  Aristnkiatit^,  his  vr  sclilielsheli  die  Musku  abwar!'  und  wie  Fiesko 
nath  der  Krön*'  iititf  Beide  scheitern  an  der  republikanischen  Idee.  Spielend 
ui>trwinden  beide  aiilangs  ihre  Gegner,  ihre  Liebenswürdigkeit  bezaubert  Freund 
nnd  Feind,  beide  herrschen,  indem  sie  zu  dienen  scheinen.  *Za  Rom  madite 
den  GSsar  der  Reiz  «einer  Beredtsamkeit  in  gerichtlichen  Reden  ebenso  be- 
rOhmt,  als  sein  gefalliges,  freundliches  Betragen  gegen  jedermann,  mit  welchem 
er  sich  weit  herablassender  aeigte  als  man  Ton  seinen  jugendlichen  Alter  er- 
warten konnte,  ihm  die  Liebe  des  Volkes  erwarb.  Daau  kam  die  Ounst,  die 
er  sich  durch  Freigebigkeit  und  Qastuialilo  verschaffte,  und  Oberhaupt  seine 
glänzende  Lebensart,  wodurch  er  nach  und  nacli  immer  su  mehr  Ansehn  im 
Staate  gelangte.  —  Cicfro  war  der  erste,  der  die  Absicht  seiner  Staatsmaximen 
durchsciiauete,  und  ihre  liuliehule  Heiterkeit  für  ebenso  «.gefährlich  als  die 
heitere  Stille  de*«  Meeres  hielt.  Er  bemerkte,  dals  in  riisarf  iuen$chenfreund- 
liohem  gefälligen  Wesen  ein  gefährlicher  Charakter  vt-rhorgen  läge,  und  sagte, 
er  sähe  in  allen  seiuen  Maasregeln  und  Staatsunterneluumigen  tyrannische  Ab- 
mditim  versteckt;  «wenn  ich  aber  dagegen»,  setste  er  hinzu,  «die  so  künstlich 
accommodiwten  Haare  des  Casars,  und  ihn  sich  selbst  mit  dem  einen  Finger 
im  Kopfe  kratzen  sehe,  so  scheint  mir  dieser  wieder  glicht  der  Mann  su 
sejn,  der  einen  so  grolsen  Frevel,  ab  der  Umstnra  der  rdmischen  Stasts- 
Verfassung  ist,  sich  könnte  in  den  Sinn  kommen  lassen»*  (VI  3d8f.  Scbir.). 
Das  ist  der  ganze  Fiesko.  Der  junge  Cäsar  schwebte  Schiller  vor,  wie  Shake- 
speare den  älteren  schilderte.  Wie  letzterer  auch  auf  Schiller  bei  Gestaltung 
eines  spateren  Tleid«  n  wirkte,  wird  noch  zu  erwähnen  nein.  Für  Fiesko  koumit 
iilxr  aueli  der  Demetrius  Poliorketes  in  Betracht,  von  dem  sich  folijende 
Charakteristik  bei  Plutarch  tindet  (  VIII  7  Schir.):  'Demetrius  war  von  gr^l-^er 
Statur,  obgleich  nicht  ganz  so  grofs  wie  sein  Vater,  und  von  einer  »o  be- 
wunderungswürdig schönen  Gestalt  und  Gesichtsbilduug,  dafs  kein  Bildhauer  und 
Mahler  im  Stande  war,  die  völlige  Ähnlichkeit  seiner  Sdidnheit  zu  erreichen.  Er 
vereinigte  Grazie  und  Emst^  und  etwas  Furchtbares  mit  ebem  sehr  at^enäbnen 
Wesen:  unter  seiner  jugendlichen  Lebhaftigkeit  blickte  ein  sdiwer  nachzuahmen* 
des  heroischM  Ansehen,  und  eine  königliche  WOrde  hervor.  Eben  so  setzte  sein 
moralischer  Charakter  die  Menschen  in  Erstsiunen,  und  gewann  zu|^eich  ihre 
Liebe.  Er  war  im  Ilmgange  bej  lustiger  Gesellsc  haft,  und  Ciastinahiern.  der  an- 
genehmste Mann,  und  der  weichlichste  PMrst,  und  wiederimi  bey  den  Geschäfte 
der  thätigste,  jätrengHfe,  imd  nnermUdet  ämsigste  Mann.  Er  suchte  daher  am 
meistt  ii  tlein  (iottt-  Haeehus  naehzuabTnon,  als  welcher  im  Kriege  ebenso  tapfer, 
als  ;ius  di'iji  Krit  gf,  den  (mährenden  Frieden  zu  verschaffen,  fähig  gewesen 
und  ein  Freund  der  Fröhlichkeit  und  der  Freude  gewesen  war.'    Man  erkennt 


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K.  Frifls;  Schiller  unU  Plutwch. 


361 


die  Ahnliehkeit  sofort,  wentn  man  die  erBten  Saenen  des  Fiesko  init  den 
febendigen  Beschreibungen  seiner  Person  oder  seine  Cluyrakteristtk  im  Personen- 
▼eneieluiis  liest:  ^Junger,  schlsokery  blidiend  schöner  Hann  von  23  Jahren  — 
bIoIs  mit  Anstand  —  freundlich  mit  liqeslftt  —  bSfisdi  geschmeidig,  und 
ebenso  tückisch.'  —  Berthas  Verwandtschaft  mit  Virginia-Bmilia  Galotti  ist 
bekannt.  Auch  Andreas  ist  ein  antiker  Charakter.  Leonore  Tergieioht  sidi 
selbst  mit  Porcia  (V  5):  'Eine  Heldin  soll  raein  Held  umarmen  —  mein 
Brutus  soll  eine  Hömcrin  umarmen  —  Ich  bin  Poreia'.  —  Für  ihr  AuftrotL-n 
als  Amazone  hat  man  auf  üssian  und  aul"  NOrgäntr»'  im  siebenjährigen  Kriejie 
hingewiesen.  Vielleicht  liiist  sich  fcdgonde  Stelle  aus  dem  Leben  des  Aiat 
(welches  auf  das  Leben  des  Brutus  folgt)  anführen  (VUl  öliO  .Schir.):  'Während 
dieser  Verwirrung  (Überikü  der  Stadt  Pallene  durch  die  Aehäer)  safs  eine  Ton 
den  Gefimgenen,  die  Tochter  des  Epigcthes,  eines  Tomelunen  Hannes,  ein  un- 
gemein schönes  und  wohlgewaehsenes  USdcfaen,  in  dem  Tempel  der  Diana, 
wohin  sie  ihr  BÜnber  gebracht,  und  ihr  seinen  Hdm  mit  drey  Federbttschen 
sa%eeefait  hatte.  Sie  lief  bey  dem  entstandenen  Tumulte  vor  die  Thüre  des 
Tem|>els,  und  sähe  in  ihrem  Helme  mit  den  drey  Fcderbflschen  dem  Gefechte 
zu.  Dieser  ungewöhnliche  Anblick  schien  den  Bürgern  von  Pallene  eine  er- 
habene, übermenschliche  Gestalt  zu  seyn,  und  die  Feinde  hielten  ihn  auch  für 
eine  gottliche  Erseheinuntr  und  gerietheii  m  Zittern  und  Schrecken,  so  dal's 
niemand  weiter  an  fiiic  tafifcre  Vertoi(liirun;j;  dachte,'  Es  wäre  nicht  undenk- 
l»ar.  (ials  diese  Stelle  Schiil^T  vor^rescliw cl)t  liat,  als  er  (U-n  letzten  Akt  schrieb. 
Freilich  für  Leonores  Katastrophe  fehlt  jede  Analogie,  aber  es  ist  ja  auch  nicht 
TOB  einer  eigenUicheu  Anregung,  sondern  nur  Ton  einer  leisen  Erinnerung  die 
Rede.  Wie  dort  s.  B.  die  Helmbfische  der  Jnngfran  den  Bflrg^  auffielen,  so 
erkennt  FSesko  seine  Leonore  an  dem  Busdi  und  Hantel  des  vermeintlichen 
Gisnettmo  (V  11):  *Eenn'  ich  nicht  diesen  Bnsch  und  Hantel?  Ich  kenne  den 
Busch  und  Hantelt*  Die  Emschlielsung  im  Tempel  eriniMrt  an  die  Bertha- 
szene, in  der  Bertha  in  einem  unterirdischen  Gewölbe  dem  Kampfgetöse  zuhört^ 
bis  sie  der  Freiheit  zurückgegeben  wird.  Endhch  mag  hier  gleich  zur  Er- 
wägung itestellt  werden,  ob  die  Ähnlichkeit  zwischen  dem  Eindruck  der  be- 
helnitiTi  fiingfrau  IMutarrhs  auf  die  Feinde,  die,  wie  erwähnt,  Zittern  und 
>'lü«iKin  gerieten,  vukI  nicht  mehr  an  eine  tapfere  Verteidigung  dachten' 
und  der  ersten  Erscheinung  der  Juhaiina  d'Arc  völlig  zufällig  ist.  Es 
bedarf  keines  längeren  Zitates  aus  der  Erzählung  iiaouls.  Nur  die  letzten 
Worte  mögen  wegen  der  Ähnlichkeit  mit  der  Plutttrcbstelle  augeführt  werd^. 
Vom  Feinde  heilst  es  da: 

I>cr,  hoch  botrotlen,  .st+'ht  bewopungslos, 
Mit  weit  geöffnet  starrem  Blick  das  Wimder 
Anstaunend,  das  sich  seinen  Augen  zeigt  — 
Doch  schnell,  als  Ultien  Gottes  Bchrecken  ihn 
Ergriffen,  wendet  er  sich  mn 

Zur  Flucht,  und  Wf»hr  und  Waffi  n  von  sich  werfend 
Entschaart  das  ganze  Heer  sich  im  Geülde. 


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362 


K.  Fric«:  Schiller  und  Plutarch. 


Viel  Gewicht  darf  man  auf  solche  l^ereinstiniinun}:fen  nicht  legen,  die  immer 
auf  einem  Zufall  beruhen  können,  aber  erwähnt  dürfen  sie  werden,  wenn  auch 
nur  der  Vervollständigung  wegen.  Die  Aratvita  enthält  aber  noch  andere 
Züge,  die  ihre  Benutzung  durch  den  Fieskodichter  wahrscheinlich  machen.  Die 
ganze,  hochdramatische  Beschreibung  der  Einnahrae  von  Korinth  durch  Arat 
mit  ihren  nächtlichen  Strafsenkämpfen  erinnert  lebhaft  an  den  letzten  Akt 
unseres  Dramas.  Sie  ist  zu  umfangreich,  um  hier  eingefügt  werden  zu  können 
(Plut.  VLII  Ö28 — 544  Schir.),  aber  es  lohnt  sich  wirklich  sie  zu  lesen,  da  sie 
neben  der  Schilderung  der  Schlacht  bei  Carrhä  und  derjenigen  des  untergehen- 
den Pyrrhos  vielleicht  zu  den  farbigsten  und  dramatischsten  Stellen  der  Bio- 
graphien Plutarchs  überhaupt  gehört.  Um  so  gröfser  erscheint  die  Möglich- 
keit, dafs  Schiller  sich  ihrer  erinnerte.  Dals  der  Dichter  in  der  Fieskozeit  in 
der  That  an  die  Aratbiogmphie  dachte,  scheint  aus  einer  anderen  Stelle  der- 
selben hervorzugehen,  die  zunächst  angeführt  werden  möge  (VIII  524  Schir.): 
*Als  Aratus  <lie  Geniählde,  die  die  Tyrannen  vorstellten,  gleich  nach  der  Be- 
freiung der  Stadt  (Sicyon\  vernichten  liefs,  war  er  doch  lange  Zeit  unschlüssig, 
was  er  mit  demjenigen,  das  den  Aristratus  vorst<»llt«,  welcher  zur  Zeit  des 
Königs  Philippus  herrschte,  machen  sollte.  —  Es  stellte  den  Aristratus  auf 
einem  Siegeswagen  vor,  und  war  so  bewundernswürdig,  dafs  Aratus  sich  an- 
fänglich durch  die  Kunst  dafür  ehmehmen  liefs,  bald  dniuf  überwog  aber  do«'h 
der  Hafs  gegen  die  Tyrannen,  und  er  befahl,  dies  Stück  zu  veniicht<?n.  Der 
Mahler  Nealkes,  ein  Freund  des  Aratus,  legte  mit  Thränen  eine  Fürbitte 
ein*.  Amt  läfst  sich  dann  zur  Milde  umstimmen  unter  der  Bedingung,  dals  die 
Gestalt  des  Tyrannen  übermalt  werde.  Dafs  die  Romanoepisode  im  zweiten 
Akt  auf  Emilia  Galotti  zurückgeht,  steht  aufser  Zweifel,  aber  bei  genauerem 
Hinsehen  zeigt  sich,  dafs  die  Unterschiede  zwischen  beiden  betreffenden  Szenen 
sehr  erhebliche  sind.  Der  Contiszene  fehlt  jedes  politische  Moment.  Conti 
malt  weibliche  Portraits,  Nealkes  und  Romano  politische  Vorgange,  'Scenen 
aus  dem  nervigten  Alt^rthum';  Romano  kommt  zum  Fiesko,  die  grofse  Linie  zu 
einem  Brutus  zu  finden,  also  auch  er  von  Rousseau  und  Plutarch  begeistert. 
Diese  republikanische  Gesinnung  hat  er  nicht  mit  dem  Hofmaler  Conti,  son- 
dern mit  dem  Freunde  des  Befreiers  Arat,  dem  Nealkes  gemeinsam,  der  zur 
Rettung  seines  Gemäldes  sagt:  *Man  mufs  gegen  die  Tyrannen,  nicht  aber 
gegen  die  Gemähide  der  Tyrannen  Krieg  führen.'  Arat  will  das  Gemälde  aus 
Hafs  gegen  den  Gegenstand  vernichten  lassen,  Verrina  entbrennt  in  Wut  gegen 
den  gemalten  Tyrannen:  'Spritz  zu,  eisgraiuT  Vater!  —  Zuckst  Du,  Tyrann?  — 
Wie  so  bleich  steht  ihr  Klötze,  Römer  —  ihm  nach,  Römer  —  das  Schlacht 
messer  blinkt  —  Mir  nach,  Klötze,  Genueser  — •  Nieder  mit  Doria!  Niederl 
nieder!  (Er  haut  gegen  das  Gemälde)',  und  Fiesko  schilt  den  Maler,  der 
Republiken  nur  mit  dem  Pinsel  fi'ei  mache  und  seine  eigenen  Ketten  nicht 
brechen  könne.  Verächtlich  wirft  er  das  Gemälde  um,  das  Romano  mit  Be- 
stürzung fortträgt.  Nealkes  rettet  .sein  Bild  dadurch,  dafs  er  den  Tyrannen 
durch  einen  Palmenbaum  verdeckt.  In  demselben  Arat  begegnet  übrigens  noch 
ein  Gemälde  mit  politischer,  reptililikanischer  Tendenz,  welches  von  Tiraanthes 


E.  Frie«:  Schiller  iiti<l  Pliit»re1). 


363 


gemalt  war  nnd  die  erwähnte  Erolx'rung  und  Btfieiuni^  Korinths  darstellte. 
Wenn  nun  auch  in  d«  r  TTomanos^iene  viele  Züge  vinleutjhnr  auf  Lpf<?'ing  hin- 
weisen, 80  darf  doch  aii^tnoninien  werden,  dnfs  lulxii  »litsir  Amt^ntng  die 
Plutarchische  in  Betracht  kommt,  der  Schiller  die  Verbindung  des  politischen 
Momeutti  mit  dem  künstlerischen  verdankt. 

In  der  Theaterbearbeitung  des  Fieftko  ▼on  1783  unterdrückt  der  Held 
■eine  Herraehg^Iftote  und  ecltenkt  dem  Volle  die  FVeibeit  wieder.  Dm  erinnert 
an  eine  Stelle  derselben  Vita»  wo  von  dem  Tyrannen  von  Hegalopolie,  Lysiades, 
enSUt  wird  (8. 556):  ^Br  wurde  aber  der  Last  der  Monarchie  bald  fiberdrasaig, 
und  da  er  den  Antue  wegen  eetnee  Ruhmes  beneidete,  und  wegen  seiner  Nach- 
stellungen fBrditete,  so  entschlofs  er  sich  zu  der  rnlunlic listen  Veränderung^ 
erstlich  sich  selbst  von  allem  Hasse,  Neid,  Wache  and  TrabHiiteu  zu  befrejen, 
und  dann  der  Wohlthäter  seines  Vaterlandes  zu  werden.*  Auch  folgende 
riianilitfristik  erinnert  an  Fif»sko:  'TjTsiudrs  war  vttn  Nrittir  cdehnüthig,  und 
ruiuiilx-ixieritr.  nnd  hatte  sich  nicht,  wie  viele  aiuU  rt;  Miuiarcheu,  durch  Herrsch- 
begierde und  ilübsucht  zur  Ungerechtigkeit  gegfti  weine  Mitbürger  hinreifsen 
lassen,  sondern  ein  erweckter  Trieb  nach  Ehre,  und  die  falschen  eitlen  Vor- 
stellungen, die  man  ihm  ron  der  Alleinherrschaft,  als  von  einer  höehstglfick- 
lichen  und  bewunderten  Bt^chc,  gemacht  (vgl.  Fiesko  III  2),  hatten  den  hohen 
Geist  dieses  jungen  Mannes  zu  den  Gedanken  Terleitet^  dais  er  sich  selbst  zum 
Oberherrsdber  aufwarf/ 

Selbrt  f&r  die  Beziehungen  Fieskos  zu  Julia  finden  sich,  was  man  am 
wenigsten  erwarten  sollte,  Analogien  in  derselben  Biographie.  £s  wird  da  von 
den  Absichten  des  Antigonns  auf  Akrokorinth  crzülilt,  übrigens  wieder  gelegent- 
lich der  Schilderung  jener  Korinthischen  Kämpfe.  Mit  Gewalt  konnte  fr  den 
Platz  nicht  nehmen.  Dn  machte  er  der  Niclhi,  der  Herrscherin  der  Stadt, 
Aussicht  auf  Venniililunt;  mit  seinem  Sdhn,  'wodurch  sicli  auch  Nicaa,  da  sie 
als  eine  bejahrte  Fniu  dat»  \'ei  «rniitrea  einer  Verbindung  mit  einem  jungen 
Prinzen  haben  sollte,  bald  einnehmen  liefs.  Antigonns  gebrauchte  aber  nur  seinen 
Sohn  gleichsam  zu  einer  Lockspeise  gegen  sie'  (S.  :)'dO).  Sie  übergiebfc  die 
Festung  noch  nidit,  Antigonns  liUst  troisdem  alle  Anstalten  zur  Yermahlung 
treffen,  Vobej  Schauspiele  und  tägliche  Qastmale  waren,  dafs  man  glauben 
mubte,  Antigonus  habe  Tor  Freude  und  Vergnflgen  alle  seine  Gedanken  blols 
auf  Scherz  und  Lustbarkeit  gewandt.'  Als  die  Zeit  der  H(>chzeit  herannaht, 
sendet  er  Nicaa  nach  dem  Theater,  dem  Schauplatz  der  Feier,  und  begleitet 
sie  selbKt,  ^welche  über  die  ilir  widerfahrende  Ehre  nni^»'mein  vergnügt  war, 
und  an  nichts  weniger  als  d:ii^.  whs  ihr  hevorstnnd.  <Iiiclite.'  IMfHzlich  wird  sie 
dann  hu  Stich  gelassen,  und  die  Burg  wird  mit  einem  Handstrei«  Ii  iibernimpelt. 

Wir  sehen,  dals  die  Spuren  dieser  Einflüsse  fast  alle  auf"  die  Rit)sri-a|diie 
des  Arat  zurückgehen.  Sie  folgt  in  dem  Bande  der  Scliiraehschen  Übersetzung 
unmittelbar  auf  den  Brutus,  mit  dem  sie  bei  Pluturch  aber  nicht  in  Parallele 
gesetzt  wird.  Schiller  hat  sie  also  gewils  Sfter  als  einmal  gelesen,  wenn  er 
Tom  Brutus  kommend  in  dem  Bande,  der  ihm  so  wert  war,  angeregt  weiter 
butterte.  _Und  in  der  That  ist  sie  eine  der  interessantesten  Biographien  der 


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K.  Vnedi  Schiller  und  Plutardi. 


guueii  Sammlung;  der  Schriftsteller  kounte  hier  aus  dem  reiclien  Born 
ismiluirer  Tradition  schöpfen,  und  M  irt  behn^^ich  breit  auttnalenden 
DeiailMhUdemiigen  deatiich  anzumerken,  wie  dem  VerfiuMer  bei  Arbeit  die 
h&uslicben  Enahlongeii  von  den  That«a  dw  VorTOTderen  im  Obre  klangen. 
Die  Peraon  dee  Arat  mufste  Schiller  anheimehi.  Er  war  *eiB  Bfirgerfrennd, 
Ton  einer  erhabnen  Denkuugsart,  uiui  für  äa»  gemeine  Beste  mehr  als  fiir  sein 
eignes  sorgfältig,  ein  bitterer  Feind  der  Tyrannen,  und  gewohnt,  das  allgemeine 
Beste  zur  Grenze  der  Freundschaft  und  Feindschaft  zu  machen'  (S.  519),  also 
t»in  Hold,  wie  Schiller  ihn  in  jeuer  Periode  suchte.  Geldgeschenke  der  Könige 
bchlägt.  IT  nickt  aus,  sondern  verteilt  sie  unter  das  Volk,  Sinnmen,  'von  di-ncn 
nur  L'in  Lreringer  Theil  andere  Feldherren  und  D(.'uiiigo»r»-n,  wenn  sie  sit-  von 
einem  Könige  erhalten  hätten,  fähig  gewesen  wäre  zu  allen  Ungerechtigkeiten 
und  Verrätherejen  gegen  ihr  Vaterland  zu  beweg».u'  t^S.  525).  Er  söhnt  die 
Amen  und  Reichen  aus,  sichert  die  WoU&hrt  der  Republik  und  scheut  jeden 
Verdacht  monarehisdier  Gelüste.  Stola  und  fireimfitig  begegnet  er  den  ESnigen 
und  erinnert  hierin  etwas  an  den  IDurquis  Posa.  Dadurch  erwirbt  er  sich  die 
Freundschaft  des  Antigoni»,  dar,  ihnlich  wie  Fbilipp,  von  ihm  sagt  (S.  527): 
'Ich  nehme  diesen  jungen  Mann  auch  gern  an,  bin  entschlossen  seine  Dien^tt- 
zu  nutsen,  und  wijl,  dai's  ihr  ihn  alle  für  unsern  Freund  erkennt.'  NatQrlicli 
darf  niuii  hierin  nicht  zu  weit  gehen  und  verkennen,  dafs  auch  andere  Vor- 
bilder eing<'wirkt  haben,  wie  Timoleon,  den  Schiller  in  späteren  Jahren  noch 
anführt,  und  über  den  Abel  im  ersten  Bande  des  VVirtembergischen  Kipcr 
torinms  einen  Aufsatz  geschrieben  hatte,  und  Brutus,  auf  dessen  Zeit  Fitsku 
selbst  hiu\veibt  [11  b):  'Genua  ibt  da,  wo  das  unüberwindliche  Rom  wie  ein 
Federball  in  die  Rakete  eines  zärtlichen  Knaben  Octavius  sprang!' 

Die  Fabel,  die  Fiesko  den  Deputierten  eruhlt,  mag  auf  neuerer  QueU« 
beruhen;  die  Anregung  sur  Anwendung  dereelbM  auf  die  Politik  verdankt 
Schiller  wohl  dem  Plutarch,  bei  dem  sidi  Wele  politische  FMbeln  finden.  Am 
bekanntesten  ist  diejenige  des  Henenius  Agrippa  im  Coriolanus  (II  329),  aber 
auch  im  Themistokles  (1  4^4),  Phocion  fVI  r)0.5),  Demosthenes  (VIl  396)  uud 
Cato  (III  401)  finden  sich  Beispiele  dafür,  in  leiasterem  Falle  wird  auch  ein 
reifsendes  Tlf.i  mit  dem  Tyrannen  verglichen.  Im  einzelnen  geht  sonst  die 
Ahnliehkeit  nicht  weit,  riber  im  ganzen  läfst  sieh  gegen  die  Möglichkeit  einer 
Einwirkung'  im  geniinntcn  Sinne  wohl  nichts  einwenden. 

^Venn  Fiesko  in  der  Verschwörungsszene  (III  5)  dem  Doria  zurull: 

Auch  Patrnkhi«  i<5t  t^ostorben, 
Und  wai'  mtihr  als  Du, 

so  hfAreist  das  nichts  für  Schillers  iinmittclbnre  Beachtnn*^  de<»  21.  Buches  der 
lliiis,  da  Plutarch  im  Leben  des  Al<  XiHuler  enüihlt  (  \1  HiO):  'Kallisthenes  soll, 
wie  er  dio  Untrnade  des  Königs  gemerkt,  als  er  nach  Hause  gekommen,  zwey 
oder  dreyniul  zu  hich  selbst  gesagt  haben:  —  Auch  Patroklus  kam  um,  ein 
Mann  weit  besser  als  Du.' 

(ScUnlb  folgi) 


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ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN. 


ZUR  GESCHSCHTB  DEB  ASTBOMOIOB. 

Dfr  Jenuit  Petau  beginnt  die  8  Bücher 
Miner  'Variae  ditwertationefl',  die  zum  so- 
gemimteD  ünmologium  ^h5ir«n  (endnenen 
IMOi,  mit  den  Worten:  'Ortus  stellarun» 
rMTaüusquc  co^itio  ren  c^t  ad  ninltas  vitae 
\tsiTif,»  «tilis  et  ad  ncriptorum  veteram  in- 
tellif^entiam  apprune  neccRsaria,  et  ad  absol- 
vetidam  t6mf)Orun)  doctriiiani  haud  levin  ex 
ea  fit  a<:cc««io.*  Dieser  Satz  hat  in  »einem 
mittleren  Teile  noch  heute  volle  Gflltiffkeit; 
ein  jed'-r  w(  iT><,  wu-  In  j  ^rici  hischen  und 
röDUAchen  Dichtem  der  Auf-  o<ier  Untergting 
«i  m  «bw  gaasen  Sientblldes  oder  «in« 
•"iiii't'Incn  Stfriu'-'  zur  Zeitbeistininiuii^  vor- 
wendet  wird.  Die  wiMenschaflliche  Forschung 
hat  neh  dalier  whon  frflh  mit  Holdieii  dicbte- 
ri?>"lien  [{t'/i'fhun^n  auf  flii»  Kr>^i'Ii»'iinin<,'fii 
un  Uimiucl  bMch&ftigi,  wie  ?..  Ii.  von  Idcler 
in  den  Abbandhmgen  der  K^l  iireuTs.  Aka- 
tlemie  aus  den  Jahren  und  18SS  (ge- 

druekt  182ä,  8.  137  —  16»)  die  Angaben  der 
Firten  von  Ovid  einer  einffehenden  Prflfnng 
natoirorfen  worden  sind.  Von  spiitoren 
Arbeiten,  die  einen  gleichen  Zweck  ver- 
folgen, ist  mir  nur  bekannt  geworden  die 
Abhandlung  von  Cf.  Hofmann  'Ober  die  bei 
griechischen  iimi  rruiiisi-hcn  Sclin'ftstcllern 
«rwähnten  Auf-  und  l  ntergiinge  der  Sterne' 
{Pngnmm  des  k.  k.  Gymnasinnm  in  Triest 
1879)  Au»  diesen  beiHen  f^iellen,  besondrra 
au8  der  Abhandlung  von  Idelcr  haben  dann 
die  tencltiedenen  Kommentatoren  der  antiken 
Ih'rhter  iliri'  Tlemerknogen  IQ  den  betreffenden 
Stellen  entlehnt. 

Daneben  rind  nun  noeb  in  jüngi^ter  Zeit 
'He  Auf-  und  Untergänge  ib  r  Fixsterne  be- 
budelt  worden  von  Walter  F.  Wislicenus  in 
•raier  'Aitronomiecben  Chronologie*  (Leipzig 
If'J.'ii,  Kiu  eigenes  Kapitel  tS.  .Sö  —  44i  be- 
»}>rti  hf  hier  im  AnHchlufs  an  I'efau  und  bleier 
ik'  tiiL'lii  Isen  und  jährlichen  Auf-  und  Unter- 
Rüti^'i  ,!i  r  (lestirne,  um  dann  folgende  Tabelle 
Mfzuitellen  iS.  40  f.) : 

A  Mit  blofiiem  Auge  nicht  wahrnehmbar: 
1.  Der  wahre  koatnische  Aufgang:  Stern 
und    Sonne    gehen    gb  ii  Ii/.<  i»ig  auf 
^(ieminos:  imrokif  iöa  üiT^{f-t  vi'jj. 


S.  Der  wahre  kosmische  IJntcrgaiii:;  di'r 
Stern  gebt  bei  Sonnenaufgang  unter. 

5.  Der  w^re  akranycbtadie  Aufgang:  der  . 
Stern  gebt  bei  Sonnenuntergang  auf. 

4.  Der  wabre  akron;cbi»cbe  Untergang: 
Stern  und  Sonn«  geb^  gleichseitig 
unter  (Oeminoi:  Meng  UtUgUt  dJli|- 

Ii.  Mit  blofsem  Auge  wahnielimbar: 

6.  Der  belialdaebe  Aufgang:  der  ernte 
sichtbare  Aufgang  de«  Sternes  in  der 
Morgendllmniening  ^Üemino»:  introki^ 
itoee  (ftttvonn  >,/. 

6.  Der  heliakische  Untergang:  der  letzte 
sichtbare  Untergang  des  Sterne«  in 
der  Abenddiluunening  i  tteraino«: 

7.  Der  scheinbare  nkmnyrbi^che  Aufgang: 
der  letzte  sichtbare  Aufgang  des  Sternes 
in  der  Abenddämmerung  (GeniinoB:  Im- 
foir)  iaTtm'itt  tpaivnu  ti'T] 

5.  Der  flcbeinbure  kosmische  Untergang: 
der  letcte  eiobtbare  Untergang  des 
Stprne?!  in  der  Morgendämmerung 
{Ueniinos:  dveig  ima  rratvofifvjiu 

'Für  die  Nvunmem  5  bis  tUhrt  Wislicenua 
fort,  'bat  Ideler  die  deutschen  Namen  FrOb- 
anf^nnir.  S]>"itnn1er<,'aii>:,  SpHfnufVjüng  nml 
Früiiunlergang  vorgeschlagen,  währenil  er  für 
di«  unter  1  bis  4  anfgeftlbrten  Pbftnomene 
dieselben  Namen  unter  Vorsetzung  des  Hei- 
worte« «wahrer:*  gebraucht  wisiteu  will.' 
Riebtiger  wftre  es,  an  sagen.  Ideler  hat 
Nr.  1  -4  als  >1if  'wahrm',  Nr  r.  s  al--  ,lie 
'flcbeiobaren'  Phänomene  bezeichnet,  und 
darin  ist  man  ihm,  so  viel  icb  sehen  kann, 
ganz  allgemein  gefolgt.  So  sprii  hf  0  Hof- 
mann a.  ii  O.  8.  ll>  von  'Hcheinbureni  Si»rit- 
untergung'  i  Nr.  6),  'scheinbarem  Frflhaufgang' 
Nr  '«cheinbarem  SjMitaufgung'  i  Nr.  7 1, 
'si  )i<'inbarem  Fn'ih Untergang'  (Nr.  H;,  und 
auch  Wislii'cnus  gebraucht  den  Ausdruck 
'scheinbar'  bei  Nr  7  uml  8  in  gleichem 
Sinne.  Vgl.  beHonders  die  oben  zitierte  Ab- 
handlung von  bleler  S.  l.'sytf. 

I<  Ii  l  '  iuiupte  nun,  daf»  hier  ilberuU 
'scIm  i  iiWur'  i'frii-  f.ilM  lir  t  Iji'i'>''t /im«;  iles 
griechischen   ^«iioiiii'ij  i«t,   das  auf  Auf- 


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306 


Anzeigen  und  Mitteilungen. 


und  Untergänge  von  Fixsternen  ungewandt 
iiichtH  andere«  bedeuten  kann  al«  'sichtbar' 
lieh  habe  jene  falsche  TberHetzung,  die  «ich 
dann  bis  /.um  heutigen  Tage  erhalten  hat, 
am  frühesten  gefunden  in  Ideier« 'Historischen 
Unt^'rsnrhungen  über  die  ustrououiisciien  Be- 
obachtungen iler  Alten'  (IHim,  S.  ;n2i. 

Nebeniiei  sei  bemerkt,  dols  wir  jetzt  in 
Autoljkos  aus  Titane  ilSHö  von  Hultsch 
herausgegeben  I  eine  sehr  wertvolle,  «len 
Früheren  so  gut  wie  unbekannte  Quelle  für 
die  antikif  Lehre  von  den  Auf-  und  l'nter- 
gängen  iler  Fixsterne  besitzen.  Dieses  älteste, 
wohl  noch  aus  dem  4.  Jahrhundert,  vor  Chr. 
stammende  Denkmal  der  mathematisch-astro- 
nomisrhen  Litterutur  <ler  ({riechen  enthalt 
zu  den  einzelnen  Lehrsätzen  auch  die  aus- 
führlichen Beweise,  und  aus  denen  können 
wir  mit  vollster  Kvidenz  ersehen,  dafs 
ffuii'üutvui  von  Auf-  und  Untergängen  ge- 
brauclit  nie  'scheinbar',  somlern  nur  'sicht- 
bar' liedeutet.  Was  soll  denn  überhaHi)t 
ein  'scheinbarer'  Aufgang  irgend  welches 
Sternes,  wie  bisher  stets  der  ttiruiinus 
technicus  lautete,  zu  Itedeuten  haben V  Da 
'schrinbar'  der  logische  (iegensatz  zu  'wirk- 
lich' ist,  so  kann  doch,  sollte  ich  denken, 
••in  'scheinbarer'  Aufgang  allenfalls  nur  das 
Aufleuchten  eines  Sternes  bezeichnen,  der 
schon  längst  über  dem  Horizonte  stand,  als 
es  noch  hell  wj^r,  und  nun  erst  bei  eintreten- 
der Dunkelheit  aus  der  Tiefe  des  Himmels 
zu  strahlen  beginnt.  Das  könnte  man  allen- 
falls den  scheinbaren  Aufgang  eines  Sternes 
nennen,  im  (iegensatze  zu  seinem  voraus- 
gegangenen wirklichen,  der  Helligkeit  wegen 
aber  unsichtbaren  Aufgange,  wo  er  über 
den  Horizont  heraufkam.  Hei  Plinius  ^N.  h. 
XVIII  liegt  in  der  That  eine  Stelle  vor, 
wonach  es  den  Anschein  hat,  als  hätten  die 
Uümer  nicht  ganz  genau  auch  jenes  Auf- 
leuchten au«  dem  tiefen  (irunde  des  Himmels 
ejrortm  genannt;  I'linius  meint,  er  würde  für 
die  entsprechende  Krscheinung  lieber  den 
Ausdruck  emersus  gelirauchen.  Selbst  aber 
wenn  die  Stelle  bei  Plinius  anders  gedeutet 
werden  niüfste,  jedenfalls  bedeutet  tfiuiruiiivt] 
iitirokri  oder  ivtsii  ein  wirkliches  Herauf- 
steigen des  Sternes  über  ilen  Horizont  oder 
ein  wirkliches  Hinabsteigen  unter  denselben, 
un<l  zwar  ein  sfdches,  bei  welchem  der 
Stern  je  nachdem  zum  ersten  oder  zum 
letzten  Male  sichtbar  ist.  Er  passiert  in 
Wirklichkeit  ja  stets  innerhalb  i\  Stunden 
auf-  oder  absteigend  zweimal  den  Horizont, 
aber  so  und  so  lange  im  .lahre  ist  dieser 
Auf-  und  Untergang  nicht  sichtbar,  weil  es 
noch  zu  hell  ist.  L>ie  Ausführungen  l>ei 
Autulykos  lassen  keinen  Zweifel  zu,  dafs 


<faivöiitvoi  in  solcher  Anwendung  auf  Auf- 
oder Untergänge  nur  'sichtbar',  nicht  'schein- 
bar' bedeutet.  Dementsprechend  wnirde  man 
dann  das  liegenteil,  die  uXrf&tvr^  üvuxoki}, 
am  besten  übersetzen  nut  'gleichzeitiger, 
aber  unsichtbarer  Aufgang'  tGemin.  Oap.  11: 
avrii  6t  ii  —  äli)9tv{i  —  fjriToiij  äOnüpjjTo» 
yiviTai  Siü  rüs  avytc^  rov  ijliov). 

Ks  mag  auf  den  ersten  Blick  befremden, 
dafs  einem  so  sprachkundigen  Astronomen, 
wie  Idelej-  war,  ein  derartiges  Versehen  in 
der  l^bersetzung  von  (fatvöfitroi  hat  zustofsen 
können,  vielleicht  wird  aber  die  merkwflnlig«» 
Thatj<achK  einigermafsen  verständlich  durch 
folgentle  Krwägungeu.  Fortgesetzte  lieobuch- 
tungen  der  Planeten  und  ihrer  Hahnen 
führten  ini  Altertumc  schliefslich  zu  der 
Annahme,  die  vor  allem  (wenigstens  für  die 
Sonnet  Hipparch  zu  begriiuden  suchte,  dafs 
die  Planeten  sich  in  exzentrischen  Hahuen 
um  den  Mittelpunkt  der  Welt  und  des 
Zodiakus  bewegen,  den  die  im  Verhältnis 
zur  Fixst.ernsphäre  nur  punkttTinnig  zu 
denkende  Erde  einnimmt.  Auf  dieser  ex- 
zentrischen Bahn  bewegt  sich  nun  der 
Planet  in  voller  Ii«gelmäJsigkeit  mit  Be- 
ziehung auf  den  Mittelpunkt  des  exzentri- 
schen Kreises  (die  Hpicykeltheorie  kann  hier 
füglich  der  Kürze  halber  ganz  au«  dem 
Spiele  bleiben),  d.  h.  in  gleicher  Zeit  le^ 
er  auf  dem  exzentrischen  Kreise  stet«  gleich»» 
Bogen  zurück,  und  zu  diesen  gleichen  Bogen 
des  exzentrischen  Kreises  gehören  stets  gleiche 
Zentriwinkel  des  exzentrischen  Kreise«.  Nun 
butindet  sich  ja  aber  die  winzig  kleine  Krde, 
von  der  aus  wir  Menschen  die  Planeteu- 
bewegungen  am  Himmel  beobachten,  nicht 
im  Mittel|iunkte  der  exzentrischen  Plani't»'ii 
bahn,  sondern  daneben  im  Mittelpunkte  Je:> 
Weltalls  und  des  Tierkreises.  Daraus  er- 
giebt  sich  mit  zwingender  Notwendigkeit, 
dafs  die  an  sich  stet^i  gleichniäfsigf  Ik'- 
wegung  des  Planeten  auf  der  exzentrischcu 
Hahn  für  den  beobsvchtenden  Menschen  im 
Mittelpunkte  der  Welt  ungleich  und  uo- 
regelmäl'sig  wir«l.  Für  diesen  Schein  der 
Unregelmälsigkeit,  dem  in  Wahrheit  vollste 
Regelmäfsigkeit  der  Planetenbewegimg  auf 
der  exzentrischen  Bahn  zu  Grunde  liegt, 
verwcn<let  nun  aber  die  griechische  Astro- 
nomie ebenfalls  stets  das  Verbuni  ifaineffai, 
das  dann  ganz  sachgemäfs  mit  'scheinbar* 
übersetzt  wird  i^dcr  Gegensatz  dazu  ist  hei 
Ptolenuieus,  Theon  unti  Proklos  gewülinlich 
ÜTiQifii^i  otler  auch  uiiaXöiL  Das  ist  uher 
nur  ein  Fall,  wo  die  antike  Astronomie 
ganz  richtig  den  Begrilf  'scheinbar'  ver- 
wendet ;  daneben  giebt  es  noch  amlere  Fälle, 
wo  die  Bezeichnung  'scheinbar'  vollständig 


I 


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Anwigtti  und  llitteflnngen. 


367 


berechtigt  int,  z.  B.  wenn  es  »icli  um  div 
wahre  ond  scheinbare  i^Tox^}  '()rt>  eines 
StfTTif^  handelt  oder  in  tl>  r  L'  Iin»  von  der 
i'aralliue  do»  Mündt;»,  woruut  wir  liier  nicht 
««itor  «ingehen. 

Wer  nun  vivin  Stiidiimi  rlo«  Alniii^'i'>;t('« 
zur  Lehre  von  den  Auf-  und  Lntergäugt'u 
d«r  nzaterne  fiberKehi,  dem  kann  m  ja 
ulh'nfallH  hfikomuH'ii .  dn<  Iliin  aus  i!»  i 
Ahnageat  ganz  gelüutigß  tptupöfuvos  ao  wie 
dort  mit  'TCheinbar*  XII  überMtxen,  aUein 
trotzdem  iKt  diene  C'beraet'/ung,  hei  Auf- 
oder  UatergängeD  der  Fixüteme  angewendet, 
duTchaiM  falsch,  denn  tpaipöfitvoi  beieidinet 
liier  nur  'sieht liar'  Somit  8<illten  hinfort 
alle  'scheinbaren'  Auf-  und  Untorpilnge  ver- 
■t-hwindcn;  cb  giebt  nur  einerseiti«  sichtbare 
ood  aadereneit«  gleidiaeitige,  aber  unaicbt- 
hire  Auf-  ond  Untergftnge  der  Fixsterne. 

AlMS  Häblea  (t^ 


1/  J.  Jastbow  und  ti.  W'ihtkb,  I^kl-tkcuk 
Gaacncimt  ni  ZatTAtTKa  des  HoBaaaTAvnni 

112.'.— 127S  Er>-tor  H.iii.l  1125  —  11901 
{Bibliothek  deutscher  UcHchicbt«,  beruuM- 
gegeben  von  H.  v.  Zviedineck-SAdea- 
»inrst  1  Stuttgart  IHUT,  J.  Q.  Cotta  Nach- 
folger. XXU,  644  i^.  S. 
DaflgTOlseUntem«hmen  der 'Bibliothek 
deaticher  <J  r  h  i  (  h  t  <• das  unt^r  Weg- 
lassnng  d^  gelehrt »n  Apiiarat«  'eine  auf 
qaeUenmUaigerOmniilagu  ruhende,  für  jeden 
gellitdeten  L«ser  zugängliche  itarntcllung* 
nnsterer  gesamten  (ieH<;lii<  lifc  geben  will, 
ttchreitet  »einer  Vollendung  entgegen.  Die 
(jeacbichte  der  Hohenstaufen  lief»  lange  auf 
»ich  warten.  Hier  war  der  lloclen  noch  nicht 
soweit  vorbereitet  wie  io  den  übrigen 
Perioden.  Zugleich  aollte  hier  auch  ein 
t'berblick  über  die  friihmittelalterlirhrn  7.n 
atijide  io  Kultur  und  Verfassung  geboten 
werden,  die  in  der  Zeit  der  Hohenstanfen 
bekanntlic  h  wi- hende  Wandelung'«  n  «  i 
fuhren.  J.  Jastrow,  der  die  üearbeitung 
dietei  Zeitaltera  flbemommen  hatte,  raurite 
zuletzt  wegen  Änderung  «einer  winHennehaft- 
licbeii  Thätigkeit  die  Volleudnag  de«  Werke« 
anderen  Händen  tlberlassen.  Der  jetxt  vor- 
liejjeiide  erste  Hand  it<t  nodi  grölVtenteilf! 
JaRtrowH  geistlj..'<  >  Eigentum;  das  erste  lUu-h 
ktammt  vollstiludig  von  ihm,  da»  zweite  und 
dritte  bat  (i.  Winter  nach  aeinem  Kntworf 
•iiMgearbeitt't 

Im  er«t«n  Iluch  erhalten  wir  ein  grofs 
angelegte««  lebenavoUea  OeraUde  von  Lanil 
und  Li.-uten  zn  f?'  L:iiiii  «Iit  l|nhcn>»taufen/clt 
Autigehead  von  dem  gemein.sameii  Kultur- 
loeia  der  alten  Welt  führt  um  der  Verfaaeer 


zunächst  die  verschiedene  Euiwu  kelung  von 
Morgen-  und  Abendland  vor,  die  Bildung 
von  vier  selbstilndif,'»  11  Vcrk<'lirs;;i  lMff  i-ii.  dem 
chiucäi«ch-indi8chen,dem  arabiBch-türkischeu, 
dem  griechischen  nnd  dem  latetaiecb -ger« 
maninchen,  ihre  « »'ihi^clrflfn  ^?(^z^ehungen 
xu  einander,  worin  Araber  und  Griechen  die 
YennittlerroUe  awiechen  dem  ftttTaereten  Oaten 

und  ilfiii  änrsirstfii  \V<-sttii  sjiiitcn.  Itis  da» 
Abendlaind  zuerHt  in  den  Normauuea  selb- 
«tftndtg  die  Wege  xum  Osten  findet,  nnd  im 
Zeitalter  der  Kreuzzüge  Morgen  und  Abend 
unter  den  Bannern  des  Islams  and  des 
Christentems  den  Kampf  um  die  Handels- 
herrscbafl  b^innen.  In  lehrreicher  Weise 
wird  nn»  die  noch  »ehr  unbedeutende  Stel- 
lung' 1  »L'ut^chlands  im  damaligen  Weltverkehr 
gezeijft.  Wilhrend  Araber  und  Griechen  <Ue 
römische  Kultur  t^ilweine  unzer^t^irt  über- 
nomnu'U  und  sich  zu  eigen  gemacht  hatten, 
war  dem  Abendland  von  allen  SehOfiftmgea 
de« RiSmerreicheH  allein  diV  Kin  licnvcnvaltiini,' 
geblieben.  Indem  nun  .ia«trow  '  Westeuropa 
in  kirchlicher  Einigung*  schildert,  scheint  er 
(b.-rn  l!fzcMsfntr-n  in  •'fitit'jii  Strebpu  niU'h 
dem  ZuHammenhang  deä  Ganzen  in  cier  Welt- 
geaehiehte  doch  etwas  an  weit  zu  gehen. 
Thatj<ilchlich  hat  i  s  du»  Ii  liii-  auf  tiregor  VII. 
keine  gemeinsame  lateioitiche  Kirche  gegeben. 
Die  eigentümliche  Verfassung  der  deutschen 
KeidiKkirche  hätte  eine  ausfQhrliche  Dar- 
tttellung  erhalten  mÜHsen.  Die  weiteren 
Schilderungen  des  deutschen  Lande»  und 
seiner  Pxwohner,  der  sozialen  tJliederuuf», 
von  Landwirtschaft,  (iewerbe  und  Ilauilel, 
Keclit  und  tiericht  lassen  überall  den  kundigen 
Führi  r  i  rki'iinen  und  mat  lien  sich  dem  Leser 
dun  Ii  [ihistische  Anschaulirliki  it  ^'cfilllig. 
Ziemlich  dürftig  i»t  dagegen  die  i>arKtelluug 
de«  Heerwesens  sasgefiiUen.  Der  Abschnitt 
'Fürstentümer,  Bistümer,  Stadtgemeinden' 
leidet  unter  einer  gewistten  Unsicherheit  in 
der  Auffassung  der  Veffaaaangsformen,  di« 
>iili  ti,  a  in  dtir  schon  bemerkten  Vernach- 
lilüHigung  der  ileicbiikircheuverfaiuiung  äufseri. 
Was  ist  denn  das  Gemeinsame  der  drei  hier 
/usanmiengenommenen  Hegritf'e?  Hie  Sta<lt- 
gemeinde  gehört  in  jeuer  Zeit  noch  nicht  au 
den  politischen  Oebilden,  den  Olicdem  des 
Reichen,  sonilern  tlillt  durchaus  unter  ilio 
wirtschafllicben  iin«l  so/.ialen  Verhältnisse. 
Die  übri«^eii  Ab.'<<Iinitte  »les  ersten  BiicheH 
behandeln  die  Stellung  des  Kiinigs,  den  He* 
sanitcharukter  der  Verfassung,  «las  Lehnn- 
wesen,  Kunst,  Litleratur,  j^eistij^es  Leben 
und  die  Verhiillnisseindmeinx^dnen  Ländern 
•  Ich  Hei«  lui  ir^iir/cn  lurn  lid'  nuin  eine 

elwaK   slrutlere  1  MsjMJsition  wünschen;  der 

Stoff  (kUt  maachmal  ein  wenig  auaeinMdec. 


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368 


Anseigen  und  Hitteflnngm. 


Dan  zweit«  Bneh  föhrt  den  Titel  Dan 
Zeitalter  BernbardR  von  Clairvaux'  Wir 
lerneo  die  ErRchö])fnng  der  Laieuwdt  nach 
den  Rtünnischßn  Zeiten  der  Salier,  das  Über- 
gewicht der  kixdilichen  Idccu  in  Deutüch- 
laud  kennen.  Kainer  Lothar  erscheint  trotz 
mehrerer  Anläufe  stur  Selbaüludigkeit  funt 
völlig  als  Diener  dieser  Ideen  Nclu'n  Bern- 
hard von  Clairvaux  hat  besonders  Norbert 
von  Magdeburg  bestiounenden  Einflufs  auf 
die  Politik  Lothure.  Die  Stellung  des  Kaisen 
ist  vielleicht  etwas  zu  ungilnstig  gezeichnet 
Die  Thutsache,  dafs  Innocenz  II.  sich  dcui 
Urtcilss]>ruch(!  Lothars  unterworfen  hat,  bleibt 
doch  immerhin  bestehen,  tind  da«  Investitur- 
recht  des  Königs  ist  iiiiiuitKt^^ns  nicht  ge- 
tkchmülert  worden.  —  I  ntcr  dem  'Pfafl'en- 
könig'  KoTirad  III.  erreichte  dii'  Tl^rrschaft 
der  Kirche  ihren  ersten  Höhi'{>utikt;  der 
Beredeamkeit  des  heiligen  Bernhard  gelang 
es.  <ln9  di'titsche  Königtum  mit  fortziiriMTsi  n 
in  den  Kampf  g^en  den  Islam,  die  Zeit  de« 
theoretuclieii  Weltreiche«  schien  gekommen, 
als  da.s  gänzliche  Scheitern  flrs  7-wf>iteu 
Kreusu&ujjes  die  Völker  von  dem  banne  des 
heiligen  Giferere  erlOete. 

Als  der  t,'lnn/oii(lste  Vertreter  der  wifder- 
erwachien  Laien  welt  besteigt  Friedrich  1.  dun 
Thron.  Wie  die  anfetoigende  Sonne  den 
Nebel  der  askotiKcliPn  Woltiinsrhauung  sieg- 
reich durchbricht,  wie  sich  die  arbeitefroheu 
Krftfte  der  Nntion  willig  um  den  neuen  Herrn 
Hcharon,  wiV  dieser  durch  Nachgiel'igkfit  im 
kleinen  und  Festigkeit  im  gtofBea  in  kurzer 
Zeit  jeden  fremden  EinlhiAi  auf  die  Reiehe- 
regierung  unsscliliiTfl  luul  ilie  ersten  Grund- 
lagen aicherer  liechtszustände  «cbalit,  das 
schildert  in  trelFlieber  Wetee  der  erste  Ab- 
schnitt df's  ilrilfi'n  Buches.  Dann  sehen  wir 
dae  neugeknitligte  Königtum  die  äcbieds- 
richteretellung  in  den  Kämpfen  der  lom- 
burdischeu  St^ldte  ergreifen  und  den  Kam]if 
gegen  das  Papeitam  Alexanders  III.  auf- 
nehmen.  AI«  TfleksiebtsToeer  Verfochter  der 
kaiserlichen  Ansprüche  beherrscht  Frie<lrich» 
Kanzler  Ueinald  von  Dassel  jene  Zeit.  Sein 
Tod  im  Jahre  1167  heieiehnet  einen  Wende- 
punkt in  Friedrichs  Politik,  der  nun  zu  einer 
ihm  persönlich  wühl  näherliegenden  versöhn- 
lichen  und  mafsvollen  Richtung  zurückgreift. 
Der  Niederluge  von  Lflgnano  messen  die 
Verfasser  entg*»prrn  der  gewöhnlichen  An- 
schauung nur  f,'riiiiLrp  Bedeutung  bei.  Miin 
muls  ihnen  in^oicin  recht  geben,  uls  der 
Kaiser  dem  loniburdischen  Bunde  gegennV)er 
Heine  Stellung  unverrückt  behauptete.  Aber 
mit  Alexander  III.  trat  er  tliatsäohlich  doch 
prsf  jit/f  in  Friedensverhandlungen  ein,  so 
düi»  muu  eme  Folge  der  Schlacht  hier  nicht 


wohl  leugnen  kann.  Ein  bpsonderer  Ab- 
schnitt ist  der  Monarchie  Heinrichs  des 
Löwen  und  ihrem  Sturz  gewidmet.  In  den 
80er  Jahren  aehen  wir  dann  den  Kaiser  auf 
der  Höhe  setner  Macht.  Über  den  Schiebungen 
und  Reibungen  der  unermüdet  beweglichen 
Bevölkenmgsschichten  erscheint  er  als  der 
starke  Uli  ]  nnlde  Herrscher,  wie  sich  sein 
Bild  im  iiewufstsein  des  Volkes  erhalten  hat. 
Der  letzte  Abschnitt  schildert  'Friedrich 
Bubarossas  Kreuzzug  und  'lo<l' 

.Aucb  iti  der  zweiten  Häittc  des  niieiies 
kaiiu  Hiiii  dt-r  liezcusent  nicht  j,'an/.  mit  der 
Verteilung  des  Stoffes  befreunden.  Durch 
die  vTilligf'  Trennung  der  lombardischen,  der 
kirchlichen  und  der  dcutschon  Angelegen- 
heiten wird  es  schwer,  in  den  einzelnen 
Zeiträumen  die  Gesamtlage  zu  öb^rPclKinen 
Wenigstens  in  den  entscheidendeu  Zeit- 
punkten, etwa  lltiO,  1167,  1176  hätte  eine 
Ubersicht  übet  dir  gleichzeitig  auf  ver>:rhi(«- 
denen  Gebieten  wirkenden  Kräfte  gegei»en 
werden  sollen,  denn  auf  die  EntAcWidang 
haben  sie  jedesmal  n]\o  nirtr'in^'fwirkt  Im 
gauseu  erfüllt  das  vornehm  und  verständlich 
geeehriehene  Bwh,  das  nach  der  Fachmann 
mit  Nutzen  lesen  wird,  iJi'inPn  Zweck  vor- 
trcälicb.  Möge  uns  bald  der  zweite  Band 
besehieden  werden! 

2;Hkikhicm  Gkkuks,  GKSCHicnTR  dm 
ncneomn  Volkes  im»  flEixui  Klltl-r  im 
MiTTKLALTEK.  Zweiter  Hand:  Geschichte 
der  salischen  Kaiser  und  ihrur  Zeit.  Leipzig 
189B,  Dnncker  nndHnmblot.  XII,  6658.  8. 

drr  rrsfe  Hiind  des  v  firlif^'cnden 
Werkes  im  Jahre  IbDO  erschienen  war,  wurde 
von  manchen  Seiten,  wie  der  Verfasser  in 
der  Voncdi»  des  zweiten  Bandes  erzählt,  'die 
Ansicht  ausgesprochen,  dafs  das  eigentliche 
Ziel  einer  kflnstlerischen  Bearbeitung  eine 
innige  Verschmelzung  der  Erzählung  der 
ftufseren  Breignisse  mit  der  DarsteUong  der 
mannigfachen  Sinten  dM  Kulturlebens  sdn 
mfllktvV  Man  wird  nicht  finden  können,  dafs 
der  Verfasser  diese  Ansicht  hinlänglich 
widerlegt  habe.  Die  von  ihm  uirh  in  dem 
eben  erschienenen  zweiten  Bande  seiner 
Geschichte  des  deutschen  Volkes  beibehaltene 
Einteilung  in  eine  'ftnfsere'  und  eine  'innere 
(ieschichte'  mufs  als  ein  recht  uaglfll^iclier 
Gedanke  bezeichnet  werden.  Wenn  er  selbst 
in  der  Vorrede  die  Wichtigkeit  der  inneren 
Verhältnisse  <les  Reiches  hervorhebt,  die  'den 
Schlüssel  für  das  Verständnis  der  bedeutungs- 
vollen politischen  Vorgänge  jener  Zeit  ent- 
hailcn'.  KU  mai  Iit  >  r  d;iiiiit  gerade  auf  einen 
empfindlichen  Ki-hli  r  M  iin»r  Arbeit  uitfim  rk- 
sam.  Denn  indem  er  die  'uul'i»ere  Geschichte' 


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Auzetgen  und  Mitteiluttgea. 


369 


al?  -t!ii*trni(iii,''  n  Ti'il  uml  yi>v  <lcr  'iiiiiiTi-jr 
bvluuiddt,  verzichtet  er  durauf,  jcneu  Zu- 
nmiDenhiiig  swiidieii  beiden,  in  dem  doch 
di«?  inneren  Verhilltnisse  d&n  Primäre  nein 
«ollen,  danal«g«ii.  Aber  die  Cbersclirift  der 
beiden  Teile  entoprieht  anch  nicht  reclit 
ihrem  Inhalt.  Der  Verf.  giebt  uns  in  der 
Mst«n  Hälfte  sein^  liuche»  eine  Kr^ühhin^ 
der  änfficren  uud  inneren  Kriege  sowie  der 
ja  daiiialh  noch  recht  >feringfrij;fi>?en  sonstij,'en 
auüwrirtif^en  Bc/.iehun>;en  der  denlschen  Kr>nif,'e 
in  den  Jahren  I0ti4— I12r>.  Die  /.weite  Hillfte 
bewteht  au»  4  Abschnitten,  von  denen  der 
en«le  den  Staat,  der  /.wpiti-  die  Kitrh«',  der 
dritte  die  sozialen  V'erhilitni»!<e,  tler  letzte 
dw  fteiHift«  Leben  der  iialiaeben  Epoche 
«chililrrt  Rin  derartijr»'^  S:inui)<lu frk  darf 
mau  aber  doch  nicht  eine  Ue^chichte  de« 
dentocben  Volke*  nennen:  «e  «ind  nnr  Bei- 

trij;.'»'  /,u  L-iti>'r  Hnlclii'ii.  iiiri;.n'ti  ^i«'  .imli  im 
einzelnen  noch  hu  «urgfulUg  uut^gearbeitet 
•em.  Der  Verf.  macht  fUr  lelne  Methode 
Sreltend,  dafs  «o  'die  fortlaufende  (lem-hichti»- 
eraifaiiing  nicht  beständig  durch  Darlc^^ung 
der  poUtiachen  und  wirtschaillichen  Gesichte* 
punkte  unterbrochen  wird,  und  dafx  einzelne 
Punkt«  der  inneren  (ienchichte  je  nach  Be- 
darfnis  in  ffr^fs^-Tfr  Ausführlichkeit  be- 
bandelt werden  können'.  .\ber  dieser  achein- 
l>are  Vorteil  wird  Ih'i  weit<'m  anf^"'w'>j;f««n 
durch  den  schweren  iSachteil,  daJs  die  aulsere 
(teiichichte  teils  de«  rechten  Inhalte  entbehrt, 
l«"ils  Stückf  Hrr  innprrri  vorwej^iinuiit.  und 
der  zweite  Teil  unter  Uäulig«a  Wieder- 
Mmigen  leidet.  Die  VerhMtnime  der  Kirche 
werden  fast  auf  jeder  Seitf  «Ic^  ersten  Teils 
«rwähat,  dait  l^huawe«en  kunu  in  der 
Qochtdite  Konrad«  II.  nicht  nnberOhrt 
Weil)en.   und  uuf  S   ".et  finden  wir 

WKar  ein  Kapitel  'Lauere  und  äa£Mre  Ver- 
hältniwe  den  Reichet';  aber  m  einer  be* 
friedigenden  Sehildeninff  kann  es  der  Verf 
liier  nir^nd  kommen  lamen,  da  er  eich 
■Ücae  Din^e  ja  für  den  sweiteo  Teil  auf- 
*paren  mnlH.  Man  möchte  xuweilen  wünichim, 
du  ganze  Buch  von  hinten  nach  vorn  an 
kaen. 

Die  Entahlung  des  ernten  Teile  itt  klar 

und  anschnnli«  h  .Feclen»  der  saliHchen 
Uerrscber  wird  am  Schlut*i*e  seiner  Ue«chichtti 
ein  Kapitel  aber  «eine  yeiBÜgeH  «nd  körper- 
lichen Kii,'r>nsrhnftei:  jji-widmcf  Der  V«'rf 
■teilt  die  politische  Be({i»buui;  der  Salier 
mit  AtHnahme  Heinriche  III.  eehr  hoch.  Ihre 
'fiprniürlli.'lir  Thatknift.  tlm'  7rtli('  lifliarr- 
lickkeit  uud  diplomutiHche  ÜL-waudtln-iL  hobt 
•V  treffend  hervor.  Heinrich  dem  IH-itten 
vird  er  nicht  jferecht.  Dicjicr  ki>II  in  uii- 
b«ioi)Denem   Idealismus  das   Werk  eeine» 


prakiisili  M?n*tiindigen  Vaters  zerstürt,  in 
gutmütiger  Schwäche  der  klerikalen  und 
arietokratischen  Revolution  die  We^e  «?e- 
bahnt  halten.  Aber  die  'praktische'  (JeisteH 
hchtung  Konrads  II.  hat  e»  meiner  Ansicht 
nach  venichuldet.  dafei  da»  KfSnigtum  »eine 
SldHonf  an  der  Spit/.(;  der  geistigen  Hi*- 
wegung  des  Jahrhunderts  verlor  Heinrich  III. 
hat  eB  verstanden,  die  Zügel  noch  einmal  in 
die  Hand  zu  bekoifimen  und  bis  an  sein 
Knde  festzuhalten  Vii  llci.  hl  wäre  er  auch 
<ler  Mann  gewesen,  die  notwendige  Neuord- 
nung der  kirchen|Kditiachen  Verhältnimc 
nhui'  gewaltsame  Krschättemngen  zu  voll 
ziehen,  indem  er  der  Kirche  ihr  R«cbt  gab 
und  das  Recht  de«  KOniffe  wahrte.  War  «e 
seine  Schub!,  dal"-  tiu<  li  m  iiimi  jnli- n  Tode 
ein  Knabe  den  Thron  bestieg,  uud  eine  ho 
gewaltige  PeraSnlichkeit  vrie  Hildebrand  die 
(teschilfle  der  Kirche  übernahm  V  Heinrich  III. 
bat  den  Geist  seiner  Zeit  besser  verstanden 
als  Ronrad  n.  nnd  Heinrich  IV.  Die  Fragen, 
die  <Iii'  neuere  (Jeschichtforschung  nn 
iieinrichs  III.  Hofhaltung  eu  Goslar  an- 
knüpft,  hat  Oerdee  merkwürdiger  Weiae 
ganz  unberührt  gela8.<;en.  Seine  Darstellung 
uuf  .S.  122  und  12ß  f  sowie  andere  Stellen 
seines  Huches  lassen  erkennen .  dafs  ihm 
Nitisrhs  (Jeschichte  des  deutschen  Volke« 
zu  seinen)      lnuli n  unbekannt  gcblielten  ist. 

Im  /.weiten  ist  da^  Beste  <lie  Dar- 
stellung der  päpstlichen  Politik,  die  Knt- 
Wickelung  «1er  Lehren  tiregors  von  der  For- 
derung kanonischer  Wahlen  au  bis  xor 
absointen  Hemchafl  des  Papstes  in  geist- 
Iii  Ih  m  und  weltlichen  Dingen  Xirhf  <x:\n7. 
konsequent  ist  der  Verf.  in  seiner  Auffusüuug 
von  dem  Erfolge  dieser  Politik.  8.  481  be- 
hauptet :  'Schon  nach  dem  Tode  Heinrichs  IV. 
im  Jahre  11U0  konnte  die  völlige  L'uter- 
werftmg  der  deutschen  Kirche  unter  Rom 
als  beendigt  angcfiehen  werden.'  .\ber  aus 
dem  erst«'n  Teile  hat  man  doch  einen  anderen 
Kindruck  davon  gewouuen,  vgl  S  .HO.'»  über 
die  letzten  Jahre  Heinrichs  IV  :  'Deut.^'ch- 
hunl  war  in  «ler  That  vom  Papste  abgefiillt-n ; 
es  gab  nur  noch  kaiserliche  Bis<  liöfe' ;  S,  ."140 
cum  Jahre  1112:  'Die  deutsche  Kirche  blieb 
dem  Kaiser  im  ganzen  fii  n''  Bei  der  Be- 
handlung der  ständischen  \  eriiitltnisse  uiöchle 
man  öfter  eine  sehärfere  Begrilfsbestimniung 
wünschen  M:ui  h:it  ilrti  Kimlrn!  W ,  als  üb 
der  Verf.  seine«  StotleB  nicht  ganz  Herr  ge- 
worden wftre.   Auch  bat  ihm  hier  offimbar 

dir  nTpfiu'''  r,iftfT;t1\ir  Lfofclilf  I>ie  I'nttT- 
scheidung  zwischen  Fürsten  uud  (irafeii  z.  H. 
entoprieht  niehl  dem  damaligen  Zustand 
■  vgl.  Kicker,  \'om  Keithsfiii^tenstand i  Aus- 
führliche Belehrung  erhalte  u  wir  über  das 


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370 


Anzeigen  und  Mitteiluu^^en. 


wirtschaftliche,  häuNliche  und  ^esellij;?  Leben 
der  l)eutj<chou  und  zum  Scbluf«  eint.'  daukt-ns- 
werte  Übersieht  über  die  Schulbildung,  Litte- 
rutur  und  Kunst,  nunicntlich  die  HuukunRt. 

Diu  in  den  Monutucntu  Gemiunitie  historica 
g<*sunimelt«n  Quellen  hat  der  Verfasser  fleilsiff 
benutzt,  auch  die  Litterulur  öfter,  freilich 
niclit  f^leirhniäfsi^f.  herunf^ezoffen.  I>ein  Fach- 
mann wird  da«  Uuch  weni<j  bieten.  Zur  Kin- 
fiihrun<;  in  die  Geschichte  jener  Zeit  kann 
es  je«loch  nützliche  Dienste  thun. 

H}  (ilHTAV  KiCHTKK,  AxMALKN  DKK  DKL'THCilKN 
(i»:SCni(-|tTK  IM  MlTTKLALTEB  VON  DKR  (iKÜN- 
IIUNO  DKS  KkICU«  IIIS  ZLM  L'nTKB- 

(3ANU  DK»  HuiiKxsTAi  FKN.  Mit  durch);ün)fi);er 
kritischer  Kriüuterung  aus  den  (Quellen  und 
den  neueren  L{earbcituii};en.  Hin  Handbuch 
für  das  wissenschaftliche  Studium  der  deut- 
schen («oschichtc  im  Mittelalter.  III.  Al)- 
t^'ilung:  Aunalen  des  deutscheu  Reichs  im 
Zeitalter  der  Ottoucn  und  Salier.  Zweiter 
Hand.  Halle  a  S.  18U8,  Huchhandlunf;  den 
Waisenhauses.    XIV,  7Hi'  S.  H. 

Während  die  von  der  Münchener  hist. 
Kouiniission  herausi^cgebencu  'Jahrbücher 
der  deutschen  fieschichte'  alle  historischen 
Cberlieferunjfon  über  die  deut«chen  Könige 
zu  einer  ausführlichen  Darstellung  verarbeiten, 
haben  sich  die  'Annale  n'  U.  Richter«  zur 
Aufgabe  gesetzt,  nur  «lau,  wau  zur  Reichs- 
geschichte  in  unmittelbarem  Zusammenhang 
stellt,  in  einer  Weise  zusammenzustellen,  die 
für  Sonderuntersuchungen  dem  Fachmann 
»ichere  Anknüpfungspunkte  und  Anregungen, 
dem  Lehrer  eine  wissenschaftliche  Grundlage 
für  den  Geschichtsunterricht  und  jedem,  der 
sich  über  irgend  einen  Teil  der  Reichs- 
goschicht*  unterrichttMi  will,  rasche  und  zu- 
verlilssige  Auskunft  gewahrt  Der  jetzt 
erschienene  zweite  Hand  der  dritten  Abtei- 
lung behandelt  den  Zeitraum  vom  Tode 
Heinrichs  III.  )»i8  zu  dem  Kaiser  Lothars.  Die 
Zeit  Heinrichs  IV.  ist  vom  Herausgeber  be- 
arbeitet, die  Heinrichs  V.  nach  einem  Ent- 
würfe Horst  Kohls  von  Walter  Opitz 
iUe  Hinrichtung  des  Buches  ist  im  ganzen 
diest>lbv  wie  in  den  früheren  Bänden.  Als 
erfreuliche  Neuerung  sind  die  Jahreszahlen 
um  Kopf  je«ler  Seite  zu  bogrüfsen,  die  das 
Nachschlagen  sehr  erleichtern.  Der  Text  der 
Zeittafel  ist  etwa.><  ausführlicher  gehalten; 
die  Cjuelleuauszüge  sind  etwas  beschränkt 
worden,  werden  aber  doch  wie  bisher  das 
Nachschlagen  der  Quellenwerke  vielfach  ent- 
behrlich inachen.  I>ie  kritischen  Krörte- 
rungeii  haben  im  neuen  Band  einen  ziemlich 
^'i<)(«tii  l'mfaiig  erreicht,  was  sich  durch  die 
Fülle  <b'-  in   m  it.'r.  ri  i,>';<'lb.>naitsgabeu  und 


Einzeluntersuchungen  7.u«ammengetragenen 
StüHeg  hinlünglich  erklärt.  Die  Jiüirbürher 
Heinrichs  IV.  von  Meyer  von  Knonau  rtMchen 
bekanntlich  nur  erst  bis  zum  Jahre  1077. 
Die  Zeit  von  1077—  110«  tindet  in  den 
'Annalun^  ihre  erste  den  neueren  Fort- 
schritten der  Wissenschaft  entsprechende 
Bearbeitung.  Aber  auch  für  die  vorher- 
gehenden und  die  folgenden  Jahrzehute,  wu 
die  'Jahrbücher'  als  (irundlage  dienten,  er- 
mangeln die  Annalen  durchaus  nicht  d<>r 
selbständigen  Forschung,  zumal  auch  eiiiti- 
Reihe  wichtiger  Veröftentlichungen  uachKr- 
scheinen  der  'Jahrbücher'  noch  zu  bearbeiten 
waren.  Vielseitigem  Interesse  wird  u.  a.  die 
gründliche  l^ntersuchung  über  die  Vorgänge 
von  Tribur  und  C'anossa  io76  -  1077  auf 
S,  220— 24>*  begegnen.  Als  Anhang  zu  deu 
Annalen  Heinrichs  IV.  giebt  Richter  in  au«- 
führlicher  Darstellung  Ii  'Das  (Jharakt^'rbild 
defl  Königs  nach  dem  Urteil  der  ZeilgenosucD* 
und  2)  einen  Abschnitt  'Zur  bistoriogruphi- 
schen  Wünligung',  worin  er  die  wechselnden 
Auffassungen  der  Geschicht^chreiber  über 
«len  unglücklichen  Herrscher  seit  dem  An- 
fang des  16.  Jahrhunderts  bis  auf  un»ere 
Tage  schildert,  mit  teilweise  wörtlichen  An 
führungen  aus  den  (ieschicht«werken  Am 
Schlufs  des  Bandes  hat  der  l'nterzeichiiete 
eine  Cbereicht  über  die  Verfassung  des  deut- 
schen Reiches  während  der  sächsischen  und 
salischen  Penode  geliefert. 

Auf  ausführende  Darstellung  leinten  dif 
Annalen  grundsätzlich  Verzicht.  Sie  stellen 
sich  gewiasermafsen  dar  als  Auszug  aus  den 
Monumenta  (»ermaniae  historica  und  den 
Jahresberichten  der  Geschicht8wisseugch»ft 
und  als  tjuintessenz  des  in  den  'Jahrbüchern' 
verarbeiteten  Stoffes.  Sie  werden  vielen  Ge- 
lehrten, denen  jene  gn>r8en  Werke  nicht 
leicht  zur  Hand  sind,  Krsatz  bieten  könaeo; 
namentlich  wer  keine  grofse  Bibliothek  in 
der  Nähe  hat.  wird  gern  nach  einem  solchen 
Hilfsmittel  greifen  Was  Müllers  Handbach 
der  klassischen  Altertumswissenschaft  für 
den  Altjjbilologcn  ist,  das  sollen  Richfer- 
Annalen  dem  Historiker  sein,  der  sich  de«i 
deutschen  Mittelalter  widmet. 

Er.hr  r  DeTmiKirr. 

Fonsciit'KOBN      zim     xkikiikh  Littiuiati«- 
OKscHiciiTE.    Herausgegeben  von  Dr.  Fka»» 
Mi  NCKKR,  o.  ö.  l'rofcMor  an  der  Univer- 
sität  München.     Müucheu   Ibüß  tf.,  tarl 
Uaushalter. 
Ein  >'ielversprt'chende8  Unternehmen  «iad 
die    'Forschungen    zur    neueren  Lil- 
t  erat  Urgeschichte',    herausgegt'ben  von 
Franz    Muncker.     Sie   sollen   in  7«ang- 


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Aoxeigen  and  Miitdliiofea, 


371 


lo«er  Folge  wis9ea»cbaitlichc  AbUuDÜluogeu 
pliiIotofpfldi-hi«toriBcher  Uetliode  od«  auch 

üsth> Um  Ii  |i~vi  li<  il.iy[ifH>ht'r  Ht'tracbtungKweise 
enUiaIt«u  aus  dem  Gebteto  der  deuUcheu 
Litteiatar  sowie  fretndl&ndueben  Sehrifttam 
vom  Auügao);  des  MitteIalU»r»  bin  uuf  di«'  im 
miUdbare  Gegenwart  ood  die  'wechselaeitigeu 
Euiwirkiiiig«n  dieser  Littorataren  vie  uidit 
minder  die  manm^arhcn  Beziehungen  zwi- 
8di«D  Dichtung  und  Wissenschaft,  xwiachen 
LiUentnr,  Huiuk  und  bildender  Kunst  be- 
lendlten'.  Doch  wollen  sie  trotz,  ihres  Htreng 
wixucnsrhaftlichcn  riiaralcterfi  auch  die  Auf 
iuerki»<imkeit  solcher  Lv^er  erregen,  die  nicht 
zu  der  kleinen  Zahl  der  Fachleute  gdlOren. 
Vier  treft'Iidie  AM..iiiilhin;:i n  Hi  ixon  vor  vnr 
Betätigung  dieses  Programme.  Die  erste 
gehfiri  zur  Faustlitt^ratur:  'Nachkl&nge  der 
Sturm-  und  Drangperiode  in  Fittistdii  lituti'jen 
des  18.  und  lU.  Jahrbuaderts'  von  Koderieb 
Wnrkentin.  Nachdem  Lessinfr  in  seinem 
berfilimti'ii  I"  T.ittcratiirlincf  ilcn  Fauststort' 
aui«  neue  benchworcn  hatte,  luuTstc  der  Held 
dieser  Sage  in  seinem  Hochmut  nnd  seiner 
Vermessenheit  so  ndit  eine  Idealgrst.ilf 
der  ätOnner  und  Driloger  werden.  Ein  un- 
bedeutender Wiener  Dichter,  Paul  Weid- 
niaiiu,  hat  das  \'.  i  ilienst,  1775  als  erster  aus 
der  Periode  den  Stumis  und  Drangs  eiueu 
Faust  auf  die  Uühne  gebracht  zu  haben,  ein 
'all<'g*>ri(*cheH  Drama',  wie  er  e«  nannte,  wäh- 
rend (Joethes  'Urfaust'  bereit*«  geschrieben 
war.  .\n  dieHCM  Weidmannsche  Drama  haben 
die  beiden  Oeaiedichter  Maler  Müller  mit 
»einen  Bruchstücken  aus  dem  dramatisierten 
Leben  Faust«  und  Klinger  mit  $>einem  Roman 
Tansts  Leben,  Thaten  nnd  HöUenfahrt*  an- 
^fknüfift,  uncf  oinv  jn'f^räe  Zahl  von  Dichtem 
und  Dichterlingen  hat  ücb  unter  dem  Ein- 
tols  der  Sturm-  nnd  Drangpniode  des  Faust- 

slottVv  lii-iiinihf i^'t  I'iTi  n  lüclit uiii:rn  füliif 
aus  der  S'erfiuiser  vor  und  beleuchtet  ihr 
gegeneeitiges  Verhältnis  sn  einander,  soweit 
m  bi8  zur  V'ollendung  des  <;octhis>chen  Faust 
enchieneo  sind.  Es  sind  der  Vergessenheit 
anhehngefallene  Namen  bis  auf  Chamisso, 
dessen  Faust  IhüH  gedichtet  ist.  Klinge- 
mana,  dessen  bübnenkundiges  Ktlektstürk, 
1916  entstanden,  auf  dem  Theater  viel  tilück 
inwhte  und  noch  heute  in  der  Ausgabe  der 
Reclamschen  Hililiothck  gelesen  wird,  und 
'Irabbe,  der  in  unglücklicher  Weide  den 
Kaust-  und  Don  Jnaastoif  nüt  einander  ver- 
quickte. 

Die  zweite  Abhandlung  versetzt  uns  in  das 
17.  Jahrhundert  und  zieht  ein  nngedrticktwB 

rk  \on  Mn-!cberosch  ati  ila«  Lieht:  'IMi 
l'atieulia',  nach  der  Hjuidschrift  der  Htadt- 
bibliotliek  zn  Hamburg  inm  cnteamal  heraus- 


gegeben von  Ludwig  Pariaer,  der  sieb 
schon  wiederholt  um  Philander  von  Sittewald 

M  iilii  iit  -.remacht  haf  Die  P.itiriifia  ist  kein 
voilcudetes  Werk,  obwohl  der  Dichter  von 
1627  bis  in  die  sechsiger  Jahre,  die  letzten 
seine»  Lebens,  daran  ^'»  ail.citi  t  Iiat;  <  sind 
nur  Vorarbeiten  und  zwar  iu  der  Uauptsache 
drei  Entwürfe  zu  einem  Lehrgedicht  mit 
Erläuterungen  in  Prosa,  das  die  Nützlich- 
keit der  (leduld  in  allen  Lebenslagen  be- 
handeln sollte.  Da/u  kommt  uUerhand  Bei- 
werk, da«  mit  dem  Thema  des  (tedichtcis 
nicht  in  nnmitt'elbarem  Zusammenhang  steht, 
ein  ausführliches  Gespräch  eines  (Jeüngstigteu 
und  eine«  Fretindes  über  den  Hofdienst,  aus- 
£r''filhrt  nach  ii«'m  Vorbild  fincs  Traktats 
von  .\mos  Comenius,  wie  der  Vertasser  nach- 
weist, Gebete  aus  allerhand  Situationen, 
Vorreden  in  Briefform,  ein  Wust  von  ge- 
lehrten Zitaten  aller  Sprachen  und  Mate- 
rialien, ans  denen  weitere  Strophen  fBr  das 
Lehrgedicht  und  ilic  i>ii»a!>clicn  Krläute- 
rungeu  geuonuueo  werden  sollten.  Au  diesem 
fiberreichen  Beiwerk  ist  sehliehlich  die  ganzo 
Arbeit  des  Dichters  erstickt. 

Die  wertvollste  Abhandlung  ist  die  von 
Sulger-Oebing,  *Die  Brflder  A.  W.  und 
F.  Schlegel  in  ihrem  VerhaliuiJ-^c  /ui  bilden- 
den Kunst',  wertvoll  einmal  als  tiedeutsauie 
Vorarbeit  für  eine  zukünftige  tJeschicbte  di's 
Kunstgeschniacks,  dessen  Entwickelung  und 
^Vanc^ung  ja  ikh  Ii  <n  \vi  tii<;  erforscht  ist, 
ajiili'icrseitH  in  ihrtiu  Ziiniumaenhange  mit 
der  viel  behandelten  Frage:  Goethe  und  die 
I'ilili  nde  Kunst.  Beider  Brüder  Jugend  steht, 
wie  CS  sich  in  ihren  ersten  Kunstschrillteu 
xejgt,  unter  dem  Zeichen  der  «aliken  Kunst^ 
wie  sie  Winckelmann  und  Meng«  der  Welt 
gedeutet  batteu,  nur  dafs  sich  schon  jetst 
August  Wilhelm  als  der  vielseitigere  und 
;,'c-:clniiakw.II.^re,  Friedtii  h  al<  ih  r  naivere 
und  originellere  zeigt,  üuu  nehmen  die  De> 
grRnder  der  romantisdien  Schule  als  reife 
Männer  nicht  nur  die  litlerarisch«'n  Bestre- 
bungen der  8turm-  nnd  Drangzeit  wieder 
auf,  sondern  auch,  was  eine  Hervorhebung 
verdient  hätte,  dit*  .\rt  der  Betrat-Iilung 
liildeuder  Kunst,  die  vor  ;J0  Jahren  Hamann 
durch  Herder  die  Stürmer  und  Dränger  ge- 
lehrt hatt«',  über  die  uns  Vulbehr  ('Goeth«- 
uml  die  bihlende  Kunst'  so  ülierzeujjcrid  auf 
geklärt  hat.  Schon  hier  bei  Hanmuu  mul 
Herder,  nicht  erst  bei  den  Koniantikern,  ist 
der  erst»^  Schritt  zum  historischen  Begreifen 
der  liildenden  Kunst  zu  suchen.  Der  junge 
(ioethe,  der  in  seiner  Freude  an  der  Gotik 
die  l'lu;.'<cliiin  'Von  deutscher  Baukunst' 
schrieb,  der  al.'cr  zu  gleicher  Zeit  den 
Griechen  die  'hOchste  Sch<»iJieit*  snerfcaonie 


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372 


Ans!«ig«tt  und  Hitteilungeo. 


und  im  Mauiibeimer  Aotikcnkabint'tt  mit 
Enteflckcn  da«  Pantlieonkapitlll  bewnnderie, 

«Icr  in  «lor  r'ii''-t'M<ir  fVr  <  lalli  rii-  -^icli  :m  ilcn 
Nicderländeru  urgützt»'  und  kurz  vor  seinem 
Betreten  Weimani  Bcbneb:  'Ich  xeicbn«, 
küriHtle  miil  ]>'\<v  i^mv/.  mit  l{4'ml>randf 
dacht«:  liistoriHcbcr  uJa  der  «pütere,  der 
ftll^n  die  Dabo  den  KlMfcisdnnmi  ein- 
jjc^ilila;/!'»  liat(<*  iiml  iin  .Tiilni'  ISI»"  \iru 
Beiuer  hoben  Warte  allgemciuHtor  luter- 
essen  be!  der  Redaktion  der  ItaKenischeo 
Hcic«'  Aiistallc  f^Ofrcn  die  (Jolik  «'inschoh, 
wie  Hie  der  Keisende  von  1786  in  gleichem 
Grimnie  nicht  gefiiblt  hatte. 

Oicsi'  historische  AiifTaHKunn  <l«'r  KiiiiKt 
haben  die  Gcbrfider  ächlegel  wieder  auf- 
l^oBiinen  und  weiter  antgebüdot ,  ^estfltct 
auf"  eine  aiirseronleidlich  roicho  Sachkeniitni«*, 
die  sie  sich  zimtichst  an  der  Uand  der 
Dresdner  Gallerie  erwarben,  wie  es  vom 
Verfasser  eiiifjeliend  im<l  khir  darf,'estollt 
wird,  und  die  sie  aufs  sorgsamste  ver\-oU- 
st9ndi}^en,  Friedrich  bei  seinem  Aufenthalte 
in  Paris  von  1H02  IKOl,  u  n  danialK  Napoleon 
die  beweglichen  Meisterwerke  von  Mildern 
und  Stataen  aus  ganx  Italien  und  Spanien 
ausammengchäun  hatte,  August  Wilhelm  auf 
seinen  Reisen  in  Italien  im  Dienste  der  Frau 
von  StaPl.  Auf  der  Höhe  ihror  Leintunpen 
aln  Ästhetiker  und  Kunatforscheir  stehen  die 
Mnlder  in  ilirem  pemeinnamcn  Wirken  an 
ihrer  Zeitj^cbrifl,  den)  Athenäum,  die  j^röfste 
hVf'tematisebe  Leistung  sind  al>t>r  die  Fterliner 
X'orleHuUf^en  von  Willudm  August.  Nach 
ihror  verschiedenen  Art  hahen  die  Mrüder 
eine  ganz  gotrennte  Weiterentwickelun*,'  ge- 
nommen, rherranchend  finden  wir  oft  da« 
Urteil  Frieilrichs,  wie  zum  Beispiel  «eine 
Verurteilung  der  Maler  der  zweiten  Bologneser 
Schule,  der  ('ar.u  •  i.  tluido,  r>omenichino,  die 
lu'sher  nel>en  IJitthu  l  .m  der  Spitze  der  ita- 
lienischen Malerei  gestanden  hatten,  wie  sie 
(Joethes  Vorliehe  liilden,  als  er  Italien  he- 
tritt.  Al«er  er  ist  später  abwärts  geschritten, 
hat  Rieh  abgekehrt  von  dem  Ideale  seiner 
Jugend,  «ler  .\ntike,  bis  zu  ihrer  Vcidam- 
niung,  ist  den»  Mystizismus  und  dem  Katho- 
lizismus anheiiiiget'alleu ,  und  dor  einst  so 
freie,  vielseitige  Mann  i-^l  in  lii=r!i)-"ni1<<er 
Eiusvitigkeit  bei  «len  Xazareneru  gestrandet. 
Reich  ist  noch  «lie  kuustschriftstelleriflche 
Thätigkeit  August  Wilhelms  jjcwvi^u,  aber 
er  hat  nur  die  alten  <iedaiiken  weiter  aus- 
gestaltet und  iitt  flimr  seine  Cilanxieit  za 
BegiuTi  (]>■-  .T.thrhundcrts  in  Berlin  nicht 
h  i  uuusge  k  onuu  c  n. 

Emtatinlich  beherrscht  der  Verfasser  da« 
;;i-<fse,  weitverzweigte  kurs(>rl)n'n>(.Hrt i-rbe 
Materiul  der  Gebrüder  iSchiegcl  Howie  das 


der  Kunstgeschichte,  wie  er  sich  auch  im 
letzten  Goethe-Jahrbach  so  heimisch  geseigt- 
hat  in  di'ni  Horn  der  (Joethis(  bi  n  '/l  it 

lu  die  uuuiiltelbare  Gegenwart  IQbrt  uns 
endlich  die  vierte  Abhandlung!  'Gerhari 
Huujttmanu'  von  F  ('  Wiu  rnt  r  I>er  grofse 
Bühnen-  und  Buchurfulg  von  Hauptmanns 
'Venmnkener  Glocke*  im  vorigen  Jahre  bat 
don  Dirbter  so  sehr  in  da-  allgemeine 
Iutcre«i<ü  gerückt,  dai'H  zu  gleicher  Zeit 
nicht  weniger  als  drei  ausführliche  Bflcher 

llbiT    illll    i'l-rliirli>'ll    sim!       Hie    1^  ii  >i,n:\ ]  dl 

von  Paul  Schleutber,  dem  vertrauten  Freunde 
des  Dichter«,  ist  m  subjektiv  geflirbfc  zum 
Lr.lii"   Hauptmanns,    dat«   Buch    von  A<ioIf 
Bartels  wird  ihm  oft  zu  wenig  gerecht.  Auf 
der  rechten  Mtttelstrafse  bewegt  sich  unsere 
Schrift  von  Woerner,  die  mit  Beschränkung 
auf  die  notdürftigsten  biographischen  An> 
gaben,  wie  sehr  auch  bei  Baupimann  Ij«1>en 
und  Dichten  zusammenhängt,  in  besonnener, 
sachlicher  Kritik  die  Werke  des  Dichten 
von  seiner  Jugenddichtung  'Promethidenloa* 
bis  zur  'Versunkenen  (5 locke'  bespricht.  Per 
Verfasser  weils  sein  Lob  und  seinen  Tadel 
wohl  zn  begründen,  so  daft  man  steh  in 
ganz.en  seiner  Kritik  durchaus  anscbliefsen 
muls     Ohne  blind  zu  sein  für  die  Schwächen 
der  ersten  Hau])tmannscben  l>ramen  des  kon- 
sequenten  Heaiismus,  'Vor  S'onnenaufgang', 
des  sozialen  Dramas  der  VererbungMÜieoria, 
und  des  'Frieileusfestes',  der  erschütternden 
Familienkatastrophe  durch  den  Zwist  zwi- 
schen Vater  und  Sohn   sowie   Binder  und 
Bruder,  weifs  uns  der  Verfasser  zu  über- 
zeugen von  der  tinbedingti«n  Wahrhaftigkeit 
und  dem  «-nisten  Streben  des  Dichten*,  von 
der  vorzüglichen  Durchfühniugder  Charaktere 
und  der  musterhaften  Einfachheit  und  Ein- 
heitlichkeit der  Komposition.   Den  'Webern' 
wird  hohes  Loli  zu  Teil,  wie  sie  e«  ver- 
dienen,  während   ihr  tiegenstück  'Florisn 

•  iever*,  das  auch  'Die  Bauern'  heifsen  könnte, 
auf  keine  Weise  zu  rotten  ist  .ähnlich  ver- 
hält es  sich  mit  den  beiden  Komödien  des 
Dichters.  'Knllefrf  < 'raiii]itnn'  wird  abgethan 
mit  der  Kritik  Schillers  als  ein  Stück  von 
unwichtigen  Handlungt'n ,  in  dem  die  wich- 

♦  i'_'eu  übergan^'on  «iml  I>a|,'''i,'f^n  orwri^t 
sicli  alt»  eine  wirkliche  KomOilie  «ler  köst- 
liche 'Biberpelz*,  ein  Seitensifick  zu  Kleists 

'Zerbrochenem  Krug',  tn>f7sb'iti  da*;  Stück 
um  seinen  ricjitigen,  guten  Schlufa  gekummun 
ist.  Zuletzt  hat  der  Dichter  das  romantische 
mff  dem  streng  realistischen  Kl-'iiient  ver 
bundou  und  dadurch  seine  gröfsteu  Erfolge 
erzielt.   Doch  zeigt  es  eich,  dafs  die  Fabel 

dr-r  '^'i-r^uiikt  <Itnrkf''  in  Wulirlx'if  cirK' 
Wiederholung  eines  frühereu  uaturaiistischen 


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Anzingi'ii  iinil  Mitteilungen. 


373 


Werkes,  <l«  r  'Kiii'-rmit  ri  Menschen'.  i«t,  mit 
deD«i>lben  Hauptcharaktereu,  aber  hier  mit 
v«ffto(l«iieii  DanitellaiiKMnitteln  aosgefObii. 
Danmi  liri''en  auch  lieitle  Ilmnien  «lieKelben 
Scbwiiehon,  die  letzt^'D  Akte  i'alleo  gegeu- 
ab«r  den  Gxp<MttiooMlrt«n  ab,  w«il  die 
schwachen.  imsilhiätäiHiiLr'^n,  willens  urnl 
tbateiriuseu  Holden,  wie  «ler  uuklare  (ilocken- 
gicfser  Heinrieh  utd  der  nervOi  dberreixte 
Johannes  Vockerat,  nicht  <Uv  TnlL'er  iMrxT 
energisch  lbrt«clireiteu(luu  lJundluug  »ein 
kOnoen.  Die  wirksam  geEeichneten  Nehm- 
figiin'n .  wie  der  AValdsrlu  iit  iitnl  der 
NickelniauQ,  jeau  ganz  ucuuu  Krschei- 
Dangen  Backlinwher  Fhantatte  auf  der 
Biihue.  und  tlie  bes(:.,'i'Iiiiigene  Figur,  »las 
liebliche  Kautendelein ,  haben  den  grol'üen 
Theatererfolg  herrorgebiticbt.  Die  Oestal* 
fung  den  KIfenkindes  Kteht  hoch  über  der 
der  entsprechenden  Figur  in  <len  'Einsanieu 
Memche«*,  der  Studentin  Anna  Mahr,  von 
deren  geistiger  Tberlegenheit  wir  immer  nur 
hören,  während  sie  tbatsikhlicb  nirgends 
tum  Ausdruck  kommt.  So  bleibt  noch  flbrig 
ilufi  wertvollste  Bflhnenwork,  dan  Hauptmann 
bis  jetxt  genehrieben  hat,  daH  mit  Keeht 
den  fSrillparzerprei«  davongetragen  hat,  die 
Traumdiehtnng  'Haunele»«  Himmelfahrt',  nnd 
in  di«»er  WertxchiUzung  stinunon  wir  durch- 
an«  mit  dem  Verfasser  Oberein.  Nur  glauben 
wir  dem  Lyriker  Hauptmann,  wie  er  sich 
mu  im  'Hannrlc*  nnd  der  'Versunkenen 
Glocke""  otl'enliart,  noch  einen  höheren  Platz, 
an  weifen  zu  dürfen,  alt«  der  Verl'a.sser  thnt, 
•ler  d««n  UealiKten  und  CbarakterdareteUer 
weit  darüberstellt, 

RoBBBT  Waau. 
AsTow  K1.KTTR,  D»  ScLMTiimioxEiT  nsB 

■IBI.IOTIIKKAKIÄCHKM     FIeRI  KK«     IN     iHl  IS(  II 
LAMP    At«    (iKUaULAaK    KIMKB  ALbOKNiaNKM 

BnuoTHBKt-KKPORif.  Jubilftums  -  Ausgabo. 

Marburg  1««7,  Elwert     VIII,  7'.»  S.  H. 

Prof  A.  Klette  hat  mit  obigem  Hurlii  miter 
etwas  erweitertem  Titel  in  einer  'JuliiiauiiiH- 
mifgabe'  die  im  J  IMTI  erschienene  Schrift: 
'IHe  Selbständiu'lM'it  Int'liothekarischen 
ikrufe»  luit  Uuck«icht  auf  diu  deutschen 
Universitatsbibliothckeit.  Geschrieben  am 
S4  FcliriKir  1h71'  sowie  «Im  AutHntz:  'I>ie 
tielbHtuudigkeit  deHbibliothekuri^cheulierufeä 
mit  Rflekdeht  auf  die  Stadtbibliothekea*  ('!>te 
8ta<lt'.  Wnrhenlieiluge  <ler  Frankfurter  Presse 
IIÜM)  Nr.  4,  6  u,  8»  xusMmmeugefaTHt.  Duh  Kr- 
wheinen  der  kleinen  Schrift  kommt  sweifel* 
los  einem  Bedürfnis  ontgegen,  da  die  er.stere 
Abhandlung  fa«t  vorgritt'un  war  und  selbut 
auf  fiffentUeben  BibU«Äbeken  vielfach  fehlte, 
nad  die  letstere  sich  nur  «u  einer  echwer 


yn^rnjtjrlichen  Stfll»'  l^fand  .XiiC'-crUeh  zer- 
fallt dit!  tSchrift  m  drei  Teil«,  da  noch  ein 
dritter  Abschnitt:  'Die  Verscbmelsung  der 
(«ymnasialbibliotheken  mit  den  .^tadtbiblio- 
thuken.  (Jeschriebca  am  24.  Februar  18^7' 
hinxngekommea  ist  r8.  46 — 60),  woran  sich 
.!!<  Fskursc  (S.  Ol  7'X  KchliefKen.  während 
zahlreiche  pertiüuliche  Beiucrkungeu  namtuit- 
lieh  dem  ernten  nnd  xweiten  Abschnitt  eia> 

Lr('f'i"i<Tt  siml.  I>er  Krf.'l^^  <lrr  \ou  K  iinfi'r 
den  er»teu  uagebuhntcu  Bewegung  zu  tiiuiüleo 
der  Enetsung  der  UniversitAtsprofessoren 
durch  techni-ili*'  HiM-i'tlifksliranil.'  :in  ilrn 
Umversit&ttibibliothekeu  ist,  wie  bckanut,  ein 
so  durchschlagender  gewesen,  daTs  der  Ver- 
fas«er  mit  vollem  Hecht  «ich  seim  <  il;im;ili'^en 
Ülintretena  fiir  die  gerechte  i:ache  rühmen 
darf  nnd  es  auch  fAr  das  gegcnw&rtige  Oo> 
schlecht  lehrreich  ist,  einen  Blick  in  <Ue 
vicliachcu  Schwierigkeiten  und  Kämpfe  jener 
ersten  Bewegutig  ztirficksuwerfen.  DaTs  tech- 
niMche  Bibliotheksbeamte  vorhand«,>n  sein 
müssen,  daran  sweitelt  beute  schon  längst 
niemand  mehr.  Wie  sie  aber  vorgebildet  sein 
mfiHsen  um!  wie  der  Begrifl' der  'Bibliofheks- 
wisttenschaft'  zu  fassen  sei,  ist  auch  beut« 
noch  keinei4weg.-<  entschieden.  Mit  der  'teeh* 
Itischen*  und  s|irachlichen  Ausbildung  inufii 
vor  allem  die  allgemeine  methodinch  wt«?»en- 
schaftliche  Bildung  Hand  in  Hand  ^t  lun, 
und  mit  Hecht  verlangt  K.  vom  'Xormal- 
biMiiitheksbeandcn',  'dafs  er  für  die  Förde- 
rung jedes  Wissenschaftszweiges  dasselbe 
Interesse,  dasselbe  VerstUndnis.  daoHclbe 
Herz  hat'  iS,  Vi  Wir  hatten  e«  au«  diesem 
(Jrtuide  gern  gesehen,  wenn  K.  seine  Schrill 
niclit  .ils  liistorischen  Hückblick,  sontlern  auf 
(Jnind  der  augenblicklichen  Verhältnisse  voll- 
stihidi}.'  neu  gearbeitet  uml  namentlich  auch 
Ih'iiti;.'!'  I'iiliiiiik  berücksichtigt  hiltte; 
denn  »lie  von  F.  Kichlei  '»ene  Petinition 
der  BibliothekswissenHchalL  in:  'Begrifl"  und 
Anfgftbe  der  BibliothekswiaeettSCbflA*  (Lpz. 
1H1>»>,  S.  17  ist  entschieden  zu  eng,  wenn- 
gleich er  »ich  mit  dem  Berufe  des  Biblio- 
thekars anderwftrts  i'Bibliotheknpolitik  am 
.Ausgange  des  lU.  Jahrhunderts'.  I.jiz.  18i)7. 
S  besser  ablindet  Pas  Verdienst  K.» 
wird  es  aber  immer  bleiben,  hier  für  rich- 
tige ,\nschauungen  die  Bahn  gebrochen  zu 
haben.  Auch  waa  im  zweiten  .Yhschnitt 
Aber  die  Btadtbibliotheken  gesagt  wird, 
nniiTcntlich  über  den  heutigen  Zustand  der- 
sellien  :,S.  38  ff.;,  i»t  leider  vielfach  noch  zu- 
treffend.  Fast  {iberall  fehlt  es  an  geeigneten 
Käumlichkeiten,  Schw!Vri<.'WeiteTi,  mit  «li  tien 
grofse  Htadtbibliothekuu,  wie  z.  B.  die  Ham- 
burger, Oft  am  onpfiKUkiietai  m  kftupfen 
haben,  und  ebeoao,  nameotlieh  an  Ueiacrett 


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374 


AuzcigRD  uud  Mitt«'ilungon. 


Hibliotheken,  an  ffccijjiipten,  lu'Honder«  vor- 
gehildett'n  Heamton,  von  der  Kutalo^i- 
Nieruug  der  Bücher  uu<l  der  i>]aumiir8igeu 
Vermehrung  des  Büfherhe(»tttn«le»  durch  an- 
gemesHeue,  efatsniäfHige  Kondt»  ganz  zu 
schweigen.  'Soll  eine.  Hihliothek  ül)erhuu|it 
existeuzberechtigt  sein,  ho  uiufs  »ie  durch- 
aus angeniCHHen  \*Tmehrt  werden,  «elbst- 
verHlündlich  nicht  ins  Blaue  hinein,  »ondern 
nach  ganz  bestimmten  Urundsützcn'  beiCst 
e»  bei  K.  H.  4*2  f.,  und  er  bezeichnet  es  ganz 
nach  unserer  Meinung  als  Aufgabe  der  Stadt- 
bibliotheken, 'dafs  .  .  .  die  gesamt*«  historische 
Littenitur  bei  den  Stadtbildiotheken  vorzugs- 
weise zu  Iterücksichtigen  sein  wird.  tJunz 
von  selbst  aber  versteht  es  sicli  femer,  dafs 
kein  Buch,  welches  auf  die  (Jeschicht*?  der 
eigenen  Stadt  Bezug  hat^  auf  der  Zukuntls- 
Stadlbiltliothek  fehlen  dairf.  Desgleichen 
niufs  alles,  was  im  Orte  ge<lruckt  ist,  Theater- 
zettel und  Konzert progranune  nicht  ausge- 
nommen, tlaselbst  vorhanden  sein'  »S.  441. 
Bei  diesem  klaren  und  zu  biltigen<len  Pro- 
gramm ist  es  nun  nicht  einzusehen,  wenhall) 
K  im  dritten  Alischnitt  seiner  Sclirift  die 
8ta(UI)ibliotheken  mit  den  tiynmasialbiblio- 
theken  verschmolzen  und  zu  ' Wissenschaft s- 
Zentren  umgewandelt'  wissen  will  .S.  f»'J  i.  Kür 
grofsc  Orte  wjlre  ein  derartige»  Vorgehen 
min<lest«nH  überflüssig,  für  mittlere  und 
kleinere  ist  es,  wie  wir  sehen  werden,  erst 
recht  unausführbar.  Ks  ist  ja  richtig,  dafs 
tlie  Beschattung  der  fachwn'ssenschaftlichen 
Litteratur  für  Arzte  z.  B.  i  S.  ö*2i  in  kleineren 
Städten  mit  Schwierigkeiten  verknüpft  ist, 
und  dafs  es  mit  dem  Ausleih«%geschilft  der 
l'niversitiitsbibliotheken  nach  auswärts  viel- 
fach hapert  iS.  53).  Aber  'da  neuerdings  die 
Kortentwickelung  der  Wissenschaften  sich 
mehr  und  mehr  auf  das  Gebiet  der  Fach- 
zeitschriften konzentriert  hat'  iS.  öHi,  nuissen 
«leswegen  grofse  eigene  Bibliotheksgebäude, 
wie  K  sie  haben  will  S.  bä  tt.  ,  gebaut  wer- 
den? Würde  es  nicht  genügen,  Zeit»<chriflen- 
zirkel  ins  heben  zu  rufen,  welche  wenigst^'ns 
die  wichtigsten  Journale  hielten?  Denn  wo 
soll  liier  die  tJrenze  sein?  K.  will  freilich, 
dafs  bei  seinen  (iynmasial-  und  Studtbiblio- 
theken  'die  Pflege  der  streng- wisst-nschaft- 
licheu  Litteratur  .  .  in  Bezug  auf  wissen- 
schaftliche Zeitschriften  jenen  (d.  i.  den 
l'niversitätslübliotheken:  nicht  nachstehen 
darf  S.  58  ;  aber  wenn  man  weifs.  wie  viele 
/.«•itsclirifteu  bei  der  heutigen  Aus«l«'hnung  der 
Wissenschaft,  namentlich  ausländische,  den 
rniversitätsbibliotheken  unW  -"uav  «b  r  Kgl 
Bibliothek  in  Berlin  fehlen.  crkt-nnt  man, 
dafs  es  keinen  Sinn  hab> n  wünle.  grofse 
Uobäude  ius  Leben  zu  rufen,  tun  Doubletten 


zu  haltt-n.  K.  übersieht  femer,  dafs  der 
Fortschritt  der  Wissenschaft  vor  allem  auch 
durch  die  L'niversität«schritleu  (.Dissertationou 
u.  H.  w.)  bedingt  ist.  Will  er  diese  seinen 
Bibliotheken  durch  Austausch  zuführen,  und 
was  will  er  tauschen?  Denn  auch  mit 
der  Forderung,  da«  zweite  Exemplar  der 
Pflichtlieferungen  nicht  der  Königlicht-n 
Bibliothek,  sondern  den  (lymnasial-  und 
Stadtbibliotheken  zuzuweisen  (8.  68),  können 
wir  uns  im  ganzen  nicht  einverstanden  er- 
klären. Wie  «ehr  übrigens  <lie  .\nsicht<'n 
über  die  künftige  Oestaltung  der  Staiit- 
bibliotheken  noch  auseinandergehen,  Itcweiit 
ein  Aufsatz  Franz  Hühls  über  die  Köuigs- 
berger  Stadtbibliothek  i  Sonntagsbeil,  zo 
Nr.  43  «ler  Köuigsberger  Hartungschen  Ztg. 
vom  20.  Febr.  d.  J.(.  Ks  hcifst  dort  gegi'n 
den  Schlufs  hin:  'Kndlich  wäre  noch  die 
Frage  aufzuwerfen,  ob  man  «lie  Stiultbibliothek 
nicht,  wie  anderswo  gt»ra<le  gegenwärtig  viel- 
fach ge|)laut  wird,  z>igleich  zu  einer  Art  von 
Zentralbibliothek  für  die  Wissenschaft  liehen 
Institute  d'T  Stuilt  machen  sollte.  Natürlich 
müfst^'n  die  (iymnasien  und  ähnliche  An- 
stalten ihre  eigenen  Bil)liotheken  wie  bisher 
behalten.  Ks  giebt  jedoch  grofse  und  gnmd- 
legende  Werke,  welche  für  iliese  zu  teuer 
sin«l,  deren  Studium  aber  ffir  die  hehrer  un- 
umgänglich ist.  Wir  denken  dabei  zum  Hei- 
spiel an  die  Inschriftensammlungen  und  an 
die  (lesamtuuKgab«««  »ler  Werke  der  grofsen 
Mathematiker.'  Wir  möchten  Herrn  I'rof 
Kühl  <lenn  doch  fragen,  was  es  für  einen 
Sinn  haben  sollte,  auf  der  Königsberger 
Stadtbibliothek  die  lnschriftensammlung«'n 
anzuschaffen,  währenil  jeder  Lehrer  da» 
Corjtus  inscriptionum  so  be<]uem  auf  der 
L'niversitÄtsVübliothek  haben  kann!  l^m 
Bedürfnis  nach  Zentralisienmg  könnte  ja 
vollständig  genügt  werden,  wenn  ein  (Jeneral- 
o<ier  Zentralkat4ilog,  ähnlich  wie  er  für  die 
Instituts-  und  Iniversität.-^büdiotheken  ge- 
plant wird,  von  sämtlichen  städtischen  und 
Provinzialinstituten  angefertigt  uml  auf  der 
Strtdtbiblioth«?k  ni<Hiergelegt  würde  Im 
übrigen  8in<l  wir  aber  der  Ansicht,  dafs  die 
Stadtbibliotheken  nur  bei  völliger  Selb- 
ständigkeit vgl  noch  U.  Zedier,  («eschicbfe 
»ler  rnivei-»ität«bibliothek  zu  Marburg  »on 
Ift'J"  -18H7,  S.  Vi  sich  gedeihlich  entwickeln 
können,  wie  K  dies  auch  so  richtig  im  zwi-iten 
.\bschnitt,  seiner  Schrift  dargelegt  hat 


ABBvigOB  «nd  MUteUongm. 


S15 


ZU  OOETREa 
GÜTTEll,  HELDEN  UND  WBBLAND*. 

In  dieser  Keitechrift  I  Sit  (B.  S)  wird  von 

Alhert  Mflllfr  iHannuveri  (Ii»-  'Frage  an 
die  Goetheforschcr'  gerichtet,  ob  die 
wSrtUchc  rbereinstimmung  der  Scbluftwortc 
in  'GPttor,  Heltlen  und  Wieland*:        n'<lf  n. 

sie  wollen;  mögen  sie  «Inrh  reden,  WM 
kümmert'»  mich?'  mit  tler  griechiechen 
UeBiiB«nin»cbrUl:  X4fovmr.  ü  »üoveii- 
Twcrr,  Ol'  fij'ii  jioi  auf  Zufiil^  Iwruhe  oder 
nirht.  Diese  Frage  ist  von  mir  iiu  2«.  Hunde 
von  (loetliet  W«rken  in  Kdrscfaners  Deutscher 
Nationullitteratur  1'!"  Anm.  beantwortet 
worden.  Wielttud  entnahm  die  Inncbritt  ans 
WiaekebnannR  'Sendachreiben  von  den  Her- 
«ulanischen  Entdeckungen'  S.  46,  kmiiifte 
daran  seine  '(iedanken  über  eine  alte  Auf- 
aclirift*  (Leipzig  die  Goethe  in  den 

Frankfurter  gelehrten  Anzeig'  ii  1772  Nr.  'J:i 
memierte,  und  verwies  noch  ciuiual  darauf 
in  seinen  'Briefen  tlber  dmi  neue  Singspiel 
.\lce.'(te'  (Tc-utscher  Merkur  1T7.H  I  •-".'."» 
So  lag  eil  für  (loethe  nahe,  in  'tiötter, 
Helden  und  Wieland',  der  Fnce,  die  sieh  in 
mter  Linie  gegen  die  Wielradwbe  'Alcuste* 
wandte,  dem  angegriffenen  Dichter  gerade 
diese  Worte  in  den  Mund  zu  legen,  die  ihm 
•  !it  Wi  lli  r  durch  Winckehnann  odet  dnrch 
Wieland  selbst  vermittelt  wonlen  waren. 

<!k<iro  VVitkowski. 


VVISSKNSCHAFT  FND  LMEHUICHT. 

Georg  Kuibel  hat  «ur  diesjährigen  Ge- 
burtstagsfeier de«  Kaisers  im  Namen  der 
l'niversiUlt  zu  (Jttttingen  eine  Festrede  über 
'Wiüsenschaft  und  Unterricht'  ge- 
baltea  (Qflltingen,  Dieterichaehe  Univ  -ihuh- 
dnickerei'.  iiii«  deren  relch<*iti  Iiilialte  wir 
im  folgenden  einige  Stellen  für  unsere  Leser 
hetMshebens 

'Die  Universitilt  hat  eine  dopjielte  Auf- 
giUi«  überuumuien ,  die  Fliege  der  Wiäsen- 
»efaaft  und  die  Erziehang  der  Ju^d  fSr 
d;i.H  Leben.  Die  WiHHeuHcbaft  d.  h.  Krlceimi- 
nu  (lesaeu,  waM  war  und  wa«  int,  iu  welcher 
Ponn  sie  auftreten  und  welcher  Methode  sie 
folgen  mag,  int  und  bleiM  fil-i-r  alle  jMiliil 
«eben  und  sosialen  Verüuderungen  hinaus 
eine  und  dieselbe.  Die  Eraiehung  dagegen 
i^t  nicht  nur  für  das  Leb«i  «chleebtbin  ge- 
meint, sondern  filr  ein  Leben  unter  ganz 
beriimaiten  Bedingungen,  als  Ersciehung  für 
«im  beHtimuiten  Beruf.  Dort  int  uns  ein 
>Qn  ideellen,  hier  ein  eniint-nt  pniktisclies 
Ziel  gesteckt;  dort  gilt  ca  Arbeit,  die  ihreu 


Zweck  in  sich  selbst  su  tragen  scheint,  hier 
Arbeii  «t  eiaem  a«Aer  ihr  licKeade«,  von 

Tonhercin  ausgeaprochenen  Zweck  Wn 
vereinigen  Hieb  diese  beides  Bewegung«- 
Linien?  .  .  Die  wiaeemchafllkbe  AAeit  ist, 
wenn  auch  nicht  die  alleinige  Triigerin,  so 
doch  die  Erzeugerin  aller  geiHtigen  Energie 
und  somit  die  Erzieherin  aller  derer,  die 
denken  und  han«lcln  eoUen,  BWg  es  ihnen 
sum  üewufstsein  kommen  oder  nicht '  .  .  . 

'Erbe  der  griechiKclim  Kultur  ist  ilie 
giune  gebildete  WeH,  Erbe  <ler  griechischen 
Wissenschaft  sind  unsere  Uiiivi  rnitAten  Sie 
bethätigen  ihre  Kiadscbail  dadurch,  dufs  sie 
eiieüerett}  denn  von  den  Griechen  haben  sie 
df'Ti  Hf'gritJ'  und  den  Betrieb,  die  .\iif^'ahen 
und  die  Metbodeu  der  Wissen^cbaft  nicht 
gelernt,  sondern  einfnch  in  der  Kontimiitllt 
der  .lahrhuntlerte  übernommen  Von  ihn»'n 
wissen  wir  es,  dafs  Denkarbeit  JUenHchen- 
pflicM  und  nicht  Kasten  pri  vi  leg  ist,  dafb  die 
Wissenschaft  keine  Orenzen  der  Staaten  uml 
Nationen  kennt,  dafs  sie  den  Menschen  be- 
glückt und  die  Völker  stark  macht,  dafs  sie 
eiae  Erziehung  fürs  Leben  bedeutet.  Die 
gewaltigen  Fortschritte,  die  über  die  «Jrieehen 
hiu;»us  die  Wissenschaft  gemacht  hat,  sind 
kein  (>r«nd  zur  rberhebnnf :  si*  haben  sich' 
mit  \nt weiiiliirki-it  fiiiiT  nun  dem  andren 
ergeben,  viele  Nationen  umi  tii>.t  y.wei  Jahr- 
tanaende   sind    danm   beteiligt..    An  den 

grnrscri'ii  ViTiliensten  der  tSrierlien  v.irt' 
Menschenwitz  nichts  kürzen:  ai»er  iltrer 
auch  nur  vei|i^Ren  wollen,  ist  unwisaen» 
schaftliili.  denn  eij  ist  Undank,  und  die 
Wisscnttchaft  i^t  eine  Zucht  xur  Dunkbar- 
keit,  weil  sie  uns  lehrt,  wie  wir  nichts 
wülVt.M,  wenn  uns  unsere  Vorgilnger  nicht 
belehrt  hätten.  Diesem  Undank,  wo  immer 
er  auftaucht,  noch  Krftften  zu  steuern,  ist 
.  in.-  Klirenptlicht  der  Universität,  der  Philo- 
logit>  aber  als  liist4>rischer  Wissenschaft  ist 
die  Aufgabe  zugefallen,  nicht  das  Uriechen- 
tum  zu  einem  fr<mtigi?n  Scheinleben  in  der 
modernen  Will  wit-derznerwerkfu,  sondern 
den  tieist  uiui  die  Ik'deutung  jener  Kullur- 
cpocbe  ohnegleichen  verstftndlich  und  leben- 
dig zu  marlini  '     .  . 

Traxls  otme  wi««cu«chaftli<iie  Grundlage 
ist  Handwerk,  Wissenschaft  aber  kann  xtt 
n  II  fruchtbarer  <  lilrlirsainlvrlt  hrr:il'siiiki-ti, 
wenn  sie  nicht  angehalten  wird  zu  einer 
im  realen  Leben  aidi  bewährenden  Thätig* 
keit.  Nicht  jedes  wisscnschafllichf  Li  riiPri 
steht  %u  seiner  praktischen  Verwendung 
im  gleichen  VerhiUtnis.  Das  Verhältnis  ist 
nirgend  ein  so  enges  und  durum  so  har- 
monisch einfaches  wie  beim  Lehrberuf.  Wir 
erziehen  die  Lehrer  zu  dmelben  Lebens- 


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376 


AnMigen  und  Hiiteilniigeii. 


thAtigkeit,  die  di«  nnvere  irt;  nicht  nur 

was  sie  Ifbrrn,  niiüiIiTti  aiirli  w-i>  nie  lehren 
sollen,  lerncu  »ic  bei  uu».  Die  Wirkung 
ab«r  ihrer  Lehre  «trOmt  anf  un«  snrflck: 
dem»  hie  i-r/iclicn  ilirii'iii;^i-n .  die  «lereiiiBl 
auf  der  UniverKitüt  unser  aller  Hcbüler 
werden.  Ana  diMem  bestiladiir  wieder- 
holten Knisluvif  erfjlcbt  sidi  von  «lelliRt 
die  ik'deutuug,  welche  die  richtige  Aus- 
bildung der  Lehrer,  inebeiondere  der  philo- 
lojjisehen  Lehrer  !i;it .  nii  lit  nur  für  Ilm n 
eigenen  %'enuitwortuag8KcUwcren,  aber,  wenn 
er  recht  yersfauiden  wird,  herrlichen  Beruf, 
londern  auch  für  dir  |,'e**an»te  l'niversit.'it  ' 

^Eb  spricht  zuiiücbai  noch  nicht«  dafür, 
dafs  S|iroche  und  Littemiur  der  Griechen 
und  llömer  auf  unwereu  (iyuinasieu  durch 
geeignetere  Lehrgegeustäude  erHct/.t  werden 
kannten.  Ihw  Bild  eines  aciaiin  müchti^en 
Volk«  und  eines  Hturkr'u  Staat«*,  «nner  von 
beiden  gemeinsam  ausgegangenen  und  durch 
keine  Mittel  m  Temichtenden  Kultur,  die 
Ltekanntxchaft  mit  Dichtern  un<l  SehritY- 
Mteliem,  diu  alle  Weltlitteratur  haben  be- 
einOttSsen  knnn<>n  und  die  in  Zeiten  littera* 
risdien  .SiechtuniK  innner  wieder  die  helfenile 
und  heilende  Uaud  biet+m  mufften,  weil  nich 
eben  in  ihnen  Innigkeit  de.«  Knipfindens 
und  Ti<  fr  (Ii  s  Nachdankena  mit  vollendeter 
PormenHchünbeit  zu  einer  wunderbaren  und 
nur  von  einem  einzigen  deutrtchen  Dichter 
erreichten  Harmonie  verbunden  haben;  dazu 
endlich  das  Erlernen  von  zwei  wohllüingen- 


den,  wort-  und  Ibnnenreiehen,  an  streng 

lojjri'-' bf"  (ifvift/e  jjebundene  Sprachen  — 
dm  Hind  Iiildungttmittt.-1 ,  die  den  Verstand 
ebenso  xu  reixen  wie  «n  sehftrfen  venn5gen 

und  dli'  viir  allnii  di  r  liiTanreifend'-n  Kii.ilit  ii- 
Bcelc  die  Ideale  der  Cirüfse,  Schönheit  und 
sittlichen  Kraft,  nach  denen  sie  hungert,  in 
Fiille  darbii  f •■ti.'  . 

'Wir  lehren  die  Witiaeuachaft  nicht  blof«, 
nm  Schflier  und  Mitarlieiter  am  gemetn- 
^.iim  ii  Wi  rk«'  ^-ii  i^cwiiini'ii ,  -"iidt  rii  am 
dem  Vatvrlunde  denkende  und  arbeitende, 
pflichttreue  und  selbständijire  HAnner  zu  er- 
ziehen, riisni'  .Tn^n'iid  soll  es  lernen  und 
an  sich  erfahren,  dalt>  Denken  Lebensbediirf- 
nis  vnd  Arbeit  Pflicht  istn  beides  zusammen 
aber  eiji  (ih'lck  bedeutet,  das  unverlierbar 
aber  alle  Not  und  Sorge  des  äufscreu  Lebeua 
emporhebt:  denn  es  ist  das  Bewufstsein,  nicht 
unisonnt  zu  leben.'  .  .  . 

'Das  Leben  ist  Arbeit,  die  ihren  Lohn  in 
sich  selbst  trftgt.  Es  ist  ein  wundervolles 
Diufj,  zu  «lenken,  wie  dan  kurze  Lelienswerk 
des  kleinen  Griechen vulka  eine  Segnung  ge- 
worden ist  fSr  Jahrtausende,  und  nicht 
minder  wundervoll,  «n  wissen,  dafa  die 
«clnv;iilie  Kraft  eine«  einzelnen  Menschen 
der  ^r'»rHen  Oe»amtheit  nützen  kann  und 
darf.  Auf  dieeen  Lohn  unserer  Arbeit  sind 
wir  alle  ntolz  und  keinen  andern  erwarten 
wir,  wenn  wir  bereit  «ind,  mit  allem,  was 
wir  haben  und  was  wir  können,  in  aller 
Freudigkeit  dem  Vaterlande  zu  dienen.' 


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JIHBGAKG  1898.  BB8TB  ABTEILUNa.  8BCB8TE8  ÜKD  SIEBSNTE8  HEFT. 


DIE  SIEGESGÖTTIN. 
Bntirarf  dw  Gksehichte  einer  antiken  Ideal^stah. 
Ton  Fbahs  BriimnoncA. 

Vorbemerkung. 

Einen  Vortrag,  dessen  Stoff  grCfsteateils  den  Fachgenoeaen  längst  vertraut  ist,  heraus- 
ngeben«  iMettmiiit  midi  die  von  üiteiMUiigeii  erweckte  HeArang,  d«b  er  ntnftdieb  den 
«eitonn  Kreise  von  Freiuden  der  Antike  manches  noch  nicht  genug  Bekannte  oiher 
bringen,  daneben  aber  auch  den  Kennern  des  Gegenstandes  durch  die  Yerknflpfung,  in 
die  hier  gel&ufige  Thataacheu  gebracht  sind,  wenigstens  Anregungen  su  erneuter  Früfung 
«iiMM  bedeatHHneD  Abeebnitte  der  elten  Kimat^ehiehte  l>ieteii  kflnute.  TJm  dieie  beiden 
Zwecke  besser  zu  erreichen,  habe  ich  das,  was  ich  wirklich  gesprochen,  etwas  umgestaltet 
and  erweitert .  auch  für  den  nachprüfenden  Leser  einirrp  Litteratumachweise  beij^cfügt, 
obwohl  diesem  Brauch  eine  wie  mir  scheint  falsche  Voruuümheit  jetzt  nicht  günstig  ist. 
Seldie  ABfBbrangen  »nf  des  ITofcwendigite  sa  beeduinken,  geeUttet  die  Amnabt  «af 
baldiges  Erscheinen  des  Artikels  'Nike'  in  Roschers  Lexikon  der  griechischen  and  rSmischoi 
Ifytbologie.  Seiu  Verfasser,  Heinrich  ßulle,  und  ich  haben  unsere  unabhänp^  von  einander 
entstandenen  Arbeiten  verglichen  und  wechselseitig  benützt,  ein  erfreulicher  Austausch,  der 
beiden  Teilen  Gewimi  bniebte.  liit  uns  werden  nneb  die  Leier  dem  Tenbneieehen  Teriag 
für  die  Fülle  der  Abbildungen  Dank  wissen.  Die  der  Bescheidenheit  ihrer  technischen  Aua- 
fühnintj  wenigstens  nach  der  herrschenden  Sitte  niebt  rr-cht  entsprechende  Anordnung 
auf  iai'eln  ist  nur  aus  Bücksicht  auf  mögUchRte  Klarheit  dos  Druckes  bevorzugt  worden, 
bndite  dann  aber  aoeh  den  Vorteil  ttbexiiehtlicher  Zwtammfiinfiiwing  von  <3rn|»|wn  mit 
«idit  wie  ihn  die  übliche  Zecebreming  der  Figuren  im  Teibe  niebt  erreieht  h&tte. 

Ilochanüehuliche  Versammlung! 

Diese  Stunde  mit  allgemeinen  Betrachtungen  Qber  mein  Lehrfach  auB- 
zufÜllen,  würde  ich  mich  nur  dann  befn^  erachten,  wenn  ich  darüber  wesent- 
lich Neues  sagen  können  glaubte.  Da  ick  das  nicht  vermag,  scheint  es  mir 
flbeiflflssig  an  einMik  Ortc^  wo  die  Wissmadinft  Ton  der  antiken  Kunst,  die  wir 
mit  dem  komTMitionellen  Namen  ^klaBBieehe  ArdhSologie*  beieidmeii,  dank  dem 
Wilsen  TOD  Ifinnem  irie  Otto  Jahn  und  Jokanne«  Orerbeck  l&ogit  daa  volle 
Bfligerraehi  erlangt  bat;  wo  ea  nnr  gelten  kann,  ihren  Betrieb  aeitgemäb 
weiterzubüden,  zwar  mit  voller  Wahrung  ihres  wurzelhaften  Zusammenhanges 
mit  dem  Studienbereiche  der  klassischen  Altertumskunde,  aber  nicht  weniger 
mit  dem  BewnfstRPtn,  dafs  die  Archäologie  innerhalb  dieses  Organismus  und 
des  gröfseren  einer  T'ntvorsitüt  nur  dann  das  ihrige  leisten  kann,  wenn  sie, 
gemäfs  ihrer  Zugehörigkeit  auch  zu  dem  Ghinzen  der  Kiinstwisseaschaft,  neben 
der  allgemeinen  philologisch -historischen  die  ikicm  btäuudcrn  Stoff  eigentüm- 
liche Betrachtungsweise  selbst&ndig  entwickelt. 

nstt»  f  «kiMsb«.  tm.  i  m 


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378 


F.  Bbufaaieikft:  Di«  f&tgnffittSM, 


So  ziehe  idk  es  denn  vor,  Ihnen  an  einem  bescheidenen  Einselthenw  zu 
zeigen,  wie  ieh  meines  Ämtee  tu  walten  beetrebt  bin^  mit  HiUiB  all  der  modennii 
fiilfinmittel,  deren  Verrolklindigang  an  nneerer  HochMhide  in  jfingater  Zeit  lo 
erfireolidie  Fortaekritte  gemadit  hai 

Bei  der  Wahl  eines  Gegmatandea  war  es  mir  gleichgtUtig,  ob  er  mir  Qe- 
legenheit  biete^  Ergebnisse  eigener  Forschung  mitnileilen.  Nur  darauf  kommi 
es  mir  an^  eine  recht  bezeichnende  Probe  unserer  jetaigen  Bestrebongm  sn 
geben:  Ihnen  zu  vergegenwärtigen,  welche  Menge  des  wertvollsten  nenea 
Stoffes  durch  die  pl,i?iTnärsigen  Ausgrabungen  der  letzten  Jahrzehnte  m- 
geführt  wordeuj  wie  diidurch  ein  Aufbau  immer  vollständigerer  Typenreihen 
ermöglicht  wird,  die  sich  nicht  blofs  äufserlich  in  den  Verlauf  der  GJeschichte 
einordnen,  sondern  da  und  dort  schon  eine  genetische  Eutwickelung  des  Kunai- 
schafifens  erkennen  und  begreifen  lassen;  eine  Entwicicelung,  die  zwar  selbst' 
veratiadlifili  von  den  allgemeinen  Faktoren  des  Enltarlebens  bedingt,  am  ent- 
aeheidendatMi  aber  doch  von  der  aohdpfieriaGben  That  dea  Binaelnen  Toiwiria 
getaieben  wird. 

Fset  jeder  soldie  Auasdmitt  aua  der  Geschichte  der  antiken  Kunst  wird 
TOn  selbst  zu  einem  Hymnus  auf  die  onTergängUche  GrÖlse  des  Hellenentonu. 
Nicht  als  ob  wir  noch  an  dem  frommen  Aberglauben  unseres  Winckelmaon 
festhalten  könnten,  der  in  jenem  ein  unübertreffliches  Muster  för  alle  Folgezeit 
erblickte.  Wohl  aber  im  Sinn  einer  gerechten  historischen  Würdigung,  weiche 
uns  immer  deutlicher  die  Griechen  als  die  er«tf  ii  Befreier  der  Menschheit  aoi 
dumpfer  Gebundenheit  bewundern  lehrt  und  damit  als  die  Führer  zu  aUeni 
Groi'seu  und  Qrüiseren,  was  nach  ihnen  gekommen  ist. 

Ein  Stoff,  der  solchen  Absichten  entspnohe,  war  am  besten  dort  sn  sndisn, 
wo  die  giieehiselie  Kunst  ihr  Bigenates  geleistet  bat:  auf  dem  Gebiete  der  Ueal- 
gestalten.  Es  ist  die  griediisdie  Siegesgöttin,  ans  deren  Gesdiiehte  ieh  Urnen 
daa  Wiehtig^te  enSUen  wiU. 

I 

W&hrend  die  meisten  anderen  Gottheiten,  bevor  sie  kfinstlerische  Ge- 
staltung fanden,  eine  lange  Vorgeschichte  in  Reli|^n,  Sage  nnd  Dichtong 
hinter  sich  hatten,  ist  sie  bei  Nike  rasch  erzählt. 

Das  Epos  gebraucht  zwar  den  Ausdruck  vix.i)  als  die  gewöhnlichste  Be- 
zeichnung des  Sieges;  die  Personilikation  aber  ist  ihm  fremd,  so  gut  wie  die 
der  Liebe.  Schwerlich  mit  Recht  püegt  mau  daraus  zu  schlielsen,  dais  sie 
damals  noch  nicht  geschalton  war.  Sie  wnnelt  wobl  Tielmehr  in  einer  der 
ältesten  Scbichten  des  Volksglaabens,  die  erst  nenüeh  Hemann  Usenera  Weck 
Uber  griecbisdke  Göttemamen  in  bellerea  Lieht  gesteUt  bat:  in  jener  EpodM^ 
da  jeder  Klasse  von  bedentsameren  Voxg^bigen,  nnprlinglieh  sogar  jedem  Snaelr 
Vorgang  sein  eigener  IMbnoo,  aein  Sonder-  oder  AngenbUcksgott  ankam,  dessen 
Name  irgendwie  aus  dem  entsprechenden  Begriffs  wort  gebildet  wurde.  Ein 
ganzes  Pantheon  solcher  Sondergötter  waren  clio  bekannten  Indigitamenta  der 
Römer,  Ton  denen  als  Beispiele  Abeona  nnd  Adeona»  die  Sehntagaiater  dea  Ab» 


F.  Studniczka:  Die  Siegesgöttin. 


379 


und  Zugangs,  genannt  seien.  Zu  dieser  Gattung  wird  mit  vielen  anderen  Per- 
sonifikationen der  griechischen  Götterwelt  auch  die  Siegesgöttin  gehören. 

Sie  taucht  denn  auch  zum  erstenmale  dort  auf,  wo  sich  der  dunkle  vor- 
geschichtliche Dümonismus  mit  dem  leuchtenden  Olymp  Homers  ausgleicht  und 
verschmilzt:  in  der  Theogonie  Hesiods.  Hier  wird  Nike  mit  einer  Geschwister- 
schar  verwandter  Wesen,  mit  Zelos  dem  Eifer,  Kratos  der  Macht  und  Bia  der 
Gewalt,  von  ihrer  Mutter  Styx,  der  düstem  Nymphe  des  Unterweltsflusses,  dem 
Zeus  zugeführt,  als  wertvolle  Bundesgenossin  im  Kampf  um  die  Weltherrschaft 
gegen  das  ältere  Göttergeschlecht  der  Titanen.  Diese  durchsichtige  Einkleidung 
des  Satzes,  dals  der  Sieg  den  Allherrscher  begleitet,  ist  —  wenn  wir  von 
ganz  unbedeutenden  Zügen  späterer  Uberlieferung  absehen  —  alles,  was  der 
Mythos  von  Nike  zu  berichten  hat. 

Aber  während  andere  Personifikationen  dieser  Art  des  Gedankens  Blasse 
niemals  überwanden,  ist  sie  mit  am  frühesten  in  der  Phantasie  und  Kunst  der 
Hellenen  zu  vollem  körperlichen  Dasein  gelangt,  gleich  ihrem  männlichen 
Doppelganger  Eros.  Nur  mit  dem  Unterschiede,  dafs  sich  dieser  Sondergott 
einer  gewaltigen  Naturkraft  frühzeitig,  wenn  auch  nur  an  wenigen  Orten,  zu 
einer  grofsen  Kultusgottheit  ausgewachsen  hatte,  Nike  dagegen  erst  spät  und 
m  sehr  beschränktem  Mafse  zu  solcher  Bedeutung  gekommen  ist,  aufser  wo 
sie  mit  einer  verwandten  Kultgöttin  verschmolzen  wurde,  wie  in  der  attischen 
Athena  Nike. 

Woher  also  hat  sie  ihre  wunderbare  Lebenskraft  geschöpft?  Die  Antwort 
giebt  uns  wieder  Hesiod  mit  einer  allegorischen  Dichtung.  Das  Menschen- 
leben beherrscht  Eris,  die  Göttin  des  Streites,  und  zwar  in  doppelter  Gestalt. 
Die  böse  Eris  reizt  zu  verderblichem  Zank  und  Krieg,  die  gute  aber  eifert,  an 
den  Wurzeln  der  Erde  sitzend,  selbst  den  trägen  Mann  an,  durch  Fleifs  und 
Tüchtigkeit  den  Wohlstand  des  Nachbars  zu  erreichen.  So  spricht  der  aber- 
gläubische böotische  Bauernpoet.  Aber  dasselbe  meint  schon  der  greise  home- 
rische Ritter,  wenn  er  den  Sohn  in  den  Krieg  entläfst  mit  der  Mahnung: 
'immer  der  Beste  zu  sein  und  sich  auszuzeichnen  vor  andern.' 

Dieser  Wetteifer  beherrscht  das  hellenische  Leben,  öflFentliches  und  privates, 
in  einem  Malse,  das  selbst  unsere  konkurrenzsüchtige  Zeit  nicht  erreicht 
hat.  Er  gestaltet  sich  auf  den  verschiedensten  Gebieten  zum  organisierten 
Wettkampf,  zum  Agon.  Nicht  nur  die  Hunderte  von  Kantonen  und  Städten 
messen  in  Krieg  und  Frieden  ihre  Kräfte.  Auch  die  friedlichen  Bürger  wett- 
eifern miteinander,  am  meisten  um  den  Preis  der  körperlichen  Kraft  und  Ge- 
wandtheit in  Gymnastik  und  Pferdesport  sowie  um  den  Vorzug  der  geistigen 
Leistungen,  namentlich  in  Dichtkunst  und  Musik.  Und  diese  mannigfachen 
Agone  erhalten  ihre  religiöse  Weihe,  indem  sie  zum  unentbehrlichen  Bestand- 
teile der  höchsten  Feste  werden,  die  man  Göttern  und  Verstorbenen  feiert. 
Der  Erfolg  aber  in  jedem  solchen  Wettstreit,  auch  im  allerfriodlichsten ,  wird 
als  Sieg,  als  Nike  bezeichnet.  Schon  Homer  spricht  von  Wxij  nicht  blofs  im 
ernsten  Wafl'engang  und  im  gymnastischen  Wettspiel,  nein,  auch  in  der  Rede- 
gewandtheit, der  Klugheit,  der  Schönheit. 


880 


F.  Stadnietka:  Die  SicffMgOttiii. 


* 


Und  für  jeden  Sieg  gebührt  der  Dank  den  ti<tttfni.  Bein  dauernder  Aus- 
drnck  ist  das  Weihgeschenk,  das,  im  Ueiligtuiu  aufgesttillt,  die  Gottheit  an  den 
frommen  Sinn  des  Stifters,  die  lieben  Mitbürger  und  Volksgenossen,  Freund 
und  Feind,  «n  winen  rfibmlkhen  Eifolg  erimiert.  Eloldien  Anathwnen  «ine 
sinnreiehe  Form  zu  geben,  ist  ouie  dor  ersten,  eine  der  wichtigsten  Aufgaben 
der  grieduBclien  Bildnerei.  Sebr  gebr&ndblicli  w«r  das  Bild  der  QoMiiMt  oder 
das  des  Stiftern.  Auch  Andeatongen  oder  Darstellungen  des  glücklichen  Ereig- 
nisaefl  werden  von  Anbeginn  Tersucht.  Aber  allzugrofse  Indiyidnalisienuig  liegt 
nicht  in  der  Art  der  alteren  griechischen  Kunst;  sie  liebt  es  vielmehr,  das 
Wesentliphe  in  allgemcintjültiger  Form,  in  einem  Typus  auszudrücken.  Da 
mufste  dorm  der  Sieg  nn  sieh  so  recht  ein  Gegenstand  imoh  ihrem  Herfen  sein. 
Ihn  befriedigend  zu  verkürperu,  hat  sie  sich  schon  mit  den  primitiven  Aus- 
drucksmittelu  ihrer  Kindheit  eifrig  bestrebt 

n 

Das  Gesdiledit  der  Nikegestalt  war  dnrch  die  Sprache  von  Toniheretn 
gegeben.  Es  ist  einer  Ton  den  anmutigen  Zufallen,  die  eich  wie  eine  Tor- 
bedachte  FQgung  ausnehmen,  dafs,  was  der  Mann  mit  allen  Krilfben  eretrd^t«, 

die  Gestalt  eines  Weibes  eribielt.  Auch  Attribute,  mit  denen  Art  und  Wirken 
der  Götter  äuTserlich  gekennzeichnet  wurde,  lagen  bereit  in  den  Ehrenzeichen 
der  Siegor:  Biindern,  Zweigen,  Kränzen.  Aber  solche  konnten  nicht  sinsreichen, 
um  Nike  von  anderen  weiblichen  Wesen  des  Himmels  und  der  Erde  zu  sondern; 
die  Gestillt  .selbst  mulste  die  Eigenart  der  Siegesgöttin  ausdrücken  als  der 
windschnellen  Botin,  welche  in  dem  einen  entscheidenden  Augenblick  die  herr- 
liche Gabe  von  den  Olympiern  herabbringt.  Gelang  dies,  dann  mochte  man 
sogar  auf  Attribute  Tersiditen. 

Verwandte  Wesen  standen  sc&on  vor  den  Augen  der  bomenschen  Dichter; 
so  die  Gfötterbotin  Iris  und  die  rasdi  ereilenden  TodeadSmonen,  Keren  und 
Harpyien.  Die  ihnen  eigene  übematürlidie  Geschwindigkeit  anschaulich  zn 
machen,  hatte  die  griechisohe  Kunst  ein  Hauptmittel  von  der  des  Orients  ent- 
lehnt: die  Anfügung  von  zwei  oder  auch  vier  mächtigen  Vogelflügeln  an  den 
Rücken,  Es  zeugt  von  gesundem  Instinkt,  dafs  sie  zn  dieser  semitischen') 
T»fei  I  (Fig.  l),  nicht  zur  iigyptischen  Anordnung  gegrifl'en  hat,  welche  die  Flügel 
mehr  oder  minder  eng  mit  den  Armen  verbindet*)  (Fig.  2),  Denn  diese  geht 
zwar  aus  richtiger  naturwissenschaftlicher  Erkenntnis  der  Identität  beider  Organe 
hervor,  aber  sie  fesselt  die  Motschengestalt  an  ihren  wichtigsten  Aktionswerk- 
aengen,  ein  nutsloeee  Opünr,  da  es  doch  nicht  ausreichen  kaim,  dem  kritisdiea 
Verstände  die  HSgliehkeit  solcher  Wesen  au&nbinden,  der  gläubigen  Fhaii- 
tauic  aber  ein  bischen  mehr  oder  woniger  von  empirischer  ünml^lichkeit  gar 
nichts  Terschlägt.  Dieses  orientalische  Sjmbol  gebrauchte  der  griecbiacbe 
Archaismus  mit  besonderer  Vorliebe,  auch  bei  €N)ttheiten,  welche  die  Itlaesische 


>)  Das  Beispiel  Fig.  1  nach  Perrot,  Mist,  de  l'art  Ii  8.  603. 

*)  Die  Abbilduiig  nach  Wilkinson^  Mannera  and  cnstoms  III'  8.  107. 


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P.  Studniczka:  Die  SiegeagStiin. 


881 


Zeit  nur  flügellos  kennt.  So  bei  der  schnellen  Jagd-  und  Todesgöttin  Artemis, 
wofür  ein  Bronzerelief  aus  Olympia  das  beste  Beispiel  ist*)  (Fig.  3).  An  ihm 
wie  an  den  später  zu  besprechenden  Vasenmalereien  (Fig.  5,  6)  sieht  man 
auch  die  von  nordsyrischen  Vorbildern  angeregte,  aber  erst  bei  den  Griechen 
ausgebildete  Gestaltung  der  Flügel*):  sie  wachsen  aus  der  Rückenflächo  wag- 
recht heraus,  um  dann  nach  oben  und  innen  hakenförmig  umzubiegen,  eine 
zwar  naturwidrige,  aber  dekorativ  wirksame  Linie. 

Dieses  vom  Orient  übernommene  äufserliche  Symbol,  'die  Hieroglyphe  der 
Schnelligkeit',  wie  Zoega  gesagt  hat'),  genügte  aber  auf  die  Dauer  der  lebendigen 
Anschauung  des  Hellenen  nicht;  er  wollte  auch  den  Zweck  der  Flügel,  die 
rasche  Bewegung  durch  die  Luft,  anschaulich  machen,  was  einem  Orientalen 
niemals  in  den  Sinn  gekommen  ist.*) 

Wie  war  das  zu  machen?  Wir  haben  heute  leicht  sagen:  man  muüste 
eben  den  fliegenden  Menschen  nach  Analogie  des  fliegenden  Vogels  darstellen, 
nachdem  die  Griechen  uns  das  gelehrt  haben.  Aber  wie  langsam  und  mühsam 
haben  sie  selbst  es  gelernt. 

Da  der  vom  Orient  übernommene  beflügelte  Mensch  offenbar  mehr  Mensch 
als  Vogel  war  und  seine  Flügel  nicht  zu  gebrauchen  wufste,  stellte  man  sich 
seine  Bewegung  durch  die  Luft  zunächst  auch  nur  als  menschliches  Gehen, 
Laufen  und  Springen  vor.  So  schildert  die  Uias  und  noch  der  Hymnos  auf 
Demeter  die  Iris,  Tyrtaios  den  Boreas,  Alkman  den  Eros.*)  Die  Bildneroi 
konnte,  um  einigermafsen  überzeugend  zu  wirken,  nur  die  raschesten  von  diesen 
Bewegungen  gebrauchen;  denn  'Geschwindigkeit  ist  die  Seele  des  Fluges'.  Aber 
auch  aus  ihrem  Verlauf  einen  relativ  dauerhaften  'fruchtbaren  Moment'  heraus- 
zugreifen und  festzubannen,  ist  eine  Aufgabe,  deren  Lösung  erst  in  den  Zeiten 
der  Vollendung  ganz  gelingt.  Nach  einer  von  Ernst  Curtius  begründeten  An- 
schauung hätte  die  frühgriechische  Kunst  den  raschesten  Lauf  mittelst  einer 
Formel  ausgedruckt,  die  wir  nach  ihrer  Ähnlichkeit  mit  dem  llalbknien  das 
Enielaufschema  nennen.  Sie  entspricht  aber,  wie  die  Momentphotographic  ge- 
lehrt hat,  vielmehr  überraschend  genau  den  Körperhaltungen  vor  dem  Kul- 
minationspunkte des  einseitigen  Sprunges')  (Fig.  4),  die  immerhin  Dauer  genug 
haben,  um  auch  für  das  Auge  wahrnehmbar  zu  sein.  Ihre  Übertragung  auf 
laufende  Gestalten  hat  ihre  Berechtigung  darin,  dafs  solches  Springen  auch 
im  Laufe,  namentlich  auf  unebenem  Boden,  oft  Anwendung  findet.  W^erdeu 
aber  solche  Figuren  mit  den  Füfsen  auf  den  Boden  gesetzt,  dann  liegt  nur  eine 
Katachrese  vor,  abgesehen  natürlich  von  Fällen,  in  denen  das  jetzt  zu  sehr  bei 

')  Die  Abbildung  nach  Olympia,  die  ErgeboiBse  IV  Tf.  39. 
•)  Furtwingler  in  Roschers  Lexik,  d.  Mythol.  I  S.  1758. 
»)  ZoSga  im  Rhein.  Museum  VI  (1888)  S.  689. 
*)  Langbehn,  Flügelgeatalten  der  ältesten  griech.  Kunst  S.  39. 

•)  J.  H.  Voss,  Mythologische  Briefe  I  *  S.  144  f.  Kalkmann,  Jahrb.  d.  d.  arch.  Instit.  X 
(1895)  S.  67  f. 

*)  S.  Reinach,  Rev.  arch.  1887  I  S.  106  f.  ders.,  Chroniquea  d'Oriont  1883—1890  S.  331. 
Unsere  Fig.  4  nach  den  Momentbildem  des  Pbotographen  Ottomar  Anschütz  in  Berlin 
(früher  Lissa). 


382 


F.  StadnieKl»:  Dm  StegetgOtti». 


Seite  geschobene  wirkliche  Knien  oder  Niederducken  gemeint  isi  War  aber 
der  *KaieIanf  von  Haua  tau  das  Bild  der  einzigen  eriahrnngsmäGsigen  Hensehen- 
bevegnng  durch  die  hvSt,  dann  lag  seine  Überfcragang  anf  deren  fibfflrnatflrlielie 
Steigerung  zu  dauerndem  Luftlaiif  nodi  Tiei  nBlier.  Das  ftlteate  geaiciharie  Bei- 

apiel  hierfür  ist  der  mit  HiUfo  seiner  Flügelschuhe  vor  den  Gorgonen  (Fig»  6) 
anareüaende  Perseus,  den  genau  so,  wie  wir  auf  Yasen  (Fig.  6),  ein  Homeride 
etwa  in  dnr  zweiten  TTalfte  des  siebenten  Jahrhunderts  auf  dem  Schilde  des 
Herakles  sali,  mit  einem  fassungslosen  Staunen  über  solch  ein  Wunder  der 
Kunst,  das  nur  einer  neuen  Schöpfung  gegenüber  reelit  begreiflich  ist.*) 

Dies  war  das  gegebene  Schema,  um  auch  das  Wesen  der  Siegesgöttin  an- 
schaulich zu  machen.  Zwar  in  der  alten  Fl&chendekoration  hat  sie  sich  bisher, 
wohl  nnr  anfällig^  nicht  mit  Oewilaheit  nadiweiaen  lassen.  Aber  dalllr  haben 
wir  ana  neueren  Funden  und  ihrer  sduurfeinnigen  Deutung  duroh  mdnen 
lieben  Lehrer  Engen  Petersen  nicht  ohne  Überraaehnng  gelernt,  dab  und  wie, 
unserer  Oöttin  zu  Liebe,  der  Jugendmut  jener  Zeit  sic^h  erktthnt  hat,  das 
malerische  Motiv  in  die  ßnndpkiatik  an  ttbersetaen.') 

ni 

Nach  einer  in  die  Aristophanesscholien  versprengten  Notiz  pergamenischer 
Forscher  war  die  älteste  geflügelte  Nike  das  Werk  eines  der  frühesten  Marmor- 
hildhaner,  des  Chiers  Archermos.  Von  den  beiden  Orten,  an  denen  man  Arbeiten 
dieses  Heisters  kannte,  Leaboa  und  Delos,  liegt  dieser  alüieilige  Festort  des 
ionischen  Stammes  hier  entsdiieden  am  nBebsten.  Und  dort  ist  denn  auch, 
nadi  Tcrbreiteter  Übenengong,  des  Archermos  Nike  im  Jahre  1879  Ton  den 
Franzosen  wiedergefunden  worden,  in  einer  etwas  weniger  als  lebensgrofsen, 
««tein  stark  besdbädigten  Marmorfigur')  (Fig.  7,  wo  die  am  Gips  angebrachten  Er- 
gänzungen durch  helleren  Ton  kenntlich  sind).  £s  ist  eine  Gnmdfrage  f&r 
uns,  ob  diese  Kombination  zu  Recht  besteht. 

Sie  schien  urkundlich  gesichert,  so  lange  man  glauben  könnt«,  dais  die 
Figur  anf  einer  in  der  Nähe  gefundenen  fragmentierten  Basisplatte  gestanden 
habe^  deren  leider  sehr  verstümmelte  Inschrift  von  drei  Hexametern  den  Namen 
jenea  alten  Meuters  enthÜi  Diese  Annahme  haben  jedoch  geaane  Unter- 
soehungen  als  unm(%lieh  erwiesen*),  was  mir  ein  eigener,  mit  dem  besten 

>)  Schild  c1  TToralvl  215  (f.,  v^M.  twMyA  Spr+a  Harteliana.  Wien  1898,  S.  74.  Un8*'re 
Gorgo  Fig.  6  von  der  Fran9oi8va8e  nach  Wiener  Vorlegebl.  1888  Tf.  4,  der  Peneus  Fig.  6 
von  der  Sohflnel  am  Aigin»  (Berlin  Nr.  1683}  nach  Arcb.  Ztg.  XL  (1882)  TT.  9.  —  Über  den 
'Koielaiir  hat  ohne  Kenntnii  der  Beinaohadien  Beobaehtong  IMkmuB  a.  a.  0.  (t.  8.  Ml 
Anm.  6)  gehandelt.  Vgl.  G.  Kf5rte,  Jabrb.  d  d  arrh.  Inst  XI  fl896^  S  12  und  etwat  WM" 
fÜhrlicher  in  meinem  dernnftchst  erscheinenden  Aafgatze  über  Mjrons  Ladas. 

>)  Petenen,  lütt  d.  d.  ueh.  loat  XI  (1886)  S.  37S  ff. 

■)  Kavraffias,  Fimnit  coS  <9w«oS  fiowirt/o«  I  Hr.  91.  CoUignon,  Hiit.  d.  1.  seolpt.  gr.  I 

8.  1S4  ff 

*)  B.  Sauer,  Mitt.  d.  d,  arch.  Inst.  XVI  (1891)  S.  182  ff.  Treu,  Verhandl.  d,  42  Philo- 
logenven.  in  Wien  IWS  8.  M4  Ton  den  poritivea  Aatwortea  Inf  die  Frage,  was  deaa 
nirUieh  auf  der  Bani  gestanden  haben  kOnne,  aidieini  mir  die  Sanenehe  wabiaehei^lioher. 


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F.  Rtudniczlta:  Dio  RicgCBfftJttin. 


383 


Willen  unternommener  Versuch,  beide  Teile  im  Abgufs  durch  Er^nzung  des 
Fehlenden  zu  vereinigen,  nur  bestätigte.  Die  Plinthenform,  wie  sie  an  der 
Statue  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  zu  er^^nzen  ist,  pafst  nicht  zu  dem 
erhaltenen  Teile  der  Plinthenbettung  auf  der  Basis,  und  diese  Bettung  lag 
wesentlich  in  der  linken  Hälfte,  statt  der  Figur  entsprechend  in  der  Mitte  der 
Standfläche  (vgl.  Fig.  7). 

Die  Unzugehörigkeit  der  aufgefundenen  Kflnstlerinschrift  schlösse  aber  die 
Gleichsetzung  des  Bildwerkes  mit  der  Nike  des  Archermos  nur  in  dem  Falle 
aus,  dafs  jene  notwendig  auf  das  einzige  litterarisch  bekannte  Werk  des  Meisters 
bezogen  werden  müfste.  Aber  dies  ist  nicht  blofs  unsicher,  sogar  recht  un- 
glaublich. Die  erhaltenen  Teile  der  Urkunde  geben  über  die  Art  des  Weih- 
geschenks, zu  dem  sie  gehörte,  keinerlei  Auskunft.  Eine  sichere  Ergänzung 
des  Fehlenden  aber  ist  schwerlich  zu  finden,  bisher  jedesfalls  nicht  gefunden. 
Fast  alle  veröffentlichten  Herstellungsversuche  rechnen  nämlich  mit  einem 
Schwanken  in  der  Beobachtung  der  Schriftregel,  den  Lautwert  der  Zeichen  O 
und  Sl  zu  vertauschen,  für  das  weder  die  wirklich  sicher  lesbaren  Teile  dieser 
Inschrift,  noch  andere  in  demselben  Alphabet  aufgezeichnete  Texte  irgend  einen 
Anhalt  geben.') 

Fest  steht  nur  das  eine,  dafs  die  besprochene  Form  der  Basis  zu  keiner 
archaischen  Nike  pafst:  denn  eine  solche  kann  nicht  wesentlich  anders  aus- 
gesehen haben,  als  die  eben  nicht  zugehörige  delische  Statue.  Und  damit 
lenken  wir  schon  in  die  positive  Begründung  der  fraglichen  Kombination  ein. 

Die  Figur,  nach  ihrem  Stile  gewifs  in  der  Zeit  des  Archermos  entstanden, 
tritt  an  die  Spitze  einer  langen  Reihe  von  gleichartigen  Gestalten  aus  Marmor, 
Thon  und  Bronze*),  deren  gemeinsamer  Typus  sich  uns  als  lebenskräftiger  Keim 


')  In  Z.  1  ist  %al&v  ebenso  mOf^^üch  wie  xa2(^,  Z.  S  nach  den  Buchstabenresten 
lit[Yäl]a>s  sogar  viel  wahrscheinlicher  wie  MÜavof.  Die  Litieratur  bei  Hofifinann,  Sylloge 
epigr.  gr.  Nr.  289.  Wahrend  der  Korrektur  bemerke  ich,  dafs  mir  der  Aufsatz  von 
E.  Oardner,  Classic.  Review  VII  (1893)  S.  140  f.  entgangen  war,  der  im  Negativen  mit 
obiger  Darlegung  Obereinstinunt  und  zwei  wenigstens  paläographisch  mögliche  Ergänzungs- 
vorschl&ge  aufstellt,  von  denen  aber  keiner  beansprucht,  als  endgültige  Lösung  zu  gelten. 

')  Mir  sind  folgende  Exemplare  erinnerlich:  Marmorstatuen:  Deloa:  I  Nike  des 
Archermos.  —  II  gröfseres  und  freieres  Exemplar,  beschrieben  von  Furtwängler  Arch. 
Ztg.  XL  (1882)  S.  324.  —  Delphi:  HI  reifarchaisch,  abgcb.  Qaz.  d.  bcaux-arts  II  (1894)  S.  449, 
mit  Kopf  bei  S.  Reinach,  Rupert,  d.  1.  stat.  Or.  II  1  S.  390,  7  (ein  Buch,  das  mir  zu  spät 
zukam,  um  ausgenützt  werden  zu  können),  wohl  identisch  mit  der  Figur,  die  HomoUe,  Bull, 
de  corr.  hell.  XX  (1896)  S.  652  f.  als  Akroter  für  den  ApoUontempcl  in  Anspruch  nimmt.  — 
Akropolis  von  Athen  (chronologisch  geordnet):  lY  Mitt  d.  arch.  Inst.  Athen  XI  (1886) 
Tf.  11  B.  —  V.  VI  abgeb.  bei  Sophulis,  'EtfmifQ.  &gxaiol  1888  S.  89  ff.  und  V  hier  Fig.  8.  — 
Vn  (?)  8.  Reinach,  a.  a.  0.  8.  890,  6  (nach  Pavlovskis  russischem  Werke  'Die  att.  Plastik 
vor  den  Perserkriegen'  Fig.  62).  —  VIH  Statuette  erwfthnt  Mitt.  a.  a.  0.  S.  384  Anm.  1,  wo 
Petersen  m.  E.  mit  Unrecht  an  der  Zugehörigkeit  zu  unserem  Typus  zweifelt.  —  IX  Mitt. 
a.  a.  0.  Tf.  11  C,  hier  Fig.  10.  —  X— XII  drei  'Gewandfüfse',  Mitt.  XVI  (1891)  S.  183  f.,  von 
Sauer  D  —  F  genannt.  Ist  es  ausgeschlossen,  dafs  diese  Stücke  zu  den  unten  unvollständigen 
Statuetten  V— Vm  gehören?  —  Terrakotta:  Olympia,  die  Ergebnisse  m  Tf.  8,  3,  Text  Ol 
8.  40,  nach  anderen  von  Treu  als  Akroter,  wie  es  Vasen  darstellen,  erklärt.  —  Bronze- 


384 


F.  Stndni«sln:  Die  Siegesgöttin. 


des  klassischen  Nikebildes  erweisen  wird.  Hiermit  ist  ja  freilich  seine  Verwendung 
auch  für  andere  Wesen  in  der  mit  wenigem  haushaltenden  archaischen  Kunst 
nicht  ausgeschlossen.  Aber  wer  soll  darin  so  häufig  dargestellt  worden  sein? 
Gewiis  nicht  Artemis \),  (knn  sie  jagt  auf  der  Erde,  nicht  durch  die  Luft,  und 
kann  dabei  umuöglieh  ihr  8ehiei'sgerät  entbehien.  Iris  wiederum  tspieli  in  der 
Ennit  eine  gar  zu  geringe  RoUe  und  ftthrt  meistoiB  den  Heroldisteb.  üiuere 
Froren  aber  entisehrlen,  nach  den  erlialtenen  Hlnden  sn  scbliefBen,  so  gut  wie 
■amtlidi  der  Attribiite')^  ein  deutliehee  Zeichen,  dafe  ihre  nonnale  Bedeutung 
allein  durch  das  eigenartige  Bewegungsmotiv  verständlicb  aueg^drfickt  war; 
auch  dies  in  Obereinstimmung  mit  der  Xil^o  des  Paionios.  An  den  alten  Feet- 
und  Spielorten,  wo  sie  gefunden  sind,  Delos,  Delphi,  Olympia  und  der  Akro- 
polis  von  Athen,  war  fQr  Weihebilder  der  Siegesgöttin  damals  schon  ebenso 
vielfältiger  Änlafs  wie  später.  Denn  dais  ihie  ursprüngliche  Bedeutung  auf 
irgend  eine  besondere  Art  des  Sieges,  etwa  blofs  auf  den  dureh  Körperhraft 
gewonnenen,  beschränkt  gewesen  sei,  ist  luil  Unrecht  behauptet  worden,  im 
Widerq^c^  au  dem  Mher  erwihnten,  ganz  allgemeinMi  Oebranahe  dea 
Wortes,  das  in  Nike  Henediengeitalt  empfangen  hat  Und  die  andere  Yei^ 
Wendung,  weldhe  Dantellungen  von  Bauwerloen  auf  Vasen  beaeugen  und  aueh 
für  ein  oder  das  andere  erhaltene  Exemplar,  am  meist«i  ffir  die  olympische 
Terrakotte,  wahrscheinlich  machen,  trifft  wieder  zusammen  mit  der  Sitte  der 
Blütezeit,  diese  Begleiterin  und  Dienerin  der  grolsen  Qdtter  als  Firstschmuck 
auf  ihre  Tempel  zu  setzen. 

Die  Typenge^chichte  also  spricht  ganz  entschieden  für  die  Identität  otler 
wenigstens  die  engste  Verwandtschaft  der  Statue  von  Delos  mit  der  Nike  des 
Archermos.  Und  dem  ist,  nach  unserem  bisherigen  Wissen,  auch  iki-  besonderer 
StOehaxakter  nicht  en^egen.  Zwar  findm  sich  unleugbare  Beaidiungen  nt  den 
Werken  der  kretisch-peloponnesiBdmi  DaidaUdenj  so  gleicht  die  Faltoibehand- 
lung  und  Geaiehtsbildung  in  weseniliehen  Zflgen  den  Überresten  des  Bersr 
kolosses  in  Olympia,  den  unter  anderem  seine  am  linken  Ohr  noch  kenntliche 
Haartracht  den  kretischen  Statuen  von  Eleuthexna  und  Tegea  ganz  nahe  rückt.') 
Aber  diese  Daidalidenkunst  war  die  gemeinsame  Mutter  der  peloponnesischen 
wie  der  ionischen  Schulen,  und  die  Bichtung  der  letztgenannten  auf  reichere 


figürchen:  Akropciia:  I— IX,  alle  abgeb.  bei  de  Bidder,  Catal  d  hronz.  aat.  s.  l'acrop. 
d*At1i.  Nr.  809.  806—808.  810—814  (nur  di«  tieh«r  nun  Typus  gebürigen  Stfleke  «ittd  an- 
geführt v  I.oruhn:  XI  erwähnt  Mitt.  a.  a.  0.  1886  S.  873. —  Paris,  Louvre:  XII  abgeb.  Col- 
lection  Eu^^  I'iut  i>-i>o  Nr.  41  und  S.  Beinscb  ft.  a.  0.  S.»99^b.  — KoHmihe:  XII  Schomachar, 
Bescbr.  d.  ant.  Bronzen  Nr.  930. 

')  Die  froher  der  bidei^er  Bmaotte  mid  neoUdi  noeb  Robert  etkeaasa  «dlte,  Hemsi 
XXV  (1800)  S.  449.  An  Im  daebten  Bmi»,  IL  Hayer,  Boacbtts  Lenken  d.  MyVboL  U 

8.  368  und  andere. 

')  Nur  bei  der  Broozefigur  XI  der  Liste  ä.  3BS  Aam.  2  seigt  die  Photographie  ein  Loch 
in  d«r  eihobenea  r.  Hand. 

•)  Olympia,  du-  Ergt'buisg«'  IH  Tf.  1,  Text  III  S.  4,  wo  die  Faltesstacko  mifsvcrBtaiidea 
sind.  Die  kretischen  Werke:  Löwy,  Rcndiconti  d.  accad.  d.  Lincci  VTT  (1891)  S.  602,  besser 
B^rard,  BuU.  de  corr.  heU.  XIV  (1890)  Tf.  11  und  Joobin,  Eeyue  arch^oL  XXI  (1898)  Tl  U. 


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F.  Studniczka:  Die  Siegesgöttin. 


385 


und  frischere  Auffassung  der  Einzelformen,  wie  sie  sich  am  reifsten  in  den 
Werken  ausprägt ,  welche  die  Kunstweiae  von  Archermos'  Söhnen  veranschau- 
hchen  dürften,  kündigt  sich  in  der  delischen  Nike  schon  vernehmlich  an.*) 

Nach  alledem  ist  sie  entweder  das  Werk  des  alten  Meisters  selbst  oder  — 
seine  Doppelgüngerin,  eine  Möglichkeit,  die  in  unserem  Znsammenhang  unbedenk- 
Üch  bei  Seite  gelassen  werden  darf. 

Diese  kritischen  Vorbemerkungen,  deren  Ausführlichkeit  die  fundamentale 
Bedeutung  der  Frage  entschuldigen  mag,  vorausgeschickt,  wenden  wir  uns  end- 
lich der  genaueren  Betrachtung  des  Kunstwerks  zu,  wie  es  Fig.  7  mit  Hilfe  T»f«i  u 
besser  erhaltener  Exemplare  der  Reihe  (z.  B.  Fig.  9  10)  im  Gipsabgufs 
wiederhergestellt  zeigt.*)  An  Stelle  des  nur  aus  technischer  Bequemlichkeit 
gewählten  Pfeilers  sollte  wohl  eine  Säule  (mit  ionischem  Kapitell)  als  Basis 
dienen,  dercngleichen  Archermos  auf  der  Burg  von  Athen  verwendet  hat.') 
Hinzuzudenken  ist  noch  die  lebhafte  Bemalung  aller  archaischen  Marmor- 
skulptur, von  der  sich  noch  Spuren  erhalten  haben.*) 

Ich  weifs,  es  ist  keine  Schönheit,  diese  älteste  Nike,  so  grofse  Mühe 
sie  sich  auch  giebt,  ihrem  glückbringenden  Amte  gemäfs  'recht  freundlich' 
dreinzuschauen,  so  zierlich  sie  sich  frisiert,  mit  Diadem  und  Collier  heraus- 
geputzt hat.  Ungeschickt  hampeln  Arme  und  Beine  durch  die  Luft.  In  dem 
alten  Sprungmotiv  eilt  sie  am  Beschauer  vorbei,  statt  auf  ihn  zuzukommen; 
nur  der  Rumpf  und  Kopf  sind  unvermittelt  nach  vorn  gedreht,  der  letztere 
mit  einer  leisen  und  doch  belebenden  Wendung  im  Sinne  der  Bewegung.  Aber 
sobald  wir  das  Werk  im  Rahmen  der  sonstigen  Rundplastik  seiner  Zeit  be- 
trachten und  es  mit  ihren  richtigen  Bildsäulen  vergleichen,  die  noch  starrer 
dastehen,  als  die  Artemis  in  dem  früher  herangezogenen  Relief  (Taf.  1  3),  dann 
erscheint  es  als  eine  Leistung  von  bewundernswerter  Kühnheit  des  Gedankens 
wie  der  Technik.  Ein  stark  bewegtes  Motiv,  das  an  die  Flächenkunst  ge- 
bunden scheint,  weil  es  eine  wie  immer  primitive  Darstellung  des  die  Gestalt 
vom  Boden  trennenden  Raumes  erfordert,  steht  in  leibhafter  Körperlichkeit  vor 
uns.  Die  Füfse  berühren  den  Boden  nicht,  die  Göttin  schwingt  sich  wirklich 
durch  die  Luft,  deren  Widerstand  das  Kleid  bis  ans  Knie  hinauftreibt.  Nur 
das  Gewand  stellte,  zwischen  den  Beinen  herabhangend,  den  materiellen  Zu- 
sammenhang mit  der  Plinthe  her. 

Diese  Lösung  eines  anscheinend  unlösbaren  Problems  ist  umaiv,  gewifs; 

')  Winter,  Mitt,  d.  d.  arch.  Inst.  Athen  XHI  (1888)  S.  123  ff.  gegen  Brunn;  vgl.  jetzt 
des  letzteren  Gr.  Konstgesch.  II  S.  90  ff. 

*)  Die  Ergänzungsstilckc  des  oberen  Teils  sind  aus  der  Werkstatt  des  Albertinums  in 
Dresden  (Treu,  oben  S.  382  .\nm  4  ),  die  des  unteren  von  dem  Gipsformer  des  Archäologischen 
Institut«  der  Universität  Leipzig  geformt.  Die  Schuhe  statt  der  von  Treu  angenommenen 
blofsen  Füfse  werden  durch  den  am  rechten  Fufs  erhaltenen  Flügel  nach  der  Analogie  der 
Kleinbronzen  sowie  anderer  archaischer  Werke  gefordert. 

')  'EtftiUfQ.  iQxaiol.  1886  S.  134  und  1888  S.  74;  Corpus  inscr.  Attic.  IV  S.  181,  vgl. 
Petersen  (oben  S.  38*2  Anm.  2)  8.  389.  —  Zur  Form  unseres  Pfeilers  vgl.  Jahrb.  d.  d.  arch. 
Inst,  m  (1888)  S.  271  f.  (Bomnann). 

«)  B.  Oräf,  Mitt.  d.  d.  arch.  Inst.  Athen  XIV  (1889)  S.  319. 


886 


F.  Stadniosl»:  Die  SMgMgOttiii. 


aber  es  Ut  dieselbe  geniale  Nairelfti,  mit  der  Ootombui  das  Si  mni  Strien 
Imehte.  Sie  bai  da  onbewiiAi  ein  Samenkocn  gepflsu^  aus  dem  dAreinai  die 
httriidiste  Fmeht  erwaehsm  sollte. 

IV 

Welchen  Beifall  die  Erfindung  den  Archermos  bei  den  Zeitgenossen  und 
den  folgenden  Geschlechiern  geerntet  hatf  zeigt  die  lauge,  etwa  ein  Jahrhundert 
ausfüllende  Beihe  der  bereits  angeführten  Wiedorholongen  des  Typus.  An  ihr 
UefiM  flieh  treinioh  naehweisen,  wie  der  grieohisoihe  Arduusmoa  zwar  daa  £r- 
worbMie  festhilt,  gleieh  d«r  orientaliseheii  Knust,  vie  er  aber,  von  ihr  aehr 
verschieden,  in  gedald%er,  nnermfldlidiflar  Arbeit  daraa  wiitersdiafft,  so  dbla 
die  Wiederholung  kein  Erstarren,  nur  stetigen  Fortsehritt  bedeutet.  Ich  mnfii 
mich  hier  mit  drei  Beispielen  begnügen, 
vnfii  n  Ein  kleiner  Marmortorso  der  Äkropolis^")  (Fig.  8),  den  Söhnen  des  Archermos 
untTpfnhr  gleichzeitig,  zeigt  die  Gewanrhing  nicht  allein  zu  reicherem,  wenn  auch 
noch  schematischem  Qefalt  eutwicktlt,  sondern  in  ganz  anderem  Mafae  wie 
von  Archermos  für  den  Ausdruck  der  stürmiseheu  Bewegung  verwertet.  Die 
linke  ELand  packte  vor  dem  ScboCa,  wo  sie  einen  Bruch  hinterlassen,  den  Peplo% 
ond  von  der  entspredienden  Sohnlter  herabhängend  weht  s«n  Übersddag  hefüg 
sorliek,  ein  rakanftreicher  Gedanke  des  begabten  Metsters,  der  aoeh  das  offiene 
Hsar  nach  l^iften  rar  Seite  flattern  Iftlit 

In  diesem  Punkte  viel  zahmer,  anch  die  eckige  Harte  der  Bewegungen 
mildemd,  Territ  eines  von  den  danmenhohen  Aronnefigürchen')  (Fig.  d)  einen 
anderen  bedeutungsvollen  Fortachritt  der  Auffassung.  Dif  leblose,  wagrechte 
Haltung  der  Flügel  ist  einer  erhobenen  fjewichen:  die  Kunat  fängt  an,  sich  be- 
wiifst  zu  werden,  daSa  Schwingen  geschwungen  werden  müssen,  wenn  man 
fliegen  will. 

Im  weiteren  Verlaufe  dieses  Lebendigwerdens  der  Flügel  ei^b  sich  daa 
BedBxflnis  nach  ein«r  Veranseliaiiliehmig  ihrer  Qelenke;  an  die  Btelle  des  ans 
der  H&dienkunst  ttbemomm«ieii  FestUeb«is  am  Rltckea  tritt  ein  fireiea  HcvanS" 
springea  ans  der  Schnlterbkttgegend.  So  ist  das  leblose  orientaUsehe  Symbol 
som  bewegUohen  Oi^an  geworden.  Zugleich  weicht  anch  die  archaische  Haken- 
Ibrm  ganz  einer  natürlichem  Bildung.  Dafs  man  sich  im  übrigen  aneh  jetat 
um  Anatomie  und  Physiologie  der  geflügelten  Menschengestalt  sowie  um  den 
Schnitt  ihrer  Kleider  keine  Sorgen  machte,  kann  uns  nur  nh  ein  neues  Zeichen 
gesunden  künstlerischen  Sinnes  gelton,  der  daa.  was  im  Glauben  lebt,  ohne  viel 
Grübelns  als  wirklich  hinnimmt.  Auf  diesem  Standpunkt  ist  die  jüngste  und  form- 
ToUendetste  von  den  archaischen  Marmorniken  der  Akropolis'),  etwa  aus  der 
Zeit  der  Perserkriege,  angelangt  (Fig.  10).  Ihre  nur  in  Bmehstttoken  erhaltenen 

*)  Nr.  V  dor  Liste  oben  S.  883  Anm.  2;  vgl.  den  Text  von  Sophulis. 

*)  Xr  HÖH  bei  de  Riddcr,  vgl.  oben  8.  888  f.  Anm.  S;  die  Abbüdnag  naoh  Mitt.  d.  d. 
weh.  Inst.  Athen  XI  (1886)  Tf.  11  c. 

*)  Oben  8.  988  Anu.  S  Nr.  IX,  die  Abbildung  nach  der  Taftl  Fetenent,  aw  die  beUen 
Teile,  wie  notwendig,  botHkhÜiek  weiter  anseineadeigerildct. 


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F.  Stndnciltt:  Die  «egMgOttiit. 


887 


bunten  Schwingen  waren  in  den  RQckeu  eingezapft,  und  zwar  gesenkt,  nicht 
gehoben,  wie  bei  der  Bronze.  Die  Rechte  grifl"  wieder  vor  «lern  Schofs  ins 
Gewand.  Der  Kopf  trat  hier  endlich  aus  der  alten  starren  Yorderaiuiicht 
lianiM,  fireilidi  nicht  «ben  mmgenriU^  nach  Ausgangspunkte  der  Be- 
wegung hingewandt  Dm  arehusehe  SprnngBcihenia  iit  hier  noch  weiter  sa 
mabroUem  Lanfichritt  gemildert  womit  imlieh  «axk  vkl  Ton  der  natTen  Dber- 
lengongskraft  jener  nrqirtinglichen  Form  verloren  geht.  Der  Künstler  empfindet, 
dafs  sich  mit  so  heftiger  Aktion  der  Beine  die  eben  erst  entdeckte  der  Flügel 
schlecht  vertragt;  aber  er  versucht  es  noch  mit  einem  Kompromifs  zwischen 
beiden,  statt,  sie!!  vor  i  r  Überlieferung  befreiend,  die  ganze  Bewegung  aus 
dem  neuen  Mutiv  heraus  neu  zn  gestalten. 

Damit  war  die  Lebensfähigkeit  des  von  Archermos  geschaffenen  Typus  zu 
Ende.  Die  Frühzeit  überdauert  hat  er,  wie  so  manche  Archaische,  nur  noch 
in  tektonifldier  Yerwendnng  za  konatgewerMiehea  Zwecken.  Dies  lehrt  der 
hflbeche  Griflhaattli  etnee  Bronseepiegek,  den  neolieh  das  Berliner  Antiquariom 
'moB  Griedmdand'  erworbm  hat,  wohl  ein  Werk  der  Blflteaeit  im  fünflan 
Jahrhundert  (Fig.  11):  Nike,  in  der  Linken  ein  Toilettekästchen  am  Bügel 
hwbeitragend,  also,  gemäfs  dem  Zweck  eines  Spiegelsi  im  Dienate  weiblidier 
Sdidnheit,  wie  auf  i^ehaeitigen  Vaaen.^) 

V 

Zngleidi  mit  dem  Freiheitdoimpfe  gegen  die  SsUidie  Weltmacht  sog  Aber 
Hellas  jener  iraTergleichlidie^  stfirmische  und  sonnige  Frühling  herauf,  der  die 
Kunst  zum  erstenmal  aus  den  Banden  fconTentionellen  Formelwesens,  in  dem 
alle  ^Barbaren'  stecken  geblieben  waren,  auf  die  Höhe  freier  Menschlichkeit 
emporführte.  Er  hat  das  orientalische  Flügelsyml^ol  mancher  Ge-^tnlt,  wie  der 
Artemis,  für  immer  abgestreift.  Auch  die  Schwingen  der  Siemes goitin  blieben 
nicht  unangetastet,  wie  zum  Beispiel  ein  inschriftlich  beglauijigtes  Mönzbild 
vuu  Terina  »icher  lehrt^j,  weshalb  kein  Grund  ist,  anzuzweifeln,  dais  auch 
ein  grofser  Bildhaner  der  Übergangszeit,  jSakmis,  Nike  flügellos  gebildet  hat 
Doch  sokhen  Badikalismos  Überwand  die  ÜBst  eingewnnelte,  weil  nieht  orienta- 
lische, sondern  eehlbihiig  hellenisdie  Vorstellong  TOn  GotUieiten,  welche  die 
Schwingen  wirklich  gebrauchten,  um  ihren  Dienst  sn  Tcniehten.  Wohl  aber 
wurde  die  alte  Aufgabe  im  Sinne  der  neuen  Zeit  ganz  von  vom  angefiüU;  natür- 
lich wieder  unter  Führung  der  FUchenktinst  Die  fehlenden  monnmentalen 
Zeugnisse  hierfür  ersetzen  uns  Münzen  und  Vasen. 

Als  Mttnzgeprage  findet  sich  die  fjottm  wiederum  zuerst  im  griec^hischen 
Osten,  dann  namentlich  bei  einigen  Weststaaten,  die  zu  den  grolsen  National- 


*)  Berliner  Aatiqnarina,  BfOBMSiavfliitar  Nr.  8619.  Für  die  Erlaubnis  zar  Publikation 
bin  ich  Herrn  Geheimni  Eekiile  TOD  Sfaradooits,  (Kr  die  Photographie  Hern  Dr.  £.  Penuoe 

ni  Danke  verpflichtet. 

»)  Gardner,  TjpM  of  Gr.  coins  Tf.  l,  23, 


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388 


F.  StndnieskA:  Die  Sieger^gOttin. 


festen  in  engen  Beziehungen  standen:  in  Eüs  and  groisliellenisclien  Städten 
Den  äUestoii  Typus  hBlteii  naeh  Bewegung  und  Flflgelliildung  auch  noeb  im 
Tkitt  m  fünften  Jahrhnnd^  die  Münzen  von  Uallos  in  Kilikien  hat  (Fig.  12),  ^rahiend 
flieh  die  von  Elia  (Fig.  13)  nngefiUir  der  auletEt  besprochenen  HarmonMae 
(Ta£  n  10)  an  die  Seite  atellen.  Ganz  ähnlich  erscheint  Nike  aach  auf  dem 
älteren  Ton  zwei  ausgewählten  Bei^elen  der  langen  Reihe  sieiUscher  Stftckey 
wo  sie  auf  ein  siegreiches  Gespann  zueilt,  nm  es  in  bekränzen  (Fig.  14). 
Auf  dem  jüngeren  dagegen  (Fig.  15)  tritt  uns  ein  ganz  neues  Bild  entgegen, 
das,  um  es  kurz  zu  si^n,  das  Flfigeln^cheii  wie  einen  fliegenden  ^ogd 
darstellt. 

Was  hat  dazu  geführt?  Nichts  als  eine  schärfere,  lebendigere  Auffassung 
des  Problems.  Der  geflügelte  Mensch  hat  nur  so  lange  seine  Beine  nach 
Menschenart  zu  gebrauchen,  als  er  sie  auf  festen  Boden  setzt.  Sobald  er  sich 
mit  HiUe  der  Fltlgel  durch  die  Lufb  bewegt  oder  in  der  Schwebe  lAlt,  mnb 
auch  sein  mraischlicher  Leib  sich  dem  des  fliegenden  oder  schwebenden  Vogels 
möglichst  entsprechend  Terhalten.  Was  aber  thut  der  Vogel  nach  unseren  Be> 
grifEen?  Er  schwimmt  in  der  Luft,  ind«n  tat  die  Schwingen  mfßmx^  ala 
VÜlschirm  und  als  Ruder  gebraucht.  Der  fliegende  Mensch  mnls  also  dem 
schwimmenden  gleich  sehen.  Nur  dürfen  wir  dabei  nicht  an  nnsere  heftigen 
Schwinunscbultempi  denken,  sondern  eher  an  die  Ruhelage,  die  sie  unterbricht, 
oder  besser  noch  an  die  behaglich  leichten  Bewegungen,  mit  denen  der  vollendete 
Schwimmer  sein  Gleichgewicht  bewa^irt  -  i  Wie  genau  das  Nikefii^ürehen  der 
Münze  dieser  Forderung  entspricht,  lehn  sein  Vergleich  mit  der  ISchwijnmerin 
in  dem  Damenbade,  das  in  der  Werkstatt  des  attischen  Töpfers  Andokides  etwa 
zur  Zeit  der  Peisistratideu  auf  eine  Amphora  gemalt  wurde')  (Fig.  16). 

Diese  «itscheidende  Übertragung  hat  begreiflicherweise  froher  bei  un- 
bekleideten Luftschwimmem,  bei  Eros  und  Shnlichen  Flügelknaben  statIgefimdeD. 
Soldie  stellt  in  dem  neuen,  nur  noch  sehr  steif  geceichneten  Sdiema  bereits 
eine  kyrenSisdie  Schale  mit  schwarzen  FSgoren  dar,  die  nidit  vid  jflnger  ala 
die  Hitte  des  sedisten  Jahrhunderts  sein  dürfte^)  (Fig.  17).  Doch  das  ist,  wie 
so  manches  andere  in  der  Vasenmalerei  der  Battosstadt,  nichts  als  eine  Ent- 
lehnung aus  den  Stötten  ostionischer  Kunst,  die,  als  rechte  Erbin  der  mjke- 
niadien,  swar  an  formaler,  'geometrtsdier'  Zucht  weit  hinter  der  des  Mutter- 


*)  Nach  den  gmmdlegeBden  Arbeiten  hahoof-BIvin«»  vgi  flir  miMre  Zwecke  tt/bmn 

8.  392  ff  s  oben  S.  382  AlUD.  2).  IMs  Utoaten  Stücke  sind  jetzt  wohl  Catal.  of  Gr.  comi  Brit. 
Mus.  Mysia  Tf.  4,  7;  9.  —  Unaere  Abbildunppn  12  — 1. 5  sind  entlehnt  aus  Gardner,  Trp*«t 
of  Gr.  coins  Tf.  4,  30;  8,  14;  2,  10;  2,  36.   V  gl.  Six,  Mitt.  d.  d.  arch.  Iiut.  XHl  (1888;  S.  Ib'^. 

*)  Klar  »iMge*proc1ien  finde  ieh  diesen  Qedaaken  nvr  in  des  Phyiiologen  8.  Einer  Vor» 
trag  'Die  Hijaiologie  des  Fliegens  und  Schwebens  in  den  bildcndt  n  Künaten',  Wien  168S, 
der  mir  erst  nach  AbschlufB  infiner  Arbeit  zuganplich  wurde.  Vgl.  Kalkmann  S.  57  f.  (oImb 
8.  S81  Anm.  5),  auch  Petersen  S.  3S»6  (oben  S.  382  Anm.  2)  und  Six  (vorige  Anm.). 

*)  Abgeb.  nach  Schreiber,  Kaltnrhistor.  Bilderatlaa  Tf.  67, 6.  Das  gaue  Oeflft  bei 
Korkon,  Ameiie.  Jonn.  of  Andneologj  XI  (189S)  6. 

<)  Bnll.  de  ooir.  heH  XVH  (IBM)  8.  SS8. . 


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F.  Stiidmcika:  Die  Bie^iresgOtthi. 


389 


landes  zurück  ))l»M'l)t,  ihr  dagegen  in  frühreifer  Kühnheit  des  Beobachtens  auch 
der  flüehtigston  Erscheinungen,  nuinenthch  im  Bereiche  des  Maleri>*chen,  damals 
wie  zumeist  voranschreitet.  Am  Dache  des  grol'^artig  )»iUlerreiehen  Sarkophags 
Ton  Klazomeuai  im  British  Museum  seli\vel)t  jedem  von  den  W  agenlenkern  ein 
solcher  Genios  voran,  abwechselnd  iu  dem  alten  Knieschema  und  der  neuen, 
hmr  sdum  mit  gms  aadtrer  Frkdie  «rfiftbten  Sdnrimiidialtung')  (Fig.  18). 

Dm  wur  ohne  Zweifei  die  konaequenteete  LSming  der  Aufgabe,  und  sie 
Uieb  stete  fiblich^  wenn  Eros  oä»  Nike  als  kleinere,  »llenfislls  mit  Vögdn 
Teri^eichbare  Nebenfigorm  Aber  griSIseren  Gestalten  anznbringeii  waren.  Wo 
ne  dagegen  als  Haaptgegenstande  oder  aus  anderen  GrOnden  der  Bodenlinie 
nahe  rücken,  da  wird  die  Schwimmlage  mifsverstandlich'),  und  gebieteriscb 
drängt  wich  die  Forderung  auf,  dafs  auch  die  geflügelte  Menschengestalt  über 
ihr  Verhältnis  zum  Erdboden  keinen  Zweifel  lasse,  dafs  sie  sich  der  aufrechten 
Haltung,  die  doch  emTnal  zu  ihrer  Natur  und  Würde  gehört,  wieder  nähere. 
Und  zu  diesem  Zwecke  brauchten  die  niaf^gehenden  Naturvorbilder  gar  nicht 
▼erlassen  zu  werden:  für  die  vom  Himmel  zur  Erde  herahschw«  biiiiden  Uott^  r 
bot  sich  die  Analogie  des  Vogels,  der  aus  dem  Flug,  des  Alenscheii,  der  vom 
Sehwimmen  in  den  Stand  ttbergehi  So  ergab  sich  eine  mehr  oder  weniger 
vorgeneigte  Haltung  mit  aorficksdiwing^den  Ffifsen,  deren  leichte  DiTecgens 
auf  die  Toransgehmden  Sehwimmbewegongen  anrfick,  anf  das  bcTorstehende 
Besehreiten  des  festoi  Bod«is  voranswiea.  Die  versdbdeden«!  Stadien  des  Über- 
gangB  Ton  der  Schwimmlage  zu  dem  &8t  lotrechten  Sehweben  veranschaulichen 
am  besten  die  vier  ihre  Herrin  timflattemden  Eroten  auf  einer  Schale  des 
Töpfers  Hieron  (Fig.  10),  die  der  Fund  einer  sehr  ähnlichen  Darstellung  im 
sogenannten  Perserschutte  der  Akropolis  in  die  Zeit  kurz  vor  480  verwei:^t.'') 

In  dieser  und  der  unmittelbar  anschliefsenden  Periode  taucht  endlich  auch 
Nike  und  zwar  gleich  als  ein  Lieblingsgegenstand  in  dem  bisheri^rrn  Vorrat 
attischer  Vasenmalereien  auf,  nur  noch  vereinzelt  in  dem  absterbenut  n  bch(.'mu 
des  Luftlaufs*),  gewöhnlich  in  dem  neueu  Motiv.  Zu  deu  ültetiteu  Belegen  für 
das  letatere  gehört  diese  nodi  streng  und  ^waa  unbeholfen  stilisierte  Gestalt» 
(Fig.  20),  welche,  die  Schale  Aber  einen  Altar  aosgieJsend,  in  der  andern 
Hand  das  Thymiaterion,  eine  Art  Leuchter  für  das  Weihranchopfer,  herbeibringt. 
In  der  freien,  wenn  andi  noch  etwas  herben  Anmut  der  beginnenden  Blflteaett 
aber  schwebt  die  OSttin  anf  einer  anderen  Vase  (Flg.  21)  m  einem  Dreifofs, 


■)  Unziay,  TeRacette  Ssfcopha^i,  Gr.  and  Etr.  in  the  Brii  Hos.  TT.  1.  Ober  den  ioniachen 
EUdtnfii  auf  die  kynaUidiea  Taiea  s.  jetst  dai  tchttne  Buch  von  BOhlaa«  Aus  ion.  «ad 
ital.  Nelrrop  ,  S  121  if.,  wo  jedoch  dieses  schon  von  Purh^toin  erkaiute  Veriiilteit  SUU 
Kachteil  de«  peioponnesischen  Einflusses  allzueinseiti^  betont  wird. 

Als  Beispiel  diene  Lenorniant  u.  de  Witte,  £litc  c^ramogr.  I  Tf.  98. 

*}  Abgeb.  nach  Wiener  T«tI«gebL  A  TT.  ft.  Tgl.  Jahrbuefa  d.  d.  atch.  hnt.  II  (1887) 
8. 164  Anm.  135. 

*)  So  bei  P  fJardner,  Catal  of  fir.  vaf?p«  in  the  Aabmolcan  Muaeum  (Oxford)  Tf.  25 
Nr.  266.  Für  den  älteren  Bestand  sei  ein  für  alie  Mal  auf  die  beiden  Üoktorschiifteu 
'Niks  in  der  TaaeniBalerei*  wn  Eaapp  und  Kteierit^  venriesen. 


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390 


F.  StadnicdA:  Di«  8i«e«igMlui. 


dem  Preis  eines  Sieges  mit  dem  Dithjramboscliore,  hernieder,  um  ihn  mit  der 
Haie  m  tehrnftdEMi.^) 

NichtB  aadereB  als  diese  Nengeataltang  ilurei  Fluges  wird  gemeint  sein, 
wenn  die  ißeiehe  Quelle,  die  wn  dem  Werke  des  Ardiennoe  Kunde  gieb^ 
einen  nunliellMi  Ibkr  eue  der  Zeit  des  ilterai  VasenbildeSy  AglopJum,  den 
Yeter  des  grofsen  Poljgnotos  von  Thasos,  neben  jenem  Bildhauer  als  den 
xweiten  'Erfinder'  der  geflflgelten  Nike  bezeichnet^  Es  wer  in  der  Haaptseche 
das  letete  Wort  der  Fliehenkanst  aber  dieses  Tfaona. 

VI 

Aber  nun  gelt  es  wieder,  das  auf  der  Fläche  geschaffene  in  die  Bond- 

plastik  zu  übertragen,  die  auf  eine  solchermafsen  im  Volksleben  festgewrirzelt« 
Gestalt  schlechterdings  nicht  mehr  verzichten  konnte'  Und  wie  viel  plastischer 
war  diese  geworden,  seit  sie  nicht  mehr  in  flächeiüiafter  Halhing  an  dem  Be- 
schauer vorbei  eilen  mufste,  sondern  in  runder  Geschiosseniieit  auf  ihn  zu- 
schweben  konnte.  Dennoch  war  die  alte  Schwierigkeit  geblieben,  und  diese  mit 
bewuXBtem  Emst  nach  Vollendung  i  iugende  2^it  versuchte  sich  an  ihr  zunächst 
mit  anderen,  strengeren  Mitteln,  ab  sie  in  dem  seheinbar  abgebranditen,  naiTen 
Ennsl^riff  des  Chioten  anerkennen  modite. 

Zun  Wesen  der  Statne  gehört,  dafii  ne  steht,  also  den  Boden  mit  den 
Fttlsen  berfihrt.  Wer  dieser  Foidernng  treu  bleiben  wollte^  der  mnfirte  sidi 
begnfigen,  von  dem  neuen  Sehwebemotiv  nur  den  An&ngs-  oder  Endpunkt 
darzustellen:  wie  die  FüTse  vom  Boden  abstofsen  oder  ihn  wieder  berühren. 
Das  letztere,  dem  Erdenbewohner  näher  liegende,  wurde  unseres  Wissens 
anerst  ver«iicLt.. 

Im  ivunaervatorenpaUste  zu  Rom  steht  seit  einigen  Jahren  die  altertüm- 
lich schwerfällige  Marmorstatue  von  der  Hand  eines  peioponm-Msi  hi  n  Meisters 
w«!  lY  aus  der  Zeit  der  Perserkriege')  (Fig.  22).  Die  Flügel,  nach  den  erhalteneu 
Ansätzen  noch  in  der  alten  Weise  aus  einem  Block  mit  der  Figur  gehauen  und 
^erngsmUs  wenig  herauaspringend,  kennieidman  sie  ab  Nike.  Ab^  die  Haltung 
ihres  auf  beiden  Eufsspitzen  emporgereekten  Kftipers  entsprieht  hSehstena  einem 
Heniohen,  der  eben  ans  mSlsiger  Höhe  heral^esprungMi  isiy  und  dab  wir  wiric^ 
lidi  so  verstehen  sollen,  deuten  nur  die  Hände  an,  indem  sie  den  Übersehlag 
des  sdiwtren  dorischen  Wdlenpcplos  am  Saume  fassen,  damit  ihn  der  Luft^ 
sog  nicht  zu  hoch  emportreibe.  Woher  sie  kommt,  verraten  eben  nur  die 
Bewingen.  Und  das  bessern  auch  nicht  die  formal  reiferen  (Gestaltungen,  die 
in  römisehen  Kopien  vor  nne  stehen,  wie  in  dieser  Exzstatnette  aus  Hercn- 


*)  EÜg.  17  von  der  Täte  Britith  Hutemn  Nr.  E  518  des  neuen  Katalogs,  nach  Lenormant- 
de  Witte,  £ute  de  uoMim.  ednunogr.  I  Tf.  98.  Fig.  18  ebendaher  Tf.  98,  das  QeflUii  eiaat 

bei  Pourtal^ß. 

*)  Six  a.  a.  O.  (oben  S.  SdS  Anm.  1)  S.  168  f. 

*)  Helbtg,  Ffllmr  d.  d.  lOm.  Antikeniemml.  I  Kr.  689.  üater  Zink  aadi  Braaa-Bnnk- 
ntaitn,  Denkm.  gr.-rOni.  Skelpi  Nr.  888. 


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F.  Stadtticik»:  0ie  Bii^MlBttiii. 


891 


luienm^)  (Fig.  23),  deren  Deatm^  EinistzIScher  fitr  die  Elflgel  Bichani.  Die 
Welttugcl,  auf  der  ne  etebt,  kran,  wie  inr  nodi  aehen  wwden,  xaski  dem 
gnefthiiritBii  Urbild  aagdiOrt  hftben. 

Wie  viel  lebendiger  wirkt  ee,  wenn  die  Odttin  den  Boden  nur  mit  einer 
Folsspitze  betritt,  und  das  schon  an  den  alten  springenden  NikeD  Torgebildete 
Zurückflattem  des  Qewandes  die  Lebhaftigkeit  der  Bewegung  veranschaulicht. 
So  sehen  wir  sie  in  der  hübschen  Bronzefignr  aus  FoH«nml>rone  in  Cassel*) 
(Fig.  26  27),  wieder  einer  römischen  Arbeit,  die  in  allen  Hauptformen,  namentlich 
der  strengen  Körperhaltung  und  Kopf  bildung,  auf  einen  Typus  der  grofsen  Zeit 
im  fünften  Jahrhundert  zurückweist.  Doch  aucii  hier  sähe  der  uubefangeue 
Bück  nidili  iIb  einen  kuiany  tingelndem  iMhebacilttf  wenn  nidit  wieder  die 
Srdkugel  den  Boden  abgibe. 

Dem  Zide  nÜher  mfiaeen  die  Nikebilder  gekoaunen  sein,  welehe  FheidiM^ 
wenigrtene  in  der  Art  dieeer  Yerbiadattg  an  srchaiiehe  Vori^ütiger  enknfipfend, 
seinen  beiden  erhaibenen  Tempelstatuen  aus  Gold  und  Elfenbein,  der  Athena 
Parthenos  und  dem  olympischen  Zeus,  gleich  einem  Edelfaiken  auf  die  rechte 
Hand  setzte.  Von  diesen  beiden  Werken  ist  nur  die  Athena  durch  statuarische 
Nachbildungen  genauer  bekannt,  und  eine  unter  ihnen  hat  auch  die  Nike  erhalten; 
leider  gerade  eine  der  kleinsten  und  künstleriach  minderwertigsten,  die  meterhohe 
Marzaonigur  vom  Varvakion  in  Atimu  i^i^ig.  24.j,  aus  der  uur  dem  geschultesten 
Auge  ein  Sehettoi  TOn  der  Gr5Iiw  dee  Yorbildee  entgegentritt  Wae  tine  am 
meietMi  befremdet,  ist  die  gegensündlidi  gens  nnmotiTierte  Slide,  weldbe  dmr 
Torgeetreckten  Bend  das  Gewiekt  dar  im  Original  etark  lebeoegroleen  Fignr  ab- 
nahm, ▼ielleicht  in  Erinnerung  dar  hoben  Pfeiler,  auf  denen  wir  uns  schon  die 
archaisdien  SiegeegÖttinnen  aufgestellt  denken  (Taf.  II  7).  Aber  ea  darf  dabei 
nicht  vergessen  werden,  dafs  der  technische  Notbehelf  zugleich  einen  unent- 
behrlichen ästhetischer)  Diennt  leistet,  indem  er,  als  Gegenstück  des  Schildes 
mit  der  bclilange,  das  im  architektonischen  Rahmen  der  Parthenonhalle  doppelt 
unerläfsliche  (iieichgewicht  der  Massen  herstellt.*)  Da»  stumpf  gearbeitete 
Xikepüppchen  selbst  (Fig.  25),  an  dem  auXaer  dem  Kopf  auch  ein  Ansat/.ätück 
des  rechten  Flügels  feÜt,  hielt  in  beiden  Händen  einea  feetonartig  herab- 
heiqpnden  Kiaiia  oder  eine  ttnde.  Um  dieeea  Ekreneeidien  den  nnten  eteheor 
den  Sebfltdingen  der  Herrin  an  bringen,  will  eie  sieb  eben,  mit  vorgelebtem 

')  A^l.'pV'   nach  Photoffraphie  Allnaris;  vpl   FrieJerichs  ■'Wolt<-rH,  Olpua^j^nttt;  N'r  17&4. 

*)  Piiuler,  Führer  durch  das  Mtueom  Fhdehcianum  in  Cauel  1891  B.  20  f.  Nach  fr«xind- 
liehar  IDtteUung  roa  Johannes  BAhlaa,  don  ich  auch  die  Lichtbilder  ▼erdMÜra,  kann  die 
jeirt  vothaiidflM  Kngal  ans  peUsrtaa  9Amwam  'Menior'  nodenM  Btgkaaoag  lein,  daaa 
aber  eioe  richtige,  da  ein  vom  linken  FuCm  dorcb  die  Kug*-!  hindurch^^liünder  aatiker 
Bronzedübel  kaum  zu  einer  andern  Form  der  ursprünglichen  Humib  passen  wurde 

Kavradia«,  Uvma  xo^  ie>.  fiov«.  I  Nr.  129;  CoUignon,  Hiat.  d.  L  scalpt.  Gr.  I  8. 640  ff., 
«0  die  littoratw.  Ffbr  die  Nefewendigkaii  üar  Shde  «gL  \mmkn  IL  Luge,  IGtl.  d.  d. 
arch  Inst.  VT   i^<-^!  ,  S  71  ff  —  nach  Brunn  -  Bructmann,  Denkm   Nr  39.  Fi/  25 

nach  Zeichnung  Da*  Nikehgürcheu  ist  jetzt,  wie  mich  Bolle  belehrt,  befreit  von  dem 
angeblichen  lan^^eu  Krau«,  den  die  ültoren  AbbUdongen  und  der  GifMal^fuCi  zeigen,  weil 
«r  tick  eis  ein  elBalos  tagektebter  —  fSager  henaefeiteUt  bat 


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F.  Stndniotka:  Die  Biegeagdttin. 


Oberleib  und  leicht  gcbogfrifn  Knion.  den  linken  Fiifs  ein  wenig  voran,  in  ihr 
Element  hinablassen.  Fheidias  hat  also  den  Anfang^tpunkt  des  Niederscbwebeiu 
gewählt  und  hu  das  Wesen  der  lIinimelnbotin  am  besten  ausgedrückt. 

Damit  waren  die  Möglichkeiteti  streng  statuarischer  Durchführung  der 
Aufgabe  erschöpft.  Von  Urnen  allen  gilt  mehr  oder  weniger,  dals  sie  hinter 
d«ni  Emdrad^  der  DanteUiiDgen  auf  der  Ffiche  weit  corfieUtleifaeti.  Jede  Be- 
rflhrung  der  Füfse  mit  dem  Erdboden  rieht  den  fibematOrlielien  Vorgang 
wieder  herab  in  den  Ejreis  des  menBcUichen  Springena  und  Lanfiens,  Dia 
Niederschweben  von  hohem  Standort  aber  entgeht  dieann  Fehler  nnr  dann, 
wenn  jener  durch  einen  Zusammenhang,  wie  ihn  die  Götterbilder  des  Pheidias 
darboten,  als  Heimstatt  der  Göttin  beaeichnet  iat.  Für  sich  allein  kann  selbst 
der  Sehoitel  der  höchHten  Säule  einer  edion  weniger  anepmohslosen  Pliantaaie 
nicht  den  ülyinp  })edeut< n  wollen. 

Die  Theorie  von  den  Grenzen  der  Künste  wird  daraus  ganz  richtig  schliefsen, 
das  Problem  sei  für  die  Kunüplastik  überhaupt  unlösbar.  Aber  des  Lebens 
goldener  Baum  trägt  immer  wieder  Früchte,  die  aller  Theorie  Hohn  sprechen 
und  dennoch  recht  behalten  durch  die  zwingende  Ejraft  ihrer  Lebendi^eit. 

vn 

Um  das  Jahr  480  Ch.  stdlten  die  Tertriebenen  Heaeenier  im  Vereine 
mit  ihrer  zweiten  Heimat  Nanpaktoa  den  Zehnten  von  der  Eriegabente,  die  m 
als  Bundeagmoasen  Athraa  im  eraten  Teil  dM  peloponneaiachen  Kriegea  er- 
kämi^  hatten,  in  Geatalt  einer  Marmomike  von  der  Hand  des  Paionioa  in 
Olympia  auf.  Es  war  ein  köstliches  Weihnaehtsgeachenk  für  unsere  Forscher, 
die  vor  mehr  als  zwanzig  Jahren  im  Namen  des  jungen,  sieggekrönten  Beidm 
in  der  Altis  den  Spaten  eingesetzt  hatten,  als  dieses  Meisterwerk  wieder  an« 
Licht  emporstieg.  Traurig  zerschlagen  freilich  ist  es  auf  uns  geknnnncii 
T«w  V  (Fig.  29  31).  Aber  langjähriges  Zusammenwirken  von  Bildhauern  und  Gelehrten, 
unter  denen  Grüttner  mul  Treu  besonders  dankbar  zu  nennen  sind,  ergab  eine 
in  allen  Hauptpunkten  gesicherte  liekonstruktiou,  der  üchliefslich  noch  emt 
von  Amelung  entdeckte,  freie  Nachbildung  des  Kopfes  aus  römischer  Zeit  daa 
am  Original  fehlende  Geaicht  hinaaf&gte  (Fig.  28).  Die  einatige  Anfiteliimg 
▼eranaehanlieht  daa  kleine  Oipamodell^)  (Fig.  30). 

Seibat  gegen  awei  Meter  meaaend,  atand  aie  anf  einem  achlanken  Marmor' 
pfeiler  Ton  gegen  nenn  Meter  Hdhe.  Seme  ungewöhnliche,  dreieddge  Form 
liefs  ihn  dem  Auge  meistens  nur  als  eine  weifse,  schattenlose  Fläche,  nicht  ab 
Körper  erscheinen.  So  auf  das  wirksamste  über  den  Wald  der  übrigen  Weih- 
g^chenke  emporgehoben  und  auf  diese  Ansiclit  meisterlich  berechnet,  schien 
diese  Xike  in  Wahrheit  vom  Himmel  herniederauschweben,  in  göttlicher  Ruhe  und 
äicherheit^  und  doch  ein  Bild  des  die  Lüfke  sausend  durchschneidenden  FlageS| 


>)  Treu,  Olympia,  Text  Ol  S.  182  ff.  Zur  Inachrift,  Dittenberger-Purgold,  Olympia  V 
Nr.  259.  Unsere  Abbildungen:  Fig.  2»  u.  31  uach  Ol.  Text  III  S.  184  f.,  30  nach  Ol.  Tafelb.  lH 
Tf.  48,  Fig.  S6  meh  Photographie  d«t  ratannertea  Otpiea  im  Albertbum  ta  DnsdA. 


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F.  Stndmeska:  Di«  8i«gMgMtm. 


393 


TOT  deasMi  LebcnafOlle  jedw  Zwwfel  ▼erstommi  Die  Fittige  sind  ungleich 
«lioben,  aiieh  der  Körpor  sieht  etwas  edurS^  wie  oft  bei  dem  Vogel,  der  nach 
einom  beetimmtBn  Ziele  hinabeteneri  Bure  Arbeit  bef5rdert  der  weite  HenteV 

indem  er  sich^  Ton  beiden  Händen  festgehalten,  wie  ein  mächtiges  Segel  rück- 
wirla  tind  auff^rts  bläht,  um,  gleich  einem  FallBchirm,  die  Wucht  der  Be- 
we^mg  wohlthuend  zu  hemmen.  G^egen  diesen  ruhigen,  einst  purpurnen  Hinter- 
grund peitscht  der  Wind  die  Faltenmaasen  des  Chitons  mit  dem  gegürteten 
Überhang,  so  dai's  aus  ihrer  Lmraiimuag  die  jugend  kräftige  (Jeatalt  in  voller 
Plastik  heraustritt.  Von  dem  stürmischen  Flattern  hat  sich  die  Spange  anf 
der  linken  Schulter  gelöst  uud  aus  einem  Schlitz  des  Kleides  tritt  das  liuke  Bein 
hwor,  gani  firei  in  die  Luft  hinaimdiriitend,  nur  mittela  einer  unanffSUigen, 
einat  gewib  durch  Farbe  gleichsam  aosgelfisditm  SUttae  an  der  Plinihe  be* 
festigt  Doch  anch  der  snrQekschwingende  rechte  Ftils  mht  auf  keinem  {inisn 
Boden,  nor  rflckwirls  haftet  «r  an  einem  Zwisehenatfick,  das  die  Gewandmassen 
mit  der  Standplatte  verbindet;  nnd  dieses  bildet  in  der  Haoptsadie  ein  fliegen* 
der  Adler,  dessen  Kopf  links  deutlich  hervortritt.  Der  wesensverwandten  Göttin 
im  Finge  begegnend,  schiefst  der  Bote  des  Zeus  unter  ihren  Fflfsen  hindurch, 
wie  ein  kleines  Segelboot  vor  dem  Bug  dp'*  stolzen  Dreimast<?r3  vorbeifliegt. 

Mag  auch  die  Theorie  den  Bildhauer  tadeln,  der  sich  erkühnte,  sein 
schweres  Marmorgebilde  so  zu  sagen  an  den  blaueu  Himmel  hinzumaieu;  mag 
andi  eine  scharfe  Betrachtang  der  Einseiformen  etwas  von  der  nnabertreff- 
lichen  Klarheit  nnd  Feinheit  attischer  Knnst  Dennissen  —  immer  bleibt  die 
Nike  des  Paionios  ein  Heisterwerk  Tcm  Gottes  Gnaden,  in  der  himmebtOrmenden 
Ktihnheit  der  Erfindung^  in  der  Virtnositit  der  Technik. 

Kein  Wunder,  dafis  die  Hesseniar  nnd  Naupaklier  auch  dem  Apoll  in 
Delphi  nichts  anderes  darbringen  mochten,  als  eine  Wiederholung  ihres  olym- 
pischen Weihgeschenkes,  von  der  bisher  leidor  nur  das  gans  charaktoristisohe 
Postament  aufgefunden  ist.') 

Aber  auch  vorher  hatte  Paionios  denselben  Auftrag  in  etwas  anderer 
Fassung  auszuführen  gehabt.  In  der  Künstleriuschrifl  unserer  Niku  rühmt  er 
sich)  derselbe  zu  sein,  Mer  auch  beim  Anfertigen  der  Akroterien  für  den 
Tempel  den  Preis  erhielt*.  Und  das  Hai^tstftck  unter  diesen  Akroterien,  das 
ist  dem  plastischen  Firstschmnck  des  Zenstempels,  war  nichts  anderes  als  die 
Bronaenike  auf  dem  Seheitel  des  hinter  dem  Messenierweihgesehank  empor- 
fsgandm  Os^iebels.  Der  Gmnd,  weshalb  Paionios  diese  gerade  hier  als  sain 
Eigentum  reklamierte,  kann  nnr  engste  Verwandtschaft  beider  Werke  gewesen 
sein,  die  das  spätere  von  dem  früheren  abhängig  erscheinen  Hefs.  Der  Künstler 
hatte  also  seine  verwegene  Komposition  erst  in  Erzguls  versucht,  bevor  er  sie 
in  den  spröden,  aber  den  gerade  für  sie  unschätzbaren  Vorteil  der  BemaluDg 
darbiebeuden  Marmor  zu  übersetzen  wagte. 

So  freudig  wir  nun  auch  dieseu  Autorstok  begreifen,  so  wenig  dürfen  wir 
nns  der  Au^^be  eulneheD,  rttekbliekend  fsstmateUen,  wie  Ttel  selbst  ein  solches 

»  » 

Pomtow,  Neue  Jalubflclier  l  PhiloL  u.  FIdag.  Ojn  {tm)  8.  577  ff. 

»fM^akibUh«:  INS.  L  U 


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304 


P.  Btndiiiesk»:  Die  8i8g«^«tliB. 


Werk,  das  au»  dem  visionären  Schauen  eines  glücklichen  Augenblicks  ^boren 
seheint,  der  Tradition  zu  Terdanken  hat 

Anlberlidi  nmSdiat  gemahni  diese  Nike  auf  ihrem  sehLuilcni  Pfeiler 
«a  die  der  Athena  Parthenos,  die  fhataAehlieh  auch  auf  hoher  Statnanle 
mhte.  ]>cMsh  wird,  nach  d«m  firSh^  Dargd^jieii,  das  nnmitlelbare  Voorbild 
dieser  Aufstellung  der  ß;Ieichen  Herkunft  gewesen  sein,  wie  der  techniidie 
Grundgedanke  der  Komposition  selbst.  Die  schwebende  Gestalt  wesentlich  nur 
mit  dem  Gewand  auf  die  Basis  zu  stellen,  das  ist  ja  gar  nichts  anderes,  als 
die  alte,  dem  kindlichen  Gemüto  des  Archrrmos  entsprungcip  Lösung  (Taf.  II). 
An  seiner  Nike  (F\^.  7)  findet  sich  überdies  schon  der  auscirucksvolle  Zug  des 
entblöfsten  Beins,  au  ihrer  besten  reifarchaischen  Tochter  (Fig.  8)  der  noch 
bedeutsamere  des  im  Rflcken  wehenden  Gewandes  vorgebildet  Ja  selbst  die 
Übertragung  jenes  alten  Grondgedankens  auf  das  neue,  Ton  der  Ualerei  ge- 
schafliuie  Schwebemotiv  hattm  vor  Paionioa  aohon  iltere  HiniiOflHldBer  an- 
gebahDi,  wie  diw»  wueheinhare  und  Ubel  sngeriehtete  Fignr  auf  der  Inael 
Mbi  VI  Faros  lehrt ^)  (Fig.  32  33),  eine  Vorlauferin  des  späteren  Meisterwerkes  auch 
in  der  Faltonbehandlung,  die  ganz  anders  darauf  ausgeht,  die  Hauptformen  d^ 
Körpers  zu  zeigen,  als  etwa  die  schlichte  'olympische',  das  heifst  peloponnesische 
Art  der  Statue  im  Konservatorenpfi laste  (Taf.  IV  22^  Einen  Gewandstil  aber, 
der  dem  dea  Paiouios  ganz  nahe  kommt  und  dazu  jene»  Hiiiiiiliaben  des  Mantels 
als  Segel  sowie  jenes  Einschieben  eines  geeigneten  Tieres  unter  die  Menschen- 
gestalt, als  Andeutung  des  Elements,  auf  dem  sie  sich  flbematttrlich  bewegt 
—  das  alles  findet  sidi  au  einer  Reüie  wohl  etwas  JOkei»  Sknlpturen  wieder, 
an  den  Nereidm  von  dem  nadi  ihnen  als  Nereidenmonument  besaidmeten 
Grabmal  in  Xanthos  (Fig.  34  36),  welche  Aber  Delphinen  oder  SeanSTon  auf 
den  Wogenlummen  hinhusshea.')  So  war  alles  schon  dt^wesen,  nur  nicht 
das  Ganze  in  seiner  unvergleichlichen  Herrlichkeit  und  ergreifenden  Wahrheit 

Es  ist  gewifs  kein  Zufall,  dafs  sich  diese  Ahnenreihe  der  olympischen 
Nike,  soweit  nur  unser  Wissen  reicht,  gan?,  ans  Knnstleistungen  des  ost- 
ionischeu  Stammes  zusammensetzt,  dem,  so  gut  ^^  le  Archerraos  von  Cbinn 
der  klazomenische  Sarkophagmaler,  Agiophon  von  iiiasos  und  der  unbekannte 
Parier,  auch  Paiouios  als  Biuget  des  ionischen  Städtchens  Mende  in  Thrakien 
angehörte.  Die  dargelegte  Entwiekelung  des  vtm  "Brno»  ans  malerisebeii 
I^blems  diNT  fliegmden  MenschengestsU,  sie  erweist  sich  als  ein  echtes  Blatt 
aas  der  Geirtesgesehichte  dieses  kecken,  gmialen  Väklnns,  dem  Tendier  wie 
nachher  der  freieste  Flug  der  Phantasie  und  die  entschiedenste,  durch  Namen 
wie  Polygaotos,  Ptorrhasios,  Apelles  glansvoU  erwiesene  Begabung  fttr  dss 
Malerische  eigen  war. 

'ji  Die  Seitenansicht  nach  Löwj  in  d.  Arch.-epigr.  Mittcii.  a.  üHterr.  XI  8. 
die  Vorderusieht  naeh  Photographie  geMietmet.   Das  Yerhlltnii  dieiei  Wsrksi  sn  d«D 

Skulpturen  des  olympucben  Zeusteinpels  bat  m.  E.  falsch  beartaüt  Fnitwlagler  in  da 

Arch.  Studien,  H.  Brunn  dargebracht  S.  79  ff. 

*)  Abgeb.  nach  Mouutu.  d.  inst.  arch.  X  T/.  II,         Zur  Deutung  vgl.  Kalkmaan  a.  a  0. 
(8.  m  Anm.  5)  8.  6?  Ann.  Sl. 


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F.  StndniMk»:  Die  ««gv^gOttb. 


395 


vni 

Der  weitere  Verlauf  dieser  Eiitwickelung  bietet  geringeres  Interesse.  Sind 
doch  die  zahlreichen  fliegenden  oder  schwebenden  Kiken  nr.d  Victorien  späterer 
Perioden  nur  mehr  oder  weniger  geglückte  Nachbildongeu,  Modifikationen,  auch 
Kretmingen  dessen,  was  wir  das  fünfte  Jahrhundert  leisten  sahen,  vor  anderem 
der  klassischen  ächöpfuDgeu  des  Pheidias  und  noch  viel  mehr  des  Paionios.  Das 
ir«i0y  WM  (He  spatere  Zeit  binsutbut,  ist  nur  in  einem  Punkt  erheblich.  Sie 
txbM  und  seigt,  an  den  achwebenden,  wie  an  tansendoi  und  aooBt  lebhaft 
bewegten  Gestalten,  die  natnigenüUbe  'diagonale  ABaocistion'  der  Bewegungen 
beider  ExfaremilitttiiNuure:  dab  nlmlicli  beim  AoBaebreiteii  dea  link«i  Fnliwfl 
der  rechte  Ann  Torw&rtegdit  und  umgekehrt;  eine  adidnbare  Verdrehong^ 
welche  dem  Streben  der  älteren  Kunst  nach  relie&iäfsig  klarem  Auseinander- 
legen der  Körperteile  widerapradb  und  deshalb  meist  beseitigt  wnrde^),  ohne  ihr 
freilich  ganz  unbekannt  zu  sein,  wie  unter  anderem  die  Schwimmerin  des  Ando- 
kidea  verrat*)  (Taf.  III  16).  So  stellt  Nike,  um  nur  das  Bedeutendste  zu  nennen, 
der  stattliche  Torso  von  Megara'),  der  pergamenische  Gigantenfries*)  (Fig.  37)  TM.  tu 
und  die  hübsche  Bronzefigur  aus  Pompeji*)  dar  (Fig.  36j.  Dieser  unleugbare 
Fortschritt  in  der  Naturwahrheit  der  menschlichen  Bewegung  scheint  mir  aber 
ein  zweifelhafter  Gewinn  für  unsere  göttliche  Luftschwimmerin.  Denn  was 
beim  menecUiehen  Sdiwimmen  die  Ame^  das  besorgen  bei  ihr  die  Hflgel, 
ud  wer  ihre  Anne  eo  an  der  Bewegimg  der  Beine  Teil  nehmen  latat^  der  aer- 
ftSrt  den  Eindroek  des  tidiereo,  vog^lartigeiL  Sehwebeni,  welchen  der  IUi<mios- 
tjpu  gerade  dnroh  die  Rohe  der  Körperhaltung  wo  ToUkommen  enreidit 

Zu  Obertrumpfen  war  er  nur  auf  einem  Wege:  indem  man  mit  dem 
Sehweben  vollen  Emst  machte  und  die  Flügelfigur  —  aufhängte,  wozu  eine  Oie 
am  RQcken  der  pompeianischen  Statuette  gedient  hat.  Auch  andere  Bronzen, 
namentlich  aber  Terracotten,  Niken  und  Eroten,  f?ind  so  verwendet  worden. 
Damit  ist  die  von  Paionios  mit  kimstreicher  List  so  wohl  gewahrte  materielle 
Standfestigkeit  des  Rundbilder  preisgegeben,  auf  die  doch  unser  Gefühl  nur 
dort  beruhigt  verzichtet,  wo  es  sich  einem  tektonischen  Ilaiigi  werk  einfügt,  wie 
nm  Beispiel  unsere  Lustreweibchen.  Aber  diese  Stilwidrigkeit  wird  man  sich 
bei  10  leidhtwiegenden  CMHldoi  ala  harmlosen  dekiratiT«!  SdianK  gerne  ge- 
&]len  lassen.  Bei  groften  Statuen  dagegen  mnls  sie  als  brutale  Clesdmmck- 
leei^it  wirken,  weleho  dahin  gehört,  wo  sie  die  Per  gamener  terfibten:  bei 
einer  Festrorttellung  im  Theater  lieJiwn  sie  eine  goldene  Nike  herabsehweben, 
dsfa  sie  den  bhitigen  Sultan  Hithradates  bekrime.*} 

')  Ich  bekeniifi,  dH  TenUndiüa  dieser  Bache  «nt  dmeh  Marej,  Le  Mottvemeiit,  Farif 
18*4  S.  167  Anm.  gewonnen  zu  haben. 

*)  Vgl  aach  sp&tere  Bilder  des  ächwimmens,  z.  B.  Baumeiitar,  Denkmäler  I  S.  640, 

n  s.  «es. 

^  Fttigold,  MHtefl.  d.  d.  «reh.  hui  VI  (1881)  Tf.  10  11,  8.  ST6  ff. 

*)  Abbildung  nach  Rayet,  Monum.  de  l'art  ant.  IT  Tf.  62. 
Fricd^nrh<i  Wolter«,  QipsabgOMe  lir.  1166.   Das  Original  steht  auf  einer  Kogel,  die 
aber  modenib  Zuiuat  tat. 
*)  Flutaieh,  SoUa  11. 


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f:  Stndnieska:  Die  SiegesgöttiB. 


Künatleriscli  ivnc-h  nicht  erfreulich  ist  eine  weitere  hellenistische  Neuerung; 
das  Aufstelleu  der  Schwebenden  auf  dem  ülobus,  dem  Sinnbilde  der  Welt- 
macht, die  uns  als  römische  Kopistenzuthat  zu  älteren  Typen  bereits  öfter 
vorgekonuncu  ist  (^Tai.  23  27):  ein  ochteü  Stück  'alexandriiüsch'  gelehrter, 
totor  Symbolik,  daa  beim  Worte  genammm  ai»  dnr  GSfttin  eiwM  wie  ebe 
GauklertB  m«chi^) 

IX 

Doch  wenn  auch  das  Werk  dns  Paionios  einen  Endpunkt  in  der  auf 
steigenden  Entwickelung  unserer  Idealgestalt  bedeutet:  zu  £nde  ist  sie  damit 
noch  lange  nicht. 

Ich  habe  schon  erwähnt,  dafs  die  Übergangszeit  vom  Archaismus  xar 
freien  Kunst  den  Gebrauch  des  orientalischen  Flügelattributs  wesentlich  ein- 
sehränkte.  Sehen  wir  ab  von  den  Imeht  kenntlichen  DSmonen  der  Unterwelt^ 
dann  bleiben  ala  oft  daigesfcellte  QotÜheiten  dieser  Art  nur  diejenigen  fibrig^ 
die  ArietophaneB  in  den  V^ehi  aueammenetellt:  Eroa,  Nike  und  Iris,  nnd  da 
die  Götterbotin  hinter  der  Siegeeg5ttin  sehr  Knrficktritt,  ist  Nike  so  ziemlich 
das  Flügelmaddien  schlechthin  geworden.  Als  aolchcs  r  hrn nchte  sie  nicht 
mehr  immer  zu  fliegen,  um  kenntlich  zu  sein;  auch  nicht  biols  loicht  nuf  den 
Zehen  hinzutänzeln,  wir-  sie  besonders  archaisierende  Werke,  zum  Beispiel  die 
T»f»>  viu  Kitharodenreliei's  darsteiltn *)  (Fig.  nein,  sie  durfte  fest  die  Erde  betreten 

gleich  Hudcren  Göttern,  und  damit  begann  für  sie  ein  neues,  mannigfiadtigeü 
Leben  und  Wirken. 

Betraehien  wir  vanScbst,  wie  sie  in  göttlidier  Bube  dem  Thun  der 
v«M  IX  ]f ensehmi  «laielit,  die  nach  ilur  streben.  So  steht  im  FarllienonfirieB  (Fig.  39) 
Nike  —  nicht  Iria*)  —  dienstbereit  im  Qefblge  ihres  höchsten  Oebiebers,  von 
ihm,  gemäfs  den  Forderungen  der  ganaen  Komposition,  nur  durch  Hera  getrennt^ 
und  blickt  dem  Panathenäenzug  entgegen,  in  den  Händen  einst,  wie  drinneu 
am  Tempelbilde,  Kranz  oder  Binde  bereit  haltend  für  die  mit  herankommenden 
Sieger  in  den  Agonen  des  Festes.  Der  fein  jugendliche,  lieblich  ernste  Kopf 
mit  dem  hochaufgenoniraenen  Haarbund  (Fig.  40)  ist  ihr  erst  durch  die  jüngsten 
Ausgi'äbungen  auf  der  Burg  wiedergegeben. 

Bei  den  grolaen  Wettspielen,  wdohe  die  Göttin  Tage  lang  in  Atem  hielten, 
mu&te  sie  sich  awisehendurdi  auch  ein  wenig  Ruhe  gönnen  und  sich  nieder- 
lassen. Li  kSstUdi  frischer  Auffiusung  aeigt  daa  ein  noch  etwas  atrrages  Vasen- 
bild  mit  roten  Figuren  (Fig.  43),  wo  sie  mit  Hilfe  ihrer  Flttgel  auf  hohem  Pftiler 
Plata  genommen  hal^  um  von  dort  in  lässig  bequemer,  nachdenklicher  Bialtbng 


')  DuH  früheste  Beispiel  scheint  das  nur  durch  arg  verballhornte  Zeichnung  bekaunte 
Werk  dt'H  Nikcratos  iu  Pcrgamon  gewesen  r.u  sein:  LSwy,  Inm-hr  ^r.  Bildh   Nr  4j6,  vgl 
Furtwängler,  Bekehr.  «I.  (jesclmitt.  Steine  im  Äiiiiquarium  i^Berlin;  Nr.  2616,  und  dazu  Bulle« 
Alt.  Nike  in  Roichen  Lesik.  d.  Mythol.  (nocb  nieht  enebieoen). 

*;  Nach  Schreiber,  Hellenist.  Reliefbilder  Tf.  35,  Berliner  Skulpt  Nr  921. 

*i  Die  alte  Deutung  hat  gut  verteidigt  Overbeck  (Ir-Mh  d  st  Plastik  I*  S.  444.  Fig  39 
aus  lioscbers  Lexik,  d.  Mjthol  II  S.  348,  Fig.  40  nach  Amenc.  Jauru.  of  Arcbaeol.  V  (1889)  Tf.  2. 


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F.  Stndnieskat  Di«  81«fre(ifrBttiii. 


897 


«•inem  Ringkampf  zuzusehen.^)  Auf  dem  Erdboden  oder  auf  Stufen  sitzend 
stellen  sie  in  vollendeter  Schönheit  Münzen  von  Terina  und  Elis  dar  (  Flu;.  41  42), 
doch  wokl  im  Auschluls  au  .statuariaclie  Typen,  derengleichen  ^chun  dem 
Fliubr  TondiwelMii  dürften,  venu  er  den  Siegw  in  Nike«  Seliofe  &]len  fibi*) 
Aber  im  allgemeinen  geht  ihr  Ruhe  wider  die  Natur,  me  liebt  ee  Tielmehr, 
bewe^eb  nnd  bebende  eelbet  mit  Hand  ansaleg»,  GSUem  and  Heneohen 
freundlich  ihre  Dienste  su  leihen.  Sie  steigt  ab  Roseelenkerin  auf  ihre  Wagen, 
um  sie  zum  Kampfe,  zum  Rennsieg  oder  tarn  Triumphzugo  zu  geleiten.  Sie 
reicht  dem  Krieger  die  Waöen,  dem  Mtisiker  sein  Instrument.  Besonders  gern 
aber  greift  sie  zu  bei  den  feierlichen  IlantUungen  naeh  dem  Siecre.  Schon  früher 
sahen  wir  sie  anf  Vasen  hernie<l"rsrhweben ,  um  ein  Trankopfer  zu  vollziehen 
oder  einen  PreisdreifuiW  zu  Hchinütk(!n  (Taf  ITT  20  21).  Oft  befalst  sie  sich 
mit  der  Errichtung  eines  Tropaions,  jenes  Kreuzpfahlcs,  an  dem  die  Waffen- 
rflttimg  des  Feinde«  befestigt  wurde,  wie  er  sie  im  Leben  trag  (Fig.  45).  Hier  t«m  x 
trinlrt  eie  Tor  dem  dionysisehen  Dreilbfe  som  letgetenmale  d«k  Opferetier 
(Fig.  46);  dort  hat  sie  dem  i^fieklidh  nun  Vater  heimgekehrten  Kriegsmaon 
den  Wein  zum  Willkommgrufs  eingeschenkt  (Fig.  44).  Denselben  Dienst  leistet 
aie  auf  jenen  Kitharodenreliefs  (Taf.  IX)  dem  Apollon  als  göttlichem  Urbild 
aller  Sieger  in  seiner  Kunst,  wie  sie  denn  frflhzeitig  an  Hebes  Stelle  zur  Götter- 
mnndsohenkin  schlechtweg  erhoben  wurde.  Selbst  dem  Dienste  des  rühmlich 
Gesciuedenen  versagt  sich  die  menschenfreundliche  Göttin  nicht  (Fig.  47): 
leise  herantretend  legt  sie  ihre  Kränze  an  den  Stufen  seines  Grabmals  nieder.^) 

X 

Diese  Uebenswflrdig^  GesehEflagkeit  ist  nun  andi  der  Boden  geworden,  in 
dem  «in  nener  Oedanke  Wortel  fiiJbte  nnd  herrliche  Bifiten  trieb:  die  Vidheit 
der  Siegesgöttinnen.  Zwar  dOrfte,  wie  wir  eingangs  Ton  üsener  gelernt  haben, 
schon  der  uralte  Volksglaube  jedem  einzelnen  Siege  seine  besondere  Augen- 
blicksgöttin zugeschrieben  haben.  Aber  die  theologische  Systematik  Hesiods 
hatte  die  Vorstellung  der  einen  dauernden  Sondergöttin  an  die  Stelle  gesetzt. 
Und  wenn  die  arehaische  Kunst  mehrere  Niken  nebeneinander  stellte,  wozu  ihre 
Verwendung  aln  Firstschmuek  Anlafs  ge})()ten  haben  kann,  dann  wird  dan  nur  als 
VVltiderboluüg  der  einen  Gestalt  verstaudeu  worden  sein,  lu  wirklich  lebeudigür 
Mdirzahl,  zamSchst  paarweise^  finden  wir  sie  erst  auf  Yasen  nnd  Bdie&  poly- 
gnotiseh-pheidiasiseher  Zeii*)  Ihnen  folgt  sogleich  das  Slteste  Beispiel  einer 

')  Nach  F.  Gardner,  Catal.  of  Gr.  vases  in  the  Asiunolean  Museum,  Oxford,  Tf.  14 

*)  Die  MfinzbUder  Fig.  41  4S  sind  aus  P.  Gardner,  Tjpes  of  Gr.  coins  Tf.  S,  4;  6,  13 
nprodmiert  Vgl.  Kalkmaaii,  Bonner  Stadien,  R.  Kekuld  gewidmet,  8.  SB  ff.;  Finder, 
Isthm.  1,  26,  Nem  6,  42. 

*)  Fig.  Ab  nach  Lenormant  de  Witte,  £lite  c(lramogr.  I  Tf.  96.  —  Fig.  46  von  der 
Vase  in  Manchen  Nr.  386  nach  ReiKh,  Gr.  Weihgesch.  S.  69.  —  Fig.  44  Yase  Bnt.  Mus. 
E  ST«  nadk  Geibard,  Annri.  gr.  Yaseab.  II  Tf.  160.  —  Fig.  47  UkjÜm  am  Eretria  ia 
Oifbrd,  Joura.  of  Hell  ^ti:(1.  XV  (m^)  Tf  15. 

*)  Vasen  z.  B.  Brit.  Mus.  Nr.  £  460  46»;  Reliefs  Friederichs -Wolters,  GipsabgüMe 
Nr.  11&4  1185. 


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F.  atodaiesk»:  Die  Sk^MgOttiiL 


grölseren  Menge:  am  Throue  des  olympischen  Zeus.  Die  vier  Thronbeine  um- 
gaben unten,  wo  an  die  beiden  inneren  Seiten  eines  jeden  die  bemalten 
Schranken  ukeetElen^),  je  zwei,  oben  jedodi  ringsum  je  vier  Nilnn,  im  Beigen- 
liftDie  b^riAm,  aho  gewilk  nieht  mehr  in  hiofo  dekonttver  Yerrielfitltigang 
gedaohi  Und  dieser  unbegrenzten  flehar  bemichtigl  eich  alsbald  die  tätige 
Beweglichkeit,  welche  dexn  Einwlwesen  langst  eigen  war.  Ihren  khtssischen  Aua- 
dmek  erhielt  dieee  Vonteilung  an  der  Balustrade  dea  Tempels  der  Äthena  Nike. 

Rechts  vor  dem  perikleiHclien  Prachtthor  zur  Akropolis  tritt  dem  Heran- 
kommenden eine  wohlgefügte  turmartige  Bastion,  der  Pyrgos  entgegen.  Auf 
ihm  wurde  doch  wob]  nach  dem  Propyläenbau,  in  der  frUheren  Zeit  des  pelo- 
poimeaischeii  Krieges,  das  zierliche  ioniaeho  Tempelchen  der  Athena  Nike  erbaut.*) 
Kultuarücksichten  werden  es  gewesen  sein,  welche  den  Architdden  swangeu,  die 
Kapelle  Imrt  an  den  Abatots  des  Pyrgos  keraazarfleken.  Dennodi  eniBchkfii 
man  mth  erst  spater,  Termatlich  aadi  einem  der  groÜmi  Erfolge  des  peloponnesi- 
sohen  ^eges,  den  gefibrliehen  Fkia  emnifrMdeo.  Alle  drei  Seiten  des  Pyrgos 
umfafste  eine  Brustwehr  aus  meterhohen  Marmorplatten^  nach  aulsen  mit  pracht» 
vollem  Hochrelief  geschmflckt.  Auf  jeder  Seite  saia  die  Tempelgöfcfciny  der  Er- 
richtung von  Trophäen  und  der  Darbringung  von  Siegesopfern  znschanend. 
Diesen  Gottesdienst  aber  verrichteten  nicht  Mäuuer  und  Frauen  von  Athen, 
sondern  eine  entzückende  Schar  beschwingter,  geschmeidiger  Mädchengeatalteo, 
deren  Schönheit  eine  raffinierte  Meiat^^rschaft  der  Gewandbehandlung  mehr  ver- 
vielfachte als  verhüllte.  Von  den  Trümmern  dieser  Herrlichkeit  seien  Ihnen  nur 
sutf  IC  einige  HaaptsMcke  doroh  Abbildangen')  ins  GedSehtnis  gerufen  (Fig.  48 — 51). 
Die  gpnse  Platte  aeigt  links  eine  Nike,  die  iieh  mit  dem  ToigesetBten  Falke 
gegen  eine  Bodenerhebnng  stemmt,  mn  an  der  Leine  die  dnrciigebende  Opfer^ 
koh  zurückzuhalten,  vor  der  die  andere  erschreckt  zurückwmdit.  Dann  folgen 
swei  mit  erhobenen  Händen  an  Trophäen  beschäftigte  und  endlich  die  reiiendate 
von  allen,  die  in  geschmeidiger  Balance  schwebend  die  Sandale  vom  erhobenen 
Fufsc  M'M;  sie  wenigstens  tragt  ihre  Flügel  nicht  ohne  Nutzen. 

beibst  au3  diesen  Bruchstücken  lacht  uns  noch  eine  verschwenderisch  aus- 
gebreitete, fast  kokette  Schönheit  entgegen,  von  der  wir  begreifeu,  dafs  sie  in 
mehr  als  einer  Hinsicht  für  die  .Nikedarstelluugeu  der  Folgezeit  den  Ton  an- 
gegebm  hai  Znniehst  waren  die  Bdnttndenreliefii,  «a  «nem  der  beror- 
mgtesten  Ptttn  der  ersten  KonststStte  Oriechflnlsads  tot  aller  Angen  ge- 
stsUt,  eine  nnersebSpfliehe  Fondgmbe  von  KmdlongBmotiven.    Dann  aber 


>)  E.  Oardner,  Jounial  ef  HdlflD.  rtnd.  XIV  (1894)  8.  «SS  ft  Robert,  MarallHMueUadit  B.  9». 

*)  Die  von  Kawadias,  'Ecpr]fitQ.  ti^j'^toloy.  1897,  Tf  11  S  143  ff.  herausgegebene  IcAchrift 
lehrt  allerding«,  dafs  der  Bau  schon  in  der  früheren  Zeit  des  Periklee  bcschloBsen,  nicht 
aber,  dafs  er  damals  ausgeführt  wurde.  Die  Gründe  für  spätere  Entstehong  dargelegt  von 
Wollen,  Booti«-  Stediea,  It.  KtknU  gvwidmefc,  8.  9S  ff;  vgl.  Paehstein,  Ion.  CapiteU  8. 14ffl, 
Fnrtwangler,  Meisterwerke  S.  207  ff 

»)  Nach  Kektild,  Die  Balustrade  der  Athena  Nike  Tf  lA,  3B,  4M0  Vgl.  Collignon. 
Hisi  d.  L  sculpt.  gr.  II  8.  104  tf.,  wo  jedoch  die  wichtige  Untersuchung  von  Peteraen  aach- 
nfatgen  ist:  Zeitschr.  l  d.  ttatenr.  Ojmn.  XXXU  (1881)  8.  S61. 


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F.  Studniczka:  Die  äiegesgOttin. 


399 


wieieii  sie  den  Weg  zu  der  dnsigeii  Nenemsgy  welche  die  Zeit  des  Praxiteles 
«n  ihrer  Charakteristik  nocli  vorzunehmen  fand:  die  Verkörperung  des  Tiel- 
begehrten  Sieges  wird  derjenigen  Gottheit  angenähert,  die  das  begehn  t  s  ^  t  rte 
Weib  als  solches  darstellt,  der  Aphrodite,  schliefslich  auch  in  der  halben  oder 
ganzen  Entblöfsung.  Als  ansprtichsloHor  Beleg  für  beides  diene  eine  Qnippo 
vorn  Relief  della  Valle  in  Müni-hen  ( Kig.  ^2),  eins  von  den  '/.ahlreichen  Ikn- 
spieieu  der  stioropfemden  Nike,  deren  Motiv  auch  schon  auf  der  Balustrade 
vorgebildet  war.^; 

XI 

Emr  1-  ülle  von  Niketvpen  enthalten  die  Münzen  vom  vierten  Jahrhundert 
abwärts,  namentlich  die  der  Feldherren  Alexanders  des  (Jrofsen,  die  sein  un- 
ermefslicheB  Reich  iu  die  verschiedenen  hellenistischen  Herrschaften  zerrissen 
haben.  Durch  nichts  wird  die  Grofse  des  unb^eiflichen  Helden  —  an  der 
la  nSkeln  eine  beschämende  Mode  nnserer  Tage  ist  —  so  lant  yerkfindely  wie 
durch  die  Zahl  der  ehrgeizigen,  maehirollen  PersSnlidikeiten,  die,  unter  sdner 
Ffihnu^  m  einheitliofaem  Zusammrawirken  gebindigt,  über  seinem  frflhen 
flnibe  sich  aufeinander  stOnten  in  titanisdiem  Bingen,  als  deMen  Preis  dem 
Sieger  mit  berückendem  Glänze  das  Königsdiadem  winkte.  Und  diese  dämonisdi 
gewaltige  Zeit  hat  uns  denn  unter  ihren  vielen  Gestaltungen  der  heifsbegehrten 
(rottin  eine  hinterlassen,  die  zwar  auch  an  vorher  Dagewesenes  anknüp%  aber 
dennoch  in  ihrer  Weise  alles  Dagewesene  überstrahlt  und  übertont. 

Im  Norden  des  griechischen  Meeres,  nahe  dem  thrakischen  Gestade,  liegt 
die  rauhe  Felsinsel  Samothrake.  Ihre  ganze  geschichtliche  Bedeutung  beruhte 
auf  dem  Mjsterienkultus  der  Kabiren.  Dieser  erreichte  seinen  Höhepunkt,  als 
sich  ihm  das  Herrschergeschlecht  des  benachbarten  Makedonenlandes  zuwandte: 
FhÜippoe  und  Oljmptas  sowie  beider  Sohn  Alexander.  Auch  seine  Nachfolger, 
.  wie  Lysimaehos  Ton  Thrakien  und  die  ägyptischen  Ftolemäer,  wetteiferten 
durch  stattliche  Neubauten  und  andere  Dienste  um  die  Ounst  der  groleen 
Gdtler.  Dieses  bedeutsame  Heiligtum  wurde  in  den  siebenxiger  Jahren  durch 
österreichische  Ausgrabungen  wissenschaftlich  erschlossen.  Aber  das  grSürte 
Kunstwerk,  das  dort  die  £rde  barg,  war  bereits  seit  1864  nach  dem  Loum 
snsgeflogen. 

Die  ursprünglich  gegen  drei  Meter  hohe  Marmorstatne  wurde  aus  stark 
über  hundert  Fragmenten  und  Ansatzstücken  soweit  zusammengefügt,  wie  sie 
unsere  Abbildungen  zeigen*)  (Fig.  53  54)^  nur  die  linke  Brust  und  Schulter- T»f«»i  xi 
partie  bis  zur  Mitte  des  Halsansatzes  und  der  rechte  Flügel  sind  aus  Gips 
binsugef&gt.  Auch  das  groDsartige  Postament,  dessen  erste  Entdeckung  ein 
sdiSaes  Verdienst  der  Österreicher  ist,  lieft  sich  &st  gana  wieder  insammen- 

')  Abbildung  nach  Keknlt'  a.  a.  0.  S  27 

*)  Fig.  63  nach  grofiier  Photographie  von  Braun  in  Domach,  ö4  nach  derselben  Photo- 
gnpU«,  die  dar  Zink  ia  d«n  Calslogne  wmunaire  von  H^ron  de  Villefoeie  sn  Nr.  18M 
viedergiebt.  Der  Herr  Yetfteeer  hatte  die  Güte,  mir  diesLs  Blatt  zur  Terfilgung  x« 
■teilen,  da«  auch  meiner  Übeneagnag  von  dem  richÜgsten  Staodpiuikie  für  die  fiebnubtung 
U&  o&chsteu  kommt. 


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400 


F.  Stuclnicsüca:  Die  Siegesgöttin. 


bauen.  So  ngt>  immer  noch  mSditig  argreifend,  das  Siegeedenbnal  auf  seinem 
Ehrenplätze,  dem  Treppenabsatz  des  Escalier  Dam,  empor,  imstreitig  der 
stolzeste  Besitz  der  französischen  Antikensammlongen. 

Hit  leichtem  und  doch  wie  stürmischem  Schritte  tritt  das  schlanke 

Riesenmadchen  heraus  an  den  vordersten  Rand  des  Schlachtschiffes,  auf  dem 
sie  über  die  Wogen  dahinfahrt,  um  ulier  Welt  den  Sieg  der  Flotte  zu  ver- 
künden. Der  fröhliche  Seewind  wühlt  in  dem  weidien  (ietieder  ihrer  Schwingen, 
in  den  Falten  des  Mantels  und  des  durehsclieinenden  Chitons.  Aber  die 
Draperie  bildet  hier  nicht  mehr,  wie  an  der  Paioniosnike,  blofa  den  Hinter- 
grund, die  Folie  für  die  Gestalt:  das  Gewand  ist  ein  lebendiges  Wesen  für  sich 
geworden,  das  mit  verediiedMiartig  bedingten,  unendlich  mannigfidtigen  Be- 
wegungen die  jugendlicli  miijestStiachen  Eöiperformeoi  bald  begleitet,  bald 
durcbkrenai 

Diesen  Gewandatil  hat  uns  Benndorfii  ver^idiende  Betraditung')  Ter> 
stehen  gelehrt  als  die  letzte,  reifste  Frucht  der  eigentlich  hellenischen  Ent- 
wiekelung,  man  darf  wohl  sagen:  als  Analogon  zur  Körperbildung  Ljsipps,  wie 
er  sich  denn  auch,  wenigstens  in  einem  schwachen  Abglanz,  an  der  kleinen 
Nachbildung  der  Antiochia  seines  Schülers  Eutvehidpi*  wiederfindet.  Der  Ver- 
gleich dieser  naturfrischen  Formen  mit  dem  üigantcnfriea  von  Pergamon') 
(Taf.  VII  36),  der  trotz  all  seinem  barocken  Überraafs  auch  in  üie^em  Punkte 
deutlich  an  ältere,  ^klassische'  Kunst  anknüpft,  kann  den  Beundorfschen  Zeit- 
ansatz nur  bestätigen.  Und  wenn  er  richtig  ist,  dami  verdient  auch  die  schöne 
Kombination  ToUe  Beachtung,  durdi  die  derselbe  Foracher  dem  herrlichea 
Werke  seinen  Plata  in  der  Geschichte  nodi  genauer  ansnweisen  Tersudit  bat 

Den  glSosendsten  Seeneg  der  ganzen  Diadochenseit  errang  im  Jahre  306 
beim  kypriichen  SalamtB  über  seinen  mSchtigen  und  klugen  Gegn«r  Ptolemaios 
von  Ägypten  der  'StÄdtebezwinger',  Demetrios  Poliorketes.  Diesen  grolsten 
Triumph  seines  Lebens,  der  ihm  mit  seinem  Vater  Antigonos  den  Königsnamen 
brachte,  verkündete  ein  auf  seinen  Münzen  (Fig.  56)  wiederholt  nachgebildetes 
Denkmal,  dem  wahrhaft  königlichen  Weihgeschenbe  von  Samothrakc  ähnlicher 
als  irgend  einer  anderen  Darstellung  der  Nike  auf  dem  iSchiffsvorderteiL^)  Die 


')  Conze,  Hanaer,  Benndorf,  Npup  Unters  auf  Samothr ,  bes.  8.  69  ff 
*)  Di^r  Vergleich  hat  nach  Murraj  auch  Kleiu  (Prajuteles  S.  336;  zu  einer  &«br 
sp&teit  Dati«niiig  der  Nike  verlockt.  Seiiie  Äulaeinuigen  geben  adr  AalsA  tu  eiaem  Bskui. 
Zu  den  nächsten  Verwandten  der  Nike  gehr)rt  nach  ihier  QewandbellSndlung  dio  wunder- 
volle Miinade,  Berliner  Skulpturenkat.  Nr.  tiO«;  man  mufs  nur  die  Verschiodenheit  der 
Mai'ae  und  des  Kleiderstoffes  in  Betracht  ziehen.  Da  von  den  vielen  £rg^zang«yoraucheD 
die  mit  der  Doppelflöte  (die  aech  «aseinsader  genonimen  TOrkemml)  nnnderteiis  nicbi  U' 
wahrscheinlicher  als  die  anderen  sind,  WBge  ich  die  Frage,  ob  wir  hier  nicht  eine  Mannor- 
kopie  nach  Lyi^ipp»  temulenta  tibicinn  vor  uns  haben  PüniuR  XXXIV  63,  von  Klein  gmndlf« 
angetastet).  Dieses  Mädchen  als  trunken  aufzufasseu,  ist  mindestens  ebenso  möglich,  wie 
da§  Originsl  des  Anakzem  BofgheM-Jaoobsen  (vgl.  snletst  Fortw&ngler,  MeiiterwtdM 
8.  es  f.)  als  ein  Büd  f^ovce«  ip  fU^n  ip^tfJunv  xu  beschreiben  (Pausaa.  I  26,  1). 

')  Unsere  Münzbilder  nach  Gipsabdrflcken  der  nerlincr  Sammlung  —  Zu  dem  von 
Benadorf  S.  77  ff.  Zusammengestellten  käme  vielleicht  als  ältestes  Beispiel  die  Schiftbaaia 


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F.  Stadnicska:  Die  SiefcMgAttiD. 


401 


ITierein Stimmung  geht  in  tocLiiischt.'  Einzclhoiten  des  SdiifFshaues und 
dals  dif  Stemp^lschneider  die  Bokleidiuig  vereinfacht,  die  Flügel  dem  Rahmen 
KU  Liebe  gojienkt  Laben,  kann  nicht  als  Unterschied  gelten.  Es  fragt  sich  nur, 
ob  sich  die  fehlenden  Teile  der  Statue  nach  den  Münzen  or^nzen  lassen,  wie 
ee  Meiller  Ztimbiiaeh  venaehfte  (Fig.  55).  Die  Linke  war  gesenkt  und  hielt 
nmik  ndieron  BefeetignngBepureii  ein  etttburtigee  CMt  in  ilmlioher  Lage,  in 
der  die  Mfinsen  das  leidite  Holskrei»  damteUeiiy  da»  wohl  keinen  Tropaion- 
pfiüil,  Bondem  eine  Schiflhtrophie:  die  als  Stütze  des  palmettenähnlu^en 
Aphlastons  am  luKshgeschwung* m  ii  Sihitfghinterteü')  dienende  *Stylis*,  vor- 
stellt. Die  Rechte  kann,  nach  dem  erhaltenen  Schulterteile  zu  achliefsen, 
sehr  wohl  mit  einer  Salpinx  erhoben  gewesen  sein.  Und  dafs  der  Kopf 
soweit  nach  dieser  Hauptrichtnnjr  der  ganzen  Bewegung  gedreht  war,  um 
mit  den  Lippen  das  Trompetenmuudstück  l)er{lhren  zu  können,  scheint  aueh 
mir  der  weich  geschwellte,  nicht  gespannte  Ansatz  des  rechten  Kopfnickcrs  zu 
ergeben.*)  Nw  in  Kleinigkeiten  bedarf  ZtunboMlis  Rekondvnktion  der  Be- 
richtigung; beispieleweiee  mfliste  die  Salpinx  in  untergelegter,  mit  dem  Danmen 
naeh  rechts  gewandter  Baad  mhen,  was  allgemein  flbltch  und  auf  den  MOnaen 
SQ  erkennen  ist.  In  der  ^nplsache  bleibt  sie  möglicb  und  damit,  nach  dem 
gonoen  Sachverhalt,  höchst  wahrscheinlich. 

So  haben  wir  denn  nicht  schlechthin  zwingende,  aber  doeh  sehr  gute 
Gründe  z'i  der  Annahme,  dafs  es  jener  glorreiche  Siep  des  jungen  Helden,  in 
dessen  (JestJilt  und  That«n  Alexander  selbst  wieder  aufzuleben  schien,  gewesen 
sei,  was  diese  Nike  der  Gemeinde  der  seemächtiiren  Kabireu  mit  schmetternder 
Fanfare  kuudgab,  von  ihrem  erhabenen  Standort  im  Süden  des  Heiligtums^; 
weit  hinflbe^Kniend  Uber  den  Sund  nodi  der  thnkisdien  Kfiate,  wo  ifaree 
Herrn  Totfieind  Lysimachos  gebot. 

Aber  mag  die  Entscheidung  Aber  diese  HypottieBe  schliefslich  wie  immer 
anff&Uen,  ftet  bleibt  die  SobEfanuig  des  wunderfollen  Fundes  ob  des  Meister- 
werks eines  gewaltiffen  Künstlers  jener  Zeit.  Seinen  Xanien  wissen  wir 
leider  nicht,  wir  können  ihn  kaum  Termnten.^)  Aber  soviel,  glaube  ich, 
läfst  »ich  bfhnnpten:  es  war  ein  echter  Sohn  der  vom  Genius  Lysipps  be- 
herrschten Epoche;  einer  von  denen,  die  den  verblassenden  Idealtypeu  der 


bei  Kawadia«,  Kouilles  d*£pidaure  S.  38  f.,  wenn  eic  nicht  statt  einer  Nike  auch  Krieger  ge- 
inigeu  beben  kflniite,  wie  die  Praren  am  fl«beitei1ieiifo&  des  Hepbeiatioa  (IKodcv  XYH  lU). 

')  Ammann  bei  Baumeister,  Donkmillor  III  S  1631  ff. 

*)  Babelon,  M<«lange  de  numismat.  I  Tf.  7  S.  203  ff 

*)  So  zuletzt  Hubenaohn,  Die  Mjsterienhciligtümer  von  EleuBis  und  Samotbrake  S.  149. 
Wenn  lidi  Dein  (vgl.  S.  400  Anm.  2)  dagegen  auf  die  ResteimtoreD  des  Berliner  Mmetuee 
beruft,  80  kann  ich  mittoi]cn,  ilafs  ich  demjenigen  von  ihnen,  mit  dem  ich  neulich  den  Thst- 
))o«tnnH  nm.  Qipwbgni«  prüfen  konntet  Herrn  Pesienti,  m  der  berraehenden  Meinuag  be- 
kehrt habe.  • 

•)  Darttber  tdefert  Kern,  IfitML  d.  d.  arch.  Inrt.  Athen  XTDI  (1898)  8.  888  ff.  Dweh 
■eine  und  Bmbeasoluu  (vorige  Anm.)  AusAfamngen  fkllen  m.  E.  sttoh  die  topogisphieeben 
Bedenken  gegen  Benndorfs  Hypothese  fort. 

*)  Kavvadias,  Bull.  d.  inst,  archeol.  1879  S.  11  dachte  an  Eutychides. 


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402 


F.  Stndmcaln:  Die  8i«g«igffttui. 


grolsen  alfcen  Zeit  etwas  von  dem  frisclu'n  Blute  der  liuiividualität  einzuflöfsen 
verfltHiul<*n.  Besitzen  wir  in  der  Nike  dvs  Paionioa  das  fromme  Bild  des  yom 
Himmel  kommeudeu  Sieget«  an  aich:  hier  steht  ein  Werk,  iu  dem  der  einzebe 
Triumph  iidiacher  Madit  so  bestunmieii  Auadruck  erlangt  hat,  ala  iimerhalb 
der  Orensen  idealer  Kunst  nur  irgend  mS^ich  mr. 

xn 

Aus  der  Folgezeit  wüTste  ich  kaum  eine  Nike  anzuführen,  welche  den 
von  der  griechischen  Kunst  auf  den  Hohen  ihres  Schaffens  hervort^pTumchten 
Tjpen  etwas  wesentlich  Neues  hinzugefügt  hätt-e.  Dargestellt  freilich  ward  sie 
noch  unendlich  oft.  namentlicli  als  Vietoria  der  neuen  römischen  Welteroberer, 
deren  Kaiser  tind  Legionen  der  Göttin,  wohl  auch  dem  Vorgange  der  heUe- 
niätiBchen  Fürsten,  auch  einen  wirklichen,  ausgebildeten  Kultus  widmeten.  Und 
es  fehlt  SpUS  ihrem  Berenbe  nidit  gsni  tm  Werken,  die  nnswe  Bewnnderang 
erregen.  Aber  selbst  die  besten  hangen  gans  Ton  iUeren  Geetsltiing«n  ab  — 
wie  ans  ja  sdion  mehrere  rOmisehe  Nachbildungen  griediischer  Originale  be- 
gegnet sind  —  ja  nicht  einmal  imm«r  von  solchen,  die  aus  don  e^pnen 
Wesen  der  Siegesgöttin  heransgewachsen  waren.  Dies  gilt  auch  von  der 
TttM  xn  vielgerühmten  Bronsestatue  in  Brcscia,  aus  der  Zeit  Vespasians^)  (Fig.  59). 
Sie  ist  richtig  eri^nzt  mit  einem  Schilde,  auf  den  sie  die  Siegesinschrift  einer 
Trophäe  aufzeichnet,  ein  Motiv,  das  der  hellenistischen  Kunst  nicht  fremd  ge 
blieben  nein  wird.  Aber  trotzdem  ist  diese  Victoria  nichts  als  <'ino  Variation 
jener  durch  die  Statue  von  Capua  am  besten  vertretenen  Aphrod  t*  dn^  vierten 
Jahrhunderts,  die  den  Schild  des  Ares  als  Spiegel  benutzte  (>ig.  57).  Und 
diese  dürftige  Leistung  fand  doch  soviel  Beifall,  dafs  auch  noch  die  grufsaitige 
Eunstthatigkeit  unter  Trajan  nichta  Besseres  an  ihre  Stelle  zu  setzen  fand, 
was  hier  das  Relief  m  der  TnyanssSoie  beaeugt  (Fig.  58).  Die  OrfiliM  der 
rdraischen  Kunst  liegt  eben  anf  anderen  Gebieten;  ihren  Bedarf  an  Ideal- 
gestalten hat  sie  ans  dem  Erbe  der  Hellsnen  bestritten. 

ünd  Ton  diesem  reichen  Erbe  »ehrte  auch  aUe  Folgezeit,  bewnlst  oder 
nnbewufst.  Die  himmlischen  Heerscharen  unserer  christlichen  Kunst,  was  sind 
sie  anderes,  als  die  direkten  Abkömmlinge  von  Eros  und  Nike?  Und  als  die 
Renaissance  den  selbstbewufsten  Stolz  des  Menschen  wieder  erweckt  hatte,  da 
flog  auch  die  alte  Siegesgöttin  ohne  Maske  wieder  herbei.  Es  ist  nicht  m*  ines 
Amtes,  ihr  reiches  Nachleben  bis  auf  die  jüngste  Zeit  herab  im  einzelnen  zu 
verfolgen.  Aber  darauf  möchte  ich  noch  hinweisen,  dals  sie  selbst  heute,  in- 
mitten all  des  Kampfes  um  eine  neue,  natur-  und  zeitgemäfse  Kunst,  keine 
Miene  macht,  wie  ein  Gespenst  z\i  zerrinnen,  so  grimmig  auch  hin  und  wieder 
diese  'wahren  Monstra*  mit  dem  *nidit  allein  paratypisdieiiy  sondern  aadi 
meefaanisoh  sinnlosen'  'dritten  Ptar  Eztremit&ten'  von  gbubensslarhen  Priesleni 


*)  Zuletzt  beaprochen  vou  i'urtwängler,  Meiaterwerke  S.  631.  Unsere  Abbildoageo 
Fig.  67— M  aadi  Bniim«BniekttsaB,  Denkm.  Nr.  Wl  IM  tSS. 


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F.  Studniczka:  Die  Sicgesf^ötiin. 


403 


der  alleinseligmachenden  Naturerkonntnis  exorziert  werden.')  Der  Name  mag 
noch  öfter  wechseln;  sie  selbst  aber,  diese  holden,  glückverheiisenden  Flügel- 
wesen, zu  denen  der  Zauberstab  des  Hellenentiuns  die  leblos  symbolischen 
*Mif8geschöpfe  des  Ostens'  umgcachaffen  hatte,  sie  werden  fortleben,  so  lang  es 
im  Zusammenhang  unserer  Gesittung  Menschen  giebt,  die  zu  höheren  Wesen 
aufblicken,  dafs  sie  ihren  MQhen  das  Gelingen,  ihren  Kämpfen  den  Sieg  herab- 
senden. Auch  von  ihnen  gelten  die  Worte,  die  Anton  Springer  an  die  Spitze 
seiner  allgemeinen  Kunstgeschichte  gesetzt  hat:  'Mit  den  Griechen  beginnt 
unsere  Kunstwelt.'  , 


')  Zuletzt  meines  Wissens  von  E.  du  Bois-Roymond,  Naiurwisa.  und  bild.  Kunst  (Berlin 
1891)  S.  48  ff.,  woher  die  Zitate  entnommen  sind 


t 


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ZUR  gp:schtcttte 

D£B  LEURDICHTUNG  IN  DER  SPÄTAÖMiäCHEN  LITTEBATUB. 

Tod  Jiruus  Zibbbk. 

Wer  die  rudis  iiidi^estaque  moles  überblickt,  als  dif  wir  in  ErraaDi^n  l  üig 
<'im  s  ni'SHeren  ja  noch  immer  den  zweiten  Teil  der  Antbologia  Latina  e  codKiHus 
protracUi  hinnehmen  müssen,  der  kann  kaum  muUin,  sich  über  das  starke  ÜWr- 
g^cht  SU  wundem,  mit  dem  unter  der  Masse  verschiedenartiger  Gedichte  dort 
die  Didaktik  encheiBt;  die  Didaktik  in  allen  ihren  BrsGhetnungsfonneii  Tom 
acUiehten  versus  niMnonalis  bis  vom  «m^rttchsTollen«  Lebrg^chl^  das  Lnkre- 
Eifldien  Ton  imitiert  und  sich  mit  altertOmehidea  Wendung^  WOrde  au  geben 
Buehi  Man  empfindet  das  Bedürfnis,  fUr  dieses  starke  Hervortreten  der  didak* 
tischen  Poesie  die  Gründe  zu  suchen  und,  soweit  es  angängig  ist,  die  einaelnen 
Erscheinungen  ihrer  litterarischen,  wir  dürfen  bei  einigen  &8t  sagen  publi- 
zistischen Beziebung  nach  bosser  vorsteben  7ai  lernen;  als  Anspingspunkt  des 
vorliegenden  Versuclies  in  dieser  Ricbtnnfr  müssen  einige  Bemerkungen  dienen, 
die  ins  Gebiet  der  Poetik  hinüberführen;  aber  littemrbi«tnri«Hiii»  Forschung 
ohne  Kläruiic  der  einschlägigen  Fragen  und  (lesichtspunkte  der  Poetrk  ist  j;i 
woU  ülierliaupt  ein  Unding  und  —  um  von  einem  naheliegenden  Beispiel  zu 
reden  —  der  ^allgemeine  und  sachliche'  Teil  von  TeufiSels  römischer  Litteratur* 
gcscfaichte  ein  metiiodisch  geradem  notwendiges,  leider  aber  nicht  immer  als 
gleidiwertig  anerkanntes  nnd  ausgenutstes^)  Gegenstfick  des  ^besonderen  mid 
pers5nliclien'  Teilea. 

Bchlagm  wir  dem  mten  Teil  des  Teuffislschen  Bndies  ^ekdi  einmal  an^ 
um  die  Darstdlnng  der  Lehrdichtung  in  der  späteren  lateinischen  Litteratur 
einer  Prüfung  zu  unterziehen  (§  23):  'Aus  dem  vierten  Jahrhundert  ist  hierher 
zu  rechnen  des  Palladius  Lehrgedicht  de  re  rustica,  die  vielerlei  Sachen  des 
AuBonius,  besonders  seine  Moseila,  die  Elegie  PböniT,  des  Avienus  De-scriptio 
Orbis  terrae  und  Aratea.  sowie  seine  Ora  maritima,  auch  die  christlich- dogma- 
tischen Gedichte  des  Prudentius;  aus  dem  fiinften  Jahrhundert  des  Rutilius 
Namatianus  lieisebeschreibung  .  .  Es  bedarf  für  den  Kundigen  schwerlich 
langer  Nachweise,  um  darzulegen,  woran  dieser  Teil  des  Teuffelschen  Para- 
graphen krankt:  die  Hoeella  eb  I«ehrgediclitl  Und  gar  das  Itinerar  des  Nama- 

Eti  will  mir  beinahe  Rchoinon.  als  ob  auch  die  Ncubo-trln  itung  des  Ruchea  ia  dtn 
neuesten  Auflagen  dem  zweiten  Teil  mehr  ab  dem  ersten  ihre  Gunsi  zugewandt  hätte;  die 
Scheu  vor  Gemeinplätzen  der  Ästhetik  und  Poetik  von  der  unwissenschaftlichen  Sorte  mag 
dabei  in  stillen  nitwiiken. 


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i.  Ziehen:  Zuv  Oeachichle  der  Lehrdichtmig  in  der  ^AlrBmiachen  Littertttur.  405 

tianiiB  «oll  dn  aolehes  aein:  ioh  wflbte  nur  den  Nunen  su  nenneii  als  Indis 
dafür;  gleich  das  aehSne  Prnslied  des  Selidd«iiden  auf  Rom')  und  dann  so 
manche  stark  persSnlieh  ge&rbte  Stelle  der  weiteorm  Daratellnng  sollte  nns  Ittr 
die  po^sehe  Einreihnng  des  C^ichtes  doch  ein^  Besieren  belehren.  Selbst 
beim  Phönix  kann  man  Zweifel  hegen  —  aber  der  Mosella  und  dem  Reditus 
wollen  wir  den  Ansprach  auf  Berücksichtigung  ihres  lyrischen  Charakters  doch 
unverkürzt  lassen. 

Teu£Fel  erwähnt  weiter  die  Lehrgedichte  des  Orietitins,  Dracontius  sowie 
des  Avituö  und  fährt  dann  fort;  'Ist  in  den  meisten  dieser  Arbeiten  die  Versi- 
tikation  eine  äul'serliche  Zuthnt  zu  dem  Stoffe,  so  schwindet  vollends  der  poetische 
Gehalt  bei  den  Lehrgedichten  vou  ürammatikeru  für  den  Gebrauch  der  tSchule, 
dergleichen  nicht  nur  die  versus  memoriales  sind,  simdem  namentlich  die 
Lehrbücher  der  Rhetorik,  Metrik,  Ptosodik,  Metrolc^e  in  gebundener  Form, 
die  carmina  de  flguris  Tel  sohematibns,  des  Terentianns  Werke  de  littwis,  de 
syllabis  Tarsus  heroic^  de  metris  Horatü,  die  ihnliehen  yoa  Gaesius  Bassns  und 
Albinus,  d^  Rufinns  Verse  de  metris  oratorum,  die  carmina  de  ponderibas  et 
mensnris,  de  librae  partibus  u.  dergL  Unternehmungen  ähnlicher  Art  sind  die 
Arzneimittellehre  von  Serenas  SammonicuSp  Finnas  and  Vindicianns»  das  Lehr^ 
gedieht  de  aucupio  u.  a.* 

Es  war  nötig,  den  ganzen  Passus  aus  Teuflfel  abzudrucken,  denn  wir  haben 
es  mit  der  Grundfrage  nach  dem  Wesen  und  den  Erscheinungsformen  der 
didaktischen  Poesie  zu  thun,  wenn  wir  nachprüfen,  wtlche  Dichtungen  alle  für 
den  vortrefflichen  Geschichtachreiber  der  rönuschen  Litteratur  unter  den  Begriff 
Ulen:  Werke  von  'Grammatikern',  'fUr  den  Gebrauch  der  Schule'  gedichtet. 
Zm  Sdüagwdrler  haben,  wie  mir  sdieinen  will,  in  der  Au&ssang  rSmischer 
Idtteratarwerke,  namentlidi  der  Kaiseneil^  viel  Schaden  angerichtet  and  kOnnen 
lieh  reichlicher  Wirkung  in  dieser  Riehtang  noch  heute  rühmen:  ich  will  den 
UUsbrandi  des  Wortes  *rhetori8ch'  an  anderer  Stelle  flr  das  Geschiehtswerk 
des  Florus  darzulegen  sudien,  hier  haben  uns  die  Ergriffe  'Grammatiker'  und 
*Schuk '  in  ihnar  Besiehang  war  didaktischen  Poesie  etwas  näher  zu  beschäftigen. 

Ich  entsinne  mich,  vor  kurzem  irgendwo  Worte  der  Würdigung  für  den 
poetischen  Charakter  des  Serenus  Saniraonicus  ^ele*jen  zu  haben:  offen  ge- 
standen, da  möchte  ich  lieber  nicht  mittbun,  und  wu  immer  ich  bisher  in  der 
Absicht  einer  dermaleinstigen  Gesamtbehandlung  des  Gegenstandes  der  didak- 
tischen i'oesie  in  der  Litteratur  der  verschiedenen  Völker  nachgegangen  bin: 
auf  rebellische  Gedanken  gegen  'Pope  ein  Metaphjsiker'  kann  einen  kaum 
eines  von  allen  Lehrgedichten,  vom  Serenas  Sammonmos  aber  sicher  auch  keine 
einiige  Zeile  biingen.  Aber  ein  anderes  ist  poetisdier  Wert,  ein  anderes 
littorsrisdie  Bestimmung  «nes  didaktischen  Poems,  und  in  Besag  auf  diese 

')  Zur  poetischen  Gattung  vergleiche  man  die  Querela  de  Mantua  <c  686  Kiesr';  fs  hi 
ia  dem  Gedichte  V.  8  meines  Erachtens  als  Ganzes  ohne  jede  Änderung  sehr  wohl  ver- 
■ttndlidil)  uad  dai  CbrnMN  de  üfedtofamo  ctvüoie;  als  eingelcigift  Partie  m  einem  grOfserea 
Ganzen  auch  die  für  unsere  Keaatais  satilnn  Stftdteweaent  iriehtige  Lobrade  auf  Nsrboime 
b«  Sidon.  ApoU.  c.      S2  ff. 


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406    •I-  Ziehen:  Zur  Qeichichte  dar  Lehrdiehtung  in  der  BpfttzOniiichen  Uttemtw. 

letfttere  ist  miuiM  Sraehtont  die  oben  abgeärmM  Darlegung  Teuffiab  in  mehr 
eb  eineiii  Paukt  Terfbhli 

Das  Lehrgedicht  ist  unserer  Zeit  völlig  frrand,  vir  mflseen  aleo  die  ver- 
gleichende Littenturgesehichie  um  Bat  fragen,  wollen  wir  die  IKcIitungsart  in 

ihrer  Beziehung  znm  Leben,  vor  allem  ihrer  Zweckbestimmung  nach  würdigen 
oder  verstehen  lernen.  Die  Lehre  aber,  die  wir  da  erhalten  und  fQr  deren 
Richtigkeit  ich  hier  nur  anf  Lichtwers  Verhältnis  zu  Woli",  auf  Herders  nicht 
zum  Austrag  gekommenes  Verhältnis  zu  Kant  und  auf  ein  Kuriosum  der  neu- 
französischen  Litteratur,  auf  Du  Roiu^s  Art  historique  hmweiseu  will,  diese 
Lehre  lautet  folgendofmaleeD:  Die  Beelinunung  dee  Lehrgedichtes  in  allen  seinen 
beesemi  ErscheinungBfonneQ  ist  Popularieierang  des  von  ihm  bdiand^ten  Stotfea^ 
Zweck  der  Lehrdichtong  ist  prsktische  Einwirkung  auf  die  Dir  den  betreffenden 
Stoff  in  Betracht  kommenden  Lebenskreise,  nicht  aber  die  Ableitong  Aber* 
sdhflssiger  VerHiiizierungK-  und  Dichtbedürfoisse  eines  mülisigen  Ingeniums  an 
einen  rein  scholastischen,  dem  Inhalt  wen^^  dem  Wort-  und  Versgeldingel  &at 
ausschliel'slich  zugewandten  Leserkreis.  — 

Unsere  allgemeinen  Bemerkungen  über  die  Poetik  des  Lehrgedichtes  sind 
etwa»  lanjT  geraten,  aber  vielleicht  werden  wir  entscliüJigt,  wenn  wir  nun  beim 
Durdiblutteru  der  latemit^chen  Anthologie  und  bei  Ausblicken  auf  andere  ihr 
seitgenÖBsndie  Dichtungskreise  dn  Stfi^  qtitr&nisdier  Knltttigesdnehte  etwas 
riditigN*  beurteilen  können. 

Das  Comm  de  pondmbust  dar  Autor  ist  nicht  mit  Sidrarheit  festBUsteUen, 
aueh  die  EntstHhungssdt  nur  annähernd,  auf  das  vierte  Jehrhund^t^  m  be- 
stimmen; wenn  als  Adressat  ein  Sjmma<^us  erschetn^  so  führt  uns  das  in  die 
Kreise  nicht  nur  gelehrter  Forschung,  sondern  auch  praktischer  Staatskunst 
hinein.  Potidcra  Paemiis  veterum  niemoratn  liheUis  nosse  iuvat  —  die?  der  An- 
fang des  Yf'ch\  philoHopluseh  (s.  V.  7)  anhebenden  Proomiuma;  die  priores 
npielen  auch  sonst  wiederholt  in  dem  üedichte  eine  RoUe,  aber  im  übrigen  ist 
docii  der  Inhalt  des  kleiueu  Werkes  durchaus  praktischer  Art,  und  besonders 
die  Erwähnung  der  l^m  jperiH  V.  22  ist  kaum  ohne  bestimmte  Beaiehung 
hinzunehmen;  man  kann  bei  wiederholtem  Durehlesen  dee  Qedudites  siidi  nicht 
des  Gedankens  erwehren,  dalSi  der  Verfssser  des  Carmen  in  lesbarer  und  leicht 
behaltbarer  Form  für  diejenigen  sdueiben  woUte,  denen  die  Kenntnis  der  Ge- 
wichte und  Mafse,  alter  und  neuer,  im  praktischen  Leben,  also  vorwiegend 
wohl  im  Handelsleben  von  nöten  ist,  besonders  für  das  Yer.sUlndnia  gesetzlicher 
Bestimmungen  über  Handel  utul  Wandel;  als  Schullektüre  hingegen  ist  das 
Carmen  doch  hei  Licht  heselien  eigentlich  ein  Unding  und  —  Handelsschulen, 
für  die  es  sich  zur  Hoi  hinnehmen  lieise,  die  kommen  ja  nicht  in  Betracht*) 

^  Wir  noid  dem  Hemmerven  in  nnieren  Graauuattken  so  begegnen  gewohnt;  weniger 
bakannt  und  als  FSfellelerscbeinung  zu  antiken  'Lehrdichtungen'  in  des  Wortes  tmtenfeer 
Bedeuiun;;^  von  Intpropse  ilHrftf  »pau  ein  Versiicli,  die  Arithmetik  fi'ir  HiindelHzweclcP  in 
Memolierveräe  i.u  bringen,  wie  ihn  L.  Chavignauds  in  tuehreroQ  Aaf  logen  erschienene  'NonveUe 
SfiCluii^qae  appliqate  au  commerce  et  4  la  marine,  uüaa  sd  Ten'  dantdlt,  Ober  ein  nomis- 
mattcdiw  Lehiqgedidtt  des  18.  Jehrbonderts  c.  Stark,  Arehftolegie  der  Keait  8.  Ml 


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J.  ZUktas  Zur  G«tchiehte  d«r  Lehididitnng  ia  d«r  qAtrtmuclwa  Uttemtiur.  407 

Weit  janger  seiner  Entttehmigneit  nach  ist  dw  Ueine  Lehigedidit  des 
GotenkönigB  Sisebnt  (61S— 680),  dis  in  Rieses  Sunmlimg  den  miten  ilss&kel 
der  Anthologie  evOffiiet  (Nr.  482  vgl  Tenffd  §  495, 2);  es  fUirt  die  Anftdirift: 
I^pkkUa  SiBMi  regit  Gokmm  müm  od  Jbiäomm  de  lifti«  roknmt  €lemeiis 

ScotuB  giebt  ihm  den  Titel  De  eclipsibus  Solis  et  Lunae.  Isidor  hat  den  Goten- 
könig zum  Dichten  au^efordert  (V.  9  f.  En  quibus  indicas  nf  rrinem  fnmdea 
Fhofhi  Sttccinffant  heder aeoe  comas  at^ustius  unU^rent)]  der  fürchtet  zwar,  der 
Aufgabe  im  Drange  anderer  Sorgen  nicht  gewachsen  zu  sein,  aber  mit  einem 
S'-d  tarnen  (  V.  \b)  giebt  er  dem  Wunsche  des  Isidor  nach  und  wendet  sich 
seiner  Materie  zu,  die  durch  das  Zitat  des  bcotus  ganz  richtig  bezeichnet  ist. 
In  41  Versen  ist  die  Sache  abgethan;  ob  mit  dem  puius  von  V.  M)  (vgl. 
33  aspice)  ebenfalls  noch  Isidor  gemeint  ist,  oder  der  Leser  des  Gedichtes  im 
aUgoneiiMiL,  kaim  swdldiisft  sein;  aber  der  Zure^  der  Ideinen  Dichtung  ist 
uns  aofili  in  diesem  Falle  durch  eine  Andeatong  nSher  beaeiehnet,  die  kaom 
mÜraaTeratehen  ist  V.  16  ff.  ^triebt  Sisebat  Ton  der  Mondfinsternis  und  maeht 
dabei  die  folgende,  leider  am  Schlosse  TerstOmmelte  Bemerkni^  (18  ff.): 

Non  iUam,  ut  populi  crednnt,  nigrantibus  antris 

infemas  olulans  molier  praedira  sab  ombras 

detrahit  altivaga  e  qpeeola,  nee  caimine  victa 

Tel  rore  Stygias  .  .  . 
Wir  sehen  den  König  mit  diesen  Worten  den  heidniHchen  Aberglauben  be- 
kämpfen, und  es  ist  wohl  zu  verstehen,  dals  ein  Vertreter  der  Kirche  an 
diesem  Streben  einer  so  hochgestellten  Persönlichkeit  sein  Wohlgefallen  haben 
konnte.  Mehr  als  manche  lange  homiletische  Auseinandersetzung  mochte  auf 
mite  Kreise  der  germaniscb-rdmischen  Bewohntt*  Spaniens  dieser  Bdehrungs- 
fetsaeh  ans  könif^iehem  Hunde  Eindmek  machen;  und  damit  scheint  mir  auch 
ftr  dies  kleine  didaktisdie  Gedicht  ein  praktiaelMr  Zweck  beseichnet  sa  sein, 
der  weit  Aber  die  Bedttrfiiisse  der  Sdrale  binansgeht 

Freilich,  nicht  immer  mochte  den  Vertretern  der  Kirobe  das  Bestreben  will- 
kommen sein,  die  naturwissenschaftliche  Darlegung  und  die  nüchtern  Terstandes 
mäfsige  Erklärung  (s.  rafum  rationis  opus  bei  Sasebnt  V.  33)  in  der  Form  von  Lehr- 
gedichten w(^i^^  Verbreitung  tinden  zu  lassen;  einen  AngriflF  auch  auf  didaktische 
Poeme  im  Stile  des  Sisehnf sehen  hndeii  wir  bei  Paulinus,  dem  N'erfasser  des 
Ep^ramma,  der  V.  42  fi.  Hmncs  Gedichtes  folgende  Bemerkung  macht: 

At  qui  confessis  vitiis  et  crimine  aperto 

nun  potuere  capi  —  vütutiti  imagine  ducti 

altins  occulti  foyerunt  vulneris  nlcns 

hos  tcmna  trahit  sapientia  neseia  veri 

et  uiseros  idem  qni  denpit  indtat  error. 

Inqninmt  cansas  remm  astrormnqne  meatns, 

qnae  ait  forma  poli,  enr  longo  flmnina  enrsa 

non  pereant,  latus  iaceat  quo  limite  pontus, 

quaeque  deo  tantum  sunt  nota  recondita  cunctis, 

aeire  Tolunt  hen  pro^que^  nefiw  et  soire  videntur. 


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408        Ziehen:  Zur  Uesdücbte  der  Lehrdichtung  in  der  spätrömiachen  Litteratur. 

latdornsy  d«r  Adresiat  dM  Siflebttiaelien  YeranelieBy  steht  nidit  auf  dem 
engen  Standpunkt  dieser  Worte  des  Paulinus;  hat  er  dodt  selbst  in  der  durch, 
das  ganze  Mittelalter  hindoreh  fiel  geltenden  Schrift  De  natata  renm  den  Ter- 
sudi  gemacht,  die  Foraehungen  der  Heiden  mit  den  Darlegungen  der  mihdici 
piri  in  Einklang  zu  bringen;  Sueton,  Solin  und  Hyginus  fs.  Teutfel  §  496,  0) 
komnuii  neben  Clemens,  Ambrosius  und  Augustinus  zur  Cxeltung,  und  das 
kleine  Prosaschriftchen  stellt  —  in  mehr  als  bescheidener  Ausführung  frei- 
lich —  eine  Urkunde  in  dem  uralten  und  nie  zu  Ende  gefochtenen  Kampfe 
zwischen  Uluubeu  und  Wissen  dar;  bei  der  Betrachtung  christlicher  Lehrdich- 
tungen über  die  Schdpfuugägeschiehte  können  vir  des  flbelgelungenen,  aber 
woUgememten  Yenndies  noch  euuoal  gedenken. 

Ffigen  wir  in  diesem  ZuBammenhange  gjleieh  ein^  Worte  hinan  fiber  die 
RoUe,  die  das  Lehrgedicht  in  der  altchriatlichen  Litterator  eelber  spielt*)  Als 
erste  Art  didaktischer  Dichtung  tritt  uns  da  die  polonisdi-apologetische  Poesie 
entgegen,  toh  der  wir  in  der  lateinischen  Litteratur  an  einem  Gedichte  des 
PbnlinuB  TOn  Nola  ein  interessantes  Beispiel  besitzen;  es  ist  c.  32  der  Hürtel- 
sehen  Ausgabe  f  R  ff  ),  dessen  Inhalt  durch  das  Proömium  mit  folgenden 
Worten  bezeichnet  wird: 

Discussi,  fatoor,  sectas,  Antonius^  omnes, 

plurima  quat^ivi,  per  singula  quaeque  cucurri, 

äed  nihil  inveni  melius  i^uam  credere  Chi'isto. 

Hsec  ego  disposni  tou  describere  Tsran, 

et  ne  displieeat  quod  talta  earmina  pondo, 

David  ipse  Denm  modnlata  Toee  rogavit; 

quo  nos  exemplo  pro  magnis  parra  eanemns, 

dioentes  qnae  sunt  fugienda  sequenda  eotend», 

cum  tarnen  in  cnnctis  et  res  et  causa  probetur. 
Der  zweite  Teil  des  Gedichtes,  von  V.  10  bis  V.  150,  bringt  die  Bekämpfung 
der  Sekten,  von  denen  in  V.  1  die  Kede  gewesen  war;  die  Juden  eröffnen  den 
Reigen,  dann  reihen  sich  die  verschiedenen  lieligions  und  auch  die  pbüo- 
sophischen  Richtungen  des  Altertums  wenigstens  zum  Teil  an.  Ein  Teil  deu 
Stoffes  kehrt  in  dem  anonymen  Carmen  mntra  paganos  in  ganz  ähnlicher  Weise 
wieder,  bei  welch  letzterem  jedoch  der  poiemiKche  Charakter  —  mau  denke  an 
die  immer  wiederkehrende  Bezugnahme  auf  den  aaerakisl  —  der  henwhende 
ist*).  In  ganz  anderer  poetisdier  Umgebung  hat  denselben  Stoff  dann  Fkvdentiuf 
in  seinem  10.  Märtyrei^edicht  angebracht;  in  die  Passion  des  h.  Romanos  ist 
eine  mit  hoher  dramatischer  Kunst  belebte  LiTektive  gegen  das  Heidentum 
verweben,  die  den  didaktischen  Charakter  mindestens  ganz  in  den  Hintergrund 
gedrängt  zeigt  vor  der  selbständigen  kflnstlerischm  Idee  des  Ganzen.  Berück- 
sichtigt man  die  Absicht  der  freilich  lang  genug  gedehnten  didaktischen  £in- 

*)  Zu  vttgleiehen  sind  etwa  die  AmfQliniiigen  von  Msoitiiu,  Oeieli.  der  dimti.>lstdai. 

Poesie  (Stuttg.  1891)8, 7 IF,,  mit  denen  das  hier  gegebene  freilich  nicht  überall  fibereinstimmt. 

*  Mit  contra  paffanox  te  seriberr  bezeichnet  übrigens  Augustin  (Ep,  S4) 'gerades»  den 
Inhalt  des  Uedichtes  von  Paulinas  selbst;  s.  Teuilel  §  437  Anm.  4. 


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J.  ScSmd:  Zar  GeMihiehte  d«r  Ldwdiditiing  in  der  ipftMiuuehen  LitteMtar.  409 


lagen  jenes  Gedichtes,  so  wir(i  man  «ioch  Bedenken  tragen,  mit  Manitius  S.  93  f. 
2u  urteilen,  (ials  es  'aus  äufseren  und  inneren  Gründen  zu  den  schnröchsten 
Cfedichten  des  Prudentius  gehört'. 

In  grolaeiii  Maßstab  hat  derselbe  PradentiiiB  aber  das  Lelirgedicbt  in  den 
Dienst  dar  Polemik  gegen  das  Heidottun  gestellt^  indem  er  die  bttden  Blleher 
gegen  S^mmachus  rei&fste;  wir  können  nur  bedauern,  dals  es  uns  Tersagt  ist^ 
j<m  den  Entstebongsverhalinissen  und  den  ersten  Wirkungen  der  beiden  Bflcher 
nach  ihmn  Ersciheinen  auf  Grund  zeiigmössisolier  Berichte  eine  genauere  Vor- 
stellung zu  gewinnen.  Wer  das  Werk  vorurteilsfrei  und  obne  es  in  unbilliger 
Weise  an  den  Schöpfungen  der'  Augusteischen  Zeit  7U  messen  betrachtet,  mufs 
jnigestehen:  es  ist  eine  prewaltigo  Leistung,  gerade  als  praktische  Kampfschrift 
teilweise  sehr  fein  berechnet,  übrigens  auch  trotz  soinos  ausgesprochen  lehr- 
haften Charakters  durch  zahlreiche  Kunstmittel  der  satirisch-polemischen  und 
der  lyrischen  Poesie  über  die  öde  Form  der  blofsen  Leurdichtuug  weit  empor- 
g^oben,  ein  w&rdiges  Gegei»tfi<&  ro  manehem  poekiieli  weiirdlen  Work  des 
leitg^Sasisehen  Clandianus;  besonders  das  poetisch  gewifs  w«t  bedeutendere 
sweite  Buch  hat  an  AusfBlurangen  wie  die  Aber  die  rSmisdie  Sittmlosigkeit 
einerseits,  die  Einbeiilidikeit  des  Eultnrlebais  im  Imperium  Bomamum  and«er- 
teits  Stellen  von  hoher  dichterischer  Kraft.') 

Auch  die  Sektenkämpfe  innerhalb  der  jungen  christlichen  Kirche  selbst 
haben  das  Lehrgedicht  in  ziemlich  ausgedehntem  Mafse  in  ihren  Dienst  ge- 
nommen, der  praktische  Endzweck  der  Dichtungsart  kann  natürlich  auch  auf 
«liesem  Geliiet  gar  nicht  genug  betont  werden.  Pro8j>er»  (iedicht  JJtt  in<jrutis 
geht  dem  mhdxr  Brifnnnm,  dem  Pdagius,  in  einer  Weise  zn  Leibe,  dafs  man 
deuthch  merkt:  m  i&i  auf  ein  thatkräftiges  Eiugrcifuu  zu  Gunsten  der  Lehr- 
meinong  des  Augustinus  abgesehen;  dem  entsprechend  sagt  der  Dichter  auch 
sc&on  in  der  Plrae&tio  (V.  3  It): 

AdTersum  ingratos  fUsa  et  virtute  superbos 

eentenis  decies  TSrstbns  ezcolui  (sciL  die  HeilBlehre); 
qnos  si  faanquilla  stndeas  ci^nosoere  eura^ 
tutus  ab  adverso  turbine,  lector,  eris. 
Von  einer  packenden  Darstellung,  die  den  Leser  mit  fortreifsen  könnte,  ist 
freilich  in  dem  Gedicht  nicht  die  Rede. 

Auch  das  pseudotertullianische  Gedicht  f?egen  den  Marcin,  dessen  Heraus- 
gabt; wir  von  A.  Oxe  ho£Pentlich  recht  bald  erwarten  dfirfen,  zeif^t  die  Didaktik 
ohne  die  künstlerische  Rechtfertignnii.  die  ihr  Prudentius  meist  zu  geben  weifs, 
in  ihrer  rein  der  praktischen  Verwendung  Rechnung  tragenden  Kahlheitj  das 
dflrre  Ingenium  des  Verfassers  weills  z.  B.  in  der  langen  AoCEählung,  die  das 
dritte  Buch  anfüllt^  kaum  hier  und  da  einmal  su  etwas  gehobenem  poetisehem 
Ausdruck  su  gelangen;  und  das  Gedicht  ist  doch,  wie  schon  Berne  Ausuntaung 
durch  Yietorinus  beweist,  entschiedMi  genug  gelesen  worden. 

')  Das  Fragment  der  Prodigiendicbtung  de«  Fatriciua  (c.  791  Kiese)  glaubt  meines 
InwiitBiHi  Uauiiitts  su  niTerriditlicb  leiner  Tendens  nach  beurteilen  la  kflumen  («.  a. 
8.  t40  r.);  die  «ntieheidende  Stelle  innerhalb  d«a  mu  erhaltenen  TeilM,  V.     ist  verderU. 

iMwJabiMohw.   ISM  I,  S7 


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410       Zi«beB:  Zur  Gwcfaidito  d«r  Lahrdlchtwiig  is  der  «piMnuieliMi  UttCMtor. 

Aach  der  anziehenden  Gestalt  des  Prudeutiu»  begegnen  wir  in  diesem  Zu- 
nmmeiihtiig  wieder;  die  'A^ztyiwna  und  die  'jhm^iacis  eteUen  die  Lehre 
Ton  der  Sünde  und  die  Trinitfitalehre  mit  Rfldatielit  raf  liizetfaehe  Lehr^ 
meinmigen  dar;  ich  dnrf,  da  es  eich  hier  nur  nm  Ancteniimgeii  handeln  fcann^ 

auf  die  Inhaltsangaben  beider  Qedichte  bei  Manitiiu  S.  67  £  TenraiBeD,  die 
freilich  die  dichkeriache  Eigraart  der  awei  didaktiaehen  Werk«  nur  waii% 
hervortreten  lassen. 

Als  dritte  Art  christlicher  Lehrdichtwng  dürfen  wir  die  von  Polemik  im 
wesentlichen  freie  Darlegung  einzelner  Punkte  der  ciiriatlichen  T-fhre  in  metri- 
scher Form  betrachten.  Nimmt  man  den  poetischen  Wert  zum  Mafsstab  der 
Beurteilung,  so  uteht  ohne  Zweifel  des  Dracoutius  Gedicht,  die  Landes  Dei,  allen 
andren  Erzeugniseen  dieser  didalcUaeh-poetiadhen  Riehtnng  voran  das  dritte 
Bneh  der  Dichtung  tat  in  aeiner  Art  «n  Meisterwerk;  die  kflnatteriabbe  Zothai^ 
die  das  Werk  ttber  bloiBe  Didaktik  im  Bta  von  AOmmt  Mankmtas  weife 
hinaushebt,  sind  besonders  die  snVjektiyen  Elemente,  die  Besognahme  daa 
Dichters  uuf  sein  eigenes  Lebensschicksal,  die  dus  Gedicht  an  dnem  adion  firfih 
als  solches  empfundenen  Gegenstück  der  Satisfadio  machen. 

Die  gansw.'  ^ofse  Zahl  anderer  Versifikationen  christlicher  Lehrhegnffe  und 
Lehrmeinungcii  hier  aufzuzahlen  hat  natürlich  keinen  Sinn;  bei  einigen  der- 
selben ist  ein  ähnliches  Emjjorheben  über  den  Boden  dflrrer  Didaktik  zu  kon- 
statieren, wie  bei  Dracontiu»;  so  hat  z.  B.  daä  Gedicht,  deä  Verecundud  vou 
Bjaaoene  De  paenümlia  dnroh  starke  Bdmisehung  p^rsdnlidier  Znthaten  den 
Charakter  dea  reinen  Lehrgediehtes  verloren  (s.  TeniM  §  491,  14;  Maoitina 
S.404fl:). 

In  wen^er  günstigem  Sinne  müssen  wir  des  Prodentiaa  an  dieser  Stella 
gedenken;  die  Wvxoiutxia  ist  ein  «itsetalich  frostiges  Spiel  mit  allegoriaehan 

Gestalten;  aber  der  Erfolg,  den  gerade  diese  Dichtung  bei  den  Zeitgenossen 
wie  im  Mittelalter  errungen  hat,  beweist,  wie  «elir  die  Dichtungsart  dem 
Gesclimack  der  Zeit  uiigepafst  war.  Wenn  von  anderer  Seite  in  der  sj»t- 
römischen  Litteratur  die  Tafel  des  Cebes  in  latfiuischer  Bearbeitung  wieder- 
aufgefrischt werden  konnte,  so  war  die  Wvxoiiuxiu  mit  ihren  Kampfbildern 
noeh  eher  dem  Qeiat  des  Römertums  entsprechend. 

Gans  hinein  in  die  Beciehnng  xnm  alltSglichen  Leben  führt  ans  diesem 
Gebiet  dar  altehxirilidien  Didaktik  andi  noch  die  umfangreiche  Litteratnr  De 
laude  virffhitafy  oder  wie  die  zahlreichen  Bearbeitungen  des  Stoffes  benannt 
sein  mögen,  Ton  denen  Manitius  S.  480  ff.  (vgl.  auch  S.  414)  eine  Übersicht 
giebt.  Fragen,  die  die  Gemüter  damals  bis  zum  Auftreten  rein  pathologischer 
Erscheinungen  bewegt  haben,  linden  wir  da  in  Büchern  behandelt,  die  gewifij 
in  \veit<'n  Kreisen  der  christlichen  Welt  mit  Eifer  gelesen  worden  sind;  man  ist 
gerade  bei  der  sozialen  Tragweite  dieses  Stoffes  ja  von  vornherein  am  wenigsten 
geneigt,  an  müfaiges  Spiel  mit  Rhetorik  und  YersihiiatiouskuQät  zu  denken. 


^)  Mit  Eecbt  fSilt  Manitius  S.  330  f.  eia  »ehr  güuatiges  Urteil  über  diese  LKchtung  de« 
DraeontiiM. 


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J.  ZidMB!  Zur  Owdiiöhte  d«r  Ldudidituiiff  in  d«r  ipiMiiiuadieii  littmtar.  411 


Bedeutungsloser  nach  Art  der  Ansfnhnin;4;  wie  der  Absiclit  uacli  siud  Ge- 
dichte wie  Auguatiüs  kleine  Lelirdichtung  Ih  auima,  die  iu  Kieses  Anthologie 
unter  Nr.  489  abgedruckt  ist  Dagegen  int  als  christliche  Moralkatechese  das 
(kmmmiiUonim  dm  Oriatiofl  ein  Uehat  beaehteoBwertea  Werk,  Aenm  iHrakliMhe 
Bedflütimg  Ibnitiat  S.  199  sehr  richtig  herrorgehoben  haL 

Ab  UMe  Bidiinng  der  durutlidMn  Ldhxpoene  mSehie  ieh  eine  Reibe  Ton 
Gediehten  Anfifiuaeiiy  die  nun  enf  dm  ersten  Bliek  nie  erdUende  Gediehte  eher 
dem  hietoriflehen  Epos  zu7ai gesellen  geneigt  sein  könnte:  wir  besitzen  eine  ganze 
Masse  von  metrischen  Bearbeitungen  aller  möglichen  Stoffe  aus  dem  Kreise 
dps  alten  Testamentes,  des  neuen  Testamentes  und  der  Heiligen gesehichte  bis 
hf  rab  auf  Martinus  von  Tours.  Vom  Standpimkt  der  Poetik  aus  —  mit  anderen 
Worten,  was  Arbeitsweise  und  Endziel  der  beteiligten  Dichter  betritlt  —  bilden 
diese  Gedicht«  keine  Einheit;  neben  einem  Werke  wie  dem  Enchiridion  <les  Aniönus 
oder  etwa  den  Triaticha  des  Itusticus  h^liudius,  den  christlichen  GegeuütQcken 
derjenigen  heidnischen  Litteratur,  deren  Heros  Eponjmos  Solpicius  Apollinaris 
iit,  stehen  die  poetischen  IbrtinnslMographiea  nb  Dicfaterwerke^  bei  denen  die 
lebvhnfte  Tendenn  des  e^^ben  Cbankters  niijgends  in  nngebflhrlicher  Weise 
Herr  wird. 

Zwischen  diesen  beiden  Extremen  der  ernhlenden  Wiedergabe  heiliger 
Bo rieht«  steht  in  der  Mitte  eine  Dichtungsart,  fftr  die  wir  die  MeOua  des 
Marius  Victor  als  typisches  Beispiel  betrachten  können. 

Die  erhaltenen  drei  Büeher  des  Werkes  (fiber  ein  vielleicht  verlorenes 
viertes  Buch  s  Sehenkl  S  H4H  der  Wiener  Ausübe)  geben,  wie  seh<»n  der 
Titel  andeutet,  eine  erkliir  cm]*  Darstellung  der  Genesiserzählung  bis  zu  Sodorns 
Untergang;  den  Zweck  aber,  den  der  Dichter  bei  seiner  Arbeit  im  Auge  hat, 
drückt  die  dem  Werk  vorangestellte  J'recatio  (V.  104  f.)  mit  folgenden  Worten  aus: 
. . .  teneros  formare  animos  et  oorda  pannins 
SA  Temni  firtulis  iter  poerilibns  nnnis. 
Der  Leser  des  Gedichtes  wird  nidit  gende  finden,  dnb  die  didaktische  Tendens 
dem  Dichter  flberaU  das  fllr  die  Jagend  angemessene  Wort  nnd  die  den  pumlea 
anni  entsprechenden  Gedanken  eingegeben  hat;  aber  aweifelloa  bat  sich  Marias 
Viktor  sein  Werk  in  den  Händen  der  Heranwachsenden  ebenso  gedacht,  wie  eine 
frfibere  Zeit  den  Homer  als  Schulbuch  in  der  Hand  der  Jugend  gesehen  hatte. 

Man  mnfs  sich  die  eben  nngeführte  Äufserung  des  Marius  Victor  in  seiner 
Alethia  vor  Augen  halten,  wenn  man  vom  Standpunkte  der  i'ootik  und  vom 
Standpunkte  der  Litteraturgeschichte  aus  andere  ebristlicbe  Epen  richtig  wür- 
digen will.  Arftt<ir  tbnt  sich  viel  zu  gut  mit  der  hiatorica  ratio,  die  seiner 
Darstellung  der  ApuHtelge8chiuhte  zu  Grunde  liegt  (s.  II  1081  flf.);  gleich  im 
ProSminm  tuigt  er:  hietorittim  geguem  earmme  vem  hquar.  Der  Stoff  ist  dem 
Dichter  —  sehr  zum  Unterschied  z.  B.  von  JnTencus  —  gar  nicht  die  Hanpt- 
SBche,  die  Art  der  AnJEMsnng  steht  ihm  im  Vordergrund.  Wenn  schon  der 
Titel  des  Victorsch«!  Werkes  an  die  antik-heidniacbe  Mjthendentnng  erinnert 
wie  sie  in  den  Kreisen  der  Stoa  und  des  Perijialos  heimisch  Avar,  so  drängt 
sich  beim  Lesen  der  'mystisch-ellegorischea'  (s.  Tenffel  §  491)  Wendungen  des 


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419       Ziehen:  Zar  Oeadiiehte  der  Lehtdidilaiig  ia  der  ipitiOmiBdieB  Uttenter. 

Arator  geradezu  die  Parallele  der  allegoriBcheiL  iUchiang  in  der  heidni^en 
Mjrthendonhing  auf.') 

Statt  also  in  wenig  geniefsbaren  aelbstandigen  KommetitÄren  die  Erklä- 
rung und  Ausdeutung  der  heiligon  Geschichteu  vorzuuehmen,  zogen  die 
SchriftsteUer  du  LiterpretatioiiBmaterial  mit  dem  Hateml  der  poelisdien 
Pan^linse  in  ein  Ganzes  su8unm«i.  Nimmt  man  hinan,  dab  die  poetisdie 
Fonn  a]s  aolche  dem  ganxen  Stoff  geirila  Tiele  Lesw  «na  den  Ereieen  der 
Qebildelen  snfiUnTte,  lo  ergiebt  eich  klar  genug,  wie  wenig  wir  berechtig 
sind,  die  ganze  Gattung  ab  eine  bloCw  scholaatiedie  Spielerei  ohne  praktMe 
Bedeutung  hinzustellen. 

Ein  Stoö,  der  —  vielleicht  auch  mit  Rücksicht  auf  oben  (S.  407  f.)  be- 
rührte Kämpfe  zwischen  religiöser  Uberlieferung  und  naturwissenschnftlicher 
Forschung  —  öfters  in  diesem  Sinne  bohiuulelt  wurde,  ist  zunächst  die 
Schopfiin^sf^eschichte.  Salviauus,  der  Presbyter  von  Massilia,  hat  nach  Ver- 
sicherung des  Gennadius  (Vir.  ill.  67;  s.  Teuflfel  §  465,  1)  ein  Buch  JBexaemerm 
.-schrieben  nnd  zw^ur  in  morem  Graecorum  a  principio  Genesis  usgue  ad  eoMr 
eBHouem  AoMmv;  ein  anderea  B/aaemeron  wuide  actoa  frfih  aoa  dem  Lehr- 
gedidit  des  Dracontins  De  Deo  heranegenommen  nnd  sogar  in  Bearbeitang  ib 
Eiaielbach  Terbreitet  (a.  Teoffel  §  475,  4).  Wenn  wir  nnn  duroh  Gennadius 
(Vir.  ilL  13;  b.  Tenfiel  §  436, 1)  erfiduran,  dab  anch  IVudttitina  ein  enteprecbendes 
Werk  verfafste,  so  ist  das  ein  neuer  Beweis  daffir,  dafH  gerade  dieser  Teil  der 
blbliBcheti  Urktmden  der  Tnmmelplatz  sektiererisch (^r  Deutungen  nnd  orthodox 
gemeinter  Abwehren  war;  man  darf  auf  Tertulliaris  Sclirift  gegen  den  Hermo- 
genes  verweisen,  um  für  dii'  Art  der  häretischen  Anknüpfung  an  den  (Jenesis- 
bericht  ein  lehrreiches  Heispiel  zu  gewinnen.  Wie  innerhalb  des  christücheii 
Lehrbegriffes  dem  Scliöpfungswerk  eine  fn'iere  Behandhing  gegeben  worden 
ist^  lehrt  uns  die  Dichtung,  die  Flavius  von  Arulate  dem  Papst  Loo  gewidmet 
hat;  Ton  6ßr  eehUebien  Umdichtung  des  Cyprianus  im  Heptatenchoa  zn  aoldieDi  , 
Werk  ist  ein  weiter  Weg,  deeeen  Tersefaiedene  Etappen  migleidi  ftr  andere 
Stoffgebiete  der  heiligen  Geeehiehte  dnrch  die  Namen  dea  Älcimoa  Avifau^  dee 
SednliuBi  des  Bnaticna  Elpidins  ja  genugsam  bezeidbnet  sind.*) 

Gleiche  Bestrebungen  praktischer  Art  haben  auch  aof  einem  anderen  Ge- 
biete in  der  spätrömischen  Litteratur  das  Lehrgeihcht  hervorgerofiBn:  das  histo- 
rische Lehrgedicht  entatand  im  Dienste  der  auf  die  Erhaltung  grofser  alt- 
romischcr  Traditionen  gericliteteii  politischen  Strömung.  Auch  auf  diesem 
Gebiete  müssen  natürlich  di«-  ^^lol'seu  versus  memoriales  in  ihrer  l)escheidenen 
Sonderstellung  belassen  werden:  Ausonius  mit  seinen  an  den  Hesperius  ge- 
richteten Versen  mag  als  Vertreter  dieser  an8pruchsh)sen  und  aufs  praktische 
Bedürfius  berechneten  Versifikation  stehen.-^)    Avienus  hat  schon  wegen  seiner 

')  Ich  habe  dabei  auch  Moraldeutuogen  wie  die  des  Barthsehen  AnthologiedidiUn 
über  die  Argonawtenfahrt   r  940  bei  Riesel  nn  Aug^e. 

')  Über  GodelbertUB  b,  Manitiiu  S.  256;  über  Crescouius  ebenda  Ö.  S14  f. 

*)  Dagegen  ist  der  Cykha  der  Camma  de  tm*  ühMribt»  Jttmamt  (e.  881  IT.  bei  Bt««) 
naeli  MatagaJb«  des  Binleitiuig^gediehiefl  voU  als  eine  Sanunlmig  von  EpigiemiiMB  sioi 


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J.  Ziehen:  Zur  Gesdiichte  der  Lehrdichtang  in  der  ipiLtrötQiacbea  Litieratur.  413 

amtliehMi  Stelliing  Ansprach  darauf,  mit  seinen  schriftsteUeriselien  Arbeiten 
nicht  ganz  dem  praktuMheo  Lehen  ahgewandt  au  erscheinen;  wenn  wir  ron  ihm 
bei  Serv.  ad  Aen.  X  388  erfahren,  dals  er  iokm  . . .  lAmtm  tamlria  aer^^  so 

läfst  sich  das  nur  auf  eine  kurz  ziisnmmenfassende  ßearbeitong  der  romischen 
Geschichte  im  AnschluTs  an  das  Werk  des  Livius  crklänn;  und  ein  solches 
Streben  Litte  pniktische  Bedeutung  in  einer  Zeit,  wo  die  Ijcstoii  Männer  Roms 
ihr  Streben  darauf  ti;erichtet  liahen,  die  alten  TratUtionen  des  KiUnertnnis  ^gen- 
über  dem  EinHufs  neuer  VolksHtrönnin^en  neu  zu  beleben.  Teutfel  (§  42<),  6) 
giebt  dem  Avienun  mit  seinem  lambenwerk  eiuea  V'orgüiiger  in  Alfius  Avitus 
(s.  Teufiel  §  333;  Bahrens,  Fragm.  poet.  lat,  S.  388  f.);  wir  müssen  gestehen, 
dafs  naeh  den  drei  F^guiMiten,  die  wir  nnr  TOn  den  ZeSri  exodletUmm  besitzen, 
Uber  den  Charakter  des  Werkes  schwer  an  irgend  welcher  Ehrheit  an  gelangen 
jeden&Us  gewinnt  man  den  Eindnu^  einer  Aurf&hrlidikeit  in  der  Dai> 
stellang  dnaelner  Ereignisse,  die  nicht  gerade  an  eine  aosanimeo&ssende  Ge^ 
schichtserzahlnng  in  poetischer  Form  denken  läfst.  Aus  dem  VII.  Jahrhundert 
liefse  Hich  allenfalls  Tlieodosiua'  (Jedicht  über  die  Weltalter  (s.  Manitiaa 
S.  476)  heranziehen  als  Erzeugnis  gefchiebtllclier  Lehrdiibtiing,  doch  ist  es 
eine  gar  7,ti  besclieidenc  Ticistiing.  Als  litterarhistorisclies  Lehrgedicht,  ein 
spätes  (legenstück  analoger  Dielittmjren  der  alexandrinischen  Zeit,  wie  ich 
vermuten  möchte,  sind  IsidiUM  Vemus  in  bihliolheca  beachtenswert:  und  auch 
in  ihnen  tritt  die  Absicht  praktischer  Beiehrung  und  Anregung  wiederholt 
zu  Tage. 

Als  ein  sonderbares  litterarisoheB  Produkt,  ftr  das  ans  jedes  Yinstftndnis 
at^^ehty  steht  in  der  lateinischen  Anthologie,  unter  Nr.  Sl  bei  Biese,  das  Gedicht 
des  Cod.  Sahnasianus,  daa  unter  dem  Titel  SaenleguB  eapik  pmiatitr  etc.  das 
Bild  einer  stark  rhetorisch  gefftrbten  Gerichtsrerhuidlttng  Uber  einen  spitafindig 
ersonnen^  Bechtsfall  giebt.  Was  ist  der  Zweck  der  ganzen  Dichtung,  wenn 
anders  man  flberhsupfc  den  Namen  auf  sie  anwenden  will?  Man  kann  ja  daran 
erinnern,  dafs  im  Judicium  coci  et  pistoris  (V.  6)  zur  Empfehlung  des  Gedichtes 
die  Worte  stehen:  uliq^dd  quofjttfi  iuris  haltehit  «nd  dem  Oe^nstand  des  Prozefs- 
gedichtes  im  Salmasianus  nun  dasselbe  entnelinien,  was  Teuftel  den  Worten 
des  Vespa  entnommen  hat:  die  Jurisprnden/,  stand  zur  Zeit  der  Abfassung  des 
Prozei'sgedichtes  noch  in  Blüte,  auf  das  Interesse  für  die  Jurisprudenz  ist  das 
kleine  Werk  berechnet.  Weiter  würden  wir  natürlich  mit  dem  Versföndnis  des 
Anttiologiegedidites  kommen,  wenn  Aber  das  genus  der  Iiiiteiratnr,  dem  es  aa~ 
gehört,  irgendwo  Ton  einem  antiken  Schriftsteller  sich  etwas  berichtet  iSnde; 
nun  finden  wir  in  einem  Briefe  des  Ansonins  an  den  Rhetor  Azius  Paolus 
(Ep.  lY  11  ff.  S.  836  Peiper)  die  folgenden  Worte: 

einem  ikonographincben  Werk  7ii  Viffrachlen ;  man  mag  da«  OiMochaion  vergleichen,  Ha« 
Teuttcl  §  4^,  3  'eine  Art  chrietlicher  Bildcrgallerie*  genannt  bat.  Welcher  Art  die  bei 
8idoa.  Apoll.  Ep.  I S  erwBlmten  Oedidite  des  Hflconiiu  waren,  wnaen  wir  nieht;  «.  Teoffel 
(466,  LS.  f^hri^en«  hat,  wa«  die  Kenntnis  der  altrömi-iolif^ii  Geschichte  betrifft,  Teuffd 
§  391,  5  ein'-  Äufscninp  des  Pt^tcn  Panoffyriku«  auf  den  Maximian  c  8  wohl  falsch  ver- 
standen: audieras  ist  su  rcretebcn  im  !:>inne  de«  später  folgenden  cognitum  mcm^mt  es. 


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414       Ziehen:  Zar  Geschickte  der  Lehrdichtung  ia  der  sp&trSmiachea  Litteratur. 

Perfor  in  osenrsa  vel  terii^  mili»  epodon 
Tel  falsAB  litei  qnae  eehola  Teetr»  eerit. 

Nobifcnm  mTeniw  nnllM,  quia  liquimns  ietio 
nagarum  yeterae  com.  eale  relliquias. 
Was  haben  wir  unter  den  falsae  lües  zu  verstehen,  von  denen  im  zweiten  der 
hier  anpfofillirtcn  Verse  die  Rede  ist?  Die  Nachbarschaft  der  teriuga  milic 
epoiion  legt  mindestens  nahe,  an  poetische  Forin  niich  für  diese  Utes  zu  denken, 
und  es  ergiebt  sicli  dann  eine  litterariscbe  Gattunfi;,  wie  wir  sie  iu  dem  Prozefs- 
gedicht  der  Antliuli^gie  iu  der  Tkat  an  einem  Beispiel  kennen  lernen;  als  ihr 
Zweck  kann  doch  nur  der  gedacht  werden,  in  leicht  bebaltbarer  Weise  einxebe 
Formen  der  geriehflidien  Beredsamkeit,  nantttHo,  exeeaius,  probatWf  exemphrn^ 
r^kOaUo  und  epüogntSf  an  einem  Musterbeispiel  dannlegML  Wir  haboi,  iofmi 
diese  Annahme  das  Sichtige  trifft,  dem  Gedichte  also  einen  didaktischen 
Zweck  zuzaschreiben,  der  es  für  die  Bedürfiiisse  da*  Bketorensdiale  entstsnden 
sein  liel'sc. 

Haben  wir  aber  das  Prozefsgedicht  des  Salmasianus  mit  Recht  als  ein 
Memorierstück  der  Rbetorciisclnilc  mit  praktischer  Tendenz  liezeichtiet,  so  darf 
es  wohl  zusammengeFtf^üt  werden  mit  dem  Canum  de  fif/uris  (Nr.  4S5  lliese), 
das  ja  ganz  zweifelloiö  im  Dienste  rhetorischer  Belehrung  vcrfafst  ist.  Das  (ledicht 
arbeitet  mit  archaisch  klingenden,  gewifs  auch  zum  Teil  aus  der  älteren  Lit- 
teratur geschöpften  Beispielen,  wie  es  denn  überhaupt  den  Eiudiuck  dea  Alt«r- 
tOmlidien  au  erwecken  ab«ibt  und  Üiatsächlidi  ja  bis  zur  Irreleitung  der 
Datiemngsvezsuehe  erweckt  hat;  aber  in  weit  ttbersiditlicherer  Wdse  als  die 
entsprechenden  Schriften  in  Prosa  legt  es  den  gpnzea  Stoff  dar  und  lifiit  in 
seiner  leidit  memorierbaren  Gestalt  die  Yennutnng  berechtigt  erscheinen,  dal» 
es  dem  angehenden  BedekOnsiler  dea  Altertnma  als  Lehr-  und  Beispidbnck 
nicht  üble  Dienste  titai 

Wenden  wir  uns  zur  geographisclien  Lehrdichtung,  so  mufsten  wir  den 
Reditus  des  Rtitilius  Namatianus*)  ja  bereits  oben  als  fälschlich  der  didaktisclien 
Poesie  zugewiesen  betrachten.  Als  reines  Lehrgedicht  steht  dagegen  Priscians 
Bearbeitung  der  Schrift  des  Periegeteu  Dionysius  da,  und  neben  ihr  e^^cheint 
Avienus  als  Vertrettjr  der  erdkundlichen  Didaktik  iu  gi-ofsem  Mafsstabe.  Aus 
der  umständhchen  Vorrede  der  Ora  maritima  an  den  Probus  ist  wenigstens 
so  viel  heranBKnlesen,  dafs  der  Ver&sser  fttr  eich  und  andere  ein  Bild  geirinDea 
wiU  (V.  9  SL) 

regionis  eins  quam  veinstis  paginis 
et  quam  per  omnem  spiritos  noetri  diem 
secretiore  lectione  acceperam. 
Der  Zweck  der  Dichtung  ist  an  einem  bestimmten  Beiq»iele  niidit  gnade  tiflf- 
sinnig  bezeichnet  mit  den  Worten: 

^)  Die  Beifleiehildeniiig  begegnet  «na  in  den  Tanehiedeotten  EnehehnuigifSataMB  W 

den  Dichtem  der  spatromiHLhen  Litteratur;  Ennodiiu  und  AMhelm  vertreten  am  de«tr 
Hch^ifcn  (!i>  Abarten  der  Dichtungsart,  deren  iHNMauchee  Qegentttück  in  dem  Briefe  I  & 
dc8  iSidomus  Apollinaria  steht. 


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J.  Ziehen:  Zur  Qesohichte  der  Lehrdichtung  in  der  spätrömi^hen  LiUeratur.  415 

TKoriei  ponti  muju 

mgi  ut  valeret  hia  probabili  fide 

qaos  distinerent  spatin  ienanim  extima. 
Zu  einer  künstlerischen  Form  ist  der  spröden  Aufgabe  gegenüber,  die  der 
geographische  Lehrstoff  bietet,  weder  ein  r^i  chischer  noch  ein  römischer 
Didaktiker,  ich  darf  vielleicht  hinzufügen  n  inur  Kenntnis  nach  auch  keiner 
der  neueren  Zeit  gelangt;  und  so  erklart  denn  vornehmlich  wohl  die  muemo- 
technische  Rücksicht  ^}  das  wiederholte  Auftreten  der  geographischen  Lehrpoesie, 
von  deren  praktischen  Erfolgen  die  weite  Verbreitung  der  gemeinsamen  Quelle 
dm  Anmm  und  des  PriBdeniiB  aelb^t  ja  am  deafUchatm  Zeugnis  ablegt 

Auch  der  mediumadien  Lehrdicbtung  haben  wir  bier  sehlieieUch  noch  mit 
du  paar  Worten  sa  gedenken.  Dae  portiaehe  Nachwort,  das  MarcellnB,  ein 
Zei^^oMC  Theodorina  U,  aemem  Boche  De  meäkameiiih  angehang:t  hat  (AnthoL 
latb  910),  ist  eine  bbüie  Spielerei,  Tom  Ver&Mer  dea  Bnches  ttbel  genug  ein- 
geführl,  wenn  er  aelbst  gesteht:  VerMKs  qjMgjtit  Imnm . . .  gwtd  cpuMaämim 
m  mfima  parte  1mk$$  eodids  ecßoeovi,  d  ut  sermone  nostro  opera  haec  claudantwr 
et  nagas  nostras  muU^atex  fotiorum  celä  obieeka  (s.  Tenffel  §  445,  2i  der  Sinn 
der  letzten  Worte  ist  mir  aweifelhaffc).^*) 

Höher  als  dieses  sonderbare  Beispiel  der  Kompositionsart,  die  man  unter 
dem  Namen  Menipj^eischer  Form  ohne  rechte  ITnterHeheidnng  verschiedener 
Dinfxr  auch  mit  eiTizubi-irrfiftu  pflegt,  steht  (Ihs  vclbstündige  Gedicht  des  oben 
schon  genannten  iSammonieus,  SdlufifcruDi  quoä  jxDif/imus  carmm  nennt  der 
Verfasser  sein  Werk  und  will  das  salutifmim  gewifs  ganz  wörtlich  geiuiramen 
wissen:  schreibt  er  doch  eine  ganze  Anzahl  von  Rezepten  und  ilauümittekhen 
für  aoldie  &aiikheiten  nnd  fBr  eolche  Lehenelalle  aoeanunen,  denen  anch  in 
unseren  Tagen  noch  eine  eigene  Bnch&brikaÜon  in  mm  Teil  recht  bedenklicher 
Weise  Rechnung  tiigt  Von  dea  63  Abschnitten  mnfii  entschied«!  der  grSfsere 
Teil  den  Eindruck  erwe^en,  dab  das  Werk  auf  praktischen  Gebranch  in  den 
Händen  der  Laienkreise  berechnet  ist  und  dals  die  poetische  Form,  in  keiner 
Weise  Selbstzweck,  vielmehr  nur  der  Verbreitung  dea  Reseptenbuches  dienen 
soll.  Tins  Wörde  die  poetische  Form  an  dem  Wort  eines  solchen  Buches  irre, 
machen;  in  der  Zeit  des  Sammonicus  tnig  vielleicht  gerade  dit-  metrische  Dar- 
stellung dazu  bei,  die  Heilmittellehru  im  Kampf  gegen  sacraleu  ileilHchwindel 
weiteren  Kreisen  praktinch  zum  Bewufstsoin  7U  hringen.')  Es  ist  bei  diesem 
Beispiel  achlaislich  wie  bei  allen  denen,  die  in  den  obigen  Ausführungen  ohne 
jeden  Anspruch  anf  Volls^digkeit  in  der  Anfeahlung  herauge:6ogen  wurden: 


Reine  M6morier\'erKe  sind  auf  «tteMm  Gebiete  die  Venn»  de  Atkt     i$  mimni 
nmndi  rota,  s.  Teuffel  §  407,  6. 

D.  h.  der  KompiUtor  MarceUu«  hat  et  neb  nicht  vena^  wollen,  etwas  Eignes  an 
den  SeUnfii  sa  teteen,  wo  ja,  wie  er  veneÜiBmt  biaBolttgt,  üHr  seine  Verse  ein  betobBidner 

Tenteck  sei.  Ub.] 

'  Vgl  anch  uU't  die  Entstehung  der  medizinischen  itehrdichtuog  des  Beuedictus  von 
Miuiimd  di«  ^'otiz  bei  Manitiua  S.  tt96.  • 


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416    J-  Ziebent  Zw  Geflcbiehte  der  Lehrdichtiinf  in  der  spfttrSmiNben  UlAenitiir. 

als  hlofsos  Produkt  dos  Vorsifikntinnsbt'dürfniöscs  ist  das  Gedicht  ein  Nonsens^ 
als  Populardartsteüung  gewinnt  ts  eine  kulturgeschichtliche  Beziehung. 

Es  ist  eine  Frage  der  vergleicheiidea  Litteraturgeschichtsforschung,  welche 
Zeiträume  das  didaktische  Gedicht  begünstigen  und  unter  welchen  Bedingungen 
das  Lehrgedicht  in  doD  litlenuisohen  Leben  eine  Rolle  «pidt  oder  ganz  mrfidc- 
tritt;  wir  baben  sie  hier  nicht  su  beantworten.  Aber  eine  B«ner1nuig  liegt  f&r 
die  epilr&nitehe  didaktieche  Poesie  bo  nahe,  dals  wir  nidit  an  ihr  TOrbeigehen 
dürfen.  In  der  ganzen  spätrumischen  Litteratur  erscheint  die  poetische  Form 
mit  ihren  althergabiaehten,  ann  klassischen  Maatern  entlehnten  Ausdrucksmittdn 
und  ihren  festeren  sprachlichen  Typen  geradezu  als  heilsames  Präservativ  gegen 
Schwiilpt  und  i'l)erli\durig.  Wir  sind  ja  durch  Vergleichung  des  Pasdiale  ojws 
und  des  Pasdtale  cannm  des  Sethilius  in  der  besonders  glücklichen  Lage,  sogar 
an  demselben  Stoff  den  Unterschied  des  prosaischen  und  des  poctiseheu  Stiles 
in  der  spätrömitchen  Litteratur  genau  beobachten  zu  können  ^)  (s.  Teoffel  §  473), 
und  ein  imd  derselben  schriftstellerischen  Persönlichkeit  snf  den  beiden  so  ver- 
schiedenartigen Wegen  ihrer  Thät^^t  naehsagehen,  dazu  bietet  sich  die  Ge- 
legenheit ja  fortwihrend  dem  Leser  der  Patrolc^e.  Wie  anders  schreibt  Panlinns 
▼on  Nola  in  seinen  Briefen,  wie  anders  in  seinen  Gedichten,  and  Sidcmius 
Apollinarts  bietet  uns  ein  ganz  anderes  stilistisehas  Bild  in  seinen  Gedichten 
als  in  den  prosaischen  Partien  seiner  Korrespondenz,  ja  auch  in  der  Consolatio 
des  ßoethius  xeigen  die  metrischen  Partien  einen  anderen  Stil  als  die  prosaische 
Hauptpartie.  Wer  gar  die  Praefatio  des  ('od  Salniasianus  (Nr.  19  bei  Riese) 
liest,  in  der  'die  Manier  des  Tertuüianus,  Apuleius  und  Martianus  Capella  bis 
ins  Aberwitzige  gesteigert  ist'  (Teoffel  §  495,  1),  der  kann  es  wohl  yerstehen, 
wamm  gerade  ein  auf  Popnlarisierimg  einM  Stoffes  berechnetes  Werk  in  den 
Zeiten  der  spfttrömisehen  Lttterator  ?on  seitmi  seines  Urhebers  eine  Form  er- 
hielt^ in  dw  eine  gewisse  AbU&mng  und  Fafsliehkeit^  sei  es  selbst  auf  Eoaten 
der  Originalität  —  dies  zur  Erklärung  des  cento!  —  sich  erreichen  liefs 

£ine  ÄuTserung  aus  dem  Kreise  der  spätrömischen  Litteratur  darf  freilich 
nicht  unerwähnt  bleiben,  die  gerade  im  Zusammenhange  mit  Popularisierunga- 
hestrubungen  von  der  poetisch-metrisclien  l'orm  in  ganz  anderem  Sinne  redet. 
Augustinus  nämlich  sagt  in  dem  autobiograpliischen  Rückblick  auf  seine  schrifl- 
stellerische  Thätigkoit  lietract.  \  20  zu  unserem  Erstaunen  folgende:  Voktis 
etioM  causam  DcmHstarum  ad  ^pfltM  iamaBim  tK%t  . . .  wiiMvm  parvmire  . . . 
psalmm  gm  eü  eaniaräitr  per  laUnas  lUlenu  fed  . . .  Ideo  autem  non  aliquo 
earminis  gener»  id  fieri  volui,  ne  int  neeessiias  metriea  ad  aliquo 


Zn  der  ParaDeliielliiiif  von  Proia  und  Foeefo«  die  bei  Sedvlivs  ub  etlrlnteB  lo 

Tapo  triü,  vor-^loiche  mnii  noch  Alifliolm,  V>f  laitd.  vir«;.  19  f.:  üt  prlus  H  jyrom  hiiulahat 
lUtera  castOH,  Sic  (Migue:  m)  modo  herokum  stipulentur  carmina  Utudem;  Sidon  Ap.  Ep. 
rV  3, 10:  Seu  liberum  seu  ligatum  placeat  altemarc  aerntonemi  Venant  Fort.  App.  apur.  III  6: 
XHun  «el  pnta  vet  ptOen  earmim  mOri  vtad  S  £:  Kr^mi  f^mmda  «ertOiM  (n4  cumM» 
nut  prosrtf  veliere  texm».  Vgl  auch  C.  de  figur.  i'Nr  4R5  T^iosf»^  V  s  in  tlor  Hnchstiflsbcr. 
1896  S.  4  f.  vorgeschla^nen  Lesart.  —  Über  den  üntenichied  der  poeiisdbeii  und  der 
proaaiaclieD  Schreibart  bandelt  fttr  AleimuB  Avitus  Manitios  S.  24i. 


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J.  Ziehen:  Zur  Geieliidite  der  Lefardiditniig  in  der  ^trSmiflehen  Liiterntur.  417 

terha  quae  vulgo  minu$  esaent  usitata  compelleret  Die  Worte  des  auch 
als  Pablttirt  »nfterord^Uieh  gewandten  Hannes  finden  ihre  richtige  ErUinmg 
Bor  dann,  wenn  man  das  AumtSimt  i^bllhreiid  betont;  Angnetin  redet  von 
einer  Vol^chicht,  die  den  Traditionen  der  daoaudi-romiBchen  Poesie  ttber- 

haupt  völlig  firemd  ^ei^enOberstand;  und  os  int  ja  ganz  selbstverständlich,  dafs 
die  Popularisierungsbestrebungen,  die  wir  für  die  spütrömiacho  didaktische  Dich 
tung  hier  bchanrieln,  über  die  weitesten  Kreise  der  Gebildeten  hinaus  nicht 
gemeint  »ein  konnten.') 

Ein  französischer  Dichter  aus  (Miicm  goldenen  Zeitalter  der  Didaktik  hat 
einmal  über  da^  VVetieu  dieHer  Litberaturgattuug  den  folgenden  Ausspruch  gethaii: 
La  FaMe  äUaeHque  a  meuu  pmr  hut  de  ereer,  que  i»  eoiuaaw  les  prvceptes  des 
airtt,  Ott  des  semees  MUes,  La  raiao»,  le  ffoüif  1a  virUi,  mrtovA  la  darie,  wSä 
m  OI90I»,  le»  detwir»  Im  impoee,  ka  homes  dtms  lesqu^tes  eUe  se  nmferme 
(Dorat,  D^claination  th^trale  S.  179  f.  der  Ausgabe  ton  1771)*).  Ganz  im 
Sinne  dieser  Worte  hat  schon  im  späirömischen  Alteitnm  die  Lehrdichtung 
den  praktischen  Bedürfhissen  der  Zeit  Itechnnng  sn  tragen  gesucht  und  gelegent^ 
lieh  im  Dienste  jjeistig-religiöser  Bestrebungen  als  nn verächtliches  KampfTnitt<^l 
gedient;  unt«r  diesen^  Gesichtspunkt  verdient  die  üiiätromische  Lehrdicbtuii^ 
ernster  genommen  zu  werden,  als  es  wohl  im  allgemeinen  bisher  geschehen  ist 

*)  Ober  die  Art,  wie  Conunodiaa  den  BedtliAdisen  des  Volkes  in  Sprache  vnd  Uetnun 
Rieb  aap    '    b   Schans,  BOm.  Litt  m  860.    Ober  Angottmi  Donatisteagedidit  selbst 

Manitiiis  S  320  ff 

*)  Was  Goethe  im  Jahre  über  das  Lehrgedicht  aufgezeichnet  hat,  verdient  oatür- 
lidh  in  enksr  Idnie  von  jedem  geleien  so  werden,  der  vom  Stso^paakt  der  Pbetik  ans  der 
didaktiBchen  Gattung  gerecht,  werden  will;  es  ist  eineFfllle  frndiiSrarer  Oesichtsponkte,  die 
in  der  konen  Notiz  'Über  die  Lehrdichtung'  anf  dem  engen  Räume  weniger  Zeilen  eneheint 


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SCHILLEB  UND  PLUTAKGH. 
Von  Kaw«  Vbmbb. 
(SdüvA.) 

im  Don  ('arloa  liegen  die  Spuren  jenes  Einflusses  weniger  au  der  Ober- 
flache, aber  auch  hior  lassen  sie  sich  mit  einiger  Deutlichkeit  nachweisen.  Um 
au  Gesa^dcti  auzukuUpfeu,  wenden  wir  uns  zunächst  dem  Posa  zu,  dessen  Frei- 
mut gegen  Fürsten  schon  beim  Arat  erwähnt  wurde.  Vielleicht  bietet  tuu 
jcdodi  PInterch  noch  «n  amkreB  Mutter  für  diesen  groÜMUigelegten  MensdMD, 
für  den  man  biaher  nnr  anf  die  PrinsraenBieher  bei  FAiflon,  Wagmeeil,  Halkr, 
Beaedow,  Leieewits  u.  a.  hinwies.  Wie  weit  aber  ragt  der  Posa,  dieser  ih* 
geordnete  der  ganzen  Menschheit^  Ober  den  rationalistisch  befangenen  Aufklarer 
und  Philantliropen  jener  Zeit  hinaus.  Er  steht  wie  ein  Prophet  in  einer  dnnklaB 
Zeit  und  lehrt  die  ^Erdengotter'  die  Schranken  ihrer  Macht  erkennen;  auf  dem 
sonnifien  Grunde  der  Zukunft  malt  er  ein  politisches  und  allgemein  mensch- 
liches Idealbild,  das  selbst  in  miserer  Zeit  noch  nicht  verwirklicht  worden  id: 
er  ist  ein  philosophischer  Dichter,  eine  Platonische  Seele,  und  in  der  That  — 
Plato  selbst  ist  es,  in  dem  wir  das  Muster  des  Posa  vermuten  tlürltii,  jener 
Plate,  den  Plutareh  im  Leben  Dions  als  ersten  und  gröfsten  aller  Prinzen- 
eraieher  aehilderi  Nidit  unemihnt  nu^  bleiben,  dals  der  Dioa  mmuttdbsr 
vor  dem  Bmtns  stehl^  nnd  dab  diese  beiden  Helden  nadiher  in  der  &6ynqtSit 
mit  einander  verglichen  werden.  Dien  fiberredet  den  jflngerea  Dionynns,  des 
Plato  einxnhiden  (Vlli  906  Schir.),  nm  sich  dnrdi  ilm  an  Teredeln  *and  dam 
schönsten  Muster,  der  Gottheit  selbst,  SbnlMb  sa  werden,  deren  Regierung  das 
ganze  Weltgebäude  folgt  *  Dion  malt  ans,  welches  GlQck  für  Herrscher  uud 
Volk  aus  solcher  Wandelung  erblühen  werde,  wie  der  erzwungene  Gehorsam 
der  Menge  sich  zu  freudigstem  Entgegenkommen,  zu  treuer  Ergebenheit  '<t«">üen! 
werde.  In  Dionysius  entsteht  eine  'heftige  und  beynahe  rasende  Begierde', 
Plato  zu  sehen.  Dieser  folgt  dem  Ruf  in  der  HofiPnung  'durch  die  Verbesse- 
rung eines  einzigen  Mannes,  als  des  herrschenden  Theils,  die  ganze  verderbt» 
Insel  SiciHen  zu  bessern*.  Der  Übersetzer  nimmt  gegen  Plato  Partei,  indem 
er  Ton  einem  der  Widersacher  desselben  sagt  (309  Anm.):  'Er  hatte  indflsaea 
reellere  Grandsatse  yon  der  wirklichen  Staatdnmst,  als  der  phantesiereidM 
Plato,  der  nur  f&r  idealieche  Reiche  Staatsmann  war,  aber  doreh  die  sdiSaeo 
Worte  Ton  Freyheit  blendete.'  Mit  Plato  Terorteilt  er  Schiller  und  Posa. 
Dion  hoffte  das  Beste  von  Piatos  Worten.  Es  folgt  die  Schildenmg  der  Sinnes- 
änderung, die  sich  im  Konige  vollzieht.  Die  Gegner  Piatos  fürchtra,  'dafs  seine 
Macht  mit  der  Zei^  durch  die  Dauer  seines  Urngsags  mit  dem  Dionysia^  ^ 


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I 


JL.  FriM:  BchiUw  «wd  Plotwch.  419 

OUrwmdlich  werden  mödiie,  d»  er  in  einer  eo  kmzen  Zeit  eehon  die  Oe- 
•iiuiung  des  Regenten  eo  eelur  veiindert  und  rnngescluiffto  bntte'  (311).  *Mit 
der  Zeit  aber,  und  dnrdi  den  fortgesetnien  Umgang  mit  dem  Pinto  gewShnte 
er  ekih,  wie  ein  wildee  Thier  neh  naeb  und  neeh  ebfameididbi  nnd  greifen 
UUbt,  eo  sehr  nn  den  Umgang  mit  dem  Fbto,  und  dessen  pliilosophische 
LeKren,  dalSi  er  eine  herrschsüchtige  Liebe  zu  ihm  bekam  («Ihr  seid  von  heute 
an  In  meinen  Diensten  —  Keine  Einwendung!  Ich  will  es  haben»)  und  nnr 
allein  vom  Plato,  mehr  ala  andre  Menschen,  geliebt  und  geachtet  zu  werden 
wünschte  (vgL  «Was  gehen  die  Lohenden  mich  anV  Ein  Geist,  Ein  freier  Mann 
stand  auf  in  diesem  ganzen  Jaiii  hundert  —  Einer  —  Er  verachtet  mich  Und 
stirbt»)  und  sogar  bereit  war,  die  Staatsverwaltung  und  die  liegiemng  ihm  zu 
überlassen  («Wer  weils,  was  ich  ihm  aufbehalten !>).  Diese  leidenschaftliche 
Liebe  dee  Dionyatoe  wurde  dem  Pinto  eelbet  sor  Last,  denn  er  war,  wie  die 
uigUlGUieli  Liebenden,  für  Bifarandit  fiMt  rasend,  nnd  enfimte  aieb  daher  oft 
in  knnter  Znt  wider  ibn,  nnd  sSbute  aieb  wieder  mit  ihm  ans,  nnd  bat  ihn 
vm  Yogebong^  nnd  hfirte  mit  flbartriebenem  Eifer  aeine  Lehraitae^  nnd  aadkte 
seine  Philosophie  practisch  zu  machen,  wobej  er  diejenigen  vermied^  die  ihn 
davon  abzubringen  suchten,  als  Leate^  die  ihn  verderben  wollten'  (315).  Ebenao 
heftig  wird  Pluto  dann  bestürmt,  zum  zweitenmal  nach  Sizilien  zu  kommen. 
*Seine  Ankunft  erfüllte  deu  Dionysin«  mit  Freude,  und  ganz  Sicilien  mit  Hof- 
nutitr  Jedermann  wünschte  eifrig,  dafs  Plato  über  den  Philistus,  und  die  Philo- 
sopiue  über  die  AllLnihcirsohaft  siegen  möchte.  Auch  die  Frauenzimmer  am 
Hofe  beeiferten  sieh,  dem  riuto  ihre  Iluchuchtuug  zu  bezeigen,  und  Dionysius 
beehrte  ihn  mit  dem  auseerordentlicbeD  Zutrauen,  dala  er,  ohne  vorher  Ton 
der  Wadie  dnrehanebt  zn  werden,  den  firejoi  Zutritt  m  ihm  batle'  (320;  vgl. 
<D9t  Bitter  wird  kflnftig  ungemeldet  Torgelaaaen»).  Andi  IHato  wird  dann  wie 
Poaa  rem  KSnige  als  Werkseng  seiner  Prtvatangelegenbeiten  benntat  Er  er- 
hält den  geheimen  Auftrag,  Dion  auaiufiffaeben,  'ob  er  dawider  seyn  würde, 
wenn  man  seine  Gemahlin  einem  andern  zur  Ehe  gilbe*  (323).  Plato  giebt 
brieflich  über  seine  Ermittr  Innp^on  Anaknnft.  Die  guten  Beziehungen  trübten 
sich  bald,  nnd  Plato  verband  si('h  immer  mehr  mit  Dion,  fiel  daher  heim  Konig 
in  Ungnade  und  entrann  nur  mit  L*  b>  n«^f'fahr  den  Naclistellungen  des  Tyraimen. 
Zweifellos  hat  Schiller  Dioas  Leben  gelesen,  und  es  liegt  daher  nahe,  an  eine 
Beeinflussung  zu  glauben.  Freilieh  ist  der  jüngere  Dionysius  dem  greisen 
Philipp  nicht  sehr  uimlich,  ebeusoweuig  wiü  der  alurude  i'iato  mit  dem 
blühenden  Posa  personlich  vergleichbar  ist.  Aber  die  Übereinstimmungen  tiber- 
wiegen doch  derart,  dab  man  jene  WidereprUche  'leidit  Qberaielii  Übrigens 
war  Sduller  auf  jene  Biographie  schon  durdi  Wielands  Agathon  hingewieaen, 
in  wdehem  Romas  bekanntlieb  der  Held  ab  Ersieher  dea  Dionjaiua  eiaebeint. 
Die  Liebe  dea  Carloa  zu  seiner  Stiefmutter  war  ja  adion  durch  die  Quellen 
gegeben;  merkwürdig  ist  aber  die  Ähnlichkeit  eines  Vorgangs  der  Diadochen- 
aeit,  den  Flutarch  im  Demetrius  erzählt:  Antiochus  liebt  seine  Stiefmutter,  'die 
noch  jung  war',  und  verfällt  in  eine  Oemfitakrankheit,  da  er  seine  Leidenschaft 
Tej^bena  bekämpft   £r  erkennt  das  Unerlaubte  seiner  Neigung  und  die  Un- 


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420 


K.  Friet:  Schiller  und  Plutwreh. 


heübarkeit  seiner  Leiden  und  will  sich  toteu.  Die  Szene,  wie  dann  der  Arzt 
ihit  beobaehtet  imd  an  «einen  Mienen  beim  Eintritt  der  Königin  den  Gruod 
seiner  Schweimat  erkennt,  erinnert  so  lebhaft  an  die  Yersuehe  der  EboU  und 
Domingofl,  des  Prinzen  Herz  xu  entritfaeln,  dab  man  mit  einiger  Znversidit  tod 
einem  wenn  anoh  nnbewulsten  Anlehnen  dee  Dichters  reden  dar£  Doeh  kann 
hierauf  nicht  viel  Qewicht  gelegt  werden.  Das  aber  darf  man  mit  BsstinuBt- 
heit  aussprechen,  da&  in  den  Charakteren  des  Carlos  nnd  besonders  des  Posa 
das  antike  Element,  wenn  auch  schwächer  als  in  den  ersten  Dramen,  doeh 
(loutlich  7M  orkpnnen  ist.  'Alle  Grundsätze  und  Lieblingsgefuhle  des  Marquis 
drehen  sich  um  republikanische  Tugend.  Selbst  seine  Aufopferung  fnr  mr\en 
Freund  beweist  dieses,  deuu  Aufopferungsfähigkeit  ist  der  Inbe^n^ifi  aller 
republikaniscliiMi  Tuo^nd'  heifst  es  im  zweiten  Brief  über  Don  Carlos.  Carlos 
klagt,  dafs  er  noch  nichts  filr  die  Unsterblichkeit  gethau  habi',  ähnlich  wie 
CSsar  bei  der  Lektüre  dner  Alezanderbiographie  mit  Thränen  gesagt  haben  soll: 
^Ist  das  nicht  der  Traurigkeit  ^werCh,  dals  Alexander  in  einem  solchen  Alter 
schon  über  Tiele  Beidie  herrsdite,  in  weldi«n  ich  noch  nidii  Grofiws  getitu 
haber  (VI  380  Sehir.).   Ähnlich  erinnert  Philipp  mit  seiner  Klage: 

Des  Yatera  ontergehende  Sonne  lohnt 

Das  neue  Tagwerk  nicht  mehr.  .  .  .  Das  Terspart  man 

Dem  nenen  Aufgang  seines  Sohns  (V  9) 

an  die  Worte  des  jnngen  Pompejos  (Pomp.  TI  29  Sehir.):  'Sylla  mSdite  he- 

denken^  dafs  die  aufgehende  Sonne  von  mehrem  als  die  untergehende  angebetet 
wQrde.'^)  Spuren  Gatonischer  Starrheit  finden  wir,  wie  in  Yerrina,  auch  im 
GrorsiiKjuisitor,  der,  wenn  auch  nichts  wenii^cr  als  aus  republikanischem  Sinn, 
dem  König  doch  so  freimütig  wie  ein  Hold  des  Altertums  begegnet. 

Nach  dem  Abschhifs  des  Carlos  trat  liekanntlich  eine  ünterbrechunp  der 
poetischen  Produktion  ein.  Der  Dichter  fühlte,  dafs  er  eine  Technik,  mit  der 
er  sein  Kunstideal  nicht  erreichen  konnte^  aui  ilie  Spitze  getrieben  hatte,  uud 
sehnte  sich  nach  stilistischer  imd  äsÜietiflcher  Wiedergeburt.  Die  beste  Arznei 
für  seinen  Znstand  fand  er  in  wissensehafllidi«  Thätij^eil  Der  Anregung 
folgend,  die  ihm  die  Quellenstadien  anm  Carlos  geboten  hatten,  widmete  er 
sieh  fiuit  gans  dam  Stadium  jener  Zeit  und  schrieb  den  *Abfidl  der  Nieder 
lande'.  Fragt  man,  was  ihn  gerade  zur  Gwehichte  trieb,  so  wird  msn  auch 
hier  zum  Teil  an  ihn  IMutarch  zu  denken  haben.  Wenn  ScliiJler  in  seinen 
Jugenddramen  das  Bestreben  an  den  Tag  legt,  scharfamrisseue  Charaktere  auf 
die  Bühne  zu  stellen,  so  darf  man  nicht  vergessen,  dafs  er  in  Pltitarchs  ßioi 
vierzig  sorgfältig  ausgeführte  historische  Porträts  vorfand.  Diese  Richtung  auf 
das  Individualisieren  und  psychnlo<;isehe  Zergliedern,  vom  medizinischen  Studium 
befordert,  ist  es,  was  die  Brückt*  zu  deu  historisc  lien  Schriften  schlägt.  Ein 
ganz  wissenschaftlicher  Historiker  konnte  Schiller  nie  sein,  er  büeb  innerlich 
tt^  der  Dramatiker.  Wenn  er  sieh  rtm  ungeaehiehtlidien  Gestalten,  wie  dem 

'  i  Man  hat  Posa  auch  mit  Katte  venglichen.  In  dsMwa  TodeiarteU  Sud  «ich  £e 
Wendong:  'dab  er  mit  der  neaen  Sonne  tnunieret*. 


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K.  Friw:  Behilkr  oad  Plntardi. 


421 


Carlos  und  Posa,  dem  goschichtliclien,  dem  wirklichen  Menschen  zuwendet,  so 
liegt  immer  die  uuauägeäprocliene  Absicht  vor,  ihn  später  gestaltend  zu  er- 
neuen. Du  ReaalUt  war  der  Wnllenstein  und  der  Dm  umringende  Stab  wohl- 
getroffBner  WirUlehkeiittnenschen.  Dem  Mmadasa,  den  er  in  der  Geechidit^ 
nicht  wie  Goethe  im  Leben  Mlbet  geionden  und  mit  ein^r  Verleugnung  seiner 
tie&ten  Natur  gezeichnet  hatte,  hüt  «r  dann,  indem  er  in  die  ideale  Heimat 
seines  Geistes  zurücUdirt,  die  leuchtenden  Gestalten  vor,  die  sich  in  seiner 
Phantasie  hell  abhoben  von  dem  dunklen  Grande  der  ihm  firemden  empirieeben 
Weli>  denn  sie  ^lag  hinter  ihm  im  wesenlosen  Scheine'. 

ZnnHchst  also  richte  er  'des  Menschen  Kern'  in  jt^non  Biofrmphien  Philipp« 
des  Zweiten  ( 1 7><*V\  E|rniontH  (1789),  Amalia  Elisabeths  (1791)  u.a.  zu  er- 
forschen. Das  biu^"ii]>hisch«  Element  tritt  mich  in  den  ^-iViseren  Werken,  im 
Abfall  der  Niederlande  und  iiu  dreifsigjalirigen  Krieg  atark  hervor.  Egmunt, 
Oranien,  WaUeuntein,  Gustav  Adolf  werden  ÜEtst  monographisch  behandelt.  Das 
btteteBie  des  Dksbten  kulminiert  nieht  in  der  Enahlung  der  Thatsachen,  son- 
dern in  der  ModeUierang  der  Charaktere,  in  deren  feiner  Ausarbeitung  er  sidi 
nicht  genug  thun  kann,  bei  denen  er  mit  wahrer  Lust  verweilt  und  bei  weitem 
mehr  als  EfinsHer,  dran  als  Ferseber  interessiort  isi  Wir  glauben  in  die 
Skizzen  eines  Historiennuilers  zu  sehen,  der  dieselben  Typen  immer  wieder  in 
Biannigfiiichen  Variationen  hinwirft,  um  sie  schliefslich  in  einem  grofsen  Werk 
zu  vereinigen.  Unleugbar  schwebte  auch  Schiller  bei  allen  seinen  historischen 
Arbeiten  ein  grofses  Dichtwerk  vor,  und  wenn  man  von  einer  zelmiiilirigen 
Unterbrechung  des  dichterischen  Schaffens  redet,  so  ist  da«  unzutretfeiiU;  er 
hörte  niemals  auf,  zu  entwerfen,  zu  skizzieren,  zu  gestalten.  Die  historischen 
Schriften  gehören  stofflich  und  formell  künstlerisch  mit  dem  Wallenütciu  zu- 
sammen, sie  bilden  ein  grobes  Korpus,  das  durch  das  geiistige  Band  des  Realis- 
mus umschlungen  mt.  Die  Richtung  auf  das  vertiefte  Indi^nalisieren,  die  zu 
Sdiilleni  nener  Kunst  gdiSrte,  findet  ihre  Erklirung  im  Einfluls  Flatarchs. 
Dieser  ist  von  Hans  ans  nichts  weniger  als  Historiker,  von  seinem  philo- 
sophischen Ststtdpunkt  ans  laJst  er  die  Personen  der  Vorseit  an  sich  vorüber- 
ziehen und  glossiert  und  interpretiert  sie  mit  psychologischer  Kritik.  Auch 
Schiller  ist  mehr  Philosoph  als  G«  schichtschreiber,  ja  er  wird  von  der 
Geschichte,  wenn  auch  inittolbnr,  zur  Philosophie  geführt  (hierin  im  Gegensatz 
zu  Plutarch,  der  vom  Plttt(»tiisinus  herkommt),  aber  in  erster  Linie  ist  er 
Dichter.  Beiden  ist  die  Geschieht*!  ein  Mittel  zu  ihrem  Zweck.  Dafs  Schillers 
Neigung  ziun  BiographiHcUeu  auf  den  Grieelieu  zurückzuführen  sei,  hat  man 
schon  ausgesprochen.  Aber  man  kuuu  noch  einen  Schritt  weitergehen.  Im 
Ab&U  der  Niederlande  werden  Egmont  und  Oranien  charakterisierl^  aber  nicht 
jeder  ftr  sich,  sondern  mit-  und  aneinander.  Ein  bestftndiges  Übetgreifim  vom 
einen  snm  andern,  ein  gegenseitiges  Abmessen  und 'Wagen.  Ifan  bemerk^  mit 
welcher  fVende  Schiller  bei  dieeem  Verfishren  resiproker  Kritik  verweilt  und  wie 
er  sich  als  Herrn  des  Stoffes  fühlt  —  gleichsam  Reflexbewegungen  seiner  dra- 
matischen Seele.  So  wird  Philipp  mit  Kurl  V.,  WaUenstein  mit  Tilly,  sogar 
in  den  pfailosopbiBdien  Schriften  der  üeaUet  und  der  Idealist  in  Naiv  und 


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422 


Z.  FriM:  Bdiilkr  und  nntareh. 


Sentimental,  der  Brot^lehrte  und  der  philosophische  Kopf  in  der  Antrittsrede 
in  Vergleich  gesetzt.  Man  deiikt  au  Plutarchä  ßi'oi  xoQaXhfloi,  in  denen  je 
sirei  Helden  stmächBt  einzehi  behandelt,  dann  in  der  Sjnkrisis  mit  einander 
vei^clmk  werden.  Anch  8<äi]lan  Münte  Yoiliebe  ftr  Doppelbelden  in  den 
Dnunffli  kann  in  dieeem  ZwMmmenluu^  orwSImt  werden. 

In  den  liiitonecli«!  Sdiriften  finden  sidi  viele  Stellen,  die  «if  BeminieBens 
en  Flatwrch  beruhen.^)  Kurs  mümati  wir  noeh  bei  dem  Anftatat  *Die  Geeefat- 
gebung  des  Lyknrgus  und  Solon'  verweilen,  an  den  sich  bekanntlich  eine  Debatte 
über  die  Echtheit  geknüpft  hat  (vgl.  Na^,  Herrigs  Archiv  XXXUl  IH'^  unA 
Goedeke,  Sch.s  Sehr.  IX  9).  Nagel  hat  erwief?en,  dafs  der  Lykurgaufsftt/  gröfsten- 
loih  von  Nast,  Schillers  ehemaligem  T.'  hrer  an  der  Karlsschule,  herrührt  Die 
Zusätze  zum  Nastscheu  Text,  die  Kagf'l  kenntlich  gemacht  hat,  tragen,  s  oweit 
sie  nicht  rein  philosophischen  Inhalts  sind,  Plutarchisches  Gepräge,  z.  B.  der 
Abschnitt  über  Köuig  Charilaus  (vgl.  Plut.  1  168  Schir.),  über  das  in  Essig 
gelSschte  Biaengeld  (ebd.  177),  Uber  das  gemeinschaftliche  Speisen  (178  ff.),  die 
spartaniechen  Kinderwirterinneii  (196 1),  Aber  den  Anemg  nun  Krieg  und  die 
Feldausrflstang  (210),  die  MUSiliandlimgen  der  Heloten  (221  f.;  die  Ableitung 
dee  Namene  Heloten  von  der  Stadt  Hdot  steht  nieht  im  Flnftareh),  die  Kriege- 
lieder (209).  Diese  Stellen  aind  alle  last  wÖrtUch  ans  dem  Sehiiadi  enbiommttL 
Übrigtais  beruht  auch  der  Nastsdhe  Teil  fast  ganz  auf  Plutarch,  wahrscheinlidi 
andb  anf  Schirachs  Übersetzung,  wie  wörtliche  Anklänge  zeigen.  Goedeke 
nimmt  nnn  an,  dafs  auch  der  Solon  kein  selbständiges  Produkt  Schillers  ist 
An  einer  Stelle  wird  Plutarch  mit  Schirachs  Worten  zitiert:  "^Er  ma^'hte  iha 
(den  Areopagi  zum  obersten  Aufseher  und  bchutzgeist  der  Geseiase  und  be- 
festigte, wi((  Plutarch  sagt,  an  diesen  beiden  (icrichten,  dem  Senat  nämlich 
und  dem  Areopagus,  wie  au  2wei  Ankern  die  llepublik'  (I  343  Schir.).  Auch 
sonst  wird  Plntareh  bennfat^  wie  an  den  Stellen  Ober  Drakon,  aber  die  Nentra- 
littt  der  Bürger  beim  Aufiatand,  Aber  die  fible  Naduede  der  Toten,  ftbw 
Solons  Ende. 

Im  swSlften  Brief  über  dm  Don  Carlos  findet  sidi  eine  Schfldcmmg  Toin 
Tode  des  Lykurg  und  von  der  Art,  wie  er  die  Spartaner  zom  Festhalten  an 

seinen  Gesetzen  zwingen  wollte,  genau  nach  Plutarch,  nur  dafn  bei  diesem 
Lykurg  den  Orakelspruch  der  Pythia  Bchriftlich  in  die  }{<mr*^  sendet^  während 
er  ihn  bei  Schiller  in  Sparta  selbst  mitteilt;  offenbar  nnr  ein  Versehen  dee 
Dichters,  der  seinen  Autor  ans  dem  Gedächtnis  zitiert. 

In  dem  Lykurgaufsatz  ist  die  Erwähnung  jener  Sage  einer  der  Zusätze 
Schillers  selbst.  Jener  Aufsatz  wird  demnach  ungefähr  mit  den  ITHS  \er- 
fafsten  Carlosbriefen  zeitlich  zusaumienfullen.  Freilich  wird  schon  im  Spazier- 
gang unter  den  Linden  (1782)  Lykurgs  Tod  nach  Phttueh  erwähnt  (Sehir. 
I  233):  *So  mag  die  Asche  dee  Lykurgns  noeh  bis  jetsst  nnd  ewig  im  Ocetti 
liegenl'   Die  Gestalt  des  spartanisdien  Gesetigebers  sefaeint  Sehiller  inuser 


*}  EoffeBtiich  bringt  die  nene  SehiUennugabe  von  BellttinaBii  ein  amRIfarlidiM  Nwaae» 
veiMidiiiit,  ans  dem  men  rieb  Iridit  orienllereii  kann. 


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K.  FriM:  SdiillMr  und  PlnteMh. 


428 


stark  gefesselt  zu  haben,  und  im  La  Vüiette,  im  Ortlensmeister  des  Kampfe« 
mit  dem  Druckeu  glauben  wir  Ljkur^  strenge  Züge  wiederzufinden.  Was*  ilm 
eigentlich  an  ihm  interessierte,  m^  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  strengen 
Oesetzgeber  «of  monlÜNdiBm  Gebiet  geweaot  sein,  mit  Kan^  deaten  Sehfller  er 
m  Warden  b^nn,  imd  deesen  BlgorottÜt  üm  teilweiae  lurlielEeolireGikte. 

In  den  lÜBtoriMhen  Sehriften  finden  aieh  «iederholt  Anepidongen  wat 
PIutanshieeikeB,  wie  wenn  i.  B.  m  der  Vorrede  zu  Ywtote  Geeehiekte  des 
Maltheserordens  die  Ritter  von  St.  £lmo  mit  den  Helden  von  Thermopyla  ver- 
gehen werden.  Wie  sehr  der  Dichter  ftberhaupt  damals  noch  im  Plutardi 
sein  historisches  Vorbild  sah,  erkennt  man  an  dem  Unternehmen,  über  das  er 
am  26.  Nov.  1790  an  Kömer  schreibt  (Jonas  III  118)  und  das  er  als  mit  seiner 
ganzen  Verfassunpr  sebr  genau  verbunden  bezeichnet.  'Ich  trage  mich  schon 
seit  anderthalb  Jahren  (also  seit  dem  Antritt  der  Professur)  mit  einem  deutsehen 
Plutarch.  £s  vereinigt  sich  fast  alles  in  diesem  Werke,  was  das  (ilück  eines 
Buchs  machen  kann,  und  was  meinen  individuellen  Kräften  entaprichi  Kleine, 
mir  nicht  whwer  m  fibeimhende  Ganse  nnd  Abwecheelun^  knnalnüUhige  Dax- 
stellung,  philoacphiedie  und  mondiaclie  Behandlong.  —  Alle  £ttii^Miten,  die 
in  mir  Tontfig^eh  nnd  dmreh  Übnng  aoBgebildet  lind,  werden  dabei  beeeUftigt; 
die  Wirkcmg  auf  das  Zeitalter  ist  nidit  leicht  sa  Terfehlen.'  Am  19.  Des.  1790 
an  Kömer  (Jonas  III  124):  *Mich  freut,  dafs  Dir  mein  deut«cher  Plutarch  gefallt. 
Gewifs  iirt  das  die  Arbeit,  die  auf  mich  wartet,  wo  alle  Kräfte  meiner  Seele 
Befriedij2[ung  finden  werden.  Ich  bin  nun  begierig,  was  Dalberg  dazu  sagen  wird. 
Er  will  mich  nicht  von  der  !*(if'sie,  und  besonders  nicht  von  der  dramatischen 
verschlagen  wissen.    Aber  beides  wird  sich  recht  gut  vereinigen  lassen.' 

Auch  in  den  Beziehungen  zur  Braut  spielt  der  Plutarch  eine  Rolle.  'Hier 
ist  der  Plutarch'  heilst  es  iu  einem  Brief  vom  September  1788  an  die  Schwestern 
JiMigefeld,  dem  wobl  das  Exemplar  des  Antors  beifolgte.  Ähnlidi  echreibt 
BoQwean  1766  an  Madame  d'^pinaj  (Oenyree^  1871,  X  113):  'VoSlä  mm  maUre 
ä  tonsMmr,  FUtUwqm;  gardohle  mm  acmpule  autsi  longtempe  ^  tmw  k 
Ureß;  mais  ne  le  ffonkt  paa  pom  tim  fam,  d  mrkmi  ne  le  prtkt  d  pet- 
sonne;  cor  je  ne  veuz  m'en  passer  qiie  pour  vom,*  Am  20,  Nov.  1788  sdireibt 
Schiller  nach  Rudolstadt:  'Es  ist  brav,  dab  Sie  dem  Plutarch  treu  bkibeiLi 
Das  erhebt  tlber  diese  platte  (ieneration  und  macht  uns  zu  Zeltgeniwaen  einer 
besseren ,  kraftvollem  Menschenart.  Lesen  Sie  doch  diesen  Somraer  auch  die 
Geschichte  des  Könige  von  Preulsen,  und  geben  Sie  mir  Ihre  Gedanken  darüber. 
Ich  werde  sie  auch  lesen.'  So  greifen  ['lutarchische  und  moderne  Anregungen 
ineinander.  Plutarch  wird  noch  immer  mit  RousseauBchem  Auge  betrachtet. 
Noch  wuTste  man  seinen  Helden  keine  aus  der  Gegenwart  an  die  Seite  zu 
Mlen.^)  In  einem  Brief  Tom  4.  Des.  1788  heifbt  ea:  *Die  Gegenstftnde  wovon 
M enteeqniea  Ittodelt  sind  Urnen  dnrdi  Gibbon,  Plntarch  n.  s.  f.  gelftnfig.'  Am 
1.  Sepi  1789:  *Idi  Tomnthe  dala  ich  Moxgen  (Hittwodi)  über  14  Tage  mein 
lalatee  CoUeginm  leee.   Ich  eile  jetrt  gauc  gewaltig;  und  meme  Studenten 


^       deg^gu  Goethe,  Eflkmniaatt  M.  Nov.  1814. 


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K.  Fri«s:  SehUlw  und  Flntareh. 


freuen  sich  ordentlich,  wie  schnell  es  ^eht.  Ganzp  Jahrhunderte  fliegen  hinter 
uns  zurück.  Morgen  bin  ich  schon  mit  dem  Alcihiadea  fertig,  und  es  geht 
mit  schnellen  Schritten  dem  Alexander  zu,  mit  dem  ich  aufhöre.  Unser  Plutarcli 
tbat  mir  jetsl  gar  gute  Dienstey  aber  freüich  liebe  ieli  jetet  anch  mehr  Oelegeiir 
beit  mich  Uber  ihn  sa  axgem.*  In  einem  Semester  hatte  SdiiUer  ecunit  die 
üniTwealgeschidite  hie  auf  Aleunder  den  €bx)leen  gefthrt^  waA  in  swei  Wodien 
eoll  die  Zeit  tob  Alcibiades  bis  zu  Alejcandere  Ende  hesprodien  werden.  Ln 
Drang  der  Zeit  mag  wohl  jener  Nastsche  Aufsatz  unter  die  KoUegienhefte  ge- 
raten und  so  jenes  seltsame  Produkt  entstanden  sein,  das  nns  vorliej^t.  Ist 
das  der  Fall,  so  scheint  Schiller  in  der  ersten  Zeit  seine  Vortrage  schriftUch 
auagearbeitet  und  abgelesen  zu  haben,  was  bei  den  späteren  Vorlesungen  iiii 
gesichts  des  schnellen  Vorgehens  nicht  wahrscheinlich  ist.  Bemerkenswert  ist 
die  Stelle  aus  dem  Brief  an  Kömer  vom  18.  Okt.  1790:  'Der  Aufsatz  über 
Moses  in  der  Thalia  hat  also  Deinen  Beifall  im  eilften  Heft  kommen  noch 
zwei  andre,  ungefähr  von  demselben  Gehalt;  auch  die  Vorlesung  über  Lykurg, 
die  Du  mit  angehSrt  hast,  ist  daronter.'  Also  wurde  jener  An£nti  von  Nest 
mit  SdiiUeni  ZneKiaen  geradesn  eis  EoUeg  vorgelesen.  Dab  nur  solche  Vor- 
lesungen herausgegehen  wurden,  die  sich  mit  den  Anfingen  der  Geschichte  be- 
sdhSftigen,  lälst  deutlich  erkennen,  dsis  Schiller  nur  an&ngs  seine  Kollegien 
niederschrieb,  solange  der  Stoff  zu  philosophisdien  Betrachtungen  tther  all- 
gemeine mensddiche  Fragen  Anlafa  bot. 

Worin  jenes  'Ärgernis'  bostiinil,  das  Schiller  jetzt  'auch  mehr'  am  Plutarch 
nahm,  ist  in  jenem  Brief  nicht  ausgesproclu-n,  nhcr  man  kann  es  aus  der  Natur 
der  Zusätze  zum  Nastöchen  Lykurgaufsatx  entnehmen.  Dort  lieifst  es  gelegent- 
lich einer  l'olemik  gegen  die  spartanische  Verfassung:  'l.'berhaupt  können  wir 
bei  Beurteilung  politischer  Anstalten  als  eine  liegel  festsetzen,  daTs  sie  nur  gut 
und  liehenswfirdig  sind,  insofern  alle  Krafte,  die  im  Menschen  liegen,  zur 
Ausbildung  bringen,  inso£nm  sie  Porlsehreitnng  der  Gultnr  befördern  oder 
wen^tens  nicht  henunra.  Dieees  gilt  von  Religion»-  wie  von  politisdien  Oe- 
setsen;  beide  eind  Terwerflioh,  wenn  sie  eine  Kraft  des  menschlichen  Geistes 
fessehi,  wenn  sie  ihm  in  irgend  etwas  einen  Stillstand  auferlegen.*  Wir  er- 
kennen den  Schüler  Rousseaus,  den  späteren  Vorkämpfer  IBr  die  Verwirk- 
lichung des  ästhetischen  Staats.  Es  war  die  antike  Begrenztheit,  der  Mangel 
an  philosophisclipr  Freiheit,  die  Auffassung  der  Menschen  als  Staatsbürger,  was 
die  allmähliche  Entfernung  Schillers  von  seiner  Lieblingsquelle  herbeiführte 
*Bloi'8e  Achtung  demütigt  den,  der  sie  emptindet.  Daher  gefällt  uns  Vä^&r 
weit  mehr  als  Cato,  Cicero  mehi'  als  Phocion,  Thomas  Jones  mehr  als  Grandison* 
heifst  es  in  einem  Brief  vom  23.  Febr.  17U3.  Durch  die  Beschäftigung  mit 
der  Philosophie  lernte  Schiller  orst  erkennen,  waa  der  Weltanschauung  des 
Altertums  mangslte. 

Einige  Jshre  vorher  hatte  der  Dichter  noch  ganz  andere  Worte  ftr  Flatndi. 
An  Cotta  schreibt  er  am  20.  Aug.  1788:  *Ich  habe  gestern  geschrieben  mid 
dann  das  Leben  des  Pompejus  im  Plutarch  gelesen,  des  mir  grofse  OdUhle 
gegeben  hat,  und  den  Entschlufs  in  mir  erneuerte,  meine  Seele  kfinftig  mehr 


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K  Frie«:  SdiiUer  ond  Plnludi.  425 

mit  den  grofsen  ZQgen  des  AltertamR  sa  nShren.'  Jene  Sinneswandclung 
«(C'heint  also  ziemlicli  unvermittplt  eingetreten  r.xi  sein,  so  panegyrische  Aufse- 
rungen  finden  sich  später  nicht  wieder.  An(h>rs  wird  das  Altertum  «f'iiter  bc 
trachtet,  das  politische  Ideal  ist  durch  das  ktmstiensche  verdrängt,  und  statt 
I'lutarchs  übeniimmt  Goethe  die  Vermittelung.  Bezeichnender  Weise  charakte- 
risiert Schiller  den  grolüen  Eiodruck  Goethes  auf  ihn  mit  einer  Plutarchischen 
Rj^mmimwi«  Ooe£he  habe  in  ibm  eine  Empfindmig  erweckt,  die  derjenigen 
Didit  nngleidi  sei,  die  BrntoB  und  GasBiiis  gegen  den  Caesar  gehabt  haben 
mfi&ten  (2.  Febr.  1789).  Im  Bilde  bleibt  Schiller,  wem  er  Bebenweise  ge- 
stebty  &t  kannte  Goethes  Geiit  ermarden. 

In  den  phfloBophiBchen  Schriften  )jikt  sich  jene  Sinnesändenmg  deutlich 
▼erfolgen,  wenn  z.  B.  in  dem  Aufeaia:  *Üher  die  tragische  Kunst'  (1792)  in 
dem  Richterspmch  des  Brutus  über  seine  Söhne,  im  Selbstmord  des  Cato  nur 
eine  für  den  Römer  geltende  subjektiv»'  Wahrbt-ii,  dagegen  in  der  Aufopferung 
deü  Leonidas.  in  Aristides',  Sokrates',  Diunir^  SeiiickHaleu  allgemeine,  rfihrendt», 
objektive  Wahrheit  erkannt  wird.  Ininurhia  wurden  die  Beispiele  noch  fast 
ausschlieiklich  dem  Plutarchischen  Gesichtskreis  entnommen. 

Auch  die  poetische  Produktion  ist  noch  von  Platarch  beeinfiu&t.  Das 
Qedidit  *ArdliimedeB  md  dmr  SchfiliO'*  beruht,  was  Viehoff  Bchon  bemerkt  hat 
(Erlantemngen  III  186),  einer  Stelle  der  Ifaroellnsbiographie  (III  272  Schir.): 
*Er  (Ardumedes)  hielt  die  praktische  Hedianik  und  Uberhaapt  jede  Kunsiy  die 
man  der  Nothwendi^it  wegen  triebe,  f&r  niedrig  nnd  hendwerksrnftlsig:  sein 
Ehrgeitz  gieng  nur  auf  solche  Wissenschaften,  in  denen  das  Gute  nnd  Schone 
einen  innem  Werth  für  sich  selbst  hat,  ohne  der  Noth wendigkeit  zu  dienen,  die 
mit  keiner  andern  Wissenschaft  verglichen  werden  können,  und  bey  welchen 
die  behandelten  Dinge  mit  den  Beweisen  in  Absicht  der  Vortreflichkeit  gleich- 
sam wetteifern,  weil  die  Bachen  an  sich  so  erhaben  und  schön,  und  die  Be 
weise  so  gründlich  und  wichtig  wind  *  Auch  die  Erklärung  der  Sambuen  stammt 
ans  der  genannten  Biographie  (^2G6i.  Da»  Gedicht  it^t  inhaltlich  mit  dem  Lpi 
gramm  'Wissenschaft'  verwandt.  Wenn  es  femer  in  dem  Gedicht  *An  die 
Ptoaelytaimaeher'  heilst: 

Nnr  ein  weniges.  Erde  beding*  ich  mir  aoTier  der  Erde, 
Sprach  der  gOttlidie  Mann,  mid  ich  bewege  sie  leicht, 
so  geht  das  auf  dieselbe  Biographie  zurflck,  wo  Arcbimedes'  Behauptung  er- 
zahlt wird  (  266),  er  vermöge  diese  Erde,  wenn  er  eine  andere  lultte,  auf  der  er 
skethen  könnte,  in  Bewegan^  setzen.  In  jener  Zeit  entatond  auch  die  Belage- 
rung von  Antwerpen.  Die  Ge<^chichte  dieser  Belagerung  erinnert  in  vielen 
Zügen  an  diejenige  von  Syrakus  durch  Marcellus.  Auch  hier  wird  die  Stadt 
von  einer  starken  Macht  vergeblich  berannt  nnd  hiilt  sich  aiiffalleiid  lang  da- 
durch, dafs  ein  genialer  Ingenieur  mit  unerwehöptliclur  Ertindungsgabe  dem 
Feinde  den  gröfaten  Schaden  bereitet.  Triedrich  GianibeUi  hiefa  dieser  Mann, 
den  das  SchickBal  bestimmt  hatte,  der  Archimed  dieser  Stadt  an  werdm,  nnd 
eine  gleiche  Geschicklichkeit  mit  gleidi  Torloniem  Erfolge  sn  deren  Vert^digong 
»1  Terschwenden.'  Die  Bezeichnung  *ArdUm^  Ton  Antwerpen'  fcdut  noch  ein- 


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426  K.  frivt:  8ehiU«r  nnd  Plntansh. 

mal  wieder,  wo  erzählt  wird,  wie  die  Volkslcidenschafb  ihn  je  nach  dem  Erfolg 
bald  in  Stücke  zu  reiTsen  droht,  bald  vergöttert.  Die  Analogie  zum  'Marcellu' 
mag  Dichter  aufgefallen  sein,  dem  gelegentlicb  erne«iter  Lddüre  deeselben 
jene  an  Aidumedes  anknIlpliBindffli  Ideen  aufgegangen  aein  worden. 

Der  Diehter  der  *BinbOT'  mtereieierfce  wst  in  späteren  Jahren  lebhaft  für 
da8  Lcbm  auf  dem  Meer  und  speziell  für  die  Schicksale  und  Abenteuer  der 
Seeräuber.  Er  las  ÄrcheDhoiz'  Geschichte  der  Flibustier  und  wollte  diese  sogar 
dramatisch  verwerten,  wie  ein  Fragment  bezeugt.')  Diibo?  mag  ibm  anob  die 
eingehende  Schildening  des  Sferäiiborkric«:^  ^legenwärtig  gewe!*en  sein,  bc'- 
sonders  die  genaue  Besehreibung  dir  Orpmisation,  der  Mtthode  und  der  Gräuel- 
thaten  jener  Piraten,  die  in  der  von  Schiller  mit  Begeisterung  gelesenen  Pompejus- 
biographie  gegeben  wird  (VI  66—70  Schir.).  In  diesen  Gedankenkreis  gehfiii 
auch  der  Entwurf  *Seine  GfÖttor  ruft  der  Meerkönig  zaeammen'  n.  s.  w.  (Hoff- 
meister  m  274)  sowie  die  Strophenfragmente: 

Nach  dem  femm  Westen  woUt^  er  steoem. 
Auf  dnr  Btrabe,  die  Colnmbns  ftnd  n.  s.  w. 

(Goedeke  XV  1,  421.) 

Hoffineister  erinnert  an  das  Gedicht  'Der  Antritt  des  nenen  Jahrhimderts*  auch 

Spur^  jenes  Inseldramas  finden  sich  dort: 

Narli  des  Südpols  nie  entdeckten  Sternen 
Dringt  sein  ra.stlos,  nngehenunter  Laaf| 
Alle  Inseln  ??pürt  pr,  all»»  fV'mon 
Küsteu,  nur  diib  rarudit"?  Dicht  auf. 

Das  Ideal  der  Freiheit  schwebt  dem  Dichter  überall  vor,  und  er  sucht  sie  auf 
einer  verborgeneu  atlantischen  Insel: 

Liegt  sie  jenseits  dem  Atlauternieere, 

Die  Oolnmb  mit  wandernder  Galen«  . 

Übersehen  hat  man  die  Ähnlichkeit  mit  einer  weit  ii-aher  entstandenen  Stelle, 
dem  Schlafe  des  Gedichts  *Der  Vennswagen*  (1781): 

Wo  noch  kein  Europersegel  brauste, 
K«n  Oolnmb  noch  stenertef  noch  kern 

Corte?,  siegte,  kein  Pizarro  hauste, 

Wohnt  aof  einem  Eilaod  —  fir  allein  (d.  L  der  Veniurichter). 

Dichter  forschten  lange  nach  dem  Namen, 

Vorgcbirg*  des  Wunsches  nannten  sie's; 
Die  r!ed;inkpn,  die  bis  dahin  schwammen, 
Nannleuö  daü  verlorne  Paradies. 

Als  vom  ersten  Weibe  «irh  bdrücfn 
Liefs  der  Männer  erster,  kam  ein  Wasaerstoü, 
KÜs,  wenn  Sagen  Helikons  nicht  liegen, 
Von  vier  Welten  jene  Insel  loe. 

*)  Vgl.  meiue  Arbeit:  .Schillers  Fraj^iiicnt  'Die  ^'libu8tie^s',  Vierteljahrs-tchr.  f.  Litte- 
raturgeaehiebte  V  lU  C 


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K.  Fries:  Sohfllw  iiiid  Flntaidi. 


427 


Einsam  schwimuit  sie  im  Atlaait'scheu  .Meei"e, 
Manches  Schiff  begrOfste  schon  das  Land, 
Aber  aoh  —  die  Boheitenide  Oaleera 
Lieb  den  Schiffer  todt  am  Stnad. 

Die  Ähnlichkeit  dieser  drei  Gedichte  erstreckt  eioh  nidit  nur  «if  den  Inhalt^ 
flondmi  auf  wörtliche  AnUSnge  und  auf  das  VemnallL  Üherall  ondieiBt  eine 
Ineel  des  Olficke  und  der  Freiheit  im  Atlantiflchen  Meer.  Man  denkt  an 
Amerika,  und  doch  awingt  das  AUgemeine  der  Beechreibiuigy  iidbi  «n  ntopi- 
sehes  Gebilde  vorzustelleii.  Auch  die  Heineren  Gedichte  Tolumbus*,  'Der  Kauf- 
mann', 'Odyasetts'  führen  auf  den  ozeanischen  Schauplatz.  Eine  I'tnjiie  im 
atlantiachoti  Ozenn  war  nun  nicht«  Neues,  bekanntlich  hat  Plato  schon  mit 
leuchtenden  Farben  seine  'Atlantis'  ans£;eraalt,  nach  Solnns  Vorgang,  wie  er 
selbst  sagt.  Bolon  hatte  njiniltVh  auf  seinen  Heisen  die  'Erzehlung  von  der 
Atlantischen  Insel'  von  ä<;Yptis4clien  Weisen  f^ehort,  'die  er  »einem  Vaterlande 
in  griechischen  Versen  bekannt  machen  wollte',  wie  i'iuturch  erzahlt  (I  360 
Sdiir.).  Schirach  merkt  dazu  an:  'Die  AtLmtiBche  Insel  war,  wie  erzebit  wird, 
eine  Liael  auf  dem  Ocean,  gröber  als  Asien  und  Afrika,  und  sie  ging  in  einem 
Tage  and  einer  Nacht  unter.  Wenn  man  versdiiedne  andere  Ersehlungra, 
s.  E.  aus  dem  Diodor  von  Sicilien,  damit  ver^eidity  so  bleibt  wohl  wenig 
Zweifel,  dals  diese  grofse  Atlantisdie  Insel  America  sey.'  Femer  berichtet 
Plutarch  (S.  873  f.):  'Solon  hatte  ein  grofses  Werk  ange&ngen,  welche«  die 
Qeechichte  der  Atlantischen  Insel  enthalten  sollte,  ro  wie  er  sie  von  den 
Weisen  zu  SaYs  gehört  hatte,  und  die  sich  sehr  gut  auf  die  Athenienser 
»chiekte*  —  'Die  unvollendete  Atlantische  Gescliieht«  des  Soions  ist  gleichsam 
ein  verlalsuer  angeli  _trr  Grnnd  in  einer  schönen  Gegend  irewesen,  welchen 
Plato,  dem  er  ruh  einer  Art  von  Verwandtschaft  gehörte,  weiter  aufzubauen 
and  auszuzieren  sieh  bestrebte.  Er  setzte  grofse  Eingiinge,  Mauern  and  Vor- 
hSfe  zum  An&nge  des  Getöndes,  dergleichen  KostiMukdjten  noch  keine  Rede;, 
nodi  Fabel,  noch  Gedieht  gehabt  hatte.  Aber  er  fieng  an  s^mt  an,  und  endigte 
daher  eher  sein  Lehen,  als  das  Werk.  Je  mehr  nns  aber  das,  was  nodi  davon 
vorhanden  ist,  ergStsle,  desto  mehr  mub  man  das,  was  aurfick  geblieben  isi^ 
mit  bedauern.  Plato's  Weisheit  lieb  unter  so  vielen  schönen  Werken  die 
einsige  Atlantische  Geschichte  unvollkoniinen.  sowie  die  Stadt  Athen  den 
Tempel  d^  Olympischen  Jupiters.'  In  dem  Aufsatz  üh<  r  ilie  Gesetzgebung 
Solons  finden  sich  Stellen,  die  an  jene  Worte  erinnern,  /  B.:  'Durch  Keiften, 
welche  ihm  diese  Lebensart  notwendiij  machte,  und  tUirch  den  Verkelu-  mit 
auswärtigen  Völkern  berpieherte  sich  sein  Geist,  und  nein  Genie  entwickelt*} 
»ich  im  Umgang  mit  fremden  Weisen.  Frühe  schon  legte  er  sich  auf  die 
Dichtkunst,  und  die  Fertigkeit,  die  er  durin  erlangte,  kam  ihm  in  der  Folge 
sdion  au  statten,  morslisdie  Wahrheiten  und  politische  Regeln  in  dieses  ge- 
fällige Gewand  zu  kleiden',  womit  deutlich  auf  die  Atlantis  angespielt  wird. 
Am  Schlnls  heilst  es  wieder,  er  machte  'eine  Reise  durch  Kleinasien,  nach  den 
Iiisehl  und  nach  Ägypten,  wo  er  sich  mit  den  Weisesten  seiner  Zeit  besprach, 
den  königlichen  Hof  des  Grösus  in  Lydien,  und  den  an  Sais  in  iigypten  be- 

n* 


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428 


E.  Friw:  Schiller  und  Plniardi. 


suehie'.  Wir  kommen  zu  dem  Schlufs,  dafk  auch  all  jene  ailantischeu  V^or- 
itaUungen,  die  den  Dichter  zu  Teraehiedeiuteii  Zeiten  beachiftigtcn,  im  Gninde 
auf  Piutan^  zorQolEsnfttturen  sind. 

Wenn  Bwisehen  den  Oestelten  des  Wallengtein  und  denen  dee  Garlos  eine 
Kluft  vorhanden  ist,  »o  liegt  das  an  Schillers  geschichtlichen  Studien.  Im 
Wallenstein  sehwinden  die  Kontraste^  die  in  den  Charakteren  der  Jugenddramen 
so  grell  hcrvoi-treten  nnd  ihnen  eine  unruhig  flackernde  Beleuchtung  geben. 
Wurde  hier  das  Kousseausche  Schlagwort,  von  dm  grolsen  Very)rochrrn  dahin 
miis  verstau  den,  dafs  nur  das  Grasse,  Schreckliche  für  profs  ^alt,  so  ist  Wallen- 
stein  eigentlich  der  erste  grofse  Verbrechi;r,  dar  im  wirklich  Kousseauschen 
Sinne  geschildert  wird.  Die  makellosen  Tugendhelden  verschwinden,  Max 
Pieeolomini  nimmt  in  der  Trfl<^e  eine  sekundäre  Stellung  ein,  und  der 
Dichter  lief  nidit  mehr  Ge&hr,  dem  idealen  SchwSmer  sulieb  den  Bau  des 
Dramas  nachtriglich  xn  modifixier^.  Was  der  Wallenstein  so  vieUeicht  an 
Kidorit  eingebüfst  hat,  wird  reichlich  durch  die  wohlthuende  Harmonie  der 
Farben  ersetst.  Der  dem  Schulzwang  entronnene  Regimentsmedikus  stand 
nicht  auf  dem  gesoll.scliaftlichen  Niveau  der  Gesamtheit,  deren  Gunst  seine 
Zukunft  bedingte.  Er  rani^  erst  um  eine  Existenz.  Naturgemäfs  schien  ihm 
alles  grofs,  farliij^^  krals,  wechselreich,  der  Begriff  des  Menschlichen  schillerte 
ihm  in  soviel  Karben,  als  Erscheinungen  desselben  vor  seine  Sinne  traten. 
Dem  *dunkeln  Drange'  folgend  und  von  diesem  auf  den  Standpunkt  des  Ge- 
Idurien  erhoben,  nimmt  er  freudig  die  Terinderie  Pers^tektive  wahr.  Seinem 
auf  Tor-  und  Hitwelt  gmditeten  Bliek  triU^  die  Zshl  der  Erscheinongen  ina 
ünomeMcfae  und  lilst  ihn  das  Dauernde»  gesetsmalsig  Wiederkehrende  *in 
der  Erscheinungen  Flucht'  erkennen.  Die  Individuen  erblassen  und  tauchen 
untrr  i  i  den  Summen,  in  diesen  erkennt  er  die  Funktionen  weniger  g^meifi' 
gültiger  Normen.  Er  lernt  mit  den  Augen  derer  sehen,  die  mit  Massen  rechnen 
und  auf  den  Gipfeln  irdischer  Macht  lieimiscli  sind.  Der  Druck,  der  seit  dorn 
dreirsigjährigeu  Krieg  auf  dem  Kleinlnirgerium  lastete  und  seiiu  n  (Tesicbtskreis 
verengte  und  der  auch  auf  seiner  Familie  ruhte,  schwindet,  die  Gtschichte 
erdffiaet  dem  Jüngling  Herz  und  Auge  fEb*  die  grofse  Welt,  das  Geheimnis 
ihrer  Denkweise  entschleiert  sich  ihm.  Seine  Einsicht  steht  den  Gewaltigen 
der  Erde  an  nah,  um  sw  mit  subalterner  Eurssichtigkeit  als  grundsitalidie 
Bedrfickar  und  teuflische  Tynmnen  anausehen;  ^  steht  ihnen  nahe  genug, 
er  besitst  Kunde  genug  von  den  sie  beengenden  Faktoren  der  realen  Welt  imd 
von  den  Gefühlen  und  Konflikten  in  ihrer  Brust,  nm  ihnen  die  Erlösung  der 
Volker  durch  einen  kurzen  Foderzug  zu  erlassen.  Das  Drania  der  Luise  Millerin 
wiederliolt  sieh  in  dem  der  Thekla.  Dort  tritt  der  Dichter  ohne  Bedenken  auf 
die  Seite  der  Liebenden.  Der  Präsident  wie  Wallenstein  scheuen  eine  nach- 
teüige  Verbindung  ihies  Sulines,  Der  Dichter  glaubt  dem  Piiisidenten  keint».«* 
seiner  wohlgesetzten  Wort^;,  fast  fürchtet  er  die  Konsequenz  seiner  Logik,  und 
er  mufste  sie  fttrditen.  Daher  das  Übenna&  von  Kllte,  das  dieser  Figur  an- 
erteilt wird.  Die  leiste  Wendung  zum  Guten,  die  diesem  Charakter  gans  am 
Schlafs  eingeiftumt  wird,  gleicht  einer  Entschuldigang  des  Verfiuisers  dem  Pift- 


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JL  frmt  SehiUer  und  Flntareh. 


489 


sulenten  gegenüber,  dessen  berechtigt»  Rinwünd«   '^nt^tri  Ferdinands  Wege  er 
durch  gehäufte  Laster  gleichsam  verleumderisch  zu  entkräften  versucht  hatte.  * 
WaUeustein  empfindet  für  Maxens  Hofinungen  nicht  mehr  als  der  Präsident  für 
die  Pläne  des  Uajon.    Aber  wie  jovial,  »jmpathiBch,  natOrlieh  gebadet  er 
licsh  dabei: 

Die  Friedliindi'nn 
Denkt  er  davonzutragen?    Nun!    Dtr  Einfall 

Gefällt  mir!    Die  Gedanken  stthrn  ihm  nicht  niedrig.  

Nun  ja,  ich  lieb'  ihn,  halt'  ihn  wertb;  was  aber 
Hat  dies  mit  meiiiw  Toohter  Hand  za  sdiaffen?  .  .  . 

Die  Eventualität  wird  von  allen  Seiten  hetrachtet,  aber  der  Entschlurs  steht 
darum  von  vornherein  nicht  weniger  fest,  als  ol»  er  'gleich  mit  verletzender 
Harte'  aTi5»»respr()chen  würde.  Die  Kränkung  wird  durch  die  Form  lithtus- 
würdigen  iiamors  gemildert.  Wir  hören  die  Sprache  des  Weltniaims.  Des 
Priudenten  kaUhen&ige  Bosheit  erscheint  uji|^«ibwfirdig  oder  verabscheuens- 
wert Dem  Gewaltigen,  der  mit  Anneen  wQrfelt  nnd  die  FUreten  Europas  in 
Atem  erhfil^  rerdenken  wir  es  weniger,  wenn  er  sicli  nicht  in  das  Fttblen  des 
Individnoms  hineinfindet  Dem  nach  dem  ATancement  und  der  Gunst  des 
Duodezfürsten  schielenden  Prosidenten  der  kleinen  Residenz  steht  die  h&nsliobe 
Tyrannei  übel  zu  Gesicht,  Wallenstein  ist  als  Übermensch  entschuldigt.  Es 
geschieht  glelehsam  hinter  dem  Uöcken  seine?!  Helden,  wenn  der  Dichter  zu- 
wilen  ffir  die  Licheiulen  Partei  nimmt  und  mit  ihnen  die  gesamte  Staatskunst 
nwt  ilirer  Unerbittlichkeit  verwUn?<cht.  Freilich  war  Schiller  kein  Staatsmann 
geworden,  wenn  er  auch  als  solcher  zu  denken  und  zu  reden  gelernt  hatte. 
Jeder  Blick  von  seinen  Büchern  auf  mufste  ihm  in  der  Hinsicht  eine  Ent- 
täuschung sein.  Kein  Wunder,  dafs  er  oft  Tage  lang  an  die  Bücher  gebannt 
nb,  ohne  au&asehen  in  die  nodi  Irendlose  WixUichkeii  Man  kann  nicht 
wOnschen,  dab  dem  andos  gewesen  wäre,  die  Staateraison  war  seines  Geistes 
nicht  würdig.  Das  Gute  und  Bleibende^  was  er  von  jenen  GeschiditsforBchungen 
davonfaxig,  .war  der  freie  Blick,  der  erhöhte  Standpunkt,  das  gemä&igte  Tem- 
peiKment,  vermöge  deren  er  aus  dem  Überfluls  der  Analogien  die  Regeln,  die 
Gesetze  dc^^  grofsen  (retriebes  zu  entnehmen  lernte.  Das  führte  ihn  dann  in 
die  Arme  der  Philosophie,  die  ganz  und  gar  vom  Individuum  absieht  nnd  nur 
mit  unbenannten  Grölsen  operiert  Der  Typuf.  die  Idee  des  ästhetischen 
Menschen  geht  ibm  auf.  Auch  die  Basis  staatHmäriniseher  Weltanschauung 
versinkt  unter  ihm,  der  zu  den  verklärten  Höhen  künstlerischer  Objektivität 
und  Freiheit  eingeht. 

Damit  mulste  jedes  Band,  das  den  Dichter  so  lange  mit  dem  Plutarch 
verbunden  faattey  zemssen  sein.  Das  rSmische  Bürgerideal  hatte  einem  hdheren 
weichen  mflssen,  dem  Ideal  des  Schön«&.  Wenn  sich  dennoch  auch  Sparen 
Plutarehs  noch  aufvreisen  lassen,  so  beweist  das  nur,  wie  stark  die  Freund- 
schaft einst  gewesen  war,  die  in  der  Erinnerung  noch  so  lebendig  fortlebte.  Im 
WaUenstein  finden  sich  deutliehe  Einwirkungen  jener  I^ompcjusbiographie,  z.  B. 
jener  Absdüedsrede  des  Pompejus  an  seine  Gemahlin.  Besonders  Caesars  Person 


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430 


K.  Friw:  Behiltor  nnd  Plutuoti. 


wird  gern  zitiert.')  Eine  Spm  derselben  Biojjraphie  findet  sich  sogar  noch 
iu  der  'Jungfrau  von  Orleans'.  Karl  de«  Öiebeuteu  Wort:  'Kann  ich  Aiiueeii 
ans  der  Erde  Btnmpfen?*  kUngt  fast  wie  eine  Nachahmniig  des  Anflspnidu^  den 
der  verbkndete  Pompejue  vor  der  Scldedit  bei  Phaaraaliu  getiiati  haben  «dl 
(VI  131  Schir.):  ich  nur  in  Italien  mit  dnem  Folse  auf  die  Erde  stoteo 
werde^  da  werden  Heere  »i  Pferde  und  su  FciJb  herTorspringen.'  Die  Änfeemng 
wird  noch  zweimal  bei  Plntareh  erwähnt  (VI  137  und  42.')).-) 

Das  Themistoklesfra^^ent  setst  Hoffmeister  in  die  WaUen8tein|>eriode,  d&» 
UaeeizisÜsche  Gepräge  des  Ganzen  empfiehlt  aber,  es  für  ein  Produkt  der  letzten 
Jahre  zu  lialt<»n.*)  Eh  bornbt  stofflich  ganz  auf  den  letzten  Kapiteln  der 
Plutarchischen  Thenust()kl('Hl)i()graphie,  in  denen  siih  fast  alle  in  dem  Plan 
notierten  Einzelheiten  büiBauiiuen  finden.  Unter  a  üuden  wir  im  Fragment 
(Uoedeke  XV  1,  28j  folgende  Bemerkung:  'Griechische  und  persische  Sitten  im 
Kontrast',  womit  wohl  auf  die  BegrüGsungszercmouicn  beim  Erscheinen  vor 
dem  Qfollikdnig  angespielt  wird,  die  Artabaoae  dem  Themiatokke  in  eiBem 
Brief  beechreibt  (I  480  ff.  Schir.). 

*h.  Thenüstoklea  hohea  Anaehen  bei  den  Persern,  nnd  die  Ehrenbeaengniq^eD, 
die  ihm  von  den  Barbaren  erwieaen  werden.'  —  %  Der  Neid  der  Perser  gagm 
den  Themistokles.'  Entsprechend  Plutaroh  (486):  'Themistokles  genofs  Qber- 
haopt  soviel  Onade  am  Persischen  Hofe,  daSa  die  nachfolgenden  Kön^,  ab 
sie  mit  den  griechischen  Angelegenheiten  in  mehrere  Verbindung  kamen,  wenn 
sie  einen  Griechen  »j^ern  in  ihre  Dienste  haben  wollten,  ihm  versprachen,  er 
solle  noch  mehr  als  Thenustokles  von  iliutu  erhalten.'  Auch  für  den  Neid 
der  Perser  finden  sich  Belege,  die  Worte  des  Rhoxanes  (483),  das  Gerede  der 
Höflinge  (485),  der  Mordauscixlag  des  phrygischen  Satrapen  (487)  und  das 
Verhalten  des  Statthalters  von  Lydien  (489).  'Er  wurde  nun  in  allem  vor- 
sichtiger, nnd  hütete  aieh  für  den  Neid  der  Barbaren'  (489). 

*c.  Die  Gnade  des  grofaen  KSnigs,  dessen  groikes  nnd  nnexBchfitterlidu« 
Vertrauen  zu  ThemistoUea.'  *p.  Er  wird  in  dem  StQcke  selbst  von  dem  pe^ 
atschen  EJkiige  beschenkt'  Vgl  tiaL  484:  *Er  lernte  innerhalb  dieses  Zeit- 
raumes die  Persische  Sprache,  und  hatte  bey  dem  König  Zutritt  ohne  Mittehp 
personen.'  485:  ^Denn  er  genofs  so  viele  Ehre,  wie  noch  keinem  Frandea  war 
gezeigt  worden.  Er  wurde  zu  den  königlichen  Jagden  gezogen,  er  nahm  an 
den  innern  Hoferjrötzunge»  Antheil,  er  hatt^*  sogar  fVeyen  Zutritt  zu  des  Königs 
Mutter,  und  wurde  auch,  auf  Befehl  des  Königs,  in  den  magiachen  Wisaeo- 

*)  'Was  thu'  ich  mehr  als  jener  Cäsar  thatv  Kr  führte  gegen  Rom  die  Legionen*  

'Ich  Bpüro  wa«  in  mir  von  Hcinem  fSfisst,  (Heb  mir  sein  Glück,  das  andre  will  ich  tragäa' 
Vgl.  'Da  trägst  den  Casar  und  sein  Glück'  (VI  4^2  Schür.).  Auch  Plutarchs  Erörterungen 
fiber  Feldhemglück  (IV  275)  gehören  vieUdchi  hierher. 

*)  JiAaantis  Worte:  'Kinen  Donnerkeil  führ'  ich  im  Mnnde'  klingen  dentlidl  ao  jenen 
KoDiikLTver=^  HUlt  PiTiklijs  ;m,  den  Scliirarli  mi  wicderffioVif  IT  106):  'Sie  sagen,  er  habe  in 
seinen  Iteden  an  das  Volk  gedonnert  und  geblitzt,  er  trage  einen  schrecklichen  Donnerkeil 
auf  der  Zange.* 

^  Herr  Frofeasor  Etidi  Sdimidt  hatte  die  Liebeaawflrdigkeit,  den  Terf.  daiaof  hia^ 
auwciaen. 


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£.  Fries;  Schüler  und  Plutsurch. 


431 


achaftftn  imtenrichtei*  486:  'Es  wnrden  flun,  nadi  dem  Berichte  der  mdBten 
Schriftsteller,  drey  SÜdte  gegeben,  welche  ihm  Brodi^  Wein,  mid  Lebensmittel 
liefern  mufsten.' 

*eL  Jonische  Griechen,  zwischen  den  enropSischen  Griechen  imd  den  Bar- 
baren in  der  Mitte  gteliend.*  Plutarch  erzählt,  wie  Thcmistoklcs  in  griechiflcben 
Angelejxenhciten  an  du-  KQste  reist  (487),  dafs  er  zu  MH^ncsia  Ichto  (489), 
wo  er  starb  und  noch  lange  verehrt  wiurde  (492  f.),  also  steto  Beziehungen 
Bu  lonien. 

y.  Themistokles  Tochter  Nesiptoleme,  die  i'riesteriu  der  iMutter  der  Götter.' 
Plntorch  berichtet  (487  f.),  ein  Satrap  habe  dem  Themistokles  nach  dem  Leben 
gestellt,  die  Matter  der  G9ttw  aber  sei  ihm  im  Tranme  erschieoen  ond  habe 
ihm  Betfamg  Tersprocben.  'Ich  aber  Terlai^  dafttr  Deine  Tochter  Mneei- 
ptoleme  anr  Priesterin.*  Themistokles  entgeht  der  Ge&hr,  er  'erbaute  der 
ihm  erachienenen  Göttin  Dindymene  einen  Tempel  zu  Mi^esia,  und  machte 
seine  Tochter  Mnesiptoleme  zur  Priestcrin  darinnen.'  Schiller  hat  den  Namen 
der  Tochter  wohl  aus  euphonischen  Gründen  vereinfacht. 

Griechenlands  Blutlu-  und  waehsondfi-  Ruhm,  seitdem  er  unter  den 
Persem  ist.  ("imons  Frühlitig.'  Hi'i  l'lutarch  wird  entsprechend  enählt,  wie 
die  athenischt'  Maeht  sich  weiter  entfaltete,  wie  'die  griechischen  Schiffe  bis 
Cyperu  und  Cihticu  hin  segelten,  und  f^iiiioiv  die  Herrschaft  7,ur  See  an  sich 
rifs*.  Themistokles  soll  den  Griechen  entgegenzieheu,  um  'ihre  wachsende  Macht 
zu  schwächen'  (489). 

%  ThemiatokleB  erinnert  sieh  mit  Begeisterung  der  frfiheren  Zeit.  Die 
Schlacht  bei  Salamis.  Olympische  Spiele.'  Damit  I&lat  nßk  in  Zusammen- 
hang bringen,  was  von  einem  Erscheinen  des  athenischen  Helden  bei  den 
Olympisdien  Spielen  enahlt  wird,  wo  er  allgemeine  Bewnndemng  und  Freude 
erregte  und  voller  Rühmng  zu  seinen  Freunden  gesagt  haben  soll,  er  genösse 
jetzt  die  i*Vachte  seiner  fiemflhongen  fQr  Griechenland  (462). 

Unter  n  wird  von  einem  Kind  oder  Enkel  tles  Themistokles  gerodet. 
Plutarch  zählt  die  Kinder  des  Themistokles  auf  und  berichtet  über  die  Ehe- 
bundnisse,  die  sie  apüter  eingingen  (491  \ 

V  Themistokles  hat  Sklaven  und  Sklavinnen.  Eine  hochgesinnte  Jonierin 
ist  darunter.'  Da  luerfür  sonst  keine  Anhaltspunkte  zu  finden  sind,  darf  man 
vielleicht  an  folgende  Stelle  erinnern.  Themistokles  wurde  Terkleidet  in  einem 
Wagen  nach  Persien  gebraehl  'Auf  einem  so  eingeriditeten  Wagen  wurde 
Themistokles  forlgebraeht:  die  ihn  begleiteten,  sagten  an  jedermann,  sie  fOhrten 
ein  griediisehes  Mädchen  ans  Jonien  za  einem  Manne  am  kdniglidien  Hofe'  (479). 

*q.  Er  stellt  ein  Opfer  an,  unter  dem  Vorwand  seiner  Abreise  in  den  Krieg, 
es  iat  aber  sein  Todtenopfer.'  490:  'Er  hielt  ein  Opfer,  wozu  er  seine  Freunde 
▼ersammclt  hatte,  und  trank  entweder,  wie  die  mehrsten  Nachrichten  sagen, 
das  Blut  des  ger)pferten  Ochsen,  oder  nahm  schnellwirkendes  Gift,  wie  einige 
Scribenten  erzehlen.' 

[Zu  S.  354,  A  1:  Sc  hillerR  PliTtEirchexemphuT  im  Goethe-Sdiiller-Archiv  su  Weimar  eai- 
liiUt  keine  Boadbemerkimgoa.  Ilb.\ 


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NEUE  DEUTSCHE  LlTTERATÜßGESCHICHTEN. 


Von  Gotthold  Boetticuer. 

Das  löbliche  Bestreben,  die  Ergebnisse  der  wissenschafllichen  Forschung 
den  weiteren  Kreisen  der  Gebildeten  in  Werken  von  gemeinfafslicher  Darstel- 
lung zugänglich  zu  machen,  beherrscht  unsere  Zeit,  aber  auf  keinem  Gebiete 
hat  diese  Littcratur  so  gewuchert  als  auf  dem  der  deutschen  Litteratur- 
geschichte.  Was  die  letzten  beiden  Jahrzehnte  an  kleineren  Werken  gebracht 
haben,  ist  schier  zahllos  und  freilich  zum  grofsen  Teil  auch  wertlos,  aber  in 
den  grofsen  Unternehmungen  ist  eine  erfreuliche  Entwickelung  zum  Guten  ein- 
getreten. Auch  die  hervorragendsten  Fachgelehrten  halten  es  jetzt  für  eine 
grofse  und  würdige  Aufgabe,  der  Gesamtheit  zu  dienen,  und  es  ist  ja  klar, 
dafs  zu  populärwissenschaftlicher  Darstellung  gerade  die  vollkommenste  wissen- 
schaftliche Beherrschung  des  Stoffes  nötig  ist.  Das  Jahr  1897  ist  ganz  be- 
sonders fruchtbar  gewesen.  Es  hat  nicht  nur  eine  neue  grofse  'illustrierte' 
Litteraturgeschichte  und  die  Fortsetzung  des  grofsen  Kögeischen  Werkes  ge- 
bracht, sondern  zeigt  auch  in  zwei  Sonderwerken,  einer  österreichischen  und 
einer  schwäbischen  Litteraturgeschichte,  dafs  die  zuerst  in  Wölkaus  böhmischer 
Litteraturgeschichte  hervorgetretene  Neigung,  landschaftliche  Einzeldarstellungen 
zur  Sammlung  der  geistigen  Kräfte  innerhalb  der  Stammesgemeinschafb  zu 
schaffen,  grofse  Fortschritte  macht.  Damit  stellt  sich  die  Litteraturgeschichte 
noch  entschiedener  als  bisher  in  den  Dienst  der  nationalen  Arbeit.  Diese  vier 
neuen  Erscheinungen  sollen  im  folgenden  besprochen  werden. 

Den  weitesten  Interessenkreis  nimmt  die  grofse  bis  auf  die  unmittelbare 
Gegenwart  reichende  Litteraturgeschichte  von  Fr.  Vogt  und  M.  Koch  in 
Anspruch. ') 

Die  Namen  dieser  beiden  Gelehrten,  Professoren  an  der  Universität  Breslau, 
bürgen  dafür,  dafs  sie  ihren  Stoff  in  ausgezeichneter  Weise  beherrschen,  dafs 
also  von  sachlichen  Fehlem,  von  oberflächlichen  Urteilen,  von  kompilatorischer 
Auffrischungsarbeit  imd  von  sonstigen  wissenschaftlichen  Mängeln,  die  gerade 
die  populären  Litteraturgeschichten  so  oft  auszeichnen,  hier  nicht  die  Rede 
sein  kann.  Eine  Beurteilung  des  Werkes  mufs  sich  also  naturgemäfs  auf  eine 
Charakterisierung  des  Ganzen  nach  Form  und  Inhalt  und  eventuell  auf  Be- 
gründung dieser  oder  jener  abweichenden  Auffassung  beschränken. 

Das  Buch  stellt  sich  in  der  ganzen  Art  seiner  Anlage  und  vor  allem 

')  Geschichte  der  deutschen  Litteratur  von  den  UlteHten  Zeiten  bis  zur  Gegenwart 
Von  Prof.  Ür.  Friedrich  Vogt  und  Prof.  Dr.  Mux  Koch.  Mit  126  Abbildungen  im 
Text,  26  Tafeln  in  Farbendruck,  Kupferstich  und  Holzschnitt,  2  Buchdruck-  und  32  Faksi- 
milebeilagen.   Leipzig  und  Wien,  Bibliographisches  Institut  1897.    X,  760  S.  Lex.-S'*. 


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ti.  fioetücher:  N«ie  deotache  Litteratozgawhiobtem. 


433 


semer  AtMatattong  in  eiiie  Beflie  mit  d«n  bekmuiteii  Werk«ii  von  B.  König 
und  0.  Leixner.  Es  ist  die  dritte  derartige^  nach  hentigen  BedOffniflsen 
hiitoriMh  *  illustrierte'  Litteratnrgeschiehte,  und  auf  diesem  Gebiete  imtürlidi, 
wie  auch  die  2.  Aufl.  der  Leiznerschen  latteraturgeschicbte  (Leipzig,  Spanier), 
nur  Nachahmung  des  zuerst  von  Velhagen  und  Klasing  Tenrirklichten,  aus< 
jjey.ctthneten  buchhändlerisfluii  Gedankens  der  Ausstattung  von  Gesehichts 
werken  durch  Nachbildungen  von  urkundlich  wertvollem  Material,  Am  um- 
fassendsten i.st  dieser  Gedanke  ausgestaltet  in  Könneckea  Büderatlas  zur 
deutschen  Litteraturgeschichte.  In  der  Auswahl  des  Bildwerkes  sind  diese  ver- 
schiedenen Werke  natürlich  verschieden,  uud  es  läfst  sich  wohl  auch  ein  Fort- 
sehriti  in  der  imjuer  bestimmteren  und  reichlialtigeren  HeranaieliQi^  des 
koltorlÜBtoriBcb  Wertvollen  erkennen.  So  hat  diese  neue  lUuetration  ihre  eig^n- 
tOmlidien  Vorstlge  und  bringt  manchee,  waa  sieh  audi  bei  KSnneeke  nicht 
findet,  besonders  &rbige  Nachbildungen  alter  Buchillnstrationen,  dam  vieles 
«of  die  Theatergeschkhte  im  XVI. — XVHI.  Jahrb.  BeaftgUche,  aber  ein  wesent- 
licher Vorzug  ist  hier  naturgemafil  nicht  mehr  au  erreichen.  Dies  kann  miÜiin 
auch  nicht  die  Veranlassung  zu  einem  dritten  derurtigen  Werke  gewesen 
«em,  diese  liegt  vielmehr  ausschliefslioli  im  Texte. 

Königs  und  v,  Leisners  Werke  litten  an  einem  emptindlichen  Mangel,  das 
war  die  unzureichende  Kenntnis  der  altdeutschen  Litteratur.  Bei  König  ist 
allerdings  in  den  letzten  Auflagen  die  ältere  Zeit  von  K.  Kinzel  durch- 
gearbeitet und  we^ieuilich  verbessert  wurden,  aber  das  konnte  sich  eben  nur 
auf  die  Einzelheiten  innerhalb  der  Geeamtanlage  beziehen.  Hier  will  das  neue 
Werk  vor  allem  sinseteeni  und  in  Fr.  Vogt  wurde  der  Gelehrte  gefunden,  der 
mit  gründlichster  Sachkenntnis  geschmackvolle,  gemein&lBliohe^  im  bestoi  Sinne 
{Nipufirwissenschaftliche  Darstellung  verband. 

£r  hat  die  deutsche  Litteraturgeschiclite  von  den  Anfangen  bis  zum 
XVn.  Jahrb.  in  ganz  hervonn^^nder  Weise  bearbeitet.  In  fiinf  lichtvoll  sich 
abhebenden  Entwickclungsstufen  behandelt  er  zuerst  die  Zeit  des  nationalen 
Heidentums,  dann  die  Einwirkungen  des  Christentums  unter  den  fränkischen 
und  sächsischen  Kaiser?)  Ins  zu  der  christlich  lateinischen  Dichtung  der  Klöster 
und  Höfe,  ferner  geistliche  Dichtung  unter  der  herrschenden  Kirche  und  den 
Übergang  zur  weltlichen  Dichtung  unter  den  Saliern  uud  Hohenstaufen,  darauf 
die  Blüte  der  ritterlichen  Dichtung  und  endlich  den  Übergang  vom  Mittelalter 
rar  Neuzeit^  die  allmähliche  ümbildnng  aller  drei  Dichtungsgattungen,  die  Ein- 
wirkung der  neuen  Strömungen,  der  Mystik,  des  Humaniamui^  der  Reformation, 
•düielslieh  die  volle  Entwickelung  der  bfli^erlich-volkstfiniliclien  Diditung  und 
ihren  Bflckgsi^  durch  ansISndische  Einflflsse.  Hier,  mit  Opits,  setst  dann 
U.  Euch  ein. 

Die  ersten  vier  Abschnitte  ergeben  sich  aus  der  Natur  der  Sache 
und  finden  sich  im  wesentlichen  in  allen  gröfseren  litteraturgoschichtlichen 
Werken.  Uber  d<'n  letzten  lafst  sich  streiten.  Das  XVI.  Jahrh.  erscheint 
hier  als  Übergang  zur  Neuzeit;  das  ist  es  auch  insofern,  als  die  be- 
zeichneten neuen  iStrömungeu,  ja  auch  die  Herrschaft  der  ueuhochdeutocheu 


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434 


0.  Boetticher:  Neue  deutsche  Litteraturgescbicht'en. 


Schriftsprache,  erst  im  XVII.  Jahrh.  durchj^eifen ,  allein  sachgemäfser  ist 
es  doch,  wenn  die  Hoformation  als  der  Ausgangspunkt  der  Litteratur  der 
Neuzeit  auftritt  und  derngemäfs  auch  nachdrücklich  an  den  Beginn  der  zweiten 
grofsen  Hälfte  unserer  Litteraturgeschichte  gestellt  wird.  Das  Jahr  1500  ist 
die  Scheide  der  alten  und  neuen  Zeit,  und  nicht  der  vollendete  Durchbnich 
des  Neuen,  sondern  die  mächtig  hereinbrechende  Umgestaltung  des  geistigen 
Lebens  inufs  als  Beginn  der  neuen  Periode  dastehen.  So  gewifs  ohne  die 
Reformation  kein  Lessing,  kein  Schiller  und  kein  Goethe  zu  denken  ist,  so 
gewifs  ist  sie  Ausgangspunkt  und  Lebensnerv  des  ganzen  geistigen  Besitz- 
standes der  Neuzeit,  und  darum  gebührt  ihr  nicht  ein  untergeordnetes  Kapitel 
im  Sinne  einer  Ubergangszeit,  sondern  die  Eröffnung  einer  neuen,  in  gewissem 
Sinne  von  vom  anfangenden  Epoche.  Scherers  Parallelen  zwischen  dem  XVI. 
und  IX.,  dem  XVII.  und  X.  Jahrh.  u.  s.  w.  sind  doch  sehr  hübsch;  er,  der 
Katholik,  hat  diese  Bedeutung  der  Reformation  auch  äufserlich  in  seiner  Dis- 
position gekennzeichnet;  sie  sollte  daher  erst  recht  bei  keinem  evaugehschen 
Geschichtschreiber  fehlen. 

Auf  den  ausgezeichneten  Inhalt  der  angegebenen  Abschnitte  können  wir 
naturgemäfs  im  einzelnen  nicht  eingehen;  nur  auf  einige  besondere  Vorzüge 
und  strittige  Punkte  sei  hingewiesen. 

Ganz  vorzüglich  hat  der  Verf.  die  Entwickelung  der  deutschen  Heldensage 
gezeichnet.  Gleich  im  ersten  Abschnitt,  wo  knapp  zusammenfassend  vom  arischen 
Urvolk  und  den  Taciteischen  Germanen  gehandelt  wird  unter  Bezugnahme  auf 
die  aus  heidnischer  Zeit  überlieferten  Zaubersprüche,  werden  die  mythischen 
Elemente  der  Nibelungensage  kure  und  klar  gezeichnet.  Der  personifizierte 
Naturmythus  hat  von  vornherein  zwei  Gestaltungen:  der  Lichtheros  weckt  die 
weltentrückte  Jungfrau  aus  dem  Todesschlumraer  wieder  zum  Leben,  oder  er 
gewinnt  den  Söhnen  der  Finsternis,  den  'Nibelungen'  den  lichten  Goldschatz 
ab.  Beides  wird  aber  von  den  finstern  Mäch  ton  wiedergewonnen,  der  Held  er- 
mordet, der  Schatz  wieder  in  die  Tiefe  versenkt.  Im  Rheinsande  entdeckte 
man  hier  und  da  Goldkömer:  dort  ruht  der  uuermofsliche  Nibelungenhort.  — 
In  der  Völkerwan<lerung  wird  die  Heldensage  geboren,  die  sich  mit  die.sen 
Mythen  verbindet.  Die  Burgunden  werden  Besitzer  des  Rheingaues  und  damit 
des  mythischen  Nibelungenhortes;  so  wird  in  der  Phantasie  der  Volksdichter 
bald  der  ganze  Mythus  mit  ihnen  in  Verbindung  gesetzt,  der  Lichtheros  Sieg- 
fried und  dessen  Mörder,  der  Niflung  Hagen.  Letzterer  wird  ihr  Verwandter, 
sie  selbst  damit  'Nibelungen'.  Durch  Attila  werden  sie  vernichtet.  Dessen 
plötzlicher  Tod  in  der  Nacht  der  Hochzeit  mit  Hildiko  giebt  die  weitere  Aus 
bildung.  Hildiko  wird  mit  Chriemhild  verbunden,  und  das  Motivierungs- 
bedürfnis findet  bald  den  Zusammenhang  zwischen  Schuld  und  Sühne.  Dieser 
Bestand  entwickelte  sich  nun  in  zwei  verschiedenen  Gestalten,  in  der  skandi- 
navischen und  in  der  deutschen.  In  der  skandinavischen  fliefsen  wiedenun 
zwei  Fassungen  zusammen,  der  Sigrdrifa-  und  der  Brunhildmythus,  die  Ge- 
winnung der  Jungfrau  und  ihre  Abtn  tung  an  den  Niblungen,  daraiif  die  Rache 
Brunhildens,  die  Heirat  der  Witwe  Gudrun  (^Chriemhild)  mit  Attila,  dessen 


Boetlioher:  K«ae  dmitsclie  latterAtnigeMliiditaD. 


486 


Tnieliteii  nach  dem  Horte  und  Untergang  durch  dm  ihre  BriuUr  riichpnde 
(.iuiliun.  Iii  Deutschland  dagegen  wirkte  eine  veränderte  Auffassimtr  von  »K'ia 
Verhältuiä  von  Ehe  und  Blutsverwaudtächait  einj  es  ist  die  auf  einer  höheren 
Stufe  geseOadufUiditf  Ordjumg  anBgabQdeto  ADMiuliimg  TOn  dem  BÜrknen. 
Recht  der  Ebe;  Gndron  ToUaeht  Gsttenndie  an  Düren  Brfidern,  und  Our  eigener 
Tod  bildet  die  abieliliefi»nde  Stime.  Der  mit  einer  gewisaen  Liebe  geoeichnete 
Charakter  EtMÜs  in  Verbindnng  mit  der  Stellnng  Dietriobs  in  der  grofsen 
Tragödie  sind  die  untrüglichen  Zeichen,  dafs  die  Sage  diese  Ausbildung  unter 
den  Goten  erhalten  hat.  In  Österreich  ist  sie  in  Einzelliedern  so  gestaltet 
worden,  und  hier  ist  dann  auch  nnser  Nibelungenlied  in  der  überlieferten 
Qestalt  entstanden. 

Den  drei  jjrofsen  Entwickelungsst'ifVr!  entsprechend  kommt  der  Verf. 
dreimal,  im  ersten,  zweiten  und  fünften  Ab?»chnitt  selbständig  auf  die  Sasfc?  zu 
sprechen.  Wir  erhalten  auf  jeder  Stufe  ein  abgeschlossenes  Bild  und  zuletzt 
eine  ausführliche,  treffliche  Auuiyäe  unsere»  Nibelungenliedes.  In  den  das 
lehitere  betreffenden  tatkritischen  Fragen  vertritt  Yort  einen  besonnenen  und 
garecht  abnagend«!  EUekticismus,  ohne  sich  —  und  xmur  mit  Eedht  —  auf 
geehrte  EinaeDiMten  eimnilassen.  Ich  kenne  keine  gemein&lUiche  DarsteUung, 
die  mich  so  befriedigte  wie  diese. 

Aber  auch  für  das  allgemeine  Verstindnis  der  Heldensage  mit  ihren  viel- 
fachen Widersprüchen  und  Umkehrungen  gesdiichtitcher  Thatsachen  giebt  der 
Verf.  klare  und  einleuchtende  Fingerzeige,  vor  allem  in  der  nachdrücklichen 
Betonung  dof  Persönlichen  in  dpr  Sage.  Personen,  (Joschlechter  und  deren 
persönliche  Schicksale  sind  Gegenstand  ihres  Interesses,  niemals  Völker,  Staaten 
und  nationale  Beziehungen,  und  ein  vorübergehender  Mifserfolg  der  gröfsten 
und  am  reichsten  ausgebildeten  Heldengestalt  Dietrichs  genügte,  um  der  Aulal's 
für  die  Qeschichteu  von  seiner  Zuflucht  bei  dem  befreundeten,  mächt^en  Etzel 
und  deren  Fdgen  su  werden. 

HervoTgehoben  sei  auch  die  vorzügliche  Zeidinung  Karls  d.  Gr.  und  seiner 
Bedeutung  tOx  das  deutsche  Schrifttum,  ferner  die  Charakterisiwung  der 
gaistigen  Verfiiasung  im  XI.  und  XU  Jahrb.  und  gar  mancher  neue  Gesichts- 
punkt. So  erscheint  das  Alcxanderlied  als  ein  Wendepunkt:  'das  erste  welt- 
liche £pos  in  deutscher  Sprache,  das  einer  fremden  Quelle  folgte.'  'Mit  ihm 
beginnt  einerseits  die  französische  Litteratur,  andererseits  das  nichtchristliche 
Altertum  jenen  EinfluTs  auf  die  deutsche  Dichtung  7m  üben,  der  bis  auf  die 
G^enwart  fortdauert.'  Ihm  zur  Seite  steht  das  Kolandslied,  die  Verherrlichung 
des  cbristlicheu  Glaubensstreit^r««. 

Nicht  minder  klar  und  fesstdud  ist  endlich  auch  die  Schilderung  der  rittir- 
liehen  Zeit.  Qmz  dem  Zwecke  des  Werkes  entsprechend  werden  überall  die 
Diditnngen  audi  inhaltlich  behuidelt,  und  hier  mfissen  gans  besonders  die 
vortrefflichen  Übersetsungen  von  einzelnen  Liedern  und  von  Spellen  aus  den 
Epen  her  T  oi^^ehoben  werden. 

Nur  wenige  Bemokongen  zu  Binaelnem  habe  idi  schltelslich  hinzuaufUgen. 
Befietent  hat  die  Frend^  hier  von  einem  hervorragenden  Fachmann  im  weeent- 


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436 


O.  Boeiticb«r:  Neue  deutsche  LitteraturgeMhicIiteii. 


lieben  dieselbe  AufEuBung  des  Panit^  vorgetragen  su  Beben,  die  er  in  seiner 
mit  anafttbrlieben  Erläntemngeli  Tersehenen  Überaetaung  des  Oedicbts  (Berlin, 
Friedberg  n.  Hode^  2.  Aufl.  1893)  dargelegt  und  in  der  besonderen  SefarÜt  ^Dm 
Hobelied  Tom  Rittertam'  (Berlin,  Mayer  n.  Malier  1886)  dargel^  bat.  Die  Lach- 
mannsebe  Erklärung  des  Eingangs  und  die  christlich-mystische  Auffassung  des 
Gedichts  von  San  Marte  dürfen  jetzt  wohl  als  uberwunden  gelten,  obwohl  der 
neueste  vortreffliche  Übersetzer,  W.  Hertz,  wenifjstens  den  Einjyanfr  wieder 
ähnlich  erkliirt  wie  Larhmann.  Eine  andere  Frage  dagegen,  nümlich  die  nach 
den  Quellen  des  l'arzival,  ist  noch  in  vollem  Flusse,  oder  eigentlich  gerade 
jetzt  wieder  in  Fluls  gebracht.  Sie  gehört  mit  zu  den  interessantesten  litterar- 
gesdiidillieihai  Problemen  der  Sltnen  Zeilv  dmn  es  bandelt  sidi  dabu  mn  die 
Feststellung  des  Grades  von  Selbsündi^eit,  mit  dem  der  gröfste  Epiker  des 
Mittelalters  seinen  Stoff  gestaltet  bai  Sie  ist  anfserordoitlteh  schwer  su  lösen, 
da  TOB  dem  *Kjof,  auf  den  sich  Wolfram  als  seine  Hauptquelle  beruft^  nichts 
erhalten  geblieben  uL  Hier  stehen  sich  mw  zwei  Ansichten  gegenüher:  die 
eine,  in  den  oben  angeführten  Schriften  dets  Referenten  vertreten,  glaubt 
Wolfraxns  eipijener  Angabe  und  hält  daran  fest,  dafs  Wolfram  in  allem  That- 
saelihelieii  einer  (^nello  «jofolgt  sei,  es  jedoeh  mit  seiner  eigenen  Ideü  durch- 
drungen habe;  die  andere,  gegenwärtig  von  Sievers'  Schülern  in  Leipzig  von 
neuem  aufgenommen,  hält  WoUiams  Angabe  für  mjstificierende  Erfindung 
und  UUst  anch  das  Tfaatsicblicbe  frei  erfinden,  aUordings  untw  Bennteung 
mannig&dier  Sagenkreise.  Letstore  Tertritt  auch  Vogt,  und  seine  ebenso 
knappe  als  klare  Darstellung  mit  Herannehnng  aller  wesentlidben  Stütsen 
dieser  Ansiebt  hat  in  der  That  etwas  Bestechendes.  Damm  sei  bemerkt,  dab 
die  Frage  doch  noch  keineswegs  hinlänglich  geklärt  ist,  denn  die  wichtigsten 
Bedenken  der  Gegner,  die  auf  der  Zwecklosigkeit  und  den  unbegreiflichen 
Widersprüchen  und  Ungereimtheiten  sehr  violer  der  hierhergehörigen  angeb- 
lichen Erfindunjjen  Wolframs  beruhen,  sind  durchaus  noch  nicht  beseitigt. 

Nicht  ganz  auf  gleicher  Höhe  steht  der  zweite,  von  M.  Koch  bearbeitete 
Teil.  Für  die  neuere  Litteraturgeschichte  ist  die  Einteilung  besonders  schwierig. 
Der  ganzen  Anlage  des  Werkes  nach  mulbte  äex  Verf.  die  saehliehe,  mfhi  die  bio- 
graphisdie  ^hlen,  so  dafs  also  x.  B.  nidit  nur  Lessin^  Schiller,  Goethe^  sondern 
anch  einfiichere  Erscheinongen  wie  Geliert,  Gleim,  Kleist  n.  a.  in  ihren  ver^ 
sehiedenen  Entwickelungsabschnitten  an  verschiedenen  Stellen,  im  Zusammen- 
hange mit  den  entsprechenden  litterariscben  Beziehungen,  behandelt  werden. 
Dadurch  wendet  sich  Koch  von  vornherein  an  ein  Publikum,  das  höhere  wissen- 
schaftliche Ansprüche  macht,  als  das  Könitrs  nnd  v.  Leixners,  etwa  an  das- 
jenige, für  das  W.  Scherer  geschrieben  hat,  und  wahrt  sich  eben  dadurch  eine 
besondere  Stellung  neben  jenen. 

Aber  gegen  die  Disposition  des  Verf.  kann  ich  Bedenken  nicht  unter- 
drflcken.  Entsprechend  der  Anlage  müssen  offenbar  die  Gesicbtsponkte  ein- 
heitlich aus  der  geistigen  Entwickelung  genommen  werden,  und  das  ist  nicht 
der  FalL  Er  teilt:  VI.  Von  Opits'  Reform  bis  Elopstoek.  VII.  Von  Elopstocks 
Herrortreten  bis  zu  Herders  Fragmenten.   VIU.  Sturm  und  Drang.   DL  Die 


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O.  BoettidMr:  Neue  deataohe  latteratnigeBcltiditeii. 


437 


Weüuarische  Blütezeit  und  die  romantische  Scliule.  X.  Vom  £ndc  der  Be- 
freiungskrieg» bb  nur  Gegenwart  Der  lelafte  Abschnitt  Tom  Ende  der  Ba- 
freiiingskriege  bis  mi  Gegenwart',  ist  ganz  änlserlich  abgegroizt»  Die  Be- 
fiwiiingskriegie  haben  flberhaupt  keinen  tieferen  Sinflnl«  anf  die  Entwiclralung 
der  Litteraior  gehabt,  ebensowmig  wie  d«r  Krieg  von  1870/71  und  eigentUeh 
auch  der  siebenjährige  Krieg.  Litterarisdie  Umwälzungen  werden  &st  immer  nur 
durch  philosophische,  religiöst-  und  innerpoli tische  Strömungen,  die  mit  diesen 
zusammenhängen,  herbeigeführt,  selten  durch  aufsere  Kriege.  Das  einleitende 
Kapitel  zu  diesem  Abschnitt  enthält  denn  nnch  oisj^MitlM  h  nur  den  elTion  Ge- 
danken, dafs  durch  die  Reaktion  nach  den  Bi  freiuugakriegcn  das  jniiL"-  n^  ntsch- 
land  grofs  gezogen  sei.  Das  aber  reicht  doch  bei  weitem  nicht  aus,  reicht 
nicht  einmal  bis  1848  aus,  vvu  minde»teu.s  nuch  ein  Hauptabschnitt  zu  machen 
gewesen  wire.  Unsere  im  eigentlichen  Sinne  moderne  Litteratur  datiert  seit 
1848.  Auch  innerhalb  der  Torangehenden  Periode  werdra  die  kriegerischen 
Ereignisse,  die  Sefalaeht  bei  Jena^  die  Fremdhenrschafl  und  die  Befreiungskriege 
XU  Graizlinien  gemaehi  Und  selbst  da,  wo  litterarische  Erscheinungen  als 
Scheide  Kwisohen  vwü  Epodien  auftreten,  wie  in  YU.  'Von  Elopetocks  Her- 
vortreten bis  zu  Herders  Frsgmenten*,  bedeuten  üerders  Fragmente  nur  ein 
Datrim,  denn  Ton  einer  epochemachenden  Bedeutung  derselben  ist  weder  am 
Schlufs  des  vorangehenden,  noch  am  Anfang  dieses  Abschnittes  die  Rede.  Auch 
darüber,  ob  'StnnTi  und  Drang'  (Vlll)  als  eine  Hniiptcpoche  gelten  kann,  läfst 
sich  mindestens  streitcji ,  und  'Die  Weimarische  Blütezeit  \uu\  die  romantische 
Schule'  (IX)  zusainiueiiziuiehmen,  entspricht  kaum  einem  planniiifsi^  durch 
gei'ührieu  sachlichen  Einteilungsprinzip.  Gewils  Muh]ieie>t  sich  die  Kouianttk 
eng  an  gewisse  Seiten  Goethes  und  Herders  an,  aber  sie  ist  doch  auch  etwas 
so  wesentlich  Neues,  dafo  sie  heute,  nach  einem  ToUen  Jahrhundert,  unseren 
neuesten  Erscheinungen  sweifellos  viel  lüUier  stellt  als  Goethe.  Dennodi  be> 
handelt  Koch  nur  die  einzelnen  Romantiker;  eine  Kennseichnung  des  ganzen 
Wesens  der  Richtung  mit  ihren  Verzweigungen  sucht  man  vergeblich. 

Die  Behandlung  der  einzelnen  Werke  entspricht  der  grofsen  Anlage  des 
Ganzen.  Der  Verf.  spricht  nur  über  sie  und  zwar  überall  mit  gehaltvollen, 
sehr  ilankeiiswcrtein  Durch-  und  Ausl)licken  auf  iilmliche  Erscheinungen,  anf  Vor- 
Iniifer  und  Nachfolger,  vor  allem  auch  auf  die  Eintlüsse  der  von  ihm  in  seltonem 
Maise  beherrschten  ausliimlischen  Litteraturen.  Nicht  minder  vt  rraten  die 
Ahsclinitte  über  die  Entwickeluiig  der  Sehauspitdkunst  besondere  \'<»rliel)e  und 
eingehende  Studien  des  Verf.  Neben  den  verschiedenen  Al*büdungen  von 
Bihneneinriditungen,  Kostfimen  und  &eaen  aus  dem  SohauspielerldiMi  steht 
ein  Stammbaum  der  YeltensdiMi  Schauspielertruppe  und  schlielklieh  das  Fest- 
sinelhauB  in  Bayreuth  und  die  Schlnfsszene  des  ParsüaL  Bei  B.  Wagner 
verweilt  er  ganz  besonders.  Dieser  erscheint,  ganz  sbgeseh»!  von  seiner 
musiloJischen  Orofse,  eigentlich  als  die  BlQte  unserer  gesamten  modernen 
Dichtung,  seine  Dramen,  besonders  Nibelungen  und  Parsifal,  als  die  höchsten 
nationalen  Kunstleistungen  nach  !  il  i!t  und  Form.  Hierüber  werden  ja  sehr 
viele  mit  dem  Referenten  anders  denken,  aber  das  abweichende  Urteil  hier  zu 


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438 


0.  Boettidwr:  Nene  dentoehe  tattemtiirgeBcliieliteD. 


begründeu,  ist  hei  der  so  zahlreich  vorlinndenen  Litierafcur  überflüssig.  Weniger 
Gnade  haben  vor  Kochs  Augen  die  JinigHten  gefunden.  Sie  erhalten  aber  eine 
auch  den  Ansichten  des  Referenten  entsprechende,  gerechte  Würdigung.  Dafs 
der  Uberschätzung  Hauptmanns,  besonders  nach  Schlenthers  jungst  erschienenem 
Bufibe,  entgegengetrelen  wird,  kHBn  nur  von  Niitafin  aein.  Ein  naliAres  Bia- 
gehen  auf  die  unklare  Ideenwelt  der  Vemimkenen  Glodce  irfbee  Tielldeht  an* 
gebracht  gewesen. 

Dae  alles  aber  sind  mehr  oder  weniger  Oeeohmaekssaehfiiiy  wiiUich  la 
bedanem  ist  nur  die  etwas  vernachlaeeigte  formale  Durcharbeitung.    Auf  den 

Seiten  B40 — 400  z.  B.  nahm  ich  schon  bei  schnellem  Lesen  an  8 — 10  Stellen 
erheblichen  stilistischen  Anstofs,  von  denen  etwa  folgende  Stelle  (S.  342)  noch 
nicht  die  bedenklichste  ist:  Dachs  stillem  Lehen  nnd  engbegrenztem  melan- 
cholischen Sinne  s<i  recht  im  (legensatze  durch  Kastlosigkeit  und  auf  weite 
Führten  gerichteten  frischen  Wagemut,  aber  durch  lyrische  Begabung  neben 
und  über  den  Küuigsbergcr  Dichter  gestellt,  erhebt  sich  vor  uns  Paul  Flemings 
jugendliche  Gestalt'.  Auf  demselben  Räume  finden  sich  Ausdrücke  wie  'trans- 
ferieren'  für  übeveetsen  (8.  339),  *siir  ine  Lidiisetsung'  (S.  330),  die  Bflhne  .  .  . 
HUr  die  sieh  die  Schan^ieler  ihren  Bedarf  selbst  Tersorgten'  (8.  410)  n.  a. 
Unter  diesen  Umstanden  gewinnen  anch  Dmdkfehla',  wie  S.  392  'dem  na- 
gesflgeit  fltadentischean  Benehmen*  und  Lessii^  Geburtsjahr  1727  statt  1729 
Bedeutung.  Es  ist  dringend  zu  wünschen,  dafs  bei  einer  sicher  bald  nötigen 
Neuauflage  dieser  ganze  zweite  Teil  des  Werkes  nach  der  formalen  Seite  hin 
gründlich  durchgearbeitet  wird.  Dann  fällt  auch  gewifs  inhaltlich  für  manches 
andere  ans  der  Zeit  vor  Klopstock  noch  etwas  nb,  z.  B,  für  die  Darstellung 
des  Inhalts  des  Simplicissimus,  für  ilie  Königsberger  Dichter,  deren  'Kürhs- 
hütte'  wohl  hätte  erklärt  werden  können,  für  die  Robinsonaden,  deren  ^Vesen 
und  Bedeutung  /Jemlich  verschwommen  bleibt,  u.  a.  Endlich  ist  auch  ein  aus- 
führlicheres Register  dringend  zu  wünschen.  Mindeetens  bei  den  hervor- 
ragenderak  Dichtem  müssen  die  Werke  mit  r^istriert  werden.  Jetzt  stdieo 
hinter  dem  Namen  nnr  sSmtiiche  Seitenzahlen,  auf  dmen  von  ihm  die  Bede 
isi  Das  ist  sehr  unbeqnon. 

Bei  einem  so  grofsen  Werke  hat  man  sehliefslidi  das  Ganse  ms  Auge 
zu  fassen,  und  darüber  kann  das  Urteil  nicht  anders  als  anerkennend  lauten. 
Auch  diese  dritte  grofse  illustrierte  Litteraturgeschichte  wird  sich  neben 
m  König  und  0.  t.  Leixner  den  Weg  ins  deutsche  Haus  bahnen. 

Ganz  andersartig  ist  das  im  gröfsten  MalMabe  angelegte  Werk  Rudolf 
Kögels.')  Eine  Litteraturgesdiichte^  deren  erster  Band  die  deutsdie  Litteratur 


')  Gesehiebte  der  deatichen  Litteratur  bis  biub  AuBgange  dei  Hittelalten  tmi  Rudolf 
Kogel,  ordentl.  Prof.  an  der  Univenitat  Basel.  I.  Band,  bis  zur  Mitt«  den  XI.  Jahrhunderti. 

1.  Teil:  Die  Btabreimende  DichtiiDg  und  die  tische  Prosa,  XXIII,  343  S.,  Strafsburg, 
Trübiior  1H'j4.    Dazu  ein  Krgauzimgsheft:  Die  altsäclwitfobe  Goueüi«,  X,  70  S  ,  ebd.  18»5 

2.  Teil :  Die  endreimeDdo  Dicblung  und  die  Vvon  der  altiiocbdettt8clien  2eit,  XIX,  6ü2  S., 
ebd.  Ig97. 


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Q.  Boettichert  Nene  deutsche  littemturgasduelitoi. 


4S9 


bis  zur  Mitte  des  XI.  Jahrhunderts  auf  rund  1000  Seiten  grofsen  Formats  be- 
handelt, ist  jedenfalls  eine  ganz  h<'>ir.Ti<l*'v»-  Erscheinung.  Ein  aluiliehcs  Werk  ist 
für  ihis  Mittelaltt-r  noch  nicht  vdiiiuiulon.  Der  Verf.  macht  sicli  zur  Auflebe, 
nicht  nur  HÜmtiiche  thatsiu  hlich  vorhandene  Denkmäler,  Porsie  wie  Prosa,  nacli 
alleu  Seiten  hin,  nach  itihult  und  Form,  nach  Sprache  uud  Metrik,  nach  ihrem 
litteratur-  und  kultiirlustorischen  Werte,  nach  ihrer  äufseren  und  umeren 
(wisseiiscliftflliolieii)  Geadiiehte  eingehend  »i  behaiideLi;  Bomdeni  auch  die  ver- 
krengegangenen  oder  nur  in  Braduitaeken  vorhttndenai  DenkiniU«r  naeh  deren 
innren  zu  lekonBimiereiiy  und  so  ein  mS^chat  ToUstindigee  Bild  von  dem 
gewarnten  geietigm  BeeiiMtend  der  ■ttdentadien  Zeit  an  geben.  Dazu  zieht  er 
auch  die  gotische,  langobardische,  altfriesische  und  einen  Teil  der  angel- 
sächsii^cljeTi  und  altnordischen  Poesie  mit  hinein.  So  ist  das  Werk  mehr  ein 
Handbuch  für  das  Studium  der  altgermanischon  Littcratur  als  eine  Littoratur- 
geschklite  im  gewöhnlichen  Sinne;  es  maclit  etwa  den  Eindruck  einer  Zu- 
sauimcnstellung  von  sorgfältig  ausgearbeiteten  Universitätsvorlesungon,  die 
stematisch  das  <2;anze  Gebiet  altgermanischen  Schrifttums  zu  ihrem  Gegen- 
stande gewählt  haben.  Dadurch  ist  ein  Eingehen  in  aUe  wissenschaftlichen 
Einzelheiten  bedingt,  aber  gleich  hier  aei  bemerkt,  dafs  der  trockene  Unter- 
lidiiaton,  den  man  Ilirehlen  könnte,  in  der  DaiateUung  glücklich  vermieden 
und  dab  die  Darstdlong  auch  allgemeineres  Intereese  an  der  Sadie  an  erregen 
wohl  geeignet  ist  Es  iet  ein  Werk,  recht  eigentlich  für  Studenten  gemacht, 
vnd  diesen  ohne  Zweifel  ein  sehr  willkommener  und  brauchbarer  Führer  trota 
vieler,  zum  Teil  berechtigter  Ausstellungen,  die  sogar  au  völlig  ablehnenden 
Urteilen  geführt  haben.  £s  ist  richtig,  die  Ausfuhrungen  des  Verf.  entbehren 
mitunter  eines  einigermafsen  gesicherten  Anhaltes  und  haben  oft  nicht  mehr 
Wert  als  rein  subjektive  Annahmen,  denen  ein  anderer  mit  demselben  Rechte 
^.uv/.  anderes  entgegenstellen  kann-,  es  ist  auch  richtig,  dals  der  Verf.  wohl 
nicht  alle  Gebiete  in  gleicher  Weise  beherrscht,  daJs  besonders  das  Angel- 
sächsische zu  uianciien  Angriffen  Anhalt  bietet,  und  dais  miun  metrischen  Ent- 
wickelungen,  auf  die  er  ganz  besonderes  Gewicht  legt,  bei  ihrem  Bestreben,  die 
Torhandenen  GegenMitae  in  einem  aum  Teil  neuen  System  auaangleichen,  Wider- 
Bpmch  herausfordern:  eins  aber  wird  man  dem  Werke  nicht  versagen  kSnnoi, 
dafo  M  aSmlich  mit  ebentogrofser  Sorgfidt  ahi  Liebe  anr  Sache  allen  FVagen 
gründlich  nachgeht  und  den  denseitigen  wissenschaftlichen  Standpunkt  so  dar- 
legl^  dals  man  für  die  Bildung  des  eigenen  Urteils  alles  findet,  was  in  Betracht 
kommt.  Dem  bescnmeoen,  stets  wissenschaftlich  gestützten  Eklekticismus  des 
Vert  wird  man  aber  auch  in  den  meisten  Italien  ohne  Gefahr  folgen  können. 

Vorf.  tf'ilt  den  pnnzon  Stoff  in  zwei  ungleiche  ITanptteile,  deren  Scheide 
Karl  d.  (xr.  bildet.  Die  älteste  Zeit  und  die  stabreimeude  Dichtuug  als  erste 
Hälfte  enthält  der  erste  lialbband,  der  bereits  1H94  erschien  Das  erste 
Kapitel  behandelt  die  'älteste  Dichtung',  d.  h.  das,  was  von  Andeutungen 
solcher  Dichtungen  bis  zum  Ende  der  Mcrowingerzeit  vorhanden  ist,  im  Wort- 
bestand wie  in  den  Beseichnungen  Lied,  Leich,  Reim,  in  den  Enahlnngen  des 
Tacitns  und  den  Nachrichten  von  Langobarden,  Friesen,  Goten  und  der  indo- 


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440 


Q.  Boetüeher:  Neue  dmtMhe  üttentm^gMcliiditen. 


gexmauisciien  Ihzeit.  Kr  nntorschoidet  hymnische  Gesän<Te,  Hochzeitslieder, 
Totenlieder,  Lyrik  iiml  Spnuhdiclitun^,  Zauhprsprüche.  Zu  den  erstt-n  gehört 
*da8  gotische  Weihuuchtsspier,  du«  er  aus  den  ^nz  dürftigen  tHjerl) leihsein 
einiger  Worte  sehr  kühn  rekonstruiert,  zu  den  letzten  die  Mersehurger  Zauber- 
Bprüehe  und  ein  angebSeli«8dier  Spruch  gegen  HwcenBÜch  and  HexenflchiÜA. 
Sonst  sind  keine  DenkmlUer  vorhanden.  Beim  zweiten  Mersehurger  Sprache 
yerwiift  er  die  neneren  Auslegungm  und  hleiht  bei  Phol  =  Beider  stehen.  In 
^eidber  Weroe  Terhrettefc  sicih  das  2.  Kapitel  Uber  *da8  epische  Lied',  (S.  96 
—175).  Hier  untwidlieidct  Verf.  das  episch-mythische  und  das  episch-historiflche 
Lied,  d.  h.  Mythen-  und  Si^nstoffe  in  Liedform,  ])ei  festlichen  Anlässen  ge- 
sungen. Das  letztere  ist  verhältnismäfsig  spät  entwickelt  und  nur  hei  dot 
Deutschen  seit  dem  Siege  des  Arminins  vorhanden.  Es  geht  in  den  Hclden- 
gesang  über,  für  den  in  erster  Linie  die  imgelsrielisiflclie  Dichtung,  besonders 
der  Beowulf,  herangezogen  wird.  Es  ergeben  sn  ii  gotist  iie,  hnrurundische  und 
anglofriesische  Sageustoffe,  aber  wir  haben  nur  die  Zeugniuse  davon  oder  Be- 
arbeitungen. 

Das  dritte  Kapitel  behandelt  die  gotische  Prosa  (S.  176—209),  WnUUs 
und  seine  Bibelflbwaetsnng  nebst  der  Urgeadudite  der  Ootm,  was  ja  streng 
geiuniimen  nieht  anr  deutschen  Litteraiur  gehOrft^  aber  doch  dankbar  an  dieser 
Stelle  begrQ&t  werden  wird^  um  so  mehr,  lüs  wir  es  hier  smn  evstennud 
mit  einem  grSiseren  wirklich  originaliter  vorhandenen  Denkmal  iUtester  Zeit 
zu  thun  haben.  Den  neueren  Nachweis  E.  Sievers',  dals  Wulfila  erst  383  ge- 
storben sei,  erkennt  Verf.  nicht  an,  doch  dürfte  diese  Thataache  jetat  als  ge- 
sichert gelten. 

Mit  der  Karoiinger2,eit  treten  wir  in  das  Gebiet  der  litteratnrgeschicht- 
liehen  Urkunden.  Eine  treffliche  Einleitung  (S.  199 — 209)  giebt  einen  Über- 
blick über  die  Entwickelung  bis  zur  Mitte  des  XI.  Jahrh.  mit  Hervorhebung 
aller  wichtigen  Fragen.  Darauf  folgt  Kap.  4,  den  Schluls  des  ersten  Halb- 
bandes bildend,  fiher  die  Stabreimdiohtnng  (S.  210 — 339),  TOn  der  wir  iwei 
Gruppen  von  Denkmälern  haben:  'die  alten  (nationalen)  Gattungen*,  nandidi 
Hcddengesangy  Bechtspoesie  und  Zaubersprfichey  und  'geistliohe  Dichtoog': 
das  WesBobmnner  Gebel^  die  altAdiaisehe  Bibeldichtang  und  das  Huspilli. 

Zu  der  ersten  gehört  das  TTildebrandslied,  das  der  Verf.  vollständig  (in 
Prosa)  übersetzt  und  gana  ausführlich  kritisch-exegetisch  behandelt.  Die  Litt«- 
ratur  ist,  wie  überall,  vorangestellt,  doch  fehlen  dii})ei  die  Übersetzungen,  die 
der  Verf.  bei  anderen  Denkmälern  herücksichtiirt  liiit. '  )  im  Texte  folgt  Kogel 
mit  Rwht  der  neuesten  Ausgnhe  von  Steinnieyer  in  der  3.  Aufl.  von  Müllen- 
hotts  Denkmälern,  in  der  Erklärung  aber  liringt  er  eine  Reihe  von  Besonder- 
heiten, die  sehr  gezwungen  und  schwerlich  haltbar  sind.  In  d«?r  'geisthchen 
Dichtung'  nimmt  *die  alüAchsisdie  Bibeldichtuug',  die  durch  die  neuen,  von 
Braune  herausgegebenen  Funde  Zangemeisters  eine  erhöhte  Bedeutung 


*)  Eine  aolclie  ladet  dch  in  den  'OenkmUera  der  iltttren  dentselieii  lattenter*,  Ar 
die  Schule  henraageg.  von  BoetUeher  und  IQasel.  Halle,  Waisenhaua.  I  i.  4.  Aufl.  IWA. 


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0.  BoetÜeh«r:  TSm»  dentMlie  lAVbutaJtmgemüiAUia. 


441 


Wonnen  hat,  natürlich  den  grölisten  llaum  ein.  Verf.  hat  nach  «lern  Erschfincn 
des  ersten  Halbbaudes,  in  welchem  die  Funde  nur  vorläufig  noch  berück- 
sichtigt werden  konnten,  noch  ein  besonderes  Heft  über  die  altsachsische 
Genesis  als  Ergänzung  herausgegeben  (s.  o.  den  Titel).  Hierin  verbreitet  er 
uch  Alliier  den  litftintiirgeacihiehiliehen  Fragen  ganz  besonders  über  die  Metrik 
Die  Frage,  ob  der  Heliuiddiditer  mit  dem  Dichter  der  Bmchstttdce  identieeh 
sei,  beantwortet  er  mit  Braone  bqahend,  doch  ist  diese  Bebauptong,  soridl  sie 
für  sich  bat^  noch  keineswegs  über  allen  Zweifel  erhaben,  anch  wenn  man  sa- 
giebt,  dafs  der  Schreiber  ein  IVanke  gewesen  sei.  Ein  beeonderer  Exkurs  be- 
handelt den  epischen  Langvers^  die  Hanptregeln  der  altgermanischen  Rhythmik 
imd  die  rhythmischen  Formen  auf  Seiten.  Die  QrundzQge  der  Sieversschen 
Tvpf'T!  werden  anerkannt,  aber  Verf.  hält  z.  B.  an  den  Kronzrcimon  fest,  sucht 
ai;(  ii  l  icht  grundsätzlich  den  Hanptstab  im  ersten  Nomen  des  zweiten  Hemi- 
ötichs.  Deu  Schlulk  des  Halbbandes  bildet  die  Erklärung  des  Musjiilli  und  ein 
besonderer,  sehr  dankenswerter  Abschnitt  über  den  altdeutschen  epischen  Stü 
(S.  333 — 340),  dessen  Eigentilmlichkeiten  dem  griechiaefaen  gegenüber  hieraus 
leicht  fBstBiistelkii  sind. 

Hit  der  endrrimenden  Dichtung  aetst  der  zweite  doppelt  so  starke  Halb- 
band ein.  Hier  steht  snnachst  Otfried  im  Mittf^pnnkte,  dem  allein  80  Seiten 
gewidmet  werden,  daron  die  Haifle  dem  Yan»  Otfrieds,  eine  wieder  in  aUe 
Einzelheiten  gehende  Monographie.  Wir  erhalteTi  ausführliche  Gruppierung  der 
Verse  nach  den  von  Sievers  n.  a.  nnfgestellten  Typen,  sogar  ein  Verzeichnis 
der  dem  Dichter  noch  entschlüpften  Allitterationsverse.  Gut  und  klar  aber 
werden  die  Nenemncren  Otfrieds  von  dem  überkommenen  metrischen  Erbe  ge- 
schieden, im  übrigen  wird  (Jtfried  trefflich  charakterisiert  und  durch  eine 
Vergleichung  mit  dem  Ueliand  in  zum  Teil  neue  Beleuchtung  gerückt.  I^ehr- 
reich  ist  auch  der  Nachweis  der  Abhängigkeit  der  kleineren  geistlichen  Ge- 
dichte, die  auf  S.  79 — 152  behanddt  werden,  von  Otfiied.  Der  Georgsieich 
erföhrt  eine  ganz  nene  Konstmklion  und  Auslegung,  *Kleriker  und  Nonne' 
eine  aosflührlidie  Rekonstmklion.  12  Seiten  werden  andb  bei  diesen  Denk- 
mSlem  wieder  der  Metrik  gewidmet 

Bin  zweiter  grolser  Abschnitt  fOhrt  *die  alten  Oattongen'  dieser  Zeit  auf: 
Zaubersprüche,  Spottversc,  Rätsel  und  Ratselmürchen,  Sprichwört«  und  ser- 
atreute  Verse,  z.  B.  in  der  St.  Gallischen  Rhetorik.  Hier  bewegen  wir  uns 
meist  wieder  auf  sehr  unsicherem  Boden.  So  nimmt  der  Verf.  einige  MSrchen 
ninl  !?iitsel,  die  wir  bei  (iriinni,  Thland  u.  a.  finden,  für  diese  alte  Zeit  in  An- 
tijjrucli,  nur  weil  sie  iiurdinche  Ankliiii£re  haben  oder  ihm  so  altertümlieli  er 
scheinen,  und  S.  171  ff.  stellt  er  eine  lange  Reihe  von  Sj)rie]iwörtern  in  wohl 
geordneten  Gruppen  zusammen,  die  meist  nur  lateinisch  vorhanden  »md,  weuii 
sie  zum  Teil  auch  später  in  mhd.  oder  nhd.  Form  wieder  auftauchen.  Immer- 
hin ist  audi  das  nidit  überflfisstg;  d«m  wer  sollte  nicht  einmal  auf  diesem 
Gebiete  etwas  nachschlagen  wollen?  Und  ein  solches  Handbudi  will  ja  Kögel 
eben  lieliBm.  Als  letzte  Ghnppe  werden  die  drei  Strophen  in  der  St.  GaUer 
Shetoril^  sowie  *Hir8ch  und  Hinde*  nach  Form  und  Inhalt  anf  7  Seiten  erOrtert. 

K«M  J«kfMahM.  tm.  L  t» 


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442 


G.  Boetticber:  Neue  deutsche  LitteraturgCBchichicn. 


Sehr  charakteristisch  nach  dieser  Seite  hin  ist  der  dritte  Abschnitt  'Die 
von  den  Fahrenden  gepflegten  Gattungen'  (S.  IUI — 273).  Aus  den  einzehi  vor- 
kommenden Ileldennamen  nimmt  Kögel  Anlafs,  die  ganze  nordische  Weisungen- 
und  Siegfriedsage  zu  erzählen,  und  die  in  den  Chroniken  und  sonstigen  latei- 
nischen Aufzeichnungen,  z.  B.  besonders  des  Mönchs  von  St.  Gallen,  überlieferten 
Stoffe  giebt  er  ausführlich  wieder,  da  er  ihr  einstiges  Vorhandensein  in  Lied- 
form voraussetzt.  Hier  verliert  sich  der  Verl',  mitunter  auch  in  rein  sagen- 
geschichtliche Erörterungen. 

Kap.  G  behandelt  die  beiden  wichtigsten  Denkmaler  des  X.  Jahrb.,  den 
Waltharius  (S.  274—342)  und  Uuodlieb  (S.  343—412).  Zur  Walther-Litteratur 
sei  bemerkt,  dafs  sich  auch  von  diesem  Gedicht  eine  Übersetzung  in  Hexa- 
metern, wenn  auch  gekürzt,  in  dem  obengenannten  ersten  Hefte  unserer  Denk- 
mäler findet.  Die  Behandlung  des  Gedichts  läfst  au  Ausführlichkeit  und  Gründ- 
lichkeit nichts  zu  wünschen  übrig.  Anfechtbare  Behauptungen  finden  sich,  z.  B. 
dafs  Walthers  Weigerung,  eine  Hunniu  zu  heiraten,  in  jedem  Worte  den  Geist 
des  Heldenzeitalters  atme,  dafs  das  Beiwort  Franci  nebulones  etwa  das  ahd. 
lotar  gewesen  sei,  wozu  K.  sogleich  eine  Allitteration  in  lantpuant  findet,  dafs 
Walther  auf  der  einen,  Hiltgund  auf  der  andern  Seite  des  Bosses  geschritten 
sei  (Walther  ging  voran);  aber  Kögel  giebt  auch  viel  Neues  und  Interessantes, 
z.  B.  von  der  doppelten  Schwertumgürtung  als  deutschem  Brauch,  von  dem 
'Kauderwelsch'  Ekfrids,  das  für  den  gotischen  Ursprung  Walthers  geltend  ge- 
macht wird,  von  Versuchen,  deutsche  Allitterationen  zu  finden,  von  der  Kritik 
der  Sage  und  deren  Zusammensetzung  und  Quellenscheidung,  von  der  eigenen 
dichterischen  Thätigkeit  Ekkehards  u.  a.  Bemerkt  sei,  dafs  Kögel  als  unmittel- 
bare Quelle  Ekkehards  eine  lateinische  Prosabearbeitung  eines  verlorenen  stab- 
reimenden deutschon  Gedichts  annimmt,  welches  in  dieser  lateinischen  Be- 
arbeitung deutliche  Spuren  seiner  Phraseologie  hinterlassen  hat  und  natürlich 
auch  in  seiner  Komposition  wiedergegeben  war. 

Eine  vortreffliche  Analyse  erfährt  der  Ruodüeb,  die  um  so  dankenswerter 
ist,  als  gerade  dieses  Gedicht  trotz  seines  hervorragenden  litteraturgeschicht- 
liehen  Interesses  als  erster  mittelalterlicher  Roman  auf  der  Universität  stief- 
mütterlich behandelt  zu  werden  pflegt  und  von  verhältnismäfsig  wenigen  Ger- 
manisten gelesen  wird. 

Den  Rest  des  Buches  (S.  413 — G30)  nimmt  die  althochdeutsche  Prosa  ein. 
Verf.  fühlt  sehr  gut,  dafs  diese  in  ihrem  ganzen  Umfange  nicht  in  eine  Litteratur- 
geschichte  gehört.  Aber  er  sieht  auch,  dafs  eine  Beschriinkung  auf  diejenigen 
Denkmäler,  die  eine  gewisse  künstlerische  Bedeutung  haben,  'der  bisherigen  Pra3us 
doch  zu  sehr  widerstreben  würde'  und  'dafs  er  fürchten  müfste,  manchem  Leser 
damit  eine  Enttäuschung  zu  bereiten*.  Das  ist  ganz  richtig,  und  ebensorichtig 
auch,  dals  es  kein  Buch  giebt,  auf  das  er  'diejenigen,  die  sich  über  dieses  sehr 
vorwickelte  und  in  den  letzten  zwanzig  Jahren  vielbearbeitetc  Wissensgebiet 
orientieren  wollen,  verweisen  könnte'.  So  behandelt  er  denn  kurzweg  alle  Prosa- 
deukmäler,  natürlich  hauptsächlich  nach  ihrer  sprachlichen  und  teitkritischeu 
Seite.   Für  die  Geschichte  der  Übersetzungskunst  fällt  immerhin  etwas  dabei  ab. 


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Gt.  BoettidMr:  Nene  dmtodie  IdtteratargeMdaditoii. 


443 


Den  Schluls  macht  Notkor  Laljeo.  Sehr  dankonswfrt  ist  n'nc  ungohängte  chrono- 
loirische  Übersicht  i  S.  iVJC)  )  und  ein  sorgüUti^t's  liegiHter  (Ö.  631 — 649). 

Endlich  berflcksicbtigt  Verf.  in  einem  Nachtrüge  auch  noch  die  wahrend  des 
Druckes  erschieneueu  ueueu  Arbeitten,  ganz  bettonders  den  Aufsatz  E.  Bcbröders 
aber  'die  Tanser  Ton  Kolbigk*. 

Nach  der  Ankfindigung  des  Verlags  soll  das  ganze  Werk  im  swetten  Bande 
TollMidet  werden.  DaÜi  das  nadi  d«r  hier  sUasierten  Anlage  m^ljUeh  aein  eoU, 
ist  adiww  sn  gruben,  und  es  iriüre  andi  nieht  wQnBchenswwt^  wenn  der  Verf. 
nim  andere  Bahnen  einsdblQge.  Er  mttfete  sich  nur  mtschliefsen,  den  Titel 
zu  ändern  und  es  nicht  eine  litteraturgeschichte,  sondern  ein  Handbuch  zur 
altdeutschen  Litteratur  nennen,  dann  brauchte  er  keine  Oebietsüberschrei- 
tungen  zu  f&rchten  und  zu  rechtfertigen  und  hatte  nngemessene  Freiheit  der 
Bewegung. 

Von  dieeen  g^eindenisefaen  Litteraturgeschichten  wenden  wir  unseren 
Bück  auf  die  obengenannten  Sondergeechichten. 

Die  dentseh-nationalen  Bed»»bnng6n  in  Österreich,  auf  die  wir  kfirslidi  in  der 

Anzeige  der  von  Wackemell  herauHgegebenen  Passionsspiele  hinweisen  konnten  (s.o. 
8.221),  haben  eine  neue  Frucht  gezciti^rt.  <-ine  deuisch-österreichische  Litterator- 
geschichte.  ^)  Zur  allgemeinen  Charakteristik  des  Werkes  lassen  wir  die  Heraus- 
geber selbst  sprechen:  *Zum  erstenmale  wird  hier  der  Verbuch  unternommen,  narh 
einheitlichem  I'lune  die  deutsche  Litteratur  der  iisterrpichisch- ungarischen 
Monarchie  iils  ein  (Janzes  zu  betrachten  und  diese  deutstdi  (»sterreichiscbe  Lit- 
teratur in  ihrem  Verhältnis  zur  gemeindeutbcheii  Litteratur  in  (h^ii  verschiedenen 
Perioden  ihrer  Entwiekelung  danustellen.  Berechtigung  und  Wert  einer 
derartigen  Darstellung  liegen  in  der  Iltatsache,  d&fo  sich  infolge  einer  langen 
Kette  Ton  historischen  Ereignissen  die  Länder,  welche  sich  um  das  alte  Ostar- 
richi  im  Lanle  der  Jahrhunderte  gruppiert  hatten,  au  dem  selbständigen  Staats- 
wesen der  österreichisch -nngarisehen  Monarchie  herausgebildet  haben.  Die 
wechselnden  Erscheinungen,  unter  denen  sich  jene  historische  Entwiekelung 
vollzog,  prägten  der  Volksseele  der  Deutschen  in  Osterreich  ganz  eigentüm- 
liche Charakterzii^je  auf,  welche  auch  in  ihren  Litteraturprodukten  Ausdruck 
fanden  . .  .  Erst  wenn  es  gelungen  ist,  die  deutsche  Dichtung  Österreichs  aus 
den  Bedingungen  heraus,  unter  denen  sie  entstanden  iftt,  zu  verstehen,  wird 
ihre  gerechte  Beurteilung  unti  ilire  Eiul'üguug  in  den  Bau  der  gemeindeutschen 
Litteratur  möglich.  Der  Erkenntnis  des  Bodenständigen  muTs  hier  ein  Haupt 
angenmerk  sugewendei  w^den.'  Dnaentsprei^äid  luben  die  Heransgeber  aller- 
orten bodenständige  Mitarbeiter  geworben  und  hoffen  so  einerseits  eine  Er^naang 
SU  jeder  gemeindeutschen  Litteraturgeschichte  zu  sdiaffen,  und  andererseits  jedem 
gebildeten  Österreicher  und  vor  allem  der  heranwachsenden  Oenwation  die  M^- 
lidikett  sn  geben,  die  Entwiekelung  des  eigenen  Stammes  in  seiner  Litteratur 

*j  Deutsch -Oaterretchijiclie  Liite»turgeM:hichte.  Ein  Uandbacb  zur  Geschiebte  der 
dflateehen  Dichtniig  in  Ostemldi-Uagani.  HerauBgegebeo  von  J.  W.  Nagl  und  Zeidler. 
Wien«  C.  Fromme.  1.  Halbband.  m  S. 

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444 


0.  Boetticber:  N«ad  dentsdi«  IdttarntaiBeMhickteD. 


zu  verfolgen.  Dem  popolüren  Z>vcck  eutaprechend  ist  das  Werk  mit  dem  be- 
kaonten  hiftorwdien  BiUvwk  aasgestattei 

Der  Torliegende  erste  SUbband,  bis  zar  Refomatioii  Aihrend,  ist  ein  im 
gansMi  sehr  ^natigea  Zengnia  tob  der  aweckimUaigen  und  gelungenen  Ana- 

fiibrun;;  des  Untcmehmens.  £r  rückt  den  knltnigeschichtlichen  Geeiehtspunkt 
»tark  in  den  Vordergrund  und  bringt  in  der  That  dadurch  sehr  wertvolle  Er- 
gänzungen zu  den  ^oiin  indeutschen  Litteraturgeachichten,  vor  allem  gleich  im 
ersten  Abschnitt  (S.  1 — 50)  durch  die  cin^jchonde  Darstellung  der  deutschen 
Kolonisation  in  Osterreich  and  Ungarn  und  ihrer  Beziehung  zur  Üestaltung 
der  Heldensage. 

Baiern  und  Goten  machen  den  Kern  der  deutächen  Bevölkerung  aus,  uud 
nnter  ihnen  ervtebt  die  Ideolgeatalt  Dietrieha  TOn  Bern,  die  ala  daa  Ter- 
kSrperte  Wesen  daterreichiacher  Eigenart  in  Anspruch  genommen  wird:  *Der 
Qeiat  des  österreichischen  Volkes  hat  so  in  Dietrich  ein  Ideal  gesdiafiSen,  und 
noch  heute  —  wo  die  firflheren  Besorgnisse  der  geistigen  Ffihrer  des  Volkes  wegen 
BOckfiiUea  in  Roheit  und  Heiilt  tihim  nicht  mehr  obwalten  können  —  freuen 
wir  uns  dieses  Ideals.  Wir  Österreicher  sind  allerdings,  wie  Dietrich,  von 
Mifstrauen  rjet;en  uns  erfüllt;  das  Fremde  imponioH:  nns  daher  sogleich.  Wir 
lH'kennf»ji  nimufgefordfrt  iiiism'  Scliwachfn.  wiihiciul  andere  die  ihren  verheim- 
lichen, W  ir  sncheu  uud  gestehen  von  vorn  herein  die  IJeelitstitel  dvr  anderen 
freiwillig  zu,  während  die  anderen  zuwart«n,  bi«  wir  ihnen  die  unseren  mit 
Mflhe  abringen.  Wir  geben  gern  nach,  erwarten  aber  ^tflir  ton  der  Einsteht 
des  anderen  ein  gleiches.  Darin  iftuschen  wir  uns  meistens;  aber  geradezu 
cynisch  erscheint  es  uns,  wenn  der  andere  diese  Kaehgieb^eit  ala  seibat- 
▼emtandlicbc  Schwäche  des  Österreichers  fafst,  mit  dem  man  machen  kdnne, 
was  man  wolle.  Wer  aber  unsere  Geduld  erschöpft  hat  und  uns  die  Schmach 
anthun  will,  dafs  wir  mit  besseren  Grundsätzen  das  Opfer  anderer  werden 
sollen,  entfesselt  gegen  sieh  die  tjjin/.e  Wnrht  der  Abwehr'  (S.  90).  Das  lieil^t 
gewifs  national  tfesprochni .  wenn  auch  der  criTirtc  Ton  ctwafi  bcfrenidt't  und 
diese  Charakt«Tistik  anfseriieni  so  /ienilich  auf  die  Deutsclifii  iil»erliaii|it  jiaist. 

Diese  Entwickelung  der  Uietrichsage  in  der  volkstümlichen  Lttterutur^  be- 
sonders audi  im  Verhalfaiis  anm  frankischen  Siegfried,  wird  durchaus  an  der 
Hand  der  Kolonisationsgesdiichte  gegeben,  und  der  ganze  Abschnitt,  der  diese 
Dinge  behandelt^  'Das  nationale  Erbe'  (S.  50 — 126),  ist  in  erster  Linie  Sag^ 
geschichte.  Aber  auch  die  Sprache,  zum  Teil  die  heutigen  IKaldEte  werden 
anr  Urklamng  der  Bcvolkeningsmischung  herangezogen,  ^'i  viel  Gutes  nun 
auch  hier  geboten  wird,  eins  müssen  wir  bedauern:  die  ästhetische  und 
eigentlich  litteratunjesoliielifliehe  Würdi^nnj^  der  Dichtungen,  z.  R.  aneli  dos 
Nibebinwnliedes,  kommt  <labei  ent^<chieden  zu  kurz.  Was  die  Verl',  über  den 
Dichter  des  Nibelungenliedes,  über  die  tJberlieferung  und  den  ganzen  Charakter 
sagen,  ist  so  dürftig,  vag  und  unvcrstUndlicii,  dafs  es  besser  ganz  weggeblieben 
wSre.  Diese  Dflrftigkeit  und  zum  Teil  Flüchtigkeit  der  Charakterisierung  tritt 
uns  auch  sonst  entgegen,  z.  B.  beim  Meier  Helmbrecht^  in  dem  die  Verf.  nichts 
weiter  sehen,  als  Mie  Überhebung  des  Bauern  Ober  seinen  Stand  hinaus  und 


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Btralticher:  Nene  deuiidie  Litientaigeachiebten. 


445 


die  Folgen  solchen  Übermutes',  wühreiiii  doch  der  Dichter  Wernlier  selbst  daa 
Haaptgewkbt  auf  den  niiger»teneii  Soliii  legt.  Ähnlich  bei  Uhrich  von 
Liehteiuiteiii,  deaaen  Fnuendiemift  ttbrigena  merkwflrdig  genug  ^niicb  SchSnbAch' 
dargestellt  irird.  Bm  bringt  die  Yert  beinahe  in  den  fidechen  Verdacht,  dala 
sie  das  Original  nicht  kmnen. 

Im  Gegensatz  dazu  wird  die  geistliche  Dichtung  (Abschnitt  3;  S.  125 — 186) 
sehr  eingehend  behandelt,  z.  B.  die  Ocne^ia  Terhaltnisiiiäfsig  viel  ausführlicher 
als  das  Nibelungenlied,  während  wiederum  die  Itinneiyrik  in  dem  grofsen 
4.  Abschnitt  'Das  Rittertum'  (S.  l^^G  --'2^4)  nur  eben  berührt  wird.  Nur 
Walther  von  der  Vogelweide  tritt  nachdrücklich  hervor,  doch  in  etwas 
Di<»rkwiir(li«^er  Auffassnn«;.  Die  l)ekttnnte  Aufserung  Walthers:  Idt  wa^i  aö 
voUt'  srJiiitens,  da£  mm  dkm  sUmc  deute»  die  Verf.  auf  seine  Streitgedicht^j 
gegen  den  Papst,  worauf  er  dann  seinen  öinu  auf  'Höheres'  gerichtet  habe, 
nämlich  anf  die  Krenalieder  und  anderes  Keligioees.  Walthers  Kampf  gegen 
den  Papst  ersdieint  somit  als  eine  Yeriirnng,  nnd  hier  scheidet  sich  allei^ 
dings  unsere  nationale  Wertsch&tsong  Wdthers  sehr  besümmt  yon  der  Sster- 
reichischen.  Eine  Beihe  von  lyrisdien  Diehtongen  wird  in  leider  xiemlich 
schwachen  Übersetzungen  in  den  Text  eingef&gt;  andere  werden  im  Urtext 
abgedruckt,  ohne  dafs  man  sieht,  warum  diese  Unterschiede  gemachi  werden. 
Willkommen  sind  einige  Abschnitte,  die  die  Musik,  die  Komposition  der  Lieder 
und  auch  vorher  der  epischen  Dichtungen  behandeln,  ausgestattet  mit  Noten- 
beispielen. Die  Neidhartschen  Tanzlieder  erscheinen  als  die  Vorläufer  der 
späteren  Wiener  Walzer. 

Dies  führt  auf  die  gemütliche  Heiterkeit  de»  österreiehiselien  Volks- 
charakters,  die  besoudern  in  der  komisch-draniatiischea  Littcrütur  des  aun- 
gdumden  Hittelalters  hwrortritt.  Dieses  stellt  der  fünfte  Abschnitt  dar 
(S.  S84— 386).  Eingehend  wird  xunachst  der  *Hanch  von  Salzburg'  be- 
handelt, wiederum  mit  besonderer  Berficksicht^ng  der  Musik,  darauf  die 
Jitterarischen  Erscheinnngra  in  Poesie  nnd  Prosa,  nach  den  Landschaften 
geordnet,  endlich  als  ^uptstflck  die  dramatische  Litteratnr,  die  geistUdien 
Spiele,  wobei  Wackernells  Ausgabe  der  Pussionsspiele  ausgiebig  benutzt  ist^ 
und  die  Komödien,  die  in  ihrer  österreichischen  Eigenart  (als  'Sjuils')  vortreff- 
lich eharakterisiert  werden.  Sie  beruhen  auf  dem  Humor,  nicht  auf  dem  Witz, 
auf  der  Fälii|jkeit,  die  komische  Seitf»  auch  der  ernstesten  Sache  7Ai  erfassen. 
Schon  die  Dortpoesit;  Neidharts  zeigt  die  Elemente,  ebejiso  die  Volksepen  imd 
das  ältestr  Xeidhartspiel,  sie  sind  derb,  aber  nicht  lüstern  und  frivol.  Eine 
Entartung  trat  unter  der  Einwirkung  der  älteren  Nürnberger  Fastnachtsspiele 
ein,  die  aber  zum  Teil  wieder  aus  dem  gesunden  Sinn  des  Volkes  selbst  heraus 
abennrnden  wurde,  und  *es  ist  ein  anziehender  Gedanke,  dafia  zur  moralischen 
Bebung  des  Fastnachtsspieles  durch  Hans  Sachs  auch  die  Kenntnis  des  alt- 
Ssterreichischen  Lustspiels  beigetragen  habe',  denn  Hans  Sachs  hatte  auf  seiner 
Wandersdbaft  in  Salzburg,  Hall,  Braunau,  Wels  und  Innsbruck  gerade  die  Weihe 
der  Musen  empfangen.  'Wenn  wir  unsere  Geschichte  der  mittelalterlichen  Litte- 
ratnr Deutsch-Österreichs  mit  der  Darstellung  der  dramatischen  Gattung  ab- 


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446 


Q,  Boetliicher:  Nene  deatacke  litteratingwcbichteii. 


sehlielken,  bo  bleiben  wir  streng  im  Rahmen  unserer  von  knltoriiistorieehen 

Gesichtspunkten  geboten«!  Disposition.  Im  geistlieben  Bfirgerspiel  der  Blllte- 
seit  sahen  wir  alles  assimiliert^  was  dem  heimischen  Wesen  nrsprQnglich  fremd- 
artig am  ChrttteitQm  war:  das  Lustspiel  greift  mit  seinen  Wuseln  tief  in  den 

Boden  der  heidnischen  Vorzeit  und  bewahrt  in  Stoffen  und  Formen  bis  in 
a^te  Zeiten  Üherhieibsel  des  nationalen  £rbes,  während  es  seine  wste 
litterarische  Festsetzung  unter  der  Einwirkung  der  höfischen  Dichtung  und 
seine  dramatische  Ausgestaltung  unter  dorn  Einflüsse  'U-vj  i;»^!stlichen  Bürger- 
spiels erhielt  Wie  bei  den  anderen  Gattungen  der  Dichtung,  fand  auch  hier 
die  lebendigste  Wechselwirkung  zwischen  den  Ländern  Österreichs  und  Deutsch- 
lands statt.' 

Wir  wünschen  dem  Werke  von  Herzen  guten  Fortgang  und  hoffen,  da£s 
es  den  Herausgebern  trdiz  der  groften  Zahl  der  Milairlieiter  gelingen  werde, 
ein  Mnheitlidies  Ganses  su  achaffoij  das  das  im  Begleitwort  angegebem  Ziel 
wirUich  erreicht  Dasn  wird  aber  nötig  sein,  vor  allem  auch  den  Inhalt  der 
national«!  Dichtungen  an  sich  au  würdigen,  die  Ideenbreise  und  Ideale^  die  sie 
darstellen,  zu  entwickeln  und  so  das  deutsche  nationale  Leben  in  Österreidi  xu 
sförkcn.    Die  kulturgeschiclitliclu'  Bflumdlung  allein  thuts  nicht. 

Gleichzeitig  mit  der  Somler  Litteraturgeschichte  für  Österrcieli  ist  auch  eine 
solche  für  Schwaben  erschienen,  hervorgegangen  aus  dem  nämlichen  Interesse, 
'dais  die  einzelnen  Stämme  über  ihre  g(i^!tigen  Leistuntren  Musterung  abhalten 
und  sieh  dadurch  gowisserraalHen  auf  hiieli  si'lbst  ix'sinnen'.^)  Verf.  hält  dies 
geradi  auch  inuerhalb  des  geeinten  deutschen  Reiches  für  notwendig,  um  der 
Gefahr  der  geistigen  Konzentration  und  Nivellierung  entgegenzuwirken,  die  in 
den  letsten  drei  Jahraehnten  in  Sicht  getreten  sei  'Gerade  darum  ist  es  not- 
wendig, dafs  man  in  Deutschland  die  Tidheit  der  individudlen  Lebenefonnen 
mit  Bewnlstsnn  betone,  dafs  sich  jeder  Stamm  die  Besonderheit  seiner  Geistes- 
bildung mit  Sorgfalt  und  Treoe  su  wahren  sudie/  Das  ist  sweifeUos  richtig 
und  gut,  übrigens  auch  ein  bodenständiges  Stttck  deutsdier  Eigenart,  und  was 
geschehen  kann,  dies  zu  erreicben,  verdient  Förderung  und  Unterstützung. 
MögUch,  dafs  auch  eine  'Schwäbische  Litteraturgeschichte'  für  Württemberg 
dazu  beiträgt,  wenn  sie  nämlich  die  Eigentümlichkeiten  des  schwäbischen 
Stammes  in  seinen  litterarischci  Erzeugnissen  scharf  zu  erfassen  und  dar- 
zustellen weifs,  so  dafs  man  wirklich  das  Individuelle  erkennt.  Gerade  dies 
aber  ist  dieser  Schwäbischen  Litteraturgeschichte  noch  viel  weniger  gelungen 
als  der  Osterreichischen.  Ist  es  auch  richtig,  dafs  der  Verf.  seinem  Zwecke 
gemälk  auf  die  alte  Zeit  wenig,  auf  die  neue  dagegen  um  so  mehr  Gewicht 
legl^  so  hatte  doch  der  gröfste  sohwnbisehe  Dichter  des  Mittdalters^  Hartmann 
Ton  Aue^  nicht  so  Ikrblos  und  knn  abgethan  werden  sollen,  wie  es  hier  aof 
drei  Seiten  geachiebi  Auch  4^  Hinnepoesie  weife  der  Verf.  hnine  charakte- 
ristisehen  Seiten  abangewinnen,  und  der  ganie  weitere  Verlauf  kommt  fiber 


Schwäl'ischf  LittcraturgeBchichte  in  zwei  Bünden.   Von  Rudolf  Kr auas.   1,  BMid. 
Von  d«ii  Aüftkig«!!  bis  in  das  19.  Jahrhundcot.  Fraiburg,  Mohr.  XU,  4S0  S. 


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G.  BoeUacher:  Neue  deutsclie  LitteratnigeicliiditeD. 


447 


eine  allerdings  auf  gater  Sadikenntnis  fnüsende  und  dem  littentargeBcfaidit' 
liehen  Intereeae  durchaus  genflgende  DarsteUnng  dw  liiterarischen  Entwieke- 
lung  nidit  hinans.  Nur  ein  Drittel  des  Bandes  wird  der  gesamten  Zeit  von 

den  Anfruigcu  bis  1750  gewidmet,  iiiul  der  ganze  Band  führt  uns  bereits  bis 
ina  XIX.  Jahrh.,  snr  Romantik.  Er  hat  seinen  Wert  durch  die  genaueren 
Nachrichten  Aber  sonst  weniger  bekannte  und  behandelte  ach  will)!  sehe  Dichter 
und  Schriftsteller,  durch  manche  treffliche  Charakteristik,  z.  B.  W' tckherlins, 
Schubarts,  Hölderlins  und  selbstverstÄndlich  luich  in  der  Ijeahsichtitrten  nr\d 
wohlgelungenen  Zusammenfassung  der  öchwä bischen  Üesamtarbeit,  aber  den 
Wert  dieser  Besitzumgrenzung  darf  man  nicht  überschätzen.  Wer  denkt  z.  B. 
bei  Schiller  noch  an  den  Schwaben?  Selbst  Scheliing  und  Hegel  sind  gemein- 
deutsche PersSnlieUnnten  geworden  nnd  geblieben.  FQr  den  Zweck  des  Ver£ 
sollten  in  allererster  Linie  unseres  Eraehtens  die  Tolkstfimliehen  Diditungen 
stehen  nnd  alles,  was  sonst  aar  Yolkskonde  gehSri  Und  was  sich  da  nadi 
Fenn  und  Inhalt  offienlNui,  kSnnte  vielleiehi  in  den  SohSf^ungen  der  sdhwabi- 
sehen  GeisiesgrSlken  in  Anklängen  wiedergefunden  werden. 

Der  geographische  und  der  politisdie  Begriff  'Schwaben*  fallt  nicht  zu- 
sammen. Verf.  hat  sich  in  der  Abgrenzung  seines  Stoffes  für  den  pobtischen 
Begriff  'Würffornberg'  entschieden,  aber  mit  Heranzieh niitr  des  gesamten  achw»- 
bischen  Rtamnit^s,  besonders  der  bayrinehen  Provinz  Sehwaben. 

Kin  Anhang  i^icid  auf  S.  305 — llH  litterarisehe  Nachweise  in  der  Art  der 
l>iit«  raturgeschichte  Scherers.  im  Text  ist  nicht  darauf  verwiesen,  aber  in  den 
Anmerkungen  selbst  ist  der  jedesmalige  Abschnitt,  auf  den  sie  sich  beziehen, 
klar  beseichnei  Verf.  scheint  hier  die  e^entlich  gelehrte  Liiteratur  absichlr 
lieh  Qbergangen  zu  haben,  s.  B.  alle  winenschaftlichen  Aasgaben  der  Siteren 
Litterator,  und  das  Hai^tgewichi  anf  die  PersSnliehkeiten  nnd  monographische 
Arbeiten  ttber  sie  gelegt  su  haben.  Welche  Sonder-Litteratorgesduchte  wird 
nun  folgen? 


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4 


FSETTAG,  BUBGEHABDT»  RIEHL 
UND  IHRE  AUFFASSUNG  DER  KULTURGESCHICHTE. 

Von  Georg  Steinhaufen. 

Kurz  hintereinuidar  Bind  die  drei  grörsten  deutschen  KulturhiBionker  uns 

durch  den  Tod  cnirisspn  worden,  sie  alle  ntieh  Vollendung  eines  grofsen  und 
reichen  Lebenswerkes.    Sie  alle  :il)er  auch  in  unirefähr  gleichem  Alter:  Freytag, 
der  Schlesier,  wurde  181ü  gel)oren,  Burckhardt,  der  Schweizer,  Riehl, 
der  Rheinländer,  1823.  Nock  bemerkenswerter  ist  jedoch  dm  fast  gleichzeitig 
Eracheiuen  ihrer  kulturgeadiiehtliehen  Hauptwerke.    Frejtags  ^Bilder  aus  Uer 
deatschen  Vergangenheit'  binnen  Mit  1859  su  «Mihemeii}  BareldiBrdt  Ter- 
dffonflidite  eeme  *Zeit  Gonffcultiiw  des  GrofiMQ*  18fö,  aeine  ^vltnr  der  Remais- 
aance'  1860;  Biehb  'Naturgeeehtthfee  de«  Yolkes'  endhien  seit  1853,  adne 
•Kulturstudien'  1859,  'Die  deutsche  Arbeit'  1861.    Das  ist  kein  Zufall.  In 
meiner  Arbeit  über  Gustav  Freytags  Bedeutung  iQr  die  Qeschichtswieaenschaft 
(Zeitsohr.  für  Kulturgesell.  III  S.  1  flF.i  habe  ich  bereits  eingehender  dargelegt, 
wie  um  diese  Zeit,  in  der  Mitte  des  Jahrhunderts,  nueh  kurzer  Vorentwickehirsg 
die  Kulturgeschichte  eine  ülierraschend  groüse  Anziehungskraft  ausübte.    Es  ist 
die  Zeit,  in  der  das  Genuauische  Nationabnuseiun  begründet  wurde,  in  der  die 
erste  'Zeitschrift  für  deutsche  Kulturgeschichte'  erstand.    Es  ist  die  Zeit,  in 
der  HeinricK  von  Sybel,  in  seiner  1856  gehaltenen  Rede  *Über  den  Stand  der 
neueren  detttedien  Geaehichtaaehretbnng',  daa  Henrortreten  der  Knlturgeachichte 
als  das  wesentliehate  Gharakteriatikum  der  neuen  Geaohichtawiaaenachaft  be- 
liehnen mufste.    'Sonst',  heifst  es  bei  ihm,  'beschränkte  sich  der  Inhalt  der 
historischen  Werke  auf  die  grofsen  Hof-  und  Staats-  und  Kriegsaktiouen,  wobei 
überall  die  herrschenden  Persönlichkeiten  in)   Vordergründe  der  Auffassung 
standen.   Daneben  hatte  man  Reehtsaltertiimer  und  Kirchengeschichte  nicht  zum 
Crebraudie  der  Nation  für  dtiren  Bildung,  .sondern  zum  Dienste  der  Fach- 
gelehrten bei  praktischen  Zwecken.    .letzt  ting  man  an,  die  Beschaffenheit  des 
gesamttm  Kulturzustandes  eines  Volkes  zum  Ausgang»  und  Zielpunkt  der  Be- 
trachtung zu  nehmen;  die  Qeachiehte  der  öktttomiaeheii  Yerhlltniaae  wurde 
ebenao  widttig  wie  jene  der  diplomattaehen  Verhandlungen;  die  Entwicklung 
der  Sprache  und  der  Littoratnr  erhielt  gleiche»  Intereaae  mit  den  Bewegungen 
der  Höfe  und  Heere;  Kirchen-  und  Rechtageachichte  wurden  ala  Anaflflaae  dee- 
aelben  nationalen  Lebens  in  den  grofsen  Rahmen  mit  hineingezogen.'  Wie 
dieser  Wandel  mögUcli  geworden  war,  habe  ich  an  der  nngeführten  Stelle 
meiner  Zeitschrift  dea  weiteren  ausgefährt:  ich  kann  das  hier  nur  kurz  su- 


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G.  StMuImiMn:  Frejtag,  Bnrddmrdt,  Riehl  und  ihre  AttlÜMsuiig  der  Knltargeuhichte.  449 

sammeufatiiien,  will  aber  dabei  zuglcieh  eini^  Aur-<  rntisr<'n  Miihls  uinllciliteu, 
der  mehrfach  diese  Vorgeschirht«-  der  neuen  \V  i^senseliaft  berülirt  luit, 
Ihre  Anfange  liegen  in  dem  Juliriiundeit  der  liumauität  und  der  Aufklärung. 
In  Voltaire,  meiui  Wegele,  hat  sie  'ihren  eigentlichen  Urheber  anzuerkennen'; 
Auf  Herder  aber,  der  um  HnmaiutittBideal  glwchMun  historiadi  su  begründen 
enehte,  xnfiMen  wir  die  AnlMdinimg  einer  neuen  weiten  Anffiwwing  nidit  minder 
BnrOcÜUiren.   Riehl  urteilt  Aber  die  AnfSnge  trefiland  eo:  'in  der  zweiten 
HSlfte  dee  vorigen  Jalnlinndertis  kam  bei  nn»  ein  nenee  Modewort  in  Schwang 
des  Wort  «Knltv».  Modewörter  Betsen  Mod^een  voraus,  und  mir  däueht,  vor 
AUem  hat  Roneseaus  Streitfrage  über  den  Vorzug  dee  anerarbeiteten  Natur- 
lebens vor  der  in  Arbeit  durchgeistigten  Gesittung  uns  damals  das  Wort  so 
notwendig  nnd  folglich  auch  gelaufig  gemacht.    Unter  Kultur  verstehen  wir 
die  Summe  der  Arbeitsresultate,  wie  sie  zur  Signatur  der  Persönlichkeit  des 
Einzelnen  oder  eines  Volkes  werden.   Ursprünglich  galt  das  Wort  dem  Boilenbau, 
in  den  deutschen  Bücheru  des  achtzehnten  Jahrhunderts  dagegen  wird  es  fast 
nur  von  der  Geisteaarbeit  gebraucht.    Ja,  man  verstand  damals  unter  Kultur 
oft  geredera  die  Beeoltate  des  geistigen  Sefaaffms  und  eittlidien  Bingen»  im 
aneehlieJeenden  Gegeneats  m  dem  erarbuteten  Sehatge  der  wirteehaftlicben 
Guter.    Der  nene  Sinn  dee  Worte»  wnr  aleo  sum  Antipoden  »eine»  alten 
Stamnuinne»  geworden.   «Knltar^  nnd  «AnfUirong»  gelten  ÜBr  Gleiehnamen, 
und  die  mit  der  neuen  Idee  aufwachsende  neue  Wissenschaft  Kulturgeschichte 
wurde  von  mehreren  ihrer  frühesten  Huarbeiter  lediglich  als  eine  l'hilosophie 
der  Geschichte  der  Aufklärung  behandelt.'  Aber  im  vorigen  Jahrhundert  liegen 
auch  die  Anfinge  einer  exakten  Kulturgeschichte.    Das  unkritische  Zusammen 
tragen  'knrieuser'  Notizen  frülierer  Zeit  wurile  üi)erw'!ndt'n.    Vor  allem  nach 
der  wirtöciiatthchen  Seite  wunh«  eine  wissenscluiftlichere  Urundlage  gelegt:  die 
Disziplin  der  'Statistik'  ist  da  vuu  be^underer  Bedeutung;  Männer  wie  Gatterer 
und  Schlözer  zeigen  die  Einwirkung  dieser  Gedanken  auf  die  Geschichtschrei- 
bung.   Wieder  ein  »nderes  Elonent  repiieentiert  Möser:  das  Yolksstttdinm. 
Für  dieses  hSehst  folgenreiche  Gebiel^  fBr  die  Ausbildung  d^  Begriffes  *Volk»- 
tnm'  wurde  dann  eine  StrSmnng  vnsere»  Jahrhundfirt»  von  ausschlaggebender 
Wichtigkeit,  die  das  Mittelalter  in  Terklärtem  Lichte  sehende  Romantik,  auf 
die  die  Anftnge  der  deutschen  Philologie  snrückfiihren,  welche  ron  Anfimg 
an  —  ich  nenne  nur  die  Gebrüder  (irimus  —  zugleich  deutsche  Altertums-  und 
Volkskunde  war.  Ein  mächtig  anschwellender  historischer  Sinn  verdrängte  die 
philosophische  Konstruktion;   auf  allen  Gebieten   begann   em*5ige  hiftori?!che 
Arbeit.    Man  darf  weiter  u(  l)en  dieser  konservativen  Strömung  <lie  entgegen- 
gesetzte politische  Tlauptstrchnung  jener  Tage,  den  deraokratitichen  Zug,  als 
wichtiges  Agens  nicht  übersehen.    'Hier  war  es  die  Abneigung  gegen  Fürsten 
und  Regierende,  gegen  Diplomatie  und  Bureaukratie  und  der  Kampf  für  das 
Recht  des  Volkes,  welche  die  bisher  einseitig  betriebene  Krieg»-  und  Kabinetts- 
gesehiehte  dem  allgemeinen  Bewnfstsein  ungen&gend  erscheinen  lielbeo.'^)  Dazu 


*)  ZeitMhrift  für  Knllmgetohichte  lU  8.  S. 


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450   O.  SteinhraMn:  VrejttLg,  Barckhardi,  Ri«1il  tud  ihre  Atiffamtuig  der  Knlturgeschiebte. 

kam  die  beginnendo  starke  sozialpolitische  Strömun«^:  die  sozialo  Frntre  drinif^e 
schon  vor  1848  das  Volk  als  StiidiVnobjoct  in  den  Vordergrund.  Und  endlich 
der  Einflufs  der  Naturwissenschaft.  'Die  unerhörten  Triumphe*,  sagt  Riehl, 
'welche  die  Naturwissenschaft  auf  dem  Wege  der  Amdyse  gewann,  haben  alle 
anderen  Disciplinen  auf  denielben  Weg  for^^maaNi.  Da  mufste  die  Zeit  aneb 
wieder  gOnetig  werden  fOr  die  nataigeBdiiclitliehe  Untenaduing  des  Volkee.*  — 
Aua  dar  FOlle  dieser  Elemente  ging  nnn  die  al]m9]iliclie  Anabildnng  einer  selb- 
ständigen Wissenschaft  der  Kulturgeschichte  hervor.  Riehl  meinl^  dafe  *nament- 
lieh  Heeren  mit  seinen  Verdiensten  luu  die  Verbindung;  von  Geographie,  Etlmo- 
graphie  und  Geschichte  bahnbrechend  voranstehe*.  1831  bereits  begann  Wilhelm 
Wachsmuth  seine  'Europäische  Sittengeschichte  vom  Ursprung  vollst  ihn  lieber 
Gestaltungen  bis  auf  unsere  Zeit'  zn  veröffentlichen.  Daneben  begann  eine 
aulserordentlichc  Sammclarbeit  auf  dom  Gebiete  der  Sitten  und  Brauche,  der 
Sagen,  der  Volkskunde  überhaupt  und  ebenso  auf  dem  Gebiete  historischer 
Quellen.  Historisclie  Vereine  entstanden  und  gaben  in  ihren  Zeitschriften 
wesentlieh  knlturgeachiehtlidies  Material  heraus;  grSIsere  Qneilensammlnngen 
wurden  begründet,  wie  sdion  1843  die  Bibliotiiek  des  litterarisehen  Vereina; 
die  Archive  aeigten  sich  plStslich  von  dner  gans  neuen  Seite  als  unerschSpf- 
lieh  f&r  die  Lebem^esdiichte  der  Vergangenheit  —  an  die  Erriehtnng  des 
Germanischen  Museums  erinnerte  ich  sdion. 

Dies  war  die  7 'if .  in  der  jene  drei  Männer  ihre  historischen  Studien  be- 
gannen. Die  Richtung,  die  sie  einschlu<;en,  war  zeitgemäfs.  Sie  aber  haben  — 
und  darin  liegt  ihre  bleibende  Bedeutuni;  —  7.nt'r«»t  <je7.eii;t,  wie  man  kultur- 
geschichtliche Werke  schreiben  soll.  Ihre  AufCaasung  von  dem,  was  behandelt 
und  wie  es  bdiandelt  werden  aoll,  ist  Ton  allergro&ler  WuSitigkeit  geworden, 
und  das  rechtfertigt  wohl  eine  nSliere  Darlegung  ihrer  Auffiissnng  der  Knltnr^ 
gesehichte.  Manehe  Fachgenossen  pflegen  freilich  Uber  sie,  wenigstens  Ober 
Frejtag  und  Riehl,  als  pepulire  Sehriflateller  die  Achseln  zu  zacken:  hat  doch 
Freytag  in  seinen  'Bildern*  nur  'ein  bequemee  Rausbuch  gebildeter  Familien' 
schaffen  wollen,  hat  doch  Riehl  aus^eHprncben,  dafs  'seine  Bürlier  allewege 
lustig  '/n  lesen  sein  wollen',  und  liabfii  l)eide  drK'h  noch  in  die  Belletristik 
hineingepfuscht.  Von  der  wissonseliaftlichen  Grundlatie  der  Freyta^hen  Bilder 
haben  solche  Beurteiler  freilich  keine  Almun^.  Verachtenswert  sind  aber  die- 
jenigen Gelehrten,  die,  ohne  Frejtag  jemals  zu  erwähnen,  ihn  munter  aus- 
schreiben —  nomina  sunt  odiosa.  Gerade  als  Forderer  wahrer  Wissensehaft 
werden  diese  Mlnner  nodi  genannt  sein,  wenn  Legionen  der  Znnfthistortker  die 
Tergessoiheit  deokt 

Der  groDse  Fortschritt,  der  von  ihnen  gemaeht  wurde,  ist  der  bewufst 
unternommene  und  TOrtn  fflieh  durchgeführte  Versuch,  den  Menschen  ala 
Gattungswesen  zum  Objekt  der  historischen  Forschung  zu  machen, 
den  Menschen  der  Verj:^njTrnheit  nicht  als  Individunm,  als  Helden,  sondern  als 
Typus,  als  Vertreter  seiner  Zeit,  seiner  Generation  anfeufassen.  'Die  Töpfe*, 
meint  Riehl  einmal,  'führten  jnim  Töpfer';  'der  l{oek  führte  zum  Mann'.  Und 
Frejtag  sagt:  'Alle  kulturgeächichtlichen  Werke,  welche  die  ungeheuere  Masse 


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G  Steinhausen:  Vteytap,  Burckhardt,  Riehl  und  ihre  AufTaHsun^  der  Kulturgonchichtc.  451 

des  StofiFes  in  systematischer  Einteilung  zu  bewältigen  versuchen,  entgehen 
schwer  dem  Übelstand,  langweilig  zu  werden,  und  gleichen  in  ihrer  Schilde- 
rung alter  Sitten,  Gebrauche  und  Lebensgewohnheiten  zuweilen  grofsen  Trödel- 
läden mit  alten  Kleidern,  zu  denen  die  Menschen  fehlen,  die  einst  damit  bekleidet 
waren.'  Dieses  Fehlende  war  die  Hauptsache,  und  aus  dieser  Erkenntnis  und 
Empfindung  heraus  entstanden  Frey  tags  Bilder.  Und  genau  so  bei  Burckhardt: 
der  Held  seiner  Kulturgeschichte  der  Renaissance  ist  der  Renaissancemensch 
als  solcher,  als  Typus.  Die  politisch-geschichtlichen,  die  kunst-,  religiona- 
und  gelehrtengeschichtlichen  Partien  seines  Buches  sind  nicht  um  ihrer  selbst 
willen  geschrieben,  sie  sollen  uns  den  Menschen  der  Renaissance  erkennen 
helfen,  den  Italiener  der  Renaissance.  Ich  betone  den  Italiener.  Ich  betone  den 
Begriff  deshalb,  weil  er  uns  zeigt,  dafa  der  zu  erkennende  typische  Mensch  zu- 
nächst doch  nur  als  Typus  nicht  der  allgemeinen  Menschheit,  sondern  als  der 
einer  engeren  Gemeinschaft  aufgefafst  werden  konnte.  Wenn  Riehl  meinte 
'der  Rock  führte  zum  Mann*,  so  fuhr  er  fort  *und  der  Mann  zum  Volke*. 
Und  höchst  scharf  betont  er  ein  andermal  'die  lebensvolle  Gesammtidee  der 
Nation*.  'Diese  Studien',  schreibt  er,  'über  oft  höchst  kindische  und  wider- 
sinnige Sitten  und  Brauche,  über  Haus  und  Hof,  Rock  und  Kamisol  und  Küche 
und  Keller  sind  in  der  That  für  sich  allein  eitler  Plunder,  sie  erhalten  erst 
ihre  wissenschaftliche  wie  ihre  poetische  Weihe  durch  ihre  Beziehung  auf  den 
wunderbaren  Organismus  einer  ganzen  Volkspersönlichkeit,  und  von  diesem 
Begriff  der  Nation  gilt  dann  allerdings  im  vollsten  Umfange  der  Satz,  dafs  xmter 
allen  Dingen  dieser  Welt  der  Mensch  des  Menschen  würdigstes  Studium  sey.* 

So  gewinnen  wir  den  Begriff  der  'Volkspersönlichkeit',  des  'Volks- 
geistes',  der  'Volksseele*  als  Objekt  des  historischen  Erkennens.  Man  hat 
diese  Begriffe  wiederholt  'mystische'*)  genannt:  ich  will  mich  auf  eine  Erörte- 
rung darüber  hier  nicht  einlassen»  sondern  nur  feststellen,  welche  Rolle  sie  in 
der  Auffassung  unserer  drei  grolsen  Kulturhistoriker  spielen.  Jene  drei  Be- 
zeichnungen kehren  bei  Riehl  sehr  häufig  wieder,  ohne  dafs  ihm  ihre  schwere 
Fafsbarkeit  verborgen  ist.  Er  spricht  gelegentlich  von  der  'unergründlichen 
Tiefe  des  Seelenlebens  der  Nationen*.  Und  ganz  Ahnliches  finden  wir  bei 
Freytag.  Gothein  hat  kürzlich*)  in  einem  Aufsatze  über  Riehl  ganz  richtig 
einen  Gegensatz  zwischen  ihm  und  Riehl  behauptet.  Aber  dieser  Gegensatz 
ist  wesentlich  ein  solcher  der  Methode,  nicht  der  Auffassung.  Es  ist  zum 
minderten  mifsverstandlich,  wenn  Gothein  über  Freytag  schreibt:  'In  den  Bildern 
aus  der  deutschen  Vergangenheit  wie  in  den  Ahnen  verfolgt  er  im  Grunde 
immer  die  eine  grofse  Idee:  zu  zeigen,  wie  das  Individuum  im  Laufe  der  Zeiten 
sich  wandelt  und  doch  im  Keni  sich  gleich  bleibt.  Ihm  ist  immer  die  Er- 
kenntnis des  Einzelmenschen  die  Hauptaufgabe,  als  Dichter  wie  als  Historiker.' 
Da  mufs  man  doch  auf  Freytags  eigene  Worte  hinweisen,  der  ausdrücklich  als 


•>  Da«  iflt  keine  neue  Bezeichnunff.    Schon  Freylafj  selber  hat  es  beffnlndet,  warum 
man  'ohne  etwas  Mystisches  zu  meinen,  von  einer  Volksseele  sprechen'  darf. 
')  Preufsische  Jahrbücher  Xt'U  S.  2». 


452  6-  Steinhauaen:  Fr^Ug,  Bnrekhftrdi,  BJehl  und  ihre  Aoffiuraiig  dmr  KnltnigeMliidite. 

seine  HauptaufjEfabe  bezeichnet  hat,  'ein  Bild  zu  geben  von  fast  zweitausend- 
jähriger  Entwicklung  unserer  Volksseele*.  Gewifs  unterscheidet  er  sich 
TOn  Bidil  und  zwar  durchaus  zu  Gunsten  der  kulturhistorischen  Wahrheit 
dadnreh,  dafo  er  immer  mit  geschiditliclien  EinxeliäUen*)  operieri  Über 
die  'Bilder'  urteilt  er  ao;  *Wm  im  folgenden  nach  alten  Anfreichnnagen  «b- 
gednidldr  wird,  ist  meist  Bericht  ver^gener  Ifensdien  fiber  ihr  eigenem 
Schicksal.  Es  sind  saweilen  unbedentende  Monumente  ana  dem  Leben  der 
Kleinen.  Aber  wie  uns  jode  LebensUufserung  eines  fremden  Mannes,  der  tot 
unser  Auge  tritt,  sein  GbuTa,  seine  ersten  Worte  das  Bild  einer  geschlossenen 
Persönlichkeit  geben,  ein  unvollkommenes  und  unfertiges  Bild,  aber  doch  ein 
Gauites;  so  hat,  wenn  wir  nicht  irren,  auch  jede  Aufeeichnunf?,  in  vv<'le]i(  r  da«? 
Treiben  des  Einzelnen  geschildert  wird,  die  eigentümliche  Wirkung,  uns  mit 
plötzlicher  Dentlichieit  ein  farbiges  Bild  von  dem  Leben  des  Volkes  zu  geben, 
ein  sehr  uuvülikommenes  und  unfertiges  Biid,  aber  doch  auch  ein  üau^s,  an 
welches  eine  Henge  von  Anschauungen  mid  Kenntnissen,  welche  wir  in  uns 
tragen,  hlitssdmell  anschielaen,  wie  die  Strahlen  um  den  Mittelpunkt  eines 
Krystalles.*  In  seinen  ^Erinnerungen'  sagt  er  fibor  setn^  Bilder,  die  nach  *Aiif- 
seiehnungen  Tergangener  Menschen  von  dem  Oemfltaleben  und  den  TerhBIt' 
nissen  alter  Zeit  en^hlen'  sollten,  das  Folgende:  *W«Dn  man  bei  den  Sdiick- 
salen  des  Einzelnen  das  fÜr  ihre  Zeit  gemeingültige  heranphob,  so  komite  eine 
Folge  solcher  Schilderungen  auch  von  geschichtlichen  Wandlungen  in  Sitte  und 
Brauch,  Lehens  Verhältnissen  der  Nation  eine  Vorstellung  geben.'  Auf  da« 
Freytag  stark  interessierende  Verhältnis  des  Einzelnen  zimi  Ganzen  komme  ich 
noch  zurück,  hier  sei  nur  die  Auffassung  von  der  Volksseele  als  historischem 
()l)jekt  dentlich  festgestellt.  —  Bei  Burckhardt  kömien  wir  eine  entspn'chpTulv 
Auffassung  weitiger  aus  von  ihm  ausgesprochenen  generellen  Urteilen,  nU  mxn 
der  Anlage  und  Durchführung  seiner  hierhergehörigen  Werke  und  aus  der 
Fassung  gelcgenÜidier  Anlsttimgen  ersehlieJsen,  So  wenn  er  seine  Forsehung 
anf  *die  frühaeitige  Ausbildung  des  Italieners  zum  modernen  Menschen',  tad 
die  Grflndsy  'warum  er  der  Ers^eborene  unter  den  Söhnen  des  jetaigni  EmqMS 
werden  muüste*,  ri<^tet.  Bei  der  Erörterung  des  Anteils  der  Italiener  an  der 
Kosmographie  unterscheidet  er,  Vievid  dein  Studium  der  Alten,  wieviel  dem 
eigentümliclien  Genius  der  Italiener  auf  die  Rechnung  zu  schreiben  sei*.  Und 
deutlich  spricht  er  einmal  auch  von  der  'Volksseele'.  Bei  dem  grofsen  Fort 
scluitt,  den  die  llenaissanc«;  machte,  bei  der  'Entdeckung  des  Menschen'  kninmt 
er  darauf.  'Die  Kraft  des  Erkennens  lag  in  der  Zeit  und  in  der  Nation.  Die 
beweisenchn  Thänomene,  auf  welche  wir  uns  berufen ,  werden  wenige  sein. 
Wenn  irgendwo  im  Verlauf  dieser  DHrsteUung,  so  hat  der  Verfasser  luer  das 
Gefthl,  daHs  er  das  bedenldiehe  Qebtet  der  Ahnung  hetretoi  hat  und  dab^  was 
ihm  ds  zurter,  doch  deutlicher  Farbenflbergang  in  der  geistigen  Geachidite  des 

*)  Ganz  riphti^j  mnint  Gothein,  dapH  Freytaff  die  Hedcutung  der  Autobiojrraphien  und 
der  Briefe  für  uoBere  Kulturgesdiichtc  cigeutUcb  ertit  entdeckt  habe.  Ich  wenigstens  bin 
sicherUdi  anter  Frajtsg»c1ian  Einflvb  sa  der  Idee  mmaer  'Oeiebiehie  des  dMlMhea 
Briefes*  gekonunen. 


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0.  SteinharUMn:  IV^jrtag;  Bnrdcbudi,  Riehl  nad  ihre  AufCMsaiig  der  Knltnigetebichfee.  453 

14.  und  15.  Jahrhunderte  vor  Augen  sihwebt.  tou  Andern  doch  schwerh'ch 
mag  als  Thatsa^^he  anerkannt  werden.  Dicseh  aibnälige  Dnrehsiehtigwerden 
einer  Volksseele  ist  eine  Erscheinung,  welche  jedem  Beschauer  anders  vor- 
kontmm  mAg.   Die  Zeit  wird  sieliten  und  riehieii.* 

BnrdUiardt  dentet  hier  offen  die  möglichen  Schwächen  seiner  wie  der 
entspredienden  kultorgeeehiditlichen  Aal&esimg  too  der  VolkaperBSnlichkeit 
Sbeihftnpt  an.  Auch  Freytag  nnd  Riehl  haben  die  Schwierigkeitai,  die  in  der 
individuellen  Aoffiweiing  dee  VerfiMsers  einerseits  liegen,  andrerseits  in  der  H8g- 
lichkeit,  falsch  zu  generalisieren  oder  zu  rasch  den  Einzelfall  typisch  zu  nehmen, 
erkannt.  Aber  keinen  der  drei  hat  diese  Erkenntnis  von  der  Aufgabe,  die  sie 
als  (iif  i^röfsto  erkannten,  zurückgeschreckt:  als  historisches  Forschungsobjekt 
{plt  der  Mi-nsch  ;<!s  Koili-ktivuiTi ,  zunächst  unter  dpni  KoUektivbegrifl'  «ler 
Nation,  also  dur  deutsclu',  der  italienische,  der  hellenische  Mensch  und  so  fort. 
Burckhardts  Blick  hat  sich  trelej^entlich  —  zunächst  durch  den  Zusammen- 
bang  seines  Stofles  mit  der  Antike  und  sodann  durch  die  eigenen  Forschungen 
auf  dieeem  Oebiete  —  llher  den  Begriff  dee  EinselTolkes  hinaus  auf  den  grofeen 
ZuBanunenhang  der  menechUehen  Entwickeliing  gerichtet.  Er  wendet  gern  die 
BegrifiiB  des  antiken,  des  mittelalterlichen  und  dee  modernen  Henaehen  an,  die 
seitdem  uns  Tiel  geläufiger  geworden  sind.  *ErBt  der  moderne  Mensch  ist', 
8^  er  einmal,  'wie  der  antike  ein  Mikrokosmus,  was  der  mittelalterliche  nicht 
war  und  nicht  sein  konnte.'  Aber  den  ganzen  Inhalt  der  menschlichen  Ent- 
wickelang gewissermalaen  durch  das  Abwie<xen  der  einzelnen  Völkerpersönlich- 
keiten zu  umfassen,  das  srbeint  ihm  doch  aufserhnlb  imsoror  Kraft  zu  liegen. 
Hitte  niid  Keli<_n'( '1  t\rv  einzelnen  Völker  Insson  sieh  naeh  ihm  nienmif  in 
strenirer  Pai-allcie  darstellen.  *Vor  allem  i^ilt  di<'s  von  dem  Urt^-il  ül)er  die 
Sittlichkeit.  Man  wird  viele  einzelne  Kontraste  und  Nuancen  zwischen  den 
Völkern  nachweisen  können,  die  absolute  Summe  des  Ganzen  aber  zu  ziehen, 
ist  menaehliche  Einaidtt  za  sdiwacL  Die  grofse  Verrechnung  von  Kational- 
chaxakter,  Schuld  und  Gewissen  bleibt  eine  geheime,  schon  weil  die  Müngel 
eine  xweite  Seite  haben,  wo  sie  dann  als  nationale  Eigenschaften,  ja  als 
Tugenden  erscheinen.  Solefaen  Autoren,  welche  dm  Völkern  gerne  allgemeine 
Censuren  and  zwar  bisweilen  im  heftigsten  Tone  schreiben,  mufs  man  ihr  Ver- 
gnügen lassen.'  Man  sieht,  als  acccptabler  Kollektivbegriff  erscheint  auch  ihm 
wie  Uiehl  nnd  Frejtag  zunächst  nur  die  Nation,  das  Volk. 

Aber  immer  windor  betont  er  die-  Schwierigkeit.  'Wessen  .^n<re  dringt  in 
die  Tiefen,  wo  sich  Charaktere  und  Schicksale  der  ATdker  bildenV  wo  An- 
gebnmeia  n)id  Erlehte,»*  y.u  einem  neuen  Ganzen  gerinnt  und  zu  einem  zweiten, 
dritten  Naturell  wird?  wo  hclb.st  geistige  Begabungen,  die  man  auf  den  ersten 
BUck  für  ursprünglich  halten  würde,  sich  erst  relativ  spät  und  neu  bilden?' 
Aber  er  hat  doch  ebenso  wie  Freytag  und  Riehl  in  diese  Tiefe  m  dringen  Ter- 
Bttchi  Er  hat  es  Tersuchen  dfirfen,  weil  er  jene  Haupteigenschaft  des 
Kalturhistorikers  besab,  die  ich  an  Freytag  gerühmt  habe^),  *jene  fein- 


*)  Zeitichrift  für  Kultar|$e«cUchte  III  S.  13. 


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404    0.  SteinliaaMii:  Frey  tag,  Burekbardt,  Riehl  und  ilin  AnffaMung  der  Knltiiigeeduchte. 

fühlige  Beoboiclitiiiigsgabe  des  eohten  KnlturluBtorikeTs,  die  in  dem  scheinbar 
BedeutungsloMn  ein  wichtiges  Moment  erkennt  und  ea  im  grofiwo  Zusammen^ 
hang  richtig  zn  verwerten  yerateht*.  Er  spricht  einmal  gelegentlieh  von  dem, 
'dor  swiadi«!  dm  Zeilen  leeen  kann**),  an  andermal  von  dem  'kaltargeediiclit- 

Kehen  Blick'.*)    Dieser  ist  es,  auf  dvn  t's  ankommt. 

Nach  alledem  können  wir  als  Aufgabe,  wie  sie  jene  drei  Männer  der 
Kulturgeschichte  stellen,  die  Erforschung  dt  r  Uieachichte  der  Volks- 
seele' foHtstellen,  also  die  Erforschung  eines  psjchischeu  Gesamtlehens  in 
nationalem  Rahmen. 

Von  Wichtigkeit  ist  dabei  zunäckät  die  wesentliche  oder  ausschliefsliche 
Betonung  des  inneren  Lebens;  am  entschiedensten  bei  Frejt^g  und  Burck- 
hardt,  aber  anch  bei  Biehl.  Bei  Frejtag  bilden  die  Snlaereii  Lebenereriialt' 
niese  nur  Staffage;  das  was  man  heute  WirtBehaftageadiichte  nennt,  faritt  &8t 
yOUig  zurflck,  wemn  man  aneh  z.  R  an  seine  Sdiildemng  der  germanischen 
Agrarwirtschaft,  des  niittelalterliGhen  Handwerks,  des  hansischen  Handels 
erinnern  darf:  aber  auch  ans  solchen  Partien  tritt  uns  in  der  Hauptsache 
doch  immer  der  Mensch  selbst  eut^gen.  Das  gemütliche  Leben  ist  es,  das 
Frovtuj::^  besonder!?  anzieht,  dieses  sucht  er  ans  seinen  Quellen,  den  Briefen, 
Tagebüchern,  Erzählungen  und  Berichten  in  erster  Linie  zu  verstehen.  Wie  sehr 
ferner  bei  Burckiiardt  die  Entwickeiung  der  Psyche  im  Vordergruml  steht,  ist 
bekannt.  Der  Schwerpunkt  seiner  Kultur  der  Renaissance  liegt  in  der  Dar- 
legung des  Durchringens  des  Menschen  zum  IndiTiduum.  DsSä  der  Indiri* 
dnalismus^  den  dieses  Zeitalter  entwickelt^  es  isl^  der  den  modernen  Menschen 
▼on  d<»n  Mittelalter  trennt^  diese  Erkenntnis  verdanken  wir  namentlieh  Burek- 
hardi  Aber  auch  bei  Biehl,  dem  *Staat»-  und  Volkswirt',  wird  man  niemal* 
die  üufscre,  die  wirtschaftliche  Entwickeiung  als  leitenden  Gedanken  finden. 
Sehr  charakteristisch  für  seine  Stellung  ist  eine  Aulsemng  in  seinem  Buche 
über  'die  deutsche  Arbeit'.  Auf  der  einen  Seite  weist  er  allerdings  darauf  hin, 
dafn  'alle  noch  no  scharfsinnigen  Beobachtungen  über  Sitte  und  Charakter,  über 
die  Psyche  einer  Nation  in  ihr  Luft  stehen  ohne  den  festen,  thatsiichüchen 
Boden  einer  jfenanen  Kuudo  von  ihrer  Arbeit  und  ohne  die  Erkenntnis  der 
Gesetze,  darnach  sich  die  nationale  Arbeit  entwickelt'.  Auf  der  anderen  Seite 
aber  stellt  er  sich  dodi  nieht  auf  den  Standpunkt  der  NatioiialBkooomen. 
Wenn  er  von  nationaler  Arbeit  redet,  so  mdint  er  'den  Einflnfii  des  Oesammt- 
Schaffens  eines  Volkes  auf  das  Herausbilden  seiner  Volkspersdnliehkeit*.  So 
bemerkt  denn  auch  Gothein  Über  jenes  Buch  zutreffend,  dab  in  ihm  wea^  von 
dem,  was  man  sich  bei  dem  Wesen  der  Arbeit  als  *d6ni  zentralen  Problem  der 
Volkswirtschaft'  denkt,  stehe,  wohl  aber  vieles  andere,  was  für  die  Psychologie 
des  deutschen  Volkes  von  Helanfr  ist.  Diese  ist  immer  sein  Ziel,  anch  zum 
Beispiel  in  seinen  ninsikgeschichtlicheii  .Studien.  — 

Haben  wir  in  dem  Begriff'  der  'Volkuseele'  bei  unseren  Autoren  die  Überein- 


')  Kultur  der  lleuaisgiuice  II*  8.  IUI. 
Ebenda  S.  108. 


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0.  SteinhanaeB:  Fnijtag,  fiureUittdt)  Bielil  und  ihre  AnfSMflUig  d«r  EttltUBeMiliichte.  4&5 

Stimmung  iti  Bezug  auf  den  zweiten  Teil  des  Wortes  konstatieren  können,  so 
mfinm  wir  aim  weiterlun  aber  «of  gewisse  Untersoliiede  in  Bezug  auf 
den  ersten  Teil  deeselben  hinweisen.  Volk  and  Volk  ist  nicht  dasselbe.  Und 
so  finden  wir  anch  in  der  That  ein  anderes  Volk  als  Objekt  der  Fonehong 

bei  Burckhardt  und  Frejta^  ein  anderes  bei  RiehL  Die  Gesamtheit,  die  Nation 
hat  Bnrckhardt  immer  im  Auge,  aber  im  Vordergmnd  seiner  Darstellung  stehen 
weitaus  die  fuhrenden  Schichten,  die  Gebildeten,  um  so  natürlicher,  als  es  sich 
bei  seinem  Hauptwerk  wesentlich  um  eine  groCsc  geistige  Ümbikhing,  um  einen 
liiidungsprc)''»'!^^  vou  weittmgeiuler  Bedeutimg  handelte.  Dem  entsprechen  seine 
Quellen:  es  i.st  die  dichterische,  die  Kunst  ,  die  gelehrte  Litt^ratur,  luich  der 
er  urteilt.  Umfassender  ist  Freytags  Vulk:  vom  Fürsten  bis  zum  Bauern,  den 
G«lelirten,  den  Kaufmann,  den  Tahrenden*,  alle  Schichten  sucht  er  uns  näher 
an  bringen.  Aber  der  Sdiweipnnkt  seiner  Sh^derong  liegt  in  den  mittleren 
Schichten;  ihrer  Hasse  ist  sein  Werk  doch  Tor  allem  gewidmet  Das  Leben 
in  den  kleinen  Kreisen  sieht  ihn  besonders  an.  Bei  Freytsg  tritt  der  Tjpns 
des  Diurchschnittsmenscben  zuerst  in  ToUkonunener  Erfassung  auf.  Und  seine 
Quellen  sind  daher  die  unmittelbaren,  die  spezifisch  kulturhistorischen,  Brief 
und  Tagebuch  vor  allem.  Litteratur  und  Kunst  gelten  ihm  mit  Recht  als  be- 
einüufste,  höchst  unsichere  und  vorsichtig  zu  verwertende  Quellen.  Indes  man 
merkt  Freytag  doch  amh  den  Gelehrten  »n,  den  germanistischen  Gelehrt^^n. 
Däh  niedere  ^'olk,  insDesondere  den  liauern,  kennt  er  nur  aus  der  Littenitur. 
Er  benutzt  freilich  gerade  die  abseits  vom  Wege  blühende,  diu  Kaieuder,  die 
Volkslitteratiir,  aber  seine  Quellen  bleiben  doch  littmuische.  Ans  dem  lebendigen 
Volk  schöpft  er  nidii  Hier  setzt  nnn  Riehl  ein.  Andi  ihm  bot  zwar  die 
Litteratur  abseits  von  der  grofiien  Heerstralse  riele  an  verwertende  Zflge  — 
ich  erinnere  an  seine  Stadien  Uber  den  Homaanischen  Atlas,  Uber  alte  Brief- 
steller, die  freilich  durchaus  nicht  das  Studium  der  wirklichen  Privatbriefe 
ersetzen,  alte  Volkskalender,  alte  Malerb&cher  u.  s.  w.  — ,  aber  die  Ffille  seiner 
Beobachtungen  schöpft  er  aus  dem  wirklichen  Volksleben,  mit  dem  er,  der  be 
geisterte  Fufswanderer,  in  steter  Berührung  ])lieb,  vor  iillem  aus  dem  länd- 
lichen Volksleben.')  Diesen  *unmitt4>lbarpn  Verkehr  mit  dem  \ Olke'  hielt 
er  vor  allen  Dingen  als  Sozialjiolitiker  für  notwendig,  und  alH  Sozialpolitiker 
hat  er  uns  auch  in  erstt^r  Liuie  das  deutsche  Volksleben  zu  zeichnen  vcr- 


*)  Cbanktemtudi  üt  eine  Stelle  mm  daii  Kultnntndien,  in  der  «r  gSReo  die  'ab- 
geleiteten Quellen'  rnancherlwi  dnwenflet  Wer  i  ine  Volkuiudivithmfität  tilfif?;  nach  ilen 
Materialien  darHt«lien  woll«,  wie  sie  ihm  diu  tiibliolbekvn,  Arcliivu  und  statiHtischeu 
Boreanx  bieten  kdonoa  (die  Archive  bat  liiulU  freilich  am  wcuigtiteu  benfltEt),  der  wOrde 
bAohateiifl  ein  Uappenidei  Skelett  xu  Stande  bringen,  kein  Bild,  das  Leben  atmet.  Dean 
t'CrJarf  er  der  iiiuuitti  lharen  Quellen,  zu  dereu  Aufsuchuni^  man  auf  den  eifrenen  Reim n 
durch«  Laind  geheu  muTi«.  'Doch  meinen  noch  immer  manche  (gelehrte  Leute,  wenn  Eiuer 
etwa  auf  einem  alten  Schweinsleder  eine  neue  Notiz  über  das  Voliulebeu  unserer  Urahnen 
Mtliipfizt,  «o  ioj  das  »HewUng»  Qnelleoforechiingf  wenn  aber  Einer  ein«  gleidi  wiciitige 
und  neue  Notiz  über  das  Volksleben  unserer  Zeit^jenosaeu  au«  der  »nmitt^  nfiiren  An 
icbauun)^  des  Leben«  mit  nach  Hause  bringt  ,  so  kOnno  man  dies  doch  nie  und  nimmer 
i^ellenforüchung  heifsen.'   Uiehl  Ündet  den  Unteracbied  nur  im  Schweinaleder;  mit  Unrecht. 


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456   Q.  8taiiüiaiueii:  Fraytog,  Barekburdi,  Sidil  und  Om  Auffiumng  d«r  Kultiurgeidiidit«. 

tneht  In  MSser  ▼«rehtte  er  *den  grofaen  Almherm  muerer  soBÜlpolitiniliaii 
Litteratnr',  *den  Propheten  der  sogEialen  Wüneneciiaft',  weil  er  zoent  *die 
nngehenre  Bedeutung  der  geedbichtiieh  fiberlieiaten  Sitte*  erkannte,  mil 
er  zuerst  das  Volk  ah  *ein  Kunstobjekt  m  behandeln*  Tvrelindy  weil  er  euMD 

'wunderbaren  Blick  für  die  Beobachtung  und  Erfassung  jeder  lebendig-n 
Realität,  für  die  Enthüllung  der  natürlichen  und  frei  wüchsigen  Gh-undstoffe 
im  Volksleben'  besafs.  \h  Aufgabe  der  Sozialpolitik  aber  fafste  Riehl 
eben  auf,  'die  Rücksichtnulime  auf  die  Volkspersonlichke  it  üii  zu  bahnen 
und  zu  regeln'.  So  kommt  es  denn,  dals  auch  für  seine  kulturge^bieht- 
liche  Auffassung  die  'Volkskunde'  die  wesentlichste  Grundlage  bildet.  Und 
nun  «rgiebt  wAi  für  Riehl,  geradeso  wie  für  Moser,  dem  der  Bauer  der 
eigentliche  Kern  dea  Volkes  war,  ah  wtehtigete  Tolksgruf^e  das  Lud- 
Tolk,  'der  gemeine  Mann*.  *Die  naiv  gesittete  Schicht  dee  Volkes,  der  Bauer 
nnd  Kleinbürger,  bildet  den  Untexgmnd  unserer  Kultur,  ans  welcher  wakM 
doch  alle  höhere  nationale  Bildung  cntspriefst.'  Für  ilin  ist  der  Bauer  die 
historische  Hauptquelle,  wie  sich  ja  aiuli  'dem  Auge  des  Naturforschers  der 
echte  dfutsclie  Baufei'  als  der  historische  Tjrpus  des  deutschen  Menschenschlages 
darstellt.'  Er  zoif^t  uns  die  Grundzüge  der  VolkspprsonlicbVtMf  ruhend,  ge- 
bunden, im  naiTeii  Instinkte  waltcml '  'Bauernarbeit  und  Bauerusitte  sind  dm 
Knochen ircrüöte  der  V'olksjicrsuiilu likt-it.'  — 

Man  sieht,  wie  sehr  die  Auftaäüung  vom  'Volk'  bei  unseren  grofseu  Kultur- 
historikem  diffmert  Und  diese  Diffsvens  hat  eine  weitere  Folge,  sie  beeia- 
flnfst  ein  Moment,  das  für  die  Anfibssong  von  einer  Volksseele,  von  eiosr 
VoDopersSnliehkeit  von  fgMbar  Wichtigkeit  ist,  nimlich  die  Art,  wie  jene 
sieh  das  Verhältnis  des  Einaelnen  aum  Ganaen  denken.  Wir  streifeii 
damit  jenen  gerade  in  der  jüngsten  Gegenwart  besonders  lebhaft  geführten  Streit 
über  individualistische  oder  kollektivistische  Geschichtsa ii flas^nng. 
In  dem  Referat,  das  v.  Srala  über  diese  Frage  auf  deui  Innsbrueker  Historiker- 
tag  liit'lt,  worden  freilich  unsere  drei  i^rofsen  Historiker  so  vollkommen  ignoriert, 
als  ob  sie  niemals  uxistiert  hätten,  während  gerade  sie  es  sind,  die  wegen  ihrer 
Auffassung  von  der  Volksseele  in  allererster  Linie  zu  betiachteu  gewesen  wären. 
Der  individnalistischen  Auffassung  steht  Burckhardt  verhältnismäisig  am  nächsteo. 
Man  weifs,  wie  sehr  a.  B.  Dante  im  Vordergrund  seiner  Darstelinng  stebi  Aber 
er  sagt  auch  einmal  folgoides:  ^Dantes  groOie  Dichtung  wSre  in  jedem  andern 
Lande  schon  deshalb  unmoglidi  gewesen,  weil  das  &brige  ESuropa  noch  unter 
dem  Banne  der  Race  lag;  für  Italien  ist  der  hehre  Dichter  schon  durch  die 
Ffille  des  Individuellen  der  nationalste  Herold  seiner  Zeit  geworden.'  Das  ist 
es,  such  ein  Dante  soll  bei  Burckhardt  im  Grunde  nur  seine  Zeit,  sein  Volk 
repräsentieren.  So  wollte  er  in  seiner  Zeit  fnnstaiitins  'die  b»'7eichneuden. 
wtsentlieb  charakteristischen  Umrisse  der  diimalig<Mi  W'i'lt  zu  einem  unschau- 
li(  lu  n  Bilde  sammeln'.  Eine  Oesehiehte  nur  der  Pers<">nlichkeiten  ist  ihm  dif 
Geschichte  schon  deshalb  nicht,  weil  sie  ihm  ein  grolses  geistiges  Continumn* 
ist.  Das  Typische  festzuhalten,  ist  die  Aufgabe.  Wie  fein  weifs  er  s.  B.  in 
der  *Zeit  Constsntins  des  Grolsen'  aus  der  Erörterung  aahlreidifir  Portiit- 


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0.  BtafnlitiiKni  Vnjimgt  BoreUuwdt,  Biehl  imd  ihr»  AnlRwnuig  4«r  KnltmgMdiidite.  467 


darst^llungen  djis  Merkmal  der  Degeneration  festznstpllen.  Es  ist  charakte- 
ristisch, wenn  er  zur  Darstellung  der  Lästersuchi  im  Italien  der  Renaissance 
den  grSlUen  liteterer  schildert,  den  Pietro  Aretino,  und  hümiftlgt:  *£tD  Blick 
auf  wem  Wesen  erspart  mui  die  BeaeUlftigung  mit  menftheii  Geringem  eeiner 
Gftttaag/  Den  Tjfm  wa  eduldern,  den  Einael&ll  i>jpi8ck  sn  verwerten,  dta 
ist  am  beaten  aber  Freyiag  gelungen.  Praktisch  Üet  er  &at  spielend  das 
Problem^  das  ihm  theoretisch  manchmal  Kopfschmerzen  machte,  das  Verhältnis 
zwischen  dem  Einzelnen  und  dem  Volke.  'Aus  Millionen  Einzelnen',  sagt  er 
einmal,  'he«teht  das  Volk,  in  Millionen  Seelen  flutet  das  Leben  eines  Volkes 
dahin,  aber  das  unbewiifste  und  ijcwufste  Zusammenwirken  der  Millionen  schafft 
einen  geistigen  Inhalt,  bei  wekhpm  der  Antheil  dos  Einzelneu  oft  för  unser 
Auge  verschwindet,  bei  welchem  uur  zuweilen  die  Seele  des  ganzen  Volkes  zur 
eeUMtschopferischen,  labendigen  Einheit  wird.'  So  eielit  er  naturgemüe  in  aUen 
grolaen  SchSpfongen  der  Volkakrafty  in  aogeatammter  Beiigioii,  Sitte,  Redit^ 
Staatabildnng  nicht  mehr  die  Beenltate  einielner  MSnnw,  sondern  *otganiecha 
Schöpfungen  eines  höheren  Lebens';  im  übrigen  aber  verläuft  ihm  'das  Leben 
einer  Nation  in  einer  nnaufhdrlichon  Wechselwirkung  des  (iun/xn  auf  den  Ein- 
zelnen und  des  Mannes  anf  das  Ganze'.  Er  ist  also,  imd  das  ist  der  allein  an- 
nehmbare Standpvmkt,  weder  einseitiger  Sozialist  noch  einseitiger  Individualist. 
Was  aber  Heine  Kunst  der  typischen  Menschenschilderung  anlangt,  so  verhehlt 
er  sich  nicht,  'daCa  die  Au&eichnungen  des  Einzelnen,  je  niiher  wir  der  Gegen- 
wart kommen,  desto  weniger  den  Eindruck  des  Gemeingiitigt  u  machen'.  Der 
historische  Einaelfldl  tritt  nun  bei  Biehl  am  allenneisten  snrttck.  Das  er- 
giebt  sieh  aber  einerseitB  ans  Miner  GeringBcUUsnng  nrknndlidier  Quell»!, 
weiter  ans  seinem  innigen  Verhftltnis  snr  niederen  YdksmaMe,  endü^  ans 
seinen  nationaldkonomisch- sozialpolitischen  Studien.  Nicht  als  ob  er  jeden 
stärkeren  EinfluTs  des  Einaelnen  leugnete.  Er  {)rei8t  z.  B.  einmal  die  'persön- 
liche Arbeit'.  *Sie  ist  eine  persönliche  That,  die,  fort  und  fort  geübt,  uns  selber 
immer  persönlicher  macht.'  Aber,  sagt  er  weiter,  ^der  Mensch  ist  nicht  blofs 
personlich  als  Einzelwesen;  auch  sein  Oemeinlehen  in  Familien,  Stander,  Stammen 
und  Völkern  gestaltet  sich  persönlich.  Wir  sind  iu  Gruppe  und  Gattuug  doch 
wieder  eine  moralische  Person,  denn  unsoe  freie  That  webt  mit  an  der  Ent- 
wickelnng  unseres  Gemeinlebens.'  In  den  Enlturstndien  meint  er  wieder:  *Wer 
die  QeseUschaft  natorgesehiditlieh  studiert,  der  will  sie  nicht  bloiB  in  ihren 
Omppen  und  Gattnagen,  in  ihren  Stinden  und  Berufen  untersuchen:  er  will 
anch  wissen,  wie  diese  sozialen  Sphären  anf  die  Persönlichkeit  des  Einzelnen 
zurückwirken.'  Er  hält  es  nun  ftir  sehr  schwierig,  in  der  Vergangenheit 
Einzelleben  wahrzunehmen,  aber  doch  für  notwendig.  'Die  zartesten  Lasuren 
würden  einem  historischen  Bild  des  so/.ialen  Lebens  fehlen,  in  welchem  von 
solch  persönlicher  Charakteristik  keine  Spur  zu  finden  wäre.'  In  Wahrheit  jedoch 
steht  bei  Kiehl  doch  das  Gattuugsleben  durchaus  im  Vordergrund,  der  Einzel- 
ftli  wird  tdir  seltm  Terwertei  Es  handelt  sich  imm«  um  die  GeseUseksit 
Hier  ificht  sieh  nun  aber  die  geringere  K»mtnis  jener  von  Frejtag  so  gut 
verwertetem  Quellen.   So  kommt  es,  dab  Biehl  ungeheuer  viel  Anregungen 

irtuJaMtdNr.  UN.  X  90 


468   C^.  SteiiduuMen:  Fnjtag,  Butelduurdt«  Bi«M  und  ilin  AnflhMiiiig  der  EultiiiyMehidil«. 


gicbt,  zahlreiche,  tretiVndc  allgemeine  Beohachtungen  uificht,  iibtr  der  wenigst 
historiach  fundierte  Kuituihistoriker  geworden  ist.  Das  ergiebt  denn  auch 
sofort  ein  Überwiegen  des  Urteils,  der  MeinungsäulBenmg,  des  Eintretens  fUr 
bestimmte  Ansdiftaungen. 

Wm  mt  \m  Freytag  and  BnreUiardt  i^flcUidierweiBe  nielit  haben ,  das 
baben  wir  bei  Biebl,  ein  Syetem,  nnd  daher  aneh  allmoft  hiatoriMhe  Kon> 
struktion.  Was  er  einmal  TOD  der  Volkskunde  sagt:  *Die  blolae  Kenntnis 
der  Thatsachen  des  Volkslebens  giebt  niemals  eine  Wissenschaft  vom  Volke^ 
es  mufs  die  Kenntnis  der  Gesetze  des  Volkslebens  hinzukommen  und  m 
einom  Orj^anifmiis  geordnet  werden',  das  mag  auf  st  ine  historische  Auffassung 
liiickseblüssu  erlauben.  In  der  That  erwuchs  ihm  die  Kulturgesphicht<»  nicht 
nur  *zur  Darstellung  der  gesauimten  Gesittungszustande  der  V  ölker  von  Periode 
zu  Periode',  sondern  auch  *zur  Ergrttndung  der  Gesetze,  nach  denen  die  öe- 
flittong  keim^  blObl^  ruft  und  abstirbt.  Er  edbat  hat  nnr  darauf  hingedeutet^ 
diese  Kultoi^sebidite  erschien  ihm  ak  die  Zukanftswissensohaft. 

So  kommt  es  auch,  dafs  Ottokar  Lorena  sich  gerade  Riehl  als  Vertreter 
der  Kulturgeschichte  ausgesucht  hat,  um  nicht  an  Riehls  eigenen  Leistungen, 
sondern  an  jener  Zukunftswissenschaft  seine  Kritik  zu  fiben.  Aber  die  Kultur- 
geschichte, die  jetzt  mehr  und  mehr  die  Forderung,  sich  als  selbständige 
WissenHchaft  zu  legitimieren,  auch  in  den  Augen  der  Gegner  erfüllt,  ^rird 
diese  Zukunftswege  hoflfentlich  nicht  wandeln.  Sie  bleibt  'Geschichte*,  so  gut 
■wie  die  politische  Geschichte;  sio  wird  aui"  dem  empirischen  Boden  in  dem 
Sinne  der  trefiflichen  Arbeiten  Burckhardts,  Freytags  und  Riehls  weiterarbeiten. 
Nur  in  diesw  Richtung  liegt  ihre  Zukunft  als  selbtri&idige  Wissensdtaft.  Wenn 
Bnrckhardt  1869  in  der  Vorrede  aur  sweiten  Auflage  seiner  *Kultar  der  Renais- 
sance' von  *der  gegen^rtig  in  w>  sdivun^bttftem  Fortsehritt  begrifiinien  Kultur* 
geschichte'  sprechen  konnte,  so  wird  man  dies  Wort  erst  recht  auf  die  jetzigen 
Studien  anwenden  können.  Es  ist  durchaus  wünschenswert,  dafs  die  politische 
und  die  Kulturgeschichte  sich  mehr  und  mehr  als  selbständige  Arbeitsgebiete 
trennen.  Wenn  Lamprecht  kürzlich  mcint«\  da  Cm  der  Streit  zwischen  dieser 
und  jener  jetzt  mehr  und  mehr  vor  tiefer  i  itt  ult  ii  metli odologischen  Erörte- 
rungen zurücktrete,  so  halte  ich  dies©  Enlwickehinp.  vorausgesetzt,  dals  sie 
wirklich  erfolj^t,  nicht  für  eine  dem  Fortschritte  auf  kulturgeschichtlichem  Ge- 
biete günstige.  Die  yon  mir  geleitete  Zeitschrift  für  Kulturgeechiehte  wird 
jedenfiUls  jener  Angabe,  der  Kulturgeschidite  mehr  und  mehr  ein  selbständiges 
Arbeitsgebiet  zu  sidimrn,  dienen  nnd  die  ^Traditionen  pflegen,  die  sieh  an  die 
drei  groben  Männer  anlmfipfen.  Mir  «seheint  als  die  nächstliegende  Au%abe 
jetzt  die,  mehr  als  bisher  die  spezifisch  kulturgeschichtlichen  Quellen  zu  er- 
schliefsen  und  der  Kulturgeschichte  das  umfangreiche  Quellcnmaterial  zu  sichern, 
dag  der  politischen  Geschichte  m*  1  mehr  zu  (Tcbote  steht.  Dieser  Aufgabe 
sollen  die  *Denkmäler  deutscher  Kulturgeschichte'  dienen,  deren  Plan  in  diesem 
Frühjahr  auf  dem  Nürnberger  Historikertag  von  mir  vorgelegt  wurde,  und  die 
hoffentlich  zu  einem  folgenreichen  Unternehmen  sich  herausbilden  werden. 


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HElNßlCH  VON  TBEiTÖüHKE  UND  SEmE  YOIILESUNÖEN 

ÜBEB  POLITIK. 

Von  HUMAM  TO«  PkimSDOBW. 

Ais  dem  deutsehen  Volke  am  28.  April  189$  H«i]irich  t.  Treitsclike  ge- 
nommen wurde,  da  fühlte  die  Nation  nehtlieh,  dafe  eine  Kraft  von  ihr  gegangen 
war.  Die  Worte^  die  man  allerorte  dem  Totm  ins  Grab  naehrie^  waren,  edbat 
w«m  sie  Ton  leidenechaftliehen  Oegnein  kamen,  onig  in  der  nneingeMhiinklen 
Bewnndemng  der  fiberreichen  Oaben,  mit  denen  der  EntschlaCme  ausgestattet 
geweaen  war.  Man  sammelte  sofort  für  ein  Denkmal,  das  ihm  an  der  Haupt- 
stätte seines  Wirkens,  im  Oartt'Ti  (kr  Universität  zu  Bt^rlin,  erritlitet  werden 
soll,  und  erwies  ilmi  damit  eine  Ehre,  wie  sie  so  sehnell  wohl  selten  einem 
Gelehrten  zu  teil  geworden  ist.  Sehr  bald  erschienen  auch  die  Anfänge  einer 
grolseren  Biographie,  indem  Theodor  iSchiemanu  sein  schönes  Buch:  'Heinrich 
T.  Treitechkes  Lehr-  and  Wanderjahre'*)  schrieb,  und  Paul  BaiJlen  lieferte  dunb 
die  TerOffenUiclrang  kötilicher  Briefe  TreitaGÜkee  in  der  ^Dentaehen  Bund- 
achan'  wertvolle  Banateine  an  dem  weiteren  Anaban  jener  Bi(^prtphie.  Erich 
loisegang  Teraaataltete  mflkerolk  Sanmdnngen  veratrenter  AnWae^  Anaprachen 
und  Rezensionen  des  Verewigten,  und  Otto  Mittelstadt  gab  Trdtachkes  Reichs- 
tagareden  heraus.  So  bot  sich  mannigfache  Gelegenheit  für  die  gebildete  Welt^ 
anfs  nene  Geist  und  GeniHt  an  dem  Lebenshome  zu  erquicken,  der  aus 
Treitschkes  hoheitsvoller  und  wurmfiihlender  Persönlichkeit  hervorstrcinite.  Zu- 
letzt ist  einer  der  Schüler  des  Meisters  auch  an  die  schwierige  Arbeit  ge- 
g-angen,  die  bedeuteudsten  von  Treitschkes  Vorlesungen,  die  er  in  Berlin  allein 
Ober  zwanzig  Jahre  regelmafsig  im  Wintersemester  gehalten  und  die  auf 
Tanaendfi  in  hohem  Mafiw  befinehtmd,  ja  die  geradezu  epochemachend  für  die 
politiadie  Bildung  der  jOngeren  Generation  gewirkt  haben,  die  über  Tolitik' 
heraosBugeben.  Der  erate,  Ueunrare  Band  denelben  aeit  emiger  Zeit 
mr.*)  Ei8  la&t  aidi  annehmen,  dafa  die  hier  der  grofsen  öffimtlichkeit  an- 
gjftnglich  gemachten  Gedanken  eine  ähnliche  Wirkung  haben  werden  wie  zu 
jener  Zeit,  da  sie  im  Berliner  Ihirsaal  ausgPsprnoheTi  wurden.  Fehlt  zwar  die 
Ff'ile,  die  der  grofse  Stilist  an  dem  Ganzen  zweifellos  noch  sehr  vielfach  an- 
gelegt haben  würde,  falls  er  selbst  die  Veröffentlichong  hätte  besorgen  können, 

*)  Mflnehen  u.  Leipzig  18<J6,  Oldenbomg,  t70  8. 

'j  Politik.  VorleniBgen  gehalteu  au  der  Univcrsitllt  zu  Berlin  von  Heinrich 
V  Treitsclike.  Henraagegebea  Toa  Max.  Conioeliui.  Erster  Baad.  Leipaig  1887,  8.  JHirzel, 


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460    H.  V.  Peiendotff  i  Hekurich  t.  Tmt««shk6  und  »tSne  VorlMrangto  über  Politik. 

fehJt  auch  die  lebendige  Wirkunfr  des  aus  der  Tiefe  eines  herrlich  reichen 
Herzens  stromenden  Worts,  so  ist  doch,  üowuit  wir  es  ermessen  können,  die 
Wiedergabe  dieser  Reden  an  die  deutsche  akademische  Jugend  im  allgemeinea 
mit  der  grdfstmögUchen  Treue  geschehen,  und  der  Leser  ist  insofern  im  Vor- 
teil TOT  dam  HSrer,  als  doch  nnr  die  wemggton  Besucher  des  KoU^  den 
ohnehm  nicht  ganz  laiclit  so  Terstehenden  Vortrag  Tteitsdbkes  in  diesor  Voll- 
standi^eit  und  Geschlossenheit  in  sich  hahon  anlhdimeD  können. 

Treitschkes  Hauptwerk  ist  ohne  Frage  seine  fdnfbändige  Deutsche  Ge- 
schichte. Aus  Bemhardis  Tagebucbblattem  (VI  265)  und  mm  den  ▼(m  Baülen 
mitgeteilten  Briefen  haben  wir  neuerdings  erfahren,  dals  die  Anßnfrp  seiner 
archivali sehen  Studien  im  Berh'ner  Archiv  zu  diesem  Werke  bereits  iu  die 
Ostertage  des  Jalires  18ü(3  hineinreichen.  Aber  erst  im  Frübjnhr  1870  er- 
schien der  erste  Band.  Bis  zimi  Jaiire  1894,  in  anderthalb  Jahrzehnten,  sind 
dann  vier  weitere  gefolgt.  Das  Erscheinen  eines  jeden  dieser  wuchtigen  Bände 
war  in  gewissen  Sinne  ein  politisches  Ereignis.  Die  stattliehen  Auflagen  der- 
selben wurden  immer  an&  neue  Tergriffan.  Moditen  auch  hn  Ausübe  des 
ersten  Bandes  Tide  kritisch  angelegte  ESpfe,  die  Trdtsclike  nidit  luher 
kannten,  Aber  den  Schönredner  gespottet  haben:  als  die  fblgendea  heraus- 
kamen, mufsten  die  Spottreden  angesichts  der  Fülle  neu  gehobener  archiva- 
lischer  Schatze,  des  reichen  Wissen«  und  der  Sicherheit  des  Urteib,  mit  dem 
der  VerfrtH-ü'r  tiuftrat,  verstummen.  Das  Werk  kann  mit  Fug  ujul  Recht  als 
das  Lebenswerk  Treitschkes  angesehen  werden.  In  ihm  hat  er  sein  gau^u^s  ge- 
waltiges Konneu  zusammengefalst.  Un(i  doch,  wie  viel  fehlt  noch,  um  den 
Wert  dieses  Mannes  zu  ermessen,  wenn  man  üm  nur  aus  diesem  reifen  und 
abgeUSrieo  Werke  kennt!  Ja  selbsl^  wenn  man  mit  seinen  Nehenwerken  Tar- 
iraut  ist,  den  vier  starken  Binden  historischer  und  politischer  Aufintee,  von 
denen  Band  I — III  in  fftniler  Auflage  ▼<»rliegen,  der  sweibindigen  AnfiMti- 
Sammlung  Deutsche  ifämpfe  und  dem  Bandchen  Rcichstagsreden,  so  kennt  man 
Treitschke  doch  nicht  genügend.  An  ihm  »elber  hat  sich  nur  zu  sehr  bewahr^ 
heitet,  was  Treitschke  öfter  ausgesprochen  hat:  *Man  darf  dreist  sagen:  alle 
grofsen  Miirner  der  G<'S(hichte  waren  grölser  als  ihre  Werke,  keiner  konnte 
jede  Gabe  seines  W  esens  ganz  entfalten.' 

Sein  Wesen  ist  vornehmlich  zweigestaltig  gewesen.  Lebt^  in  ihm  auch 
ein  stark  dichterisches  Gemüt,  so  war  er  doch  vorzugsweise  Historiker  und 
Politiker  sogleidh.  An  der  Hand  seiner  Nebenwerke  verfolgt  man,  wie  seine 
Geechiehtswerke  emporwachsen,  und  zn|^eicih  wie  seine  polittsdieii  Ideen  sich 
entwickehu  Das  Ton  ihm  geplante  Wak  Uber  Politik  bitte  diese  polittsdien 
Ideen  zusammengefafst,  wie  die  fünf  Bande  deutscher  Geschichte  seine  ge- 
schichtlichen Forschungen  vereinigen.  Es  würde  sicherlich  gleichwertig  neben 
der  Deutschen  Geschichte  dastehen.  Die  auTserordentliche  philologische  Arbeil^ 
die  Max  Comicelius  ilurcli  die  TTerausgabe  der  Vorlesungen  über  Politik  ge- 
leistet liat,  um  annähernd  das  festzuhalten,  was  Treitschke  in  seiner  reifrten 
Zeit  iU)er  Politik  dachte,  ist  darum  gar  nicht  genug  anzuerkennen. 

Man  kann  sagen,  daTs  in  Treitschke  immer  der  Historiker  mit  dem  Poii- 


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H.  V.  Petendorff:  fieiarioh  v.  Treitachke  and  seiue  Vorlemogen  Aber  Politik.  461 

tiker  nm  den  Vorrang  kämpfte.  In  diesem  Kampfe  liegi  vielleieht  eine  Sohiroehe 
Treiiaclikiee  begrOndei  Er  bat  aber  auch  die  ganae  Bigeoarfc  des  Abimes  sur 
gdiSnalan  EntUtong  gebneihi   Cfliaiaklerislisdierweifle  sollte  TreilacUce  schon 

sehr  früh  dem  Lessingsclien  Worte  Bei&Il:  *Im  Grunde  könne  ein  jeder  nur 
der  Geecbicbtsschreiher  seiner  eigenen  Zeit  sein.'^)  £r  erklärt  diesen  Aus- 
spmcli  seines  grol'sen  Landsmannes  damit,  dafs  diesem  die  Vorzüge  des  zeit- 
genössischen Geschichtachreihers,  seinen  Menschen  bis  in  Herz  und  Nieren  zu 
blicken  und  \'ino  Macht'  zu  werden  unter  den  Lebenden,  ßcUwerer  zu  wiegen 
aciuenen  als  alle  Vorteile  archivalischer  Forschimg.  Treitschke  ist  allerdings 
*eine  Macht'  unter  den  Lebenden  gewesen,  er  war  aber  aach  zugleich  ein 
Foraciber,  der  wie  wenige  in  die  Tiefen  der  Ärduve  gestiegen  ist  Sr  bat  an 
sieh  aelbst  die  grolee  Wahrheit  ^robt,  die  in  seinem  Worte*)  U^:  *£in 
grofser  Schriftsteller  ist  nor,  wer  so  schreib^  daJb  alle  Volksgenossen  empfinden: 
BO  mufs  es  sein,  so  fühlen  wir  alle;  wenn  er  im  Stande  ist,  ein  Mikrokosmus 
seines  Volks  zn  sein/  Das  hat  er  gefühlt,  wenn  er  einen  seiner  fünf  Bande 
deutscher  Geschiehte  der  Öffentlichkeit  übergehen  hatte,  das  hat  er  gelesen  in 
den  Augen  foiner  Zuhörer  in  der  4'oiitik'.  Er  war  diinn  von  jenem  freudigen 
Stolzgefühl  beseelt,  das  er  in  die  Worte  kleidet:  'Wenn  ich  etwas  thue,  dafs 
alle  meine  Freunde  s^en:  das  war  Er,  nur  Er  konnte  und  mulate  ao  handeln! 
dami  habe  ich  etwas  gethan,  was  zugleich  die  freieste  und  innerlich  not- 
wendigste Thftt  war.*^ 

Er  fant  mmbttssig  an  seinem  stllnnischen  NatoreU  gearbeitet  nm  an  eniem 
gerediten  Urteil  m  gelangen,  nnd  nnmrmfidlich  geforseb^  nm  seiner  Wahrbeits» 
liebe  TO  genügen.  Deshalb  bat  er  öfter  sein  lilstorisches,  noch  mehr  aber  sein 
politisches  Urteil  in  einzdnen  nicht  unwichtigen  Punkten  genr  Ii  i  t  Er  vollzog 
diesen  Wechsel  der  Meinung  mit  einer  rücksichtslosen  OflFenheit.  Denn  für  ihn 
galt  der  Satz^j:  Meder,  der  innerlich  an  sich  weiter  arbeitet,  wird  in  die  Lage 
kommen  sich  selbst  zu  widersprechen,  etwas  zurückzunehmen,  was  er  früher 
geglaubt  und  behauptet  hat.  Bedeutende  Naturen  thun  das  ganz  unbefangen, 
mittelmäfsige  fürchten  sich  davor.'  £iu  andermal  macht  er  die  treffende  und 
ihn  nickt  minder  beeelctoiende  Bemerkung:  *Die  Politik  des  Bekenntussea 
schwelgt  im  Geonb  der  eigenen  Ghrdliie,  indem  sie  ihre  Glanbenssätse  mit  der 
Seeleumbe  des  kiichlidien  Sßrtyrers  unabänderlich  vom  Blatt  abliest;  die 
Politik  der  That  besebeidet  sidi,  dem  Vaterluide  ein  wenig  zn  ntttzen.'*) 

Von  Treitschke  stammt  ancb  das  schone  Wort:  ^Heil  jenen  starken  ein- 
seitigen Naturen,  welche  willig  an  der  Breite  ihrer  Bildung  opfern,  was  sie  an 
Kraft  und  Tiefe  tausendfältig  wiedergewiinn  ri!'^!  Wollte  man  es  auf  seinen 
Urheber  anwenden,  so  würde  das  doch  nur  sehr  zum  Teil  richtig  «ein.  Ein- 
seitig war  er  vielleicht  nur  in  seiner  Geltendmachung  des  deutschen  Stand- 
punktes. Er  hat  aber  Breite  der  Bildung,  Kruft  und  Tiefe  in  einem  ungewöhn- 
lichen Ma£se  in  sich  vereinigt  Wenige  Menschen  wird  es  gsbettj  die  nicht  die 


*)  Bist  o.  pol.  Aufsfttze  I  71.      •)  PoUtik  S8.    '  ■)  Fol.  9.      *)  WL  19». 

^  Hittw  ti.  pol.  Aiift.  n  m      ■)  Hirt.  n.  pol.  Aub.ll  SM.      *)  Bist  u.  poL Anft. m 81k 


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462    H.  V.  Petondorff:  Hdnricb  v.  TreitMUc«  und  «eine  ycdmmgm  Über  PoUtik. 

gewaltige  Fülle  seines  historiscben,  politischen,  juristischen,  nationalökono- 
mischen,  litterarischen  Wissens  anstauneu.  Er  hat  sich  nicht  nur  in  die 
Schätae  der  Idtteratnr  seines  eigenen  YoUces  tief  hineinTersenkt,  sondern  auch 
in  die  der  Franaoeen,  der  Italiener^  der  Eng^faider.  Er  war  ein  gleich 
▼ollendeter  Erklirer  des  Qoethe  wie  des  Shakespeare,  er  wufste  die  poli- 
tisclieii  Schriften  eines  Tocqueville,  eines  Grotias,  eines  MaduaTcUi,  eines 
Pufeodorf,  eines  Miiton,  ja  selbst  einzelner  Jesuiten  mit  gleich  groAwr,  doreh 
genmicst/"^  Studium  gewonnen(»r  Klarheit  zu  würdigen.  Er  wufstt!  sozusagen  in 
jedem  Winkel  des  grofsen  deutschen  Ileicliö  Bescheid.  Die  wesnr  türhste  Grund- 
lage seiner  Bildung  hat  dieser  Herold  des  Deutschtums  sich  aber  durch  das 
Studiani  der  Alten  gegeben.  Er  hat  gefunden,  daik  dasselbe  die  Wirkung  eines 
Stahlbades  für  den  Geist  hatte  und  ist  nicht  müde  geworden,  seinem  materiellen 
Ztttalter  den  Wert  der  Uaesisdien  Bildung  su  predigen.  Einer  seiner  Haupi- 
lieblinge  ist  Aristoteles  gewesen,  in  dem  er  wie  nur  einer  zu  Hanse  war. 

So  bildet  denn  auidi  die  Tolitik'  des  Aristoteles  geradesn  die  Grundlage^ 
auf  der  Treitsehke  sein  politisches  System  aufgebaut  hat.  Vieles  verdankt  er 
aweifellos  seinem  verehrten  Lehrer  Dahlmann,  femer  Hwder,  Kant,  W.  v.  Hum- 
boldt, Hegel,  Goethe,  zu  dessen  besten  Dolmetschern  er  ohne  Frage  gehört  hat^ 
und  mancher  guten  Einzelschrift.  Eine  wichtige  Quelle,  die  seine  Gedanken 
über  die  Politik  beeinflufst  hat.  ist  aufserdem  die  Bibel.  Während  er  in  den 
ersten  Abbchnitten  der  Politik,  die  über  den  St^atsbegriff  und  den  Zweck  des 
Staates  handeln,  wesentlich  auf  Aristoteles  zurückgeht,  kommt  er  im  dritten 
Paragraphen  (Das  .YttMItnis  des  Staates  aum  SittMigeaets)  au  emeit  tiefdnrch- 
dachten  Ameinanderselniog  mit  der  christliclieii  HoraL  Der  Staat  ist  Sun  das 
reohilieh  ab  unabhSngige  Hacht  geeinte  Volk.  H6rt  der  Staat  tat,  eine  un- 
abhängige Macht  darsnstellen,  so  ist  er  ftlr  Qm  nur  nodi  ein  Sdieinstaai  Die 
Treitschkcsche  Auffassung,  die  er  von  Machiavelli  übernommen  hat,  dafs  der 
Staat  Macht  ist,  wird,  wie  man  wohl  annehmen  kann,  den  Taut^enden  seiner 
Zuhörer  in  Fleisch  und  Blut  übergpL^aniren  sein.  Ein  Spiel  mit  Worten  ist  es 
für  Treitsehke,  wenn  man  von  einem  Bienenstasite  spricht.  Denn  als  Haupt- 
merkmal des  Staates  findet  er  den  bewufsten  Zusammenhang  der  Gegenwart  mit 
der  Vergangenheit,  das  Gefühl  der  nationalen  Ehre  heraus.  *Das  Tier  wiederholt 
nur  bewuTstloe  was  immer  war.'  Eine  l^rage  wie  die:  *Wer  würde  Ehrfurcht 
haben  vor  den  Fahnen  eines  Staates»  wenn  die  Hadit  der  ErinneruDg  nicht  lebendig 
fortlebte?")  begründet  schlagend  Treitaehkes  Ansidit.  Die  nationale  Ehre  ist  ein 
Qut,  das  Ober  allem  IVeia  steht^  und  was  fiber  aUem  Preis  eibaben  steint  das 
hat,  nach  Kant,  *eine  Würde^  Die  Strahlen  des  göttlichen  Lichta  zeigen  sich 
nnendlich  gebrochen  in  den  einzelnen  Völkern.  Darum  hat  jedes  Volk  das 
Recht  zu  glauben,  dafs  gewisse  Kräfte  der  göttlichen  Vernnnft  gerade  in  ihm  am 
schönsten  sich  darstellen.  Diese  Kräfte  möglichHt  zur  Entfaltung  zu  bringen, 
ist  die  Aufgal)e  des  einzelnen  Staats,  der  die  allerrealste  juristische  Personbch- 
keit  darstellt,  wie  es  der  Beruf  des  einzelnen  Menschen  is^  seine  Individualität 


1)  Fditik  14. 


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B.  V.  f  etendoiff:  Heiiiridi  v.  Treitscbke  und  aeine  Voil«MmgeB  üb«r  Politik.  463 

moglichsi  annabUden.  üm  aeineii  Aufgaben  m  genügen,  hat  der  Siwit  ni- 
nichst  das  Recht  za  pflegMi  nad  Krieg  sn  fDlireit.  Die  Darlegimgeii  Aber 
dieaa  sweite  Fünktion  gebfiren  %a  dem  KfÜuuteo,  aber  auch  sa  dem  Wahnleii^ 

was  zur  Rechtfertigung  des  Krieges  gesagt  worden  laL  Ffir  gewiwe  schlaffe 
Zeitrichtungen  sind  »ie  eine  kräftige  Arznei.  Kllblkf  aber  cbei^fellB  Vahr,  ist 
die  Apologie  der  MachiävelliHchtii  Ltlirt',  dio  er  auch  in  einem  besonderen  Vor- 
trajje^')  unternommen  hat:  *^Der  Staat  int  Macht.  Denn  dn^  ist  die  Wahrheit; 
und  wer  nicht  männlich  genug  ist  dieser  Wahrheit  ins  (jisiclit  zu  scheu,  der 
BoU  seine  Hände  lassen  von  der  Politik.'  Augesichta  der  Konsequenzen  dieses 
Satzes  hat  sich  Treitschke  zweifiallos  unter  schweren  inneren  Kämpfen  zu 
seiner  Erkenntnis  bindarchgerungen.  Als  er  in  jungen  Jabrm  seinen  Anftats 
über  die  Freiheit  niederschrieb,  da  oiSanbarte  er  sidi  ab  dnen  stflrmiscben 
IVeigeisi  Spater  ist  er  anders  gewordnu  Br  mft  gelegentlich  ans:  *So  dend 
ist  keineri  dab  er  im  engen  Kämmerlein  die  Stimme  seines  Gottes  nicht  Y«r*- 
nehmen  konnte"),  und  er  gesteht:  *Ieb  habe  das  Walten  der  Vorsehung  in  den 
groJsen  Geschicken  meines  Volk«  wie  in  den  kleinen  Erlebnissen  des  Hauses 
dankbar  empfunden  und  fühle  stärker  als  sonst  das  Bedürfnis  mich  demütig 
vor  Gott  zu  beugen.")  Darum  crgriumite  er  aber  über  das  *Tugeudkosiiken- 
tuiu',  das  so  unendlich  moralisch  in  Worten  ist.  ^Wer  sich  tief  unglücklich 
gefühlt  hat^  wer  einmal  geglaubt  hat,  aus  dem  inneren  Jauuner  garnicht  hcraus- 
inkomnum,  kann  enm  Mensehenfeind  werden,  wenn  er  seine  TrSetor  hört.'*) 
Folgerichtig  stellt  er  den  Sats  auf,  dab  der  Staatsmann  sieb  nicht  immer  an 
das  Sittengesets  binden  kann.  *DaB  eben  ist  das  Schwere  nnd  Tiebinnige  im 
menschlichen  Leben,  dafs  es  in  der  FQUe  von  Verpflichtungen,  die  jedem 
Menschen,  weil  er  verschiedenen  Genossenschaften  angehört,  obliegen,  ohne 
KoUisionen  dieser  Pflichten  garnicht  abgehen  kann.")  Wiederholt  hat  er  ge- 
sagt: 'An  den  rauchenden  Trümmern  des  Vaterlandes  sich  die  Hände  warmen 
mit  dem  behaglichen  Sellt  tl  b:  ich  habe  nie  gelogen  —  das  ist  des  Mönches 
Tugend,  nicht  des  ht^iatsuiaiines.'')  Richtig  bemerkt  er  aber  auch,  dal'a  sich 
unzahlige  Konflikte  zwischeu  Politik  und  Moral  bei  näherer  Betrachtung  als 
Konflikte  zwischen  Politik  und  positivem  Bedit  erweuen.  *Da8  ^Mitive  Beeht 
eher  ist  Hensobenwerk,  es  kann  Ton  Tomherein  nnTcmflnllig  sein*^,  and  «war 
mnb  sieh,  da  alles  in  stetem  Flnb  isi^  das  sommum  ins  summa  iniuria  immer 
▼on  neuem  wiedeibolen. 

Indem  er  auf  Entstehung  und  Untergang  der  Staaten  zu  sprechen  kommt^ 
greift  er  wieder  auf  Aristoteles  zurück,  der  mit  seinem  naiven  Ausspruche,  der 
Staat  sei  eine  Kolonie  dos  Hauses,  das  Rechte  getroffen  habe.  Über  diesem, 
hauptsächiich  der  Kolonialpolitik  gewidmeten,  besontk'rs  beredten  Abschnitt 
hegt  etwas  von  stiller,  tiefer  Besort^nis  um  die  Zukunft  des  deutschen  Volkes, 
*£ä  ist  sehr  gut  denkbar,  dafs  einmal  cm  Land,  das  keine  Kolonien  hat,  gar- 


')  Das  poUtUcho  Königtum  des  AntimacchiavelL   Hiat.  u.  pol.  Aufa.  IV  424—438. 
^  Dentaefae  Klmpfe  I  496.     ^  DeotMhe  XIaiiife  I  SU.     *)  Politik  9S. 
*)  PofitOc  100.     •)  Hbi  a.  pol.  Acb.  n  S66.  Politik  110.     *}  Politik  98. 


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464    U.  V.  Petendoxff:  Heiiirich  t.  TrdtMlike  nnd  Mine  Vorlamuigm  Aber  Politik. 

nioht  mehr  m  dffii  enropSiaciieii  Chrofinn&eliteB  dUen  wird,  lo  michtig  es  aomi 
sein  mag.  Daram  dürfen  wir  nicht  in  jeaea  Ziutand  der  Erstammg  kommen, 
der  die  Foige  einer  rein  festländisohen  Politik  ist'  Wenn  die  geennde  Ent* 

Wickelung  des  Staates  stockt,  so  lehrt  Treitschke  weiter,  stellt  sich  nnraOen 
die  NotwMidigkeit  von  Revolutionen  heraus.  Die  legitimsten  Staaten  wnneln 
irgendwie  in  einer  Revohition.  Man  kann  kaum  ein  treuer  Preufsc  sein, 
will  man  sich  zum  hedinguiigalosen  Anwalt  des  Legitimitätsgedankens  aof- 
werfeii.  Der  BegrilF  der  Legitimität  ist  übrigens  erst  von  einem  Manne  auf- 
gübraclit,  in  dessen  Munde  er  gar  nicht  ernst  genommen  werden  kann,  von 
Talleyrand.  Treitflchke  verweist  auf  den  Ausspruch  des  alten  Yenetianers 
Sanoto:  ^Wie  es  kein  Gold  giebt  in  Toller  Reinheit,  so  giebt  es  «och  keine 
Regierung,  der  nicht  irgend  eine  XJsarpatLoB  anhaftet'  l^e  Rerolntion  ist 
immer  ein  Unrecht,  aber  ohne  tragische  Schuld  kann  auch  hiatoriachea  Leben 
gHr  nicht  gedacht  werden.  Im  letzten  Abschnitte  des  ersten  Buches',  der 
^Regierung  und  Regiert<:'  überachneben  ist,  verwirft  Treitschke  die  Lehre  TOn 
der  Volkssonveninität.  AJs  souverän  gilt  ihm  nur  der  Staat.  Wenn  man  ewig 
dauernde  T^irteien  zu  konstruieren  sucht,  so  bezeichnet  er  das  als  Schrulle. 
Abermals  stützt  er  sich  auf  seinen  Aristoteles,  indem  er  den  Begntt  der  *Frei- 
heit'  feststellt.  Wie  er  aus  dem  Recht  der  PersÖuliclikeit  heraus  die  Not- 
wendigkeit d«r  Abschaffung  von  Sklaverei  und  Leibeigenschaft  folgert,  so  folgert 
er  daraus  auch,  dafii  geistliche  Orden  nur  gams  aunudmiBweiae  gestattet  werden 
dOrften,  weil  Hdnche  und  Nonnen  *sich  ihrer  Persdnlicbkeit  b^ben*.  Hdohat 
fruchtbar  können  die  im  Ansehliifa  hieran  entwickelten  Gedanken  über  das 
Preffwesen  wirken.  Das  positive  Recht  des  Widerstandes  leugnet  er  direkt 
nnd  eifert  gegen  die  Halbdenker,  die  es  konstruieren.  Sogar  die  von  ibm  selbst 
80  gefeierte,  weil  tistorisch  gerechtfertigte  Tliat  der  Göfctinger  Sieben  bezeichnet 
er  unverhohlen  als  im  formalen  Hecht  nicht  begründet.  Damit  schlie&t  daa 
erste  Buch  der  Politik  vom  'Wesen  des  Staates'. 

Im  zweiten  Buche  erörtert  Treitschke  die  sozialen  Grundlagen  des  Staates, 
indem  er  Land  und  Leute,  Familie,  Rassen,  Stämme  und  Nationen,  Kasteo^ 
Stande  und  Blassen,  die  Religion,  die  Yolkabildung  und  die  Volkawirlsdiall 
in  geaonderten  Absdmitten  betrachtet  HScbst  glflddich  legt  er  gegen  BncU« 
dar,  da&  dieser  illschlidi  Knltorbedinglheit  gleichstelle  einer  ▼dlligen  iJb- 
Uingigkeit  der  Kultur  von  der  Bodcnbeschaffenheit. ')  Themistokles  hätte  mehr 
Recht  gehabt,  als  er  sagte:  'Nicht  das  Land  hat  den  Menschen,  der  Mensch, 
hat  das  Land.'  Er  weist  auf  die  Dänen  in  Island,  die  Balkanhalbinsel  zur 
TTellenen  und  zur  Türkenzeit,  die  Wald  Verwüstung  der  Frap/osen,  die  Feuchtig- 
keit des  alten,  waldbedeekten  Deutschland,  den  handelsarmen  Mississippi  zur 
Zeit  der  liothäute,  überhaupt  auf  den  Beruf  der  europäischen  Kasse,  sich  lUa 
Land  dienstbar  zu  machen,  hin.  Grimmig  wendet  er  sich  gegen  die  Lehre  von 
der  Grappenehe  und  vom  Hvtterredit*)  sowie  gegen  die  Franenemanzipation. 
HScbst  fein  irt  die  GharakterisierDng  der  RoU»  der  Weiblichkeit  in  den  ter- 


>)  Poutik  wi.    >)  nditik  m 


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H.  V.  P«tendorff:  Heinndi  v.  Treiisebke  und  Mine  Vorlflsang«!!  Aber  Politik.  465 


flduAdenMi  Ländern  und  zn  den  verschiedenen  Zeitmi.  TreitHebke  findet  in  der 
Thatsachfl^  dab  ea  Tiele  bedenkende  Herxedierumen  gegeben  bat^  dnidbauB  keinen 
Beweis  flür  die  Tan^ßicbkeii  der  Fran  eu  obri^itlicben  Imtero.  Manohnial 

wird  er  vielleicht  nicht  ganz  geredii  in  der  Würdigung  der  geistigen  FSbi^ 
keitNi  der  Frau  sein.  Aber  es  liegt  etwas  Erfrischendes  darin,  wenn  et  in 
seiner  Originalität  sagt:  *Hier  luufs  man  den  Mut  haben  grob  v.n  sein.  Wenn 
die  ganze  Rlanjjfrinnpflifteratur  mit  eins  verschwände,  so  wäre  die  Welt  um 
nicht»  ärmer  geworden.'  Auch  der  Gegner  wird  reiche  Anregung  aus  den 
hierher  gehörigen  Ansfllhruugeu  entnehmen  können.  Trcitachke  findet,  dafs 
die  Stärke  der  Frauen  lediglich  im  Empfiangen  und  Verstehen  der  Männerarbeit 
liege,  und  dab  aueb  in  der  Littexatnr  die  liebenewllrdigen,  edit  weiblidien 
Nafauen  wie  s.  B.  Bettina  diejenigen  sind,  welche  wirUidi  Terstehen  k5nnea 
Über  die  Ehe  sieh  verbreitend,  spricht  er  sidi  ffir  die  &kii)iative  Zivilelie  ans, 
die  er  in  lr(lb«mi  Jahren  scharf  abgelehnt  hat') 

Interessant  ist  es,  was  er  über  die  Fähigkeit  der  einzelnen  Völker  aiir 
Staatsbildung  sagt.   Er  meint,  dafs  die  in  dieser  Beziehung  begabtesten  gerade 
stark  gemischt  gewesen  wären,  wio  die  Römer  und  Engländer  im  Gegensatz  zu 
Arabern  und  Juden.   Auch  die  remgermauische  Bevölkerung  in  Hessen,  Hanno- 
versch-Niedersachsen,  Friortland,  Westfalen,  dem  nördlichen  Thflringen  hätte 
weniger  staatsbildeude  Kraft   bewiesen.    Diese  hätte  mehr  in  dem  keltisch 
gemischten  sfldlichen  Deatsohland  nnd  in  dem  slawisch  gemisehtm  Nord- 
deatschUmd  bemhi  T^Uurend  er  die  Bekämpfting  der  pobuschen  Sprache  in 
Posen  fOi  gersdit£Bri%l  hili,  tsdelt  er  bei  der  russischen  Begierong  die  ge- 
waltsame Uaterdrllckimg  des  treoMi  mid  nm  den  nusischen  Staat  hochTMdienten 
Baltentums.    Langer  verweilt  er  bei  Besprednmg  der  österreichischen  und  der 
Judenfrage,  die  ihn  auch  sonst  viel  beschäftigt  haben.   Er  sieht  schwarz  in  die 
österreichische  Zukunft  und  beurteilt  das  dortige  Deutschtum  sehr  hart.  *E8 
giebt  nur  zwei  Striche  dort  (in  Ungarn),  wo  sich  das  Deutschtum  edel  und 
tapfer  gehalten  hat:   Siebenljürgens  Hchönen  Sachsenhmd^   beseelt  von  einer 
geradezu  rührenden  Liebe  zu  uns,  dafs  man  immer  traurig  wird  in  dem  Be- 
wnTstsein,  dem  armen  Völkchen  nicht  helfen  m  können.    Hier  ist  aber  die 
deotsdie  Knltnr  so  stsrk,  dals  man  hxsßun  kann,  sie  wird  sich  behanpten. 
Dss  Gleiche  gilt  von  den  protestsntisdien  DeotBchen  im  Bsmstew  Die  fibrigen 
Oeatschen,  ftst  dnrdiweg  katholiach|  sind  die  tnoiigsten  Bxemplare  genna- 
nischcr  Rasse,  die  es  giebt  . , .   Dam  die  traurige  Wahrheit,  dafs  auch  in  Cis- 
leithanien  das  Deutschtum  nur  noch   mit  gebrochener  Schwinge  lebt.  Die 
schöne  deutsche  Kultur  des  mittelalterlichen  Wien  ist  längst  wieder  verschüttet.* 
Von  den  Juden  bemerkt  er:  *Die  Mehrzahl  von  ihnen  behiilt  die  angeborene 
Eigenart  unerschütterlich  an  sich  nnd  trägt  die  fremde  Nationalität  tnir  wie 
einen  Mantel.    Daher  denn  die  bekannte  Thatsuche,  dafu  die  moderueii  .huien 
nur  in  einer  einzigen  Kunst  eine  wirkliche  Genialität  zeigen,  in  der  Schauspiel- 
kmtsi   Das  Anempfindeu  dbne  eigene  innere  SelbstimUgkeit  ist  immer  eine 


*)  Dentaebe  EKmpfe  I  US. 


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466    U.  V.  Petendorff:  Heinrich  v.  TreiUchke  und  seine  Vorlemingen  über  Politik. 

Stftrke  der  jfldiBduni  Litteratur  gewesen.*  Ee  folgt  ein  grdeertiger  ÜberbUek 
fiber  die  weligescliichtliche  Rolle  des  Judentums  zu  den  verBchiedenen  Zeiten 
und  zum  Sehluis  die  eindringliche  Mahnung,  sich  zu  wirklicher  Energie  nationalen 
Stolzes  auizuraffen,  Tennöge  der  der  Deutoche  am  besten  des  Judentams  Herr 

werden  kann. 

Wenige  Menschen  werden  so  viel  wie  Treitschke  über  das  Stände-  und 
Klaasenwesen  nnrhgedacht  luiljen.  Dflrum  ist  es  besonder»  lehrreich,  |?erade 
ihn  über  diese  Fragen  /.xi  hören.  Er  hat  einst  den  preulkischeu  Adel  mit 
sehonungsloaer  SdiSrib  angegriffen^)  and  war  ein  begeistert«'  Wodf&hrer  des 
BUrgertoms.  Allm&htich  hat  sich  sein  Urteil  gewandelt  und  er  wurde  ein 
warmer  Verteidiger  des  preofsischen  Ädds,  ohne  im  geringsten  dk  Sdiwachen 
deBselbm  lu  bananteln,  und  auf  der  andern  Seite  fthlte  er  sich  stark  genn|^ 
am  auch  dem  gefiuerten  Bürgertum  einen  klaren  Spiegel  vorzuhalten,  in  dem 
es  viele  Fehler  an  sich  entdecken  konnte.  Es  gelingt  ihm  meisterhaft,  die 
richtigen  Gesichtspunkte  znr  Würdignng  beider  Teile  aiifzn'^t'  llen.  *Zii  der 
t'^erzeugung,  dafs  das  Waö<  ntr;tp  n  ein  edles  Vomu  ht  sei,  dazu  sind  wir  erst 
wieder  durch  Schamhorst  gekomnitsn.'  Er  bespricht  den  Adel  Roms,  Eng- 
lands, Frankreichs  und  bemerkt  über  diesen:  'Wenn  ein  Adel  auswandert,  um 
g^gen  sein  Vaterland  zu  kämpfen  >  so  ist  er  verloren.'  Dann  geht  er  auf  den 
dentsdien  Adel  ein:  'Der  niedere  Adel  ist  monardusch,  so  weit  er  etwas  tangt 
Darum  steht  der  prenfsisehe  Add  sittlieh  so  hodht;  gerade  die  verrufenen 
prenfrtschen  Jnnker  sind  die  besten  Elemente  des  dentsehm  Adeb.  Das  weib 
jeder,  der  in  den  kleinen  deutschen  Staaten  heimisch  ist.'  Er  erinnert  an 
Bismarcks  Wort,  daia  alle  Fremden  uns  um  dir^en  Adel,  dessen  Starke  weniger 
im  Wissen  als  in  fieiner  guten  Erziehnng  beruht,  beneiden,  und  schaltet  die 
Frage  ein:  *Könneu  sich  die  Schweizer  im  Frnst  darüber  freuen,  dal's  ihre  alten 
ruhmvollen  Geschlechter  mehr  und  mehr  verschwunden  und  an  ihre  Stelle  die 
Eisenbahndirektoren  getreten  sind?'  Zum  Schlufs  widmet  er  noch  dem  italieni- 
bchen,  polnischen  und  russischen  Adel  eine  kurze  Betrachtung.  Dem  deutschen 
Bflrgortum  wirft  er  vor,  dals  es  zn  sehr  daan  neige,  sich  allein  fttr  die  Nation 
an  halten,  Dorehans  nnb^ngen  betrachtet  er  andi  den  vierten  Stand.  Er 
siebt  dabei  Ooetibe  mit  den  Worten  heran:  *Wie  wahr  bat  er  gesagt:  Die  wir 
die  niederste  Klasse  nennen,  sind  für  Qiott  gewifs  die  höchste  Menschcnklasse! 
In  diesen  einüben  Lebensverhältnissen  erhalt  sich  bei  guten  Menschen  eine 
naive  Kraft  und  Reinheit  der  £mpfindang^  welche  dem  Feingebildeten  so  leicht 
verloren  geht.' 

Zu  den  tiefsten  Al)sclinitten  gehört  der  über  die  'ßeligion'.  Er  wendet 
sich  gegen  Kants  Definition  derselben.  *Un8  Söhnen  einer  Zeit,  die  doch  wieder 
etwas  religiöser  emptiudet,  icaun  die  dürre  Verstandesaufklärung  des  lö.  Jahr- 
hnnderts  nicht  mdir  genügen  . . .  Wie  viel  tie&r  als  Kunt  hat  Sdileiennadier 
gegraben,  wenn  er  das  Wesen  der  Religion  suchte  im  QefOhl  vmserer  Abhfingig- 
keit  von  Oott.  ErsefaSplend  ist  ihr  Wesen  aber  aoeh  hieimit  nodi  m'eht  be- 


*)  Tgl.  1.  B.  Hut  V.  pol  Aufs.  IT  7S.  74.  91t. 


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H.    Pstendotff:  Heinrich  t.  Txeiteelike  and  aebe  Torlwaagen  flb«r  Politik.  467 

teiehnei  Es  muft  liinm  kommen  du  ebenao  wasexitliehe  BewofstMiii  iinawdr 
Zugehörigkeii  zum  Weltgansen,  die  Idee  der  GotteekindsdiBft:  dab  wir  ab- 
liingig  siiid  toh  Gotl^  dalb  aber  audi  kein  £har  auf  unBerem  Haupte  verloren 
geht  ebne  Oottee  Willen.")  Im  weiteren  erSrteri  er,  Tielleicht  nicht  onbeeinflo&t 
Ton  eeinem  grofeen  Geiatesverwandtoti  Pufendorf,  eingehender  den  öfter  TOn 
flun  vertretenen  Gedanken,  dafs  ein  Aufhören  der  Konflikte  zwischen  Staat 
und  Kirche  gar  nicht  wüt-'j« •bona wert  wiirc,  woil  das  ein  Zeichen  für  die  Er- 
starrung eines  der  beiden  sittlich  gleichberechtigten  Teile  sein  würde,  und 
unterzieht  die  sechs  Hauptformen  des  Verhältnisses  zwischen  Staat  und  Kirche 
(Unterwerfung  der  Kirche  unter  den  blaat  ~  Cätiaropupismu»,  Rufsland-  Unter- 
werfimg  dea  Staate  imiu  die  Kirohe,  Papismos  im  Mittelalter;  Staatakirdien' 
tum,  Frankreich;  FreiwiUigkeitesystem,  Amerika;  DnaUarnns,  Belgien;  System 
der  Eirdienhoheit)  einer  UditvoUen  Kritik,  aieh  für  das  tu  Deatsehland  be- 
stehende System  der  EirDheiiboheit  entscheidend. 

In  einem  neuen  Abschnitt  wendet  er  sich  mit  Nachdruck  gegen  die  Hhorichte 
Selbstgefälligkeit'  unseres  Jahrhunderts,  das  sich  so  viel  auf  sein  Schulwesen 
eiuhildet  und  gar  nicht  bemerkt,  wie  viel  gerade  auf  diesem  Gebiete  gesündigt 
wird.  Einst  ein  Verteidiger  der  SimultaTi«chiiIe,  giebt  er  doch  jetzt  ihre  Schäd- 
hchkeit  zum  Teil  zu.  Mit  Verachtung  sprüht  er  von  der  Idee  der  Einheits- 
schule. *£in  grofeer  Meyer  zu  werden  ist  das  Ideal  unserer  groCsen  Genies 
von  heate.'  Es  kommt  ihm  lediglich  auf  methodisch  sicheres  Denken  und 
nicht  anf  Konyeraationsleiikcnwissett  an,  nnd  bei  einem  Vergleiche  dar  ilteren 
mit  der  jüngeren  Gkmeration  gelangt  er  in  dem  Ergebnis,  dab  die  SItwe  mit 
antikUassischem  Geiste  getninkt»  nnendlich  Tielseitig^  im  wiasensdiafklichen 
Denken  wäre.*)  Schon  ist  dann,  was  er  aber  Forseher  nnd  Lehrer  sagt.  Er 
findet,  dafs  sich  in  Deutschland  das  üniversitätswesen  darum  noch  am  glQok- 
üchsten  entwickelt  habe,  weil  hier  immer  der  Grundsatz  galt,  dafs  der  gröfeere 
Gelehrte  dem  gröfseren  Lehrer  vorzuziehen  sei.  Den  Abschlufs  bildet  <\hh 
Kapiti'l  über  die  Volkswirtschaft.  Wer  in  dem  aristokratisch  angelegten 
Treitsciike,  vielleicht  irregeführt  durch  den  berühmten  Streit  Treitschkes  mit 
Schiuoller  in  den  Jahren  1874  und  1875,  einen  herzlosen  Beurteiler  der  Nöte 
des  vierten  Standes  Tnmntet  ha^  der  kann  m.ch  ans  der  Tolitik'  einee  Besserw 
belehren.  Treitschke  schreckt  Mlbst  vor  recht  radikalen  Fordenuigen  znr  Be> 
settignng  der  vom  GroDdupitslinnns  nnd  dem  Latifandienwesen  drohenden 
somalen  GefShhren  nicht  zurück.') 

Der  zweite  Band  der  Politik  wird  sich  mit  den  Fonnen  des  Staats  und 
seiner  Verfassung,  mit  der  Staatsrerwaltung  und  mit  dem  Staat  im  Verkehr 
der  Völker  beschäftigen. 

')  Poütik 

*i  Zu  dieten  AniflÜiniiigeD  nnd  iwei  neh  damit  berOhnnde  AofitlM  Treitselilcei  in 

dea  'DeutMibeti  Kämpfen,  Neue  Folge'  heranzuziehen:  'Einige  Bemerkungen  ü1>er  unser 
öymnaflialwesen'  8.  219—270  und  'Die  Zukunft  des  doutflcben  Gymnaaiuma'  S  386—897. 

*)  Vgl  übrigens  auch  Schmollers  Mitteilungen  in  seiner  Qedäditoiarede  auf  Treitschke, 
Bnadeabatgifdie  n.  |ireiib.  Ponohnagen  TL  881. 


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468    H.  T.  Petondotff:  fieiithch  v.  Treitoclike  und  Mine  Vorlwniigw  Aber  Politik. 

Jede  Sidste  dM  Inhalte  dieeer  Yorleeimgim  kaon  nur  einea  gras  kflnuner- 
Edieii  Begriff  Ton  der  GedankoilGÜle,  von  der  apncihlicben  8ohöiih«[t  und  toq 
der  Er^  der  Empfindung,  die  darin  pdnert,  geben.  Die  gewaltige  Geistea- 

gymnastik,  die  Treitschke  unablässig  getrieben  bat,  setzt  ihn  in  den  Stand, 
Aber  alle  Fragen  des  gdstigen  Lebens  mit  einer  olympischen  Soaveranitit  za 
nrteilen  und  überall  aus  der  Tieft'  -m  sclio])fi!n.  In  den  Yorlosnngon,  die  er 
mehr  als  eine  vertrauliche  Aussprache  bctrachtctf-,  Tiimnit  Reine  Art  zu  reden 
zuweilen  noch  eine  besondere  Nuance  an.  Treitschke  in  seiner  ganzen  genialen 
Urwüchsigkeit  liegt  in  solchen  Wendungen  wie:  *Wenu  also  ein  Gelehrter 
koimint  wie  Jhering  und  redet  vom  Zweck,  den  die  Gesellschaft  sich  gesetzt 
baben  eoU  im  Beöht,  so  begeht  er  einm  Denkfehler.'  ^Die  Lehre  Ton  dem 
ganisofaten  Staat>  in  dem  die  Sonverinitilt  eidi  Terbeflen  soll  auf  Vereehiedeiic^ 
ist  nnhaUbar.  Dergleichen  eUektieehe  Thorbeiten  pflegen  nnr  politiaeibe  Leise- 
treter wie  Cicero  zu  b^^en.*  'Es  wird  Künstlern  und  wirklich  fein  empfinden- 
den Seelen  immer  f^chwer  werden,  danemd  in  Berlin  zu  leben.'  ^Es  ist  eine 
Konfnaion  des  Denkens,  wenn  man  behaupten  will,  dafs  diese  fjjofsen  Manner 
(St  liiller  und  Goethe)  von  Sachsen- Weimar  gehoben  und  getragen  worden  sind. 
Sie  haben  dort  Schutz  und  materielle  Sicherheit  gefunden,  aber  för  ihr  eigent- 
liches Wesen  ganz  gewUs  gar  nichts.' 

Zwei  Dinge  hat  Treitschke  im  innersten  Busen  getragen:  die  Iloiüiuug 
auf  eine  herrliche  Znknnfl  seines  geliebten  dentsehen  Volkes  und  den  leid«i- 
aehafUioben  Heng^  das  Geheimnb  der  groüwn  Einaelpersönliehkeiten  m  erftsseo. 
Die  Glut  seiner  nationalen  Gesinnung  bricht  in  seinen  Schriften  nur  m  oft 
nnd  «tMAlwwal  warn  Beweise  ihrer  Starke  geradezu  jihlinge  hervor.  *Whr 
wollen  nnd  sollen  unseren  Anteil  nehmen  an  der  Beherrschung  dee  Erdkreises 
durch  die  weifse  Rasse;  und  eine  Presse,  die  diese  ernsten  Dinge  mit  einigen 
schlechten  Witzen  aH/nthun  sucht,  zeigt,  dafs  sie  keine  Ahnung  hat  von  der 
Heiligkeit  unserer  Kulturaufgaben.'  ^Dieses  Deutachhind  mit  seiner  wider- 
wärtigen Küste  ist  einst  doch  die  erste  Seemacht  gewesen  und  soll  e«,  so  Gott 
will,  wieder  werden',  heilst  es  in  der  Politik.*)  Und  schon  1801  hat  er  ge- 
echrieben:  'Schon  ist  kein  leerer  IVaum,  daCi  ans  diesem  Wsllverkdize  (dar 
Deutschen)  dereinst  eine  Staatsknnst  entsleheii  wird,  vor  deren  weltumspamieii- 
dem  Bficftse  alles  Schaffen  da-  hentigen  GroIssAehte  wie  annsdige  Kleinstaaterei 
erschemen  wird.")  Wohl  möchte  er  die  Znknnft  entbOllen,  die  Gesefae  an- 
geben, mit  deren  Hilfe  seine  Nation  die  erträumte  weltgeschichtliche  Bahn  er- 
reichen konnte.  Er  hat  aber  gefunden,  dafs  die  GeschichtswisBenschaft  überall 
auf  das  RStsel  der  Persönlichkeit  stöfst.  'Manner  sind  es,  welche  die  Geschichte 
machi'n,  Männer  wie  Luther,  v.ie  Friedrich  der  Grol'se  und  Bismarck.  Diese 
groJse  heldenhafte  Wahrheit  wird  immer  wahr  l)leil>en  und  wie  es  zugeht,  dafs 
diese  Männer  erscheinen,  zur  rechten  Zeit  der  rechte  Maua,  das  wird  uns  Sterb- 
lichen immer  ein  Rätsel  sein.  Die  Zeit  bildet  das  Genie,  aber  sie  schafft  es 
niehi'*)  Wdl  sie  mit  diesem  Bfttsd  der  PersSnlichkeit  au  rechnen  hal^  darum 


<)  PeUtik  sie.      <)  BUL  u  poL  Anik  HI  IS.      «)  PoUtik  6. 


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H.  V.  Petendmff;  Hainrich  t.  Tnitaelike  lud  Mine  Torloraiigea  Aber  Politik.  469 

kann  die  Geschielite  niemala  eine  ozaUe  WuMensehaft  sein.  Und  was  Ar  die 
Geachiehie  gilt,  das  gilt  aneh  in  gewiasem  Sinne  fllr  die  Politik.  Auch  f&r 
die  Politik  laeeen  aidi  nur  wenige  aUgemeine  Qesefae  aufteilen,  woi  iie  an- 
gewandte Qeeehichte  ist.  Darüber  ist  sidi  Treitschkc  vollkommen  Uar  ge- 
wesen, und  er  spricht  es  offen  ans,  dafs  seine  politische  Theorie  nur  mangelhaft 
■ein  könne.  Dafs  sie  aber  das  Reifste  ist,  was  bisher  über  dies  Gebiet  <lts 
Denken^  vorlie<rt,  wird  anstandslos  zugegeben  werden.  Sie  fufst  das  zusanirnen, 
was  ein  genialer  Denker  in  einer  grofsen  Zeit  /Ailetzt  für  wahr  erkannte.  Wie 
sich  aber  die  politische  Kraft  Deutschlands  einstweilen  in  dem  Genius  Bismarcks 
erschöpft  hat,  ho  steht  zu  befürchten,  daTs  auf  lange  Zeit  hinaus  uns  nicht 
wieder  ein  eoddk  eineun  ragmder  historisch-poIitiBcher  JknkEot  wie  Troitadike 
entdien  wixd. 


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ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN. 


▲US  LYDIEN: 

'KleinaBien  ist  im  eigentlichen  Sinn«  aocli 
ein  unhekiinntoB  LanH  Dufs  LyJi»^n,  ol) 
gleich  uns  am  nächsten  gelegen,  zu  seinen 
«nbekanntesien  Teik»  gdhOit,  war  mir  Mit 
Jahren  r>in  pcläufipcr  Satz;  ilufs  et»  aber  so 
unbekiuint  sein  könne,  wie  die  Ergebnisse 
beMmders  der  oben  kon  berckriebeBen  Reise 
beweison ,  habe  ich  beim  Antritt  derselbon 
selbst  nicht  erwartet.'  So  schrieb  Karl 
Bureeeh  am  SdünA  des  Beriehte  Aber  seine 

1894  in  TiVdirn  ^.'i-iiiarhtt'  Reifif;  die  Erg'i'b- 
nisse  seiner  letzten,  der  von  IbSfö,  die  ihn 
bis  in  die  Oransgebiete  von  PhrTgien  and 
Karion  geführt  hat,  liestätigen  diesen  Satz 
auÜB  neue.  Und  doch  ist  er  bei  weitem 
aidit  der  erste  wissensehaftKehe  Reisende, 
der  gerade  diesen  Teil  Kleinaj^iens  besucht 
hai.  Aber  er  liat  sich  nicht  an  die  grofsen, 
riet  begangen«!  Straften  gehaMen,  aoodera 
hat  von  ihnen  aus  die  zwischenlieigenden 
Gebiete  erforscht  Die  weitaus  meisten 
Reisen  früherer  Zeit  gingen  durch  die 
breiten,  nacli  Osten  den  Zugang  ins  Innere 
öfinendeu  FlursthiUer  des  Hermos  and 
Mäander,  zwischen  denen  der  Kogamo«  die 
Verbindung  herstellte.  Weniger  begangen 
waren  die  nOrdlirlien  Routen  nach  Uncbak 
durch  tlie  Katukekuuniene  und  über  Menuere 
nach  Akhissar  (Thjateirai  sowie  du^Kaystros- 
thal.  In  diesen  Bahnen  bewef^teu  sich  in 
der  Hauptsache  die  Ueiscn  von  Pucocke, 
0.  V.  Richter,  Arundell,  Prokesch  v  Ogtea, 
de  Laborde,  Fellows,  Hamilton,  Ti  xicr,  van 
Lennep;  viel  weiter  hatte  zwar  v.'i'cliihutcüett 
ansgegriffen,  aber  seine  Berichte  sind,  be- 
sonders für  die  Kenntnis  des  alten  Landes, 
SU  wenig  ergiebig.  Die  genauere  Erforschung 
hat  Rädel  begoimeB,  aber  leider  hat  er  nir- 
gend-(  die  karto<,'rai)hisch  -  geographischen 
Keaultate  seiner  Keisen  veröffentlicht;  für 
eanige  Teile  haben  die  Forsdrangen  SmynAer 
Gelehrter  viel  geViracht;  aber  eine  plan- 
milTsige,  sozusagen  intensive  Durchforschung 
des  ganzen  Gebietes  fdüte  noeh.  Was  die 
Österreicher  für  Lykien  geleistet  haben, 
Ramsay  für  Thrygien,  das  nahm  sich  Burosch 


für  Lydien  vor  und  s\ichte  e-^  in  vier  Reisen 
im»,  1891,  1894,  Ib^b  uuszulühren.  Da 
Tod  bat  ihn  mitten  aus  seiner  Thätigkeit  ab- 
genifen :  seine  hauptsächlichsten  Arbeiten 
zur  ikuographie  und  Epigraphik  Kleinasiem 
liegen  jahit  ▼ereinigt  vor  in  den  von 
Otto  Ribbeck  herauspe^'ebenen  Buch:  'Ans 
Lydien.  Epigraphisch -geographische 
ReisefrVehte.  Hinterlassen  von  Karl 
Ruresch'  (Leipzig  1H98,  B  f?  Tenbner  V.-.i 
Buch  entiiält  64  ausfüiirUch  konwaentierte 
Ijdisdie  Lisehriften,  den  Berieht  Uber  die 
letzte,  1895  mit  Unterstützung  der  preufrf- 
schen  Akademie  unternommene  Reise  and 
einen  Wiederabdruck  der  sehen  in  den  Ab- 
handlunf^en  der  sächsischen  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  ersdiienenen  Berichte  über 
die  Reisen  von  1891  nnd  1894.  Heinrieh 
Kiepert  hat  die  geographischen  Ergebnisse 
auf  der  beigi^benen  iüurte  verarbeitet  ond 
damit  wieder  «nea  anfterordentlieh  wert- 
vollen Beitrag  zur  Geographie  Klcinasien« 
geliefert.  Am  meisten  wird  dadurch  Blatt  VIU 
der  grofsen  SpezialbttladCBWiStliehan  Klein- 
asiens ergänzt,  von  d«o  BUttcm  V— VII, 
IX,  XI  kommen  nur  die  Qrenzgebieie  in 
Frage.  Leider  sind  auf  ihr  die  nach  Lydien 
fikUenden  Routen  von  1888  nicht  mit  an- 
gegeben —  auf  dem  Kärtchen  in  der  linken 
oberen  Ecke  sind  nur  die  von  Buresch  za- 
sanunen  mit  Cichorius  gemachten  Touren 
zwischen  Isniid  und  Brussa  verzeichnet ,  die 
flbriffeus  auch  recht  wichtig  sind ;  wir  ver- 
danken ihnen  z.  B.  die  erste  genaue  Aof- 
nähme  des  Sees  von  Isnik  lÄHcaniii  Limne» 
Die  Bezeichnung  der  anderen  Itinurare  stimmt 
nicht  immer  mit  dem  begleitenden  Teit; 
manche  Route  wird  durch  da«  verwendet.' 
Signum  in  ein  falsches  Jahr  verlegt.  Dann 
sind  auch  lange  nicht  alle  von  Bnreseh  ent- 
deckten Ruiuenstätten  bezeichnet.  Das  ist 
zu  bedauern,  da  auch  das  auf  S.  SM  stehende 
Vevaeicluiis  der  nieht  sn  benennenden  antünn 
Ortsanlagen  bei  weitem  nicht  lückenlos  ist 
Vielleieht  hat  iüepert  abüchtlich  von  VoU- 
stindigkeit  abgesehen,  weO  der  Maftalah 
1  :  600000  möplicher  Weise  nicht  inuBSr 
volle  Genauigkeit  erlaubt  haben  würde. 


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Anseigfin  and  lEitteiliiBgai. 


ich  will  QUO  die  Hauptrcfloltate  von  B.s 
FatMhnngen  xaaaiimienfa«sea,  werde  mich 
dabei  alior  nicbt  an  den  Verlauf  seiner 
fietsen  halten,  die  dieselben  Gegenden  mehr- 
fiMli  b«rflliit  halMii,  MUideiEii,  um  Wieder' 
boiiin^r  zu  venneideii,  an  «nunwnengeirilrige 
Gebiete. 

Die  Bereimtiir  <lMr  byrkaiiiselieii  Ebene 

iionlöstliili  voTi  Muj^ncsia  a.  S.  liiil  vor  allem 
die  FestateUung  mannigfaltiger  Eeete  alter 
Niedertaamnagea  im  Gebiet  dee  Kaim  Dagb 
gebracht.  Dif  I<l»Mitifikation  dor  srlmn  früher 
bekannten  Ruinen  bei  Saritacham  mit  Hiera- 
lopliM  i«t  Tön  B.  lelbflt  nnr  zweifelitd  tot- 
geacblii^^'cn  worden  und  ist  zu  unsicher,  als 
datb  mjMt  sie  sugebea  könnte.  Im  Gegenteil 
adieiaeii  die  Beete  der  dort  gefvnd«ien  In- 
schrift (S.  27)  diesen  Namen  f^radezo  atu- 
xuachlicfsen;  denn  um  die  Lesung  oi  lurroiiuM 
Ir  'Itfol6<pa  henmt teilen ,  sind  q  und  l  ge- 
ändert worden,  i  in  iv  fehlt,  und  zwischen 
7c  und  dem  folgenden  Buchstabon  ist  auf 
der  Inschrift  eine  verriebene  Stelle,  die  nicht 
XU  erklären  ist.  Die  Hypothese  Seid-obussy 
ir^-  Miwuya  ist  wo^t'n  tti-r  fnschrif!  mit  Ju 
MiörvT^vio  sicherer.  Die  liuineu  westlich  von 
Arpaly  r<iu<i  ul.s  Tvunollos  erkannt  worden; 
die  Art,  wie  B.  zu  diesem  Resultat  gekommen 
ist,  erscheint  mir  methodisch  interessant 
g'enug,  um  etwas  näher  l<e^|>r(M;ben  zu  werden, 
lier  Ort  war  <«cbon  durch  zwei  von  Fontrier 
aus  Kuldere  publizierte  Inschriften  bekannt, 
Bw  hat  nun  festgestellt,  dnlb  dieselben  nicht 
aus  Koldere  selbst  stammen,  sondern  dnrt- 
hin  aus  der  westlich  von  Arpalj  gelegenen 
Bainenstfttte  Tenchleppt  worden  lind.  Es 
ift  flas  üicht  der  einzige  Fall,  wo  er  In- 
schriften Verschleppung  feiitgestcllt  bat,  auf 
Bebritt  nnd  Tritt  finden  wir  in  seinem  Bache 
derartige  Memcrkungen,  dafs  er  'iui  län^^eren 
Gespräch  mit  den  älteren  Honoratioren  des 
Doffiw*  oder  mit  einem  Banem  n.  s.  w.  die 
Provenienz  eines  Steiner;  feslt^'e^tellt  hat,  Zu 
solchen  l^kundigungen  war  er  allerdings 
sneh  viel  dier  im  stände  eis  die  meisten 
anderen  Reisenden;  denn  Neugriechisch  be- 
hemehte  er  wie  seine  Muttenprüche,  und 
Tflzhiseb  war  ihm  «UmUdich  sneh  geläufig 
geworden.  Nun  könnte  man  trotz  seiner 
ausdrücklichen  Versicherungen,  dafs  seine 
Oewährsmänner  zuverlässig  wären,  doch 
einen  leichten  Zweifel  hegen.  Deshalb  mag 
hier  ein  Beispiel  aus  neuester  Zeit  angeführt 
werden,  wo  eine  auf  dieselbe  Art  gewonnene 
Nachricht  sicli  in  der  That  als  zutreffend  er- 
wiesen hat  An«!  :  n  (and  l^y?  in  Elmaly, 
südöstlich  von  hijtüljia  Kotyaeion  eine  In- 
schrift mit  Ti  Mitfmvüp  xorotxia,  die,  wje 

Sattem  von  ihren  Vätern  gehört  su  haben 


471 

angaben,  von  der  nordöstlich  gelegenen 
Bttinenstelle  IfaloUa  stammte.   Und  sieben 

bei   der  rntersnchim^'  Platzes  wurde 

eine  Inschrift  der  Mti^räv  ii6h$  gefunden 
(Joom.  cf  Hellen.  Stnd.  1897  B.  4tS).  Die 
Gleichset znn^'  von  Hierakome  und  Hiero- 
kaisareia  am  Ustrande  der  hyrkamscheii 
Ebene,  die  B.  mebrflwdi  ausgesprodien  hat, 
allerdinf^s  /uruichst  ohne  Bejjnindun^j  (S.  28 
lä4)  ist  jetat  von  Imhoof- Blumer  (Ljdiscbe 
StadtmOnsen  8.  7  ff.),  der  die  kumn  Be- 
merkungen von  B.  wohl  übersehen  hat,  ans 
fübrlich  begründet  worden.  Derselbe  erklärt 
sieh  8.  78  mit  JB.  fHr  die  Verweisung  von 
HermokapcleiaAach  der  nördlichen  byrkani- 
schen  Kbene,  nach  Cyokdschelgöi;  den  Ein- 
wand KiepertH,  der  Name  deute  mehr  auf 
eine  Lage  in  der  Nähe  des  Hcrmos  bin,  ent- 
kräftet er  dadurch,  dafs  er  ihn  nicht  mit 
HermoB  in  Verbindung  bringt,  sondern  mit 
Hermes,  dessen  Bild  wiederholt  «uf  den 
Stadtmünzen  vorkommt 

Besonders  reiche  topographische  Aasbeate 
haben  die  Bereisung  der  Flufsgebietc  des 
Kum  Tschai,  Demirdschi  Tscbai  und  Rge 
Tschai  nördlich  des  mittleren  Henuos  ge- 
liefert. Die  Strafse  zwischen  Ak-hissar 
(Thyaf<'ira'  und  Gördiz  (Julia  Gordus)  war 
vor  ihm  nur  von  TchihatchefF  und  von 
Radet  begangen  worden;  aus  des  letzteren 
karti  Tiln  t-Tu  Bericht  stammen  die  bei  Kiepert 
unsii  lK  T  liiugs  des  Weges  angegebenen  Dörfer. 
B.  bat  dann  auch  noch  südwärts  durch  ganz 
unbekanntes  (Jebiet  die  Verhindung  mit 
der  Strafse  Adala-Mermere  hergestellt.  Auf 
der  Schahan  K^a  wurde  die  schon  von 
Radet  bemerkte  antike  Ort^^laefe  fe<=tffeste!lt, 
ebenso  eine  in  Ugulduruk,  nördlich  von 
Ottnlix.  Die  Ruinen  im  Sfiden  bei  Narly 
erklart  13  THr  die  \on  I1aIdi^l.  weil  unt*ir 
30  dort  gefundenen  Münzen  lU  nach  Julia 
Gerdas  and  90  nadi  D^dis  gehörten.  Trotx 
der  Zn'^timujun",'  vini  Imhuof  Mlumer  (^S,  60) 
möchte  ich  doch  aber  den  AnsaU  nicht  als 
sieber  annehmen;  denn  Ptolemaios  and  die 
Bi,>;chufsli-^ten .  auf  <li>'  man  sich  allerdings 
nicht  zu  sehr  verlassen  darf,  verweisen  die 
Stadt  mehr  nach  dem  Norden  von  Lydien; 
und  Münzen  sind  doch  ein  in  leicht  bewqg* 
liches  fieweisnmterial. 

1896  ist  B.  nördlich  Über  den  Tenmos 
vorgedrungen,  den  er  auf  einem  neuen  Wc|g 
nordöstlich  von  Gördiz  überschritten  bat. 
Die  Beobachtung,  dafs  in  der  Gegend  von 
JemiiehlA,  nördlich  vom  Simaw-gjöl,  \id 
Ei.-ienerr  <refundcn  wird,  verunlafst  ihn  die 
Frage  uuizuwerfen,  ob  das  phrygische  Ankyra 
nicht  ▼ielleicht  bei  der  Ruineastätte  dieses 
Ortes  ansosetaea  ist;  denn  so  wdrde  du 


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472 


AsMieigen  und  IGttaQnngett. 


Beiwort  ^  tft3i)<^,  das  die  Byzantioer  der 
Stadt  maDchmal  gebfln«  tdur  gvA  pMwen.  Er 

gicbt  aber  selbst  zu,  daTs  diespm  Ansatz 
Bchwerwiegeude  Bedenken  entgegenstehen. 
Idi  ^abe,  die  Wwte  Bbmbona  (S7«  C) 
ngixilaßmv  (sc.  6  'WvÄaxos)  x«!  rfjs 
UjSfffcqt^S  Mvcüis  iilovs  t§  nal  Mintnov 
iai  jlr«^««»  n.  w.  verlangen  unbedingt, 
tlüf»  uian  die  Stadt  an  das  Wentondo  de« 
SünaW'gjOl  setzt,  also  am  besten  mit  Hamilton 
dm3i  Kilisse  Kjöi.  Allerdings  feblt  noch  der 

inHchrifllichi!  Bewein  Der  Heinunn^  ciifijQÜ 
lieüe  sich  doch  ganz  gut  durch  die  Annahme 
erUftren,  dnb  dne  Eieenens  eben  dort 
arbeitet  wurde.  Die  Gh-icliun^  Riaudos 
(das  B.  übrigefis  sehr  mit  £echt  gegen 
Bamsay  von  Bftnato  «drtidat)  ««  B^tyly 
am  Westufer  dei  SiniAw-gjdl  iit  Mihr  ein» 
leuchtend. 

Das  Qebiet  der  Flüsse  von  Jemischlfl  und 
Assardjyk  hat  H  nur  in  den  südlichsten 
Teilen  biü  EgrigjOz  selbst  erforschen  können; 
seine  Erkundigungen  sind  aber  gegen  die 
von  Ramsay  jetzt  durch  Munro  bestätigt 
worden,  der  1S94  tlieselbe  Gegend,  von  Norden 
kouinieiui,  besucht  bat.  Beide  Flimau  ver- 
aißigen  sich  wirklich  östlicb  von  Balat.  Auch 
in  untierer  Beziehung  stimmt  R  h  Ttinprar  mit 
dau  Angaben  Munros,  w  wind  der  ^]grigjöz- 
Dagh  und  Emed  böher  nach  Norden  gerückt. 
Allerdings  kann  man  nicht  wissen,  ob  Kit?i)crt^ 
Kartenentwurf  nicht  auch  mit  durch  Hunros 
Bieiee  beeinflnAt  worden  iat. 

Der  Weg  nach  Aizanoi  war  so  gut  wie 
unbekannt;  Ii.  bat  zuerst  auf  einem  Umweg 
nach  Baden  die  Bninenslltte  fSeetgeetellt,  wo 
nuch  einer  schon  früher  durch  Callier  he- 
kannt  gewordenen  Inschriit  Aiia  gelegen 
baben  molb,  und  ist  datm  auf  der  Tebibat- 
chefTschen  Uonte  nach  .\izanoi  j^ekommen 
Sein  Itinerar  hat  offenbar  ergeben,  dafs  die 
HamUtonedie  Breitenbeetiihmnng  flbr  diesen 
Ort  von  .-iO"  14",'  resp.  13',',  die  Kiepert 
nach  RamsajB  Angaben  in  Si*  "12'  geändert 
hatte,  doch  xiemlidli  ricbtig  ist.  Wenigstens 
crgiebt  die  Karte  cu  30°  1.3%'  Auf  der 
Weiterreise  hat  B.  Ostlich  von  Gediz,  das 
bisher  nur  der  Namensgldchheit  vegen  fBr 
Kadoi  angesehen  wurde,  die  Stelle  der  alten 
Stadt  gefunden.  Von  den  dort  gefundenen 
Inschriften  fflbrt  er  nur  eine  an,  eine  Weihung 
Jd  xal  Mr^TQl  &f&v  SrtvvT^rg.  Sie  ist  des- 
halb wichtig,  weil  Pausonias  für  diese  Gegend 
eine  Höiile  Zttüpoe  erwähnt.  Für  die  Ver- 
matung,  dafs  diese  Höhle  in  der  von  KeMlk 
Magham.  südwestlich  von  Aizanoi,  m  er- 
kennen  int,  küunle  man  ula  Bestätigung  nach 
der  negativen  Seite  daran  erinnern,  dab 
Sperling  1868  in  Norden  und  Osten  von 


Aizanoi  vergeblich  nach  einer  Höhle  ge- 
Boeht  bat. 

Da«  (Jebiel  zwischen  oberem  ITennoH  und 
Mäander  ist  schon  oft  bereist  worden,  von 
HMnatott,  ArnndeU,  v.  TeUhatehei;  ▼.  Diest, 
Ramitay,  M<">1Ibausen;  trotzdem  hat  B.  auch 
hier  eine  Keihe  von  Üninenstttten  entdeckt, 
s.  B.  nSrdlieh  von  laai  bei  BadaAet  IDdesai. 
Er  erkennt  darin  Clanudda,  aber  gerade  die 
Angabe  der  Tabula  Peuttngetiana,  die  er 
allein  sor  Begründung  dafBr  anfuhrt,  spricht 
dagegen.  Denn  wenn  die  Entfernung  von 
Alaschehir  in  Luftlinie  66  km  beträgt,  die 
Tabula  aber  nur  86  MaOen  mm  u%  km 
(genauer  61,75  km)  dafür  ansetzt,  so  bleiben 
nur  swä.  Mö^ehkeiten:  entweder  ist  die 
Zabl  riditig,  «an  ist  die  SoineosUUte  nicht 
Clanudda,  oder  sie  ist  falsch,  und  dann  kann 
man  sie  nicht  zum  Beweis  verwenden.  AJso 
mols  ich  Bji  Vorschlag  trotz  der  Znstinunnng 
ÜBthoof'Blumers  ablehnen. 

Die  genaue  Lage  des  alten  Sebaste  stellte 
B.  östlich  von  Se^jükler  fest;  das  wird  die- 
selbe Ortslage  sein,  die  Arundell  auf  seinem 
Weg  von  Bunarbaschi  nach  Usch  ah  bei 
Segiclar  oder  Segicley  erwähnt  Hier  be- 
rührt sich  B.s  Korschungagebiet  mit  dem  des 
oben  Hchon  erwähnten  Anderson,  Dieser  b:st 
die  Ruiiienstätte,  von  der  Ii.  in  Tatarkjüi 
hörte  und  die  zwiHchtin  diesem  Dorf  und 
Burgaz  liegen  soll,  v^irklich  gefundt'n  und 
verlegt  die  Stadt  Bria  dahin,  die  B.,  aller- 
dings nieht  bestinunt,  nOrdlidi  von  Siwanlj 
in  Payanalan  finden  zu  können  geglaubt 
hatte.  Entscheiden  läist  sich  die  Frage  jetst 
Boeh  nicht  Wir  baben  über  dio  Lage  der 
Stadt  keine  genauen  Angaben,  und  die 
Inschrift  mit  B^tjavofi,  die  Anderson  in 
TatarljOi  abgesebrieban  bat,  kann,  wie  er 
selbst  sagt,  ebensogut  anders  ergänzt  werden. 

In  Gönei,  östlich  vom  obersten  Kogamos- 
thal,  eifbbr  B.  von  oHaknndigen  Leutm,  daTs 
der  von  Hamilton  1837  bemerkte«  Ruinenort 
Kepe^jik  nicht  mehr  existiert  Man  könnte 
das  Versdivrinden  der  Binnen  ▼ieUeieht  noeh 
weiter  /.urück'verfolgen ;  denn  Tchihatcheff 
erwähnt  1847  nichts  davon.  Aber  es  iat 
nicht  iuuner  sicher,  aas  seinen  Angaben  ein 
argumentum  a  silentio  zu  entnehmen. 

Im  alten  Mäonien  swiscken  Uenaoe 
nnd  EogamoB  sind  vor  aUem  die  Wege 
Adala-Kula-Takmak,  Eula-Sardes  und  Ala* 
schdiir  bekannt;  B.  hat  auch  hier  die  ver- 
schiedensten StreifEüge  querdurch  gemacht 
und  hat  dabei  viel  neues  Material,  geo> 
)Tr!i))hiHcher  und  antiquarischer  Art,  ge* 
wuunen.  Besonders  wichtig  ist  die  Be- 
itfttigang,  dafa  die  KmftT}  ^iladil^iuv 
JCvsvsiLltff,  die  auf  einer  schon  bekanntest 


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AvMtägmk  mtd  MlttaaiiiigeB. 


473 


tiuciurift  endieiiit,  in  dem  Tbal  des  Sö- 
iittditsdisi.  ifidditlicili  TOB 

ist.  Damit  ist  die  Lage  von  XtnopllOiU 
Kmumlot  Mt6lo9  gesichert. 

Aw^  di«  liogs  der  Bahnlinie  im  Hermos 
Tmd  Kogaanosihal  g«iiiachtcu  Tonren  liefertea 
manches  Neue;  denn  über  die  pif?entlichp 
Bahntrace  pflegt  das  Gebiet  de«  bekaunteu 
UodM  nicht  hlBBttsziireichen.  In  Baharlar 
war  vor  allem  die  '"KallatebosinBchrift' 
sn  revidieren.  Wohl  wenige  Inschriften 
rind  in  der  letaten  Zeit  so  genau  von  dMi 
»erschiedenstcn  Reisenden  verglichen  wor- 
den wie  diese.  Denn  anfser  B.  hat  ganz 
anurdings  auch  noch  Anderson  den  Stein 
nachgesehen  Der  Stand  der  Frage  ist  fol- 
gender. Kadet  hatte  ergänst  oi  Md[rotx4u  ol 
§9]  ]^aUtit}ißwB  vai  hatte  den  bei  Herodot 
erwähnten  Ort  Kulldrrißos  erkrni  cn  -.r-llpn 
I>ar(iber  war  er  in  eine  hitzige  Kuatroverue 
mit  Bttoufty  gekommeB,  der,  dlerdiage  ohne 
dm  S'tein  ge.'fehpri  liali.'n,  l'i^hauptet  hatte, 
die  Abschrift  wäre  offenbar  mangelhaft.  B. 

Bim  mdi  fenMer  Bemion  in  der  Lage, 
Redet  gepen  RamKay  zu  .ncliützen;  allerdinge 
eigiebi  flieh  aus  einer  genauen  Beobachtung 
der  CMtrienTerhlltnine  der  Iniehrift,  daft 
etßois  nicht  zu  KaXXitT]äßote  ergänzt  werden 
kann.  Den  thateächlichen  Befund  hat  auch 
Andereon  beeütlgt,  der  nun  «noh  die  neueste 
Lesung  Ramsays  (Phrygia  8.  673  Anm  h)  oi 
]Ht(TO>ii[et  et  i9  'A9d]ttßots  billigt.  B.  hat 
noch  eine  andere  Erklärung,  und  zwar,  wie 
mir  scheint,  die  natürlichste.  Kr  liert  ei 
im({to]i.x[o(  oI  itj'Aßoig,  er  fafRt  also  die  er- 
haltenen Buchstaben  als  vuUständigen  Orte- 
namen. Und  in  einem  wichtigen  Punkt  hat 
er  die  Angaben  von  Radet  sowohl  wie  von 
Anderson  ergänzt;  der  Stein  stammt  gar 
nicht  aus  Baharlar  selbst,  sondern  von  dem 
jenseits  de«  Fluseea  Hegenden  Ruinenfeld  bei 
Bahardyr.  Dort  also  liegt  der  Ort,  w  mag 
nun  Ab»  oder  enden  heUben. 

Von  Babarlnr  aus  ist  B.  westlich  nach 
der  üsüui-owiwsy  gegangen,  unter  anderem 
lui  dedielb,  um  die  von  Deport  veraeidi- 
neten  Reste  einer  alten  Strafse  zu  sehen. 
Leider  sagt  er  dann  in  seinem  weiteren  Be- 
ri^  gttr  niehte  dardber,  ob  er  die  geftiaden 
hat.  Da«  ist  vor  allem  deshalb  zu  bedauern, 
weil  ea  wichtig  gewesen  wäre  zu  erfahren, 
ob  dieae  StraAenreete  in  Verbindung  ge- 
bracht werden  könnten  mit  den  von  Arun- 
dell  (S.  820)  dicht  OeUich  von  Devrent  er- 
wihatett  'reaMdm  of  a  paved  road,  perhaps 
of  Bo  great  antiquity'.  Überhaupt  ist  es 
merkwürdig,  dafs  B.  nirgends  alte  Strafe«! 
gefanden  hat,  an  denen  z.  B.  Ktbynien  eo 
nieh  lat 

KfW  fatoMMher.  t»M.  I» 


B.  hatte  vor  seiner  Reiee  von  1804  be< 
hanptet,  dafli  der  aof  einer  Inadirift  and 

auf  einer  Reihe  bisher  nicht  sicher  unter- 
gebrachter Münzen  vorkommende  dQfiec 
Ntonautapfmv  Philadelpheia  wäre,  üm 
einen  bündigen  Beweis  dafür  zu  finden,  hat 
er  in  Alasrheliir,  dem  alten  Philadelpheia, 
nach  Mflnzeu  ciit  der  Aufschrift  Neomteiea^iw* 
gesucht  und  auch  wirklich  eine  gefunden. 
Einen  noch  besseren  Beweis  bietet  allerdings 
die  Münze  Nr.  'iä  bei  Imboof- Blumer,  Lydische 
StadtnOnien  8.  ISl,  aof  der  Muiti^üt»  nad 
NioxreieaQ^tov  7Tisammen  steht. 

Aus  Aiaachebir  stammt  auch  die  wichtige 
Inschrift  Nr.  19,  ein  Brief  des  Kaisers  Cara- 
calla  an  einen  vertrauten  Freund  in  Phila- 
delpheia. Sie  ist  wichtig  wegen  der  Datie- 
mmg  nach  der  Aktiachen  Ära,  etaer  Datieraag, 
«lie  bisher  nur  ans  der  n^rn  ^f'^prnrlipnen 
inschrÜt  von  Baharlar  bekannt  war,  deren  An- 

fug  lantet  fr]«e»  tt^KaUavos  [v]U[tis]- 

Ii  zeigt  S  '20  ff  \  dafs  im  ganzen  virr  ^^i  -here 
Fälle  der  Aktischen  Ära  in  Lydien  nach- 
weiflbar  snid.  Dae  lit  ohne  ZwdfU  riehtig 
iinl  -i  hr  interesHant;  denn  ehe  die  Baharlar- 
inschrift  bekannt  wurde,  galt  tOi  Aaia  nur 
die  Sallaniedie  Ära.  Abw  die  Uniteehmmg 
der  Datierung  möchte  ich  etwas  geändert 
wissen.  B.  nimmt  da«  Jahr  846  —  S16p. 
Vm  iit  die  Epoehe  der  Aktisehea  Ira  der 
•i  Se[)tember  Sl  a.  Der  Jahresanfang  fällt  in 
dra  Herbst;  fällt  er  vor  den  2.  September, 
so  iflt  das  1 .  Jahr  der  Aktischen  Ära  das  vom 
Herbst  81  bis  Herbst  30  a.  und  das  246.  «e 
214/16  p.  Fällt  er  nach  den  2.  September, 
so  ist  das  1.  Jahr  der  Ära  Herbst  82/Sl  und 
damit  das  '24ö  Jahr  Herbst  218/14.  Nun 
ist  die  Inschrift  vom  16.  Apellaios  (ca.  No- 
vember datiert,  gehOrt  mithin  ganz  an  den 
Anfang  des  im  Herbst  beginnenden  Jahres, 
also  in  den  llcrljst  '21."  -  Iit  214.  Das  erste 
ist  unmöglich,  weil  Oarucalla  da  noch  nicht 
in  Aeien  war,  aneh  «tammt  sein  Beiname 
er!»t  ans  dem  Oktober  218. 
Mithin  bleibt  nur  214  p,,  nicht  210,  wie  B. 
reehnet.  Wir  lernen  daiaas  zweierlei:  ein- 
mal, dar«  das  philadelphische  Jahr  vor  dem 
2.  September  begann,  und  femer,  dafs  Cara- 
calla  den  Brief  iddit  auf  den  Mandl  dee 
Jahren  210  ;  hrieben  haben  kann,  sondern 
vorher,  vielleicht  von  Fergamoa  ans.  £s 
liegt  denmadb  aneh  kein  Grand  mehr  tot 
anzunehmen,  dafs  er  von  Nikomedien  aus 
über  Sardeis  und  Philadelpheia  nach  Syrien 
gezogen  ist;  er  wird  im  GegfenteU  die  grofi» 
nördliche  Strafse  benutzt  liaben 

Das  Gebixgeland  zwischen  Hermos  und 
Kaystroi  hat  B.  aof  Awi  scibon  begangenen 
nad  bekennten  Braten  (Iberschritten,  trota- 

»1 


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474 


Ani«jg«n  und  lOttailinigem. 


dem  hat  er  unsere  Kenntnis  m  muniiigfucber 
Besiebung  enroitert.  So  verdankou  wir  Uun 
di>  er<<t6n  genaueren  Angaben  über  das  Öst- 
liche Vorland  des  Sipjloe  bis  zum  Niftscbai, 
m  er  bei  Köscheler  auch  die  Spuren  einer 
alton  Stadt  gefunden  hat,  die  allerdings 
völlig  unbenennbar  ist.  Auf  der  Stelle  von 
Lcitbey  Jail»,  hoch  im  Oebitg«,  fuid«B  rfdi 
wenige,  aber  deutliche  Spuren  antiker  An- 
siedelung. Vom  KogamOB  ist  B.  durch  das 
Thal  dm  Deibendtidiai  mhrM»  und  Ubar 
den  Pafs  ins  Quellgebiet  des  Kaystros  nach 
Keiles  auf  einem  Weg  gegangen,  der  seit 
Anmdel]  16S0  iäidit  -idedw  b«iutei  worden 
war.  Bei  dem  Kay  adjvk-Assar  wurde  Diginda 
festgestellt,  und  die  Buinen  von  Gewele  wieder- 
von  denen  Arundell  (8. 914)  die  erst« 
Kunde  pi'ge1)en  hat.  Wie  dieser  Tl;orj^aüg, 
M>  ist  auch  das  ganze  Kaystrostbai  noch  wenig 
gemm  untenaebt  worden;  B.  bat  bewmden 
die  Gegend  von  Baliamboli.  Odemisch,  Baindyr 
und  Tire  erforBcbt,  twiacheu  den  beiden  in» 
letet  genaimteii  Orten  wurde  das  epheriicbe 
Larisa  bei  dem  Tchifllik  Hadschi  Scherif 
Oglu  Effendi  inschriftlich  festgestellt.  Für 
die  Topographie  des  unteren  Kaystrontbal  ist 
von  Wichtigkeit  die  Erklärung  eines  Stücke« 
der  Tabula  Peutingeriana,  die  auf  der  Strafse 
Smyrua-Kphesos  die  Station  Aniigomc  als 
Ausgangspunkt  einer  nach  Sardeis  führenden 
Strafse  augiebt  B.  setzt,  ähnlich  wie  Le  Bas 
und  Kamsay,  Anagouie  in  diu  Xilht'  vun 
Kosbnnar  an  und  führt  die  Erklärung  seiner 
VorgänpTPr  mit  fritem  Erfolg  insofern  weiter, 
als  er  die  Namen  der  Station  als  verderbt 
aoB  Auliukome  ansieht.  Allerdings  stimmt 
Hie  Zahl  :<4  ^Hlien  7.wi8chen  Ephesos  und 
Anagome  gar  nicht.  Bemerkenswert  ist 
ttbrigese  anch  hier  wieder,  daJb  da«  Straben- 
netz  der  Tabula  nidit  mit  dem  Floftnefea  in- 

Tom  Kayetroe-  benr.  Kogamotgebiet  ist 

B.  nach  dem  Mäander  anf  vier  verschiedenen 
Wegen  gelangt,  von  denen  die  beiden  west- 
Beheten,  efldlicb  ▼on  Odemiaeb  nnd  von  Tii«, 
znm  Teil  noch  unljekannt  Avaren.  Hier  wur- 
den auch  eine  fieihe  antiker  Ort«lagen  fest- 
geatellt  Zwitcben  Baliamboli  nnd  BnUadan 
ist  das  Gebirge  noch  völlig  unbekannt;  auch 
B.a  Versuche,  «a  bier  zu  dorcbqaeren,  sind 
nicht  gelungen.  Ibnmeibin  bat  er  Ton  Baliam- 
boli auf  einem  VorstoÜB  oetwftrte  l&ng«  eines 
alten,  jetzt  fast  vergefl«flnen  Gebirgspfades 
die  Ruinen  einer  Burg  früh -hellenistischer 
Zeit  gefunden  und  erfahren,  dafs  weiter  i 
wilrts  noch  eine  von  genau  derselben  Art 
gestanden  liat.  Seine  Venuutuug,  dafs  hier 
die  Mysomakedones  anziiHet^en  sind,  ist  daher 
viel  wahnobeinlicher  als  die  von  Badet,  der 


Dulludan  als  Mittelpunkt  dieses  Gebietes  an- 
sieht.  Dean  BnUadan  ist  eine  vlHlig  neoe 

Gn'indimg. 

Nördlich  dieser  Stadt,  bei  dem  ansehn- 
lichen Dorfe  Kyrktschinar- Derbend,  finden 
sich  auf  einer  Bergkuj)pe,  die  die  wichtig.? 
Strafse  nach  Alascbehir  beherrscht,  Reste 
einer  sptt  antiken  dmnianeinuig.  Die  Ter^ 
mutung,  dafs  »an  hier  das  in  dem  Krenz- 
suge  Barbarossas  erwähnte  Aetos  suchen 
mtlase.  ist  sehr  einleocbtend;  kOnnte  man 
nicht  in  d."m  modernen  Namen  des  Gstb'ch 
sieb  i'ortäetiienden  FluTsthales  Aidoz  (oder 
Aidaa)  -Dwe  mit  dem  Aidoi  tsebiftlik  eine 
BPBtatigimg  dafür  flnilen? 

im  M&aadertbal  bat  B.  bei  Bucyalgdi  eine 
RninensUitto  geftmden,  die  wob!  ranldist 
noch  unbenannt  bleiben  mufs;  denn  weder 
sein  Vorscbla|(  Itoana  ist  sieber  zu  begründaa 
—  die  Angabe  des  Ptolemaioe,  nadi  der  man 
es  zwischen  Antiochia  a.  M.  und  Trapeso- 
polis  zu  suchen  hat,  ist  nicht  genau  genug  — , 
noeb  imd  seine  Einwände  gegen  Kidramoa 
durchschlagend,  an  das  jetzt  auch  Anderson, 
der  1897  die  Stelle  ebenfalls  gefunden  bat, 
in  Übereinstimmung  mit  Ramsay  denkt. 

Den  erythräischen  Chersonnes  westlich 
von  Smyma  hat  B  1891  auf  einer  Route 
durchzogen,  die  sich  zum  Teil  mit  meiner 
vom  Jahre  1890  berührt.  Unsere  beider- 
seitigen Aufnahmen  stimnifn  n1ierding*i  nicht 
ganz,  die  Liim'  Etuntscbukur-iijöldjilk  muDs 
etwas  nacli  Südosten  verrückt  werden.  Viel- 
leicht liabe  ich  infolge  der  starken  Steigung 
von  Aktüchekjöi  aus  (B,  ist  von  Derelgöi  ge- 
kommen) den  Weg  etwas  m  lang  gerecfanei 
und  daher  Efentschnkur  zu  weit  nach  Westen 
verschoben.  Die  HOhenmessungen  stimmen 
aber  gut,  natOrlieb  mvfs  es  anf  der  Kiepert- 
srhen Karte  bei  dem  Dorfe  620  anptutt  62 
heil'sen.  Die  von  B.  erwähnte  Kuinenstätte 
bei  Demirdsebili  habe  tob  geftmden;  ich 
kann  mich  aber  trotz  Kiepert  durchaus  nicht 
SU  seiner  Ansicht  bekehren,  dafs  dort  Airai 
gelegen  baben  soU.  Der  Wortlant  SMboo 
ist  zu  klar,  und  der  Begriff  der  zwqu  A'«ixttf 
bei  Pausanias  zu  unbestimmt,  als  dais  man 
einen  anderen  Ort  als  Cbalkideis  oder  ChalUa 
dorthin  legen  kann.  Der  Stein  mit  dem 
Namen  Al^al,  den  ich  in  Demirdschi  ab- 
gesdirieben  habe,  ist  so  klein,  dals  er  gans 
gut  aus  dem  wenig  westlicbi  gelegenen 
Ddverlü  stammen  kann. 

Das  sind  die  Hauptergebnisse  von  B  s 
l'eisen  in  Lydien  und  den  angrenzendem 
Gebietf'ij  I^ic  Lei.^tuug  ist  für  einen  ein- 
zelnen guuz  aufäcrurdentlich,  sie  ist  heroisch, 
da  B.  schon  wäbrend  der  beiden  letst«u 
Reiten  U94  nnd  18M  vwi  der  beimtaddaeben 


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Anzeigen  und  Mitteilungen. 


475 


Krankheit  ergriffen  war,  die  ihn,  den  noch 
nicht  34 jährigen,  am  2.  März  18U6  dahin- 
gerafft hat.  Von  seiner  liebenswürdigen, 
frischen  Persönlichkeit,  von  seiner  wissen- 
achafllichen  Eigenart  hat  Otto  Ribbeck 
in  der  dem  Buch  vorausgeschickten  Bio- 
graphie eine  liebevolle  Schilderung  ent- 
worfen, die  jeden,  der  sie  liest,  tief  ergreifen 
mufs.  Durch  sie  wird  B.  denen,  die  ihn  ge- 
kannt -haben,  in  lebendiger  Erinnerung 
bleiben;  in  der  Wissenschaft  wird  ihm  ein 
ebrenvoUea  Andenken  nicht  zum  wenigsten 
durch  sein  letztes  Werk  gesichert  werden. 

Walthxb  Euok. 


GOETHE  UND  ANTIGONE. 

Wieder  zwei  Voten  gegen  Goethe  in 
Sachen  der  Antigonc !  Ich  meine  Kaibels  neue 
Auffassung  der  Antigene  in  der  Göttinger 
Universitätsschrift  1897  und  Bruhns  in  diesen 
Blättern  gegen  Kaibel  gerichteten  Auf- 
satz (S.  248  ff.):  beide  Kritiker  nehmen  die 
Echtheit  jener  Antigoneworte  an,  die  von 
Goethe,  wie  von  anderen  vor  ihm  und  nach 
ihm,  als  unecht  empfiuden  worden  sind 
(Antig.  904  ff.).  Aber  freilich,  beide  müfsten 
eigentlich  mit  Henri  Weil  ausrufen:  'Die 
Verse  sind  echt,  aber  ich  wollte,  sie  wären 
unecht!'')  Kaibel  hat  die  Unklarheit  der 
Worte  nicht  gehoben,  dazu,  wie  Bruhn 
darlegt,  anderen  Stellen  Gewalt  anthun 
müssen,  und  für  Bruhn  bleibt  im  Grunde 
die  Art,  wie  Antigone  ihr  Verhalten  recht- 
fertigt, gegenüber  modernem  Gefühl  und 
Geschmack  ebenso  anstöfsig,  wie  sie  es  für 
Goethe  war.  Ob  aber  nicht  derselbe  Goethe 
uns  helfen  könnte,  das,  was  Antigone  mit 
ihrer  Sophisterei  will,  anders  zu  verstehen? 

Man  erinnert  sich  an  das  Gespräch,  das 
Goethe  —  drei  Jahre  nach  dem  Antigone- 
gespräch  —  mit  Eckermann  und  Riemer  über 
englischen  Radikalismus  und  Konservativis- 
mus hält  (Eckermann  III  S.  222  ff.  Dflntzerl 
Zunächst  erklärt  sich  Goethe  für  das  Er- 
halten und  Aufbauen;  dann,  auf  eine  Be- 
merkung Eckermanns,  verwahrt  er  sich  mit 
allem  Nachdruck  dagegen,  als  ob  er,  wenn 
er  in  England  geboren  worden  wäre,  dem 
Radikalismus  wenigstens  in  dessen  mafs- 
voller  Gestalt  würde  gehuldigt  haben:  nein, 
in  England  würde  er  von  den  bestehenden 
Mifsbräuchen  geradezu  gelebt  haben;  eine 
Bischofsmütze  samt  dreifsigtausond  Pfund 
Jahreseinkommen  hätte  er  sich  erlogen  und 
erheuchelt,  und  einmal  oben,  hätte  er  sich 


')  H.  Weil,  Revne  des  etudes  grecques 
Vn  (1894)  S.  261—266. 


durch  Verdummung  des  einfältigen  Volkes 
mit  unendlichem  >Spafs  auch  oben  erhalten; 
freilich  jetzt,  in  Deutschland,  könne  er  sich 
nicht  dazu  verstehen,  so  zu  lügen,  eben  weil 
er  keine  Aussicht  auf  so  gute  Bezahlung 
habe.  —  Was  thut  hier  Goethe?  Er  legt 
sich  im  besonderen  Moment  selbst  eine 
Denkweise  bei,  welche  seiner  sonnt  bekannten 
und  bisher  bethätigten  schroff  entgegen- 
gesetzt ist,  die  Denkweise  gemeinster  Selbst- 
sucht und  raffinierter  Nichtswürdigkeit;  er 
behauptet,  wenn  es  der  Mühe  wert  wäre, 
würde  er  so  und  so  gemein  handeln,  und 
jetzt  und  bisher  handle  er  anders,  eben 
weil  es  die  Mühe  der  Gemeinheit  nicht  lohne. 

Thut  Antigone  im  Grunde  nicht  dasselbe 
wie  Goethe?  Sie  hat  bisher  'den  Edelmut 
der  reinsten  Seele  entwickelt',  und  jetzt,  im 
besonderen  Moment,  legt  sie  sich  selber  als 
Motiv  ein  'dialektisches  Kalkül'  unter,  legt 
sich  selber  die  Denkweise  sophistisch  kal- 
kulierender Verständigkeit  bei;  Antigonc  be- 
hauptet auch,  ähnlich  wie  Goethe,  sie  würde 
unter  den  und  den  Umständen  anders  ge- 
handelt haben  als  jetzt,  weil  es  dann  die 
schwere  Mühe  ihrer  That  nicht  gelohnt 
hätte,  und  jetzt  habe  sie  ihre  That  gethan 
eben  aus  der  verst'ändigen  Berechnung,  dafs 
es  jetzt  der  Mühe  wert  sei.  Und  beide, 
Goethe  und  Antigone,  stellen  sich  an,  als 
sei  es  eine  allgemein  gültige  Ordnung  der 
Dinge  oder  Regel  des  Handelns,  nach  welcher 
sie  handeln,  raffiniert  niederträchtig  der 
eine,  sophistisch  kalkulierend  die  andere. 
Wenn  die  Sache  bei  Goethe  Sinn  und  Zweck 
bat,  hat  sie  das  auch  bei  Antigone? 

Für  Goethe  bezeugt  uns  Eckermann,  es 
sei  eine  Unterhaltung  voll  Übermut«,  Ironie, 
Malice  und  mephistophelischer  Laune  ge- 
wesen. Ein  Gluck  für  Goethe!  Giebt  es  doch 
nachgerade  Philologen  von  so  furchtbarer 
Objektivität,  dafs  sie  keinen  Spafs  verstehen, 
wenn  nicht  überliefert  ist,  es  sei  Spafs. 
Also  Goethe  sprach  mit  maliziöser  Ironie  — 
zu  welchem  Zweck?  Ich  denke,  Ironie  und 
SarkasmuB  seien  im  Leben  unter  anderem 
ein  natürliches,  zwcckmäfsiges,  ja  unent- 
behrliches Kampfmittel,  eine  Waffe,  die 
insbesondere  der  vornehmere  Mensch  statt 
grober  direkter  Schmähung  und  wütiger  Be- 
schimpfung führt  im  Kampf  gegen  die  un- 
überwindlichen Mächte,  z.  B.  Gemeinheit, 
Roheit,  Dünkelhaftigkeit,  Dummheit,  Grob- 
heit. Bei  (roethe  war  es  also  dort  der 
energische  und  doch  noble  Ausdruck  alten 
Ingrinmis  gegen  gewisse  unverbesserliche 
Mifsbräuche  im  englischen  Leben;  die  Äufse- 
rung  Eckermanns,  Goethe  sei  hinterher  'mit 
derselbigen  Malice'  nochmals  auf  die  enorme 

31» 


476 


Anzeigen  und  MitteüungeQ. 


Besoldung  der  eDglischcn  hohen  Gcbtlichkeit 
zurückgekommen  (8.  285),  und  ein  etwas 
frühere«  Oeeprieh  über  denselben  Oegen- 
stand  'TT  12'2i  kßnnrn  zpi'pr-n ,  wie  sich  der 
Unmut  angesammelt  hatte.  —  Aber  nun 
Antigone?  Wenn  Goethe  aieh  eine  gemeine 
Gesinnung  hcilc^rt,  um  gegen  ehen  dieselbe 
Gemeinheit  an  anderen  inghmmige  Hiebe  zu 
fKhren,  soll  denn  etwa  Antigone  eidt  lelbit 
eine  klügelnde  Ver&tündigkeit,  ein  Handeln 
nach  dialektisch  begründeten,  kasuistiachen 
Friuiinen  znidbreiben,  nm  gegen  lolchea 
Handeln  und  solche  kluge  Kasuistik  aaderar 
lieh  rm  wehren,  zu  kämpfen? 

*lMauche  Anffiuwmig'  üt  fllv  dit  Diehtar« 
erUftrung  in  Yermf  geratcm.    ICt  Recht, 
waim  es  noh  um  die  Sucht  handelt,  bonieo 
im  Binne  mflfsiger  Fonuspiele  des  Dichten 
lu  entdecken;  dagegen  sehr  mit  Unrecht, 
wenn  Ironie  und  Sarkasmus,  wie  im  kämpfen- 
den Leben,  »o  iu  der  Fueeie  des  Kampfes  als 
natürliche  und  scharfe  Waffe  leidenschaft- 
lichen Emj)fiudens  dienen  können.  Insbeson- 
dere in  der  Tragödie,  wo  voruehme  Menschen 
durch  Menschen  und  Schicksal  Gewalt  leiden, 
ist  sarkastische  Ironie  als  Kampfmittel  etwas 
vollkommen  Katürliches  und  ist  überall  und 
jedMvdt  mit  Torliebe  angewandt  worden. 
Leider  ist  unsere  wissenschaftliche  Poetik 
und  Rhetorik  und  unsere  ästhetiache  Bildung 
xn  einseitig  fovmaUstiMili  oder  hietoriidi,  um 
Naturnotwendigkeit  und  lebensvolle  Kraft 
so  mancher  'schönen  Kunsifigur*  zu  wür- 
digen.')    Jedenfidls,  8o|^Uee  kennt  die 
Ironie   als  Kampfmittel.    Da  wo  im  'Aias' 
der  Held  in  imvemöhnlichem  Hafs  gegen 
seine  Ptinde  nun  Tode  gehen  will,  redet  er 
von  Sinnesänderung  und  Versöhnung,  um 
den  äeinigen  alles  weitere  Fragen  und  Be- 
mllhen  nm  seine  Rettung  nbensehneiden;  nber 
nun  rechtfertigt  er  seine  YerHölinlichkeit  in 
einer  Weise,  welche  mit  ihrer  Umständlich- 
keit, ihrer  Hftnfbng  thetorisdier  und  dialek- 
tischer Beweismittel,  ihrer  Her^'orkehrung 
gerade  der  Jänunerlichkeit  der  Versöhnungs- 
motive dorchavs  nicht  dem  nächsten,  prak- 
tiidien  Zweck  dienen  kann.  2L  B.  *1Ä  habe 
eben  erst  die  Erkenntnis  gewonnen,  einen 
Feiud  dürfe  man  nur  soweit  hassen,  d&h 
man  bedenkt,  der  Mann  könne  ja  auch 
wieder  ein  Freund  werden,  und  so  werd'  ich 
kflnfltg  auch  meinen  Freunden  gegenüber 
SU  Freundesdiensten  nur  mit  Vorsicht  bereit 
sein,  da  der  Freund  voranasiehllieli  nicht 


*)  Einaeitiff  ist,  was  über  die  Tronic  z.  B. 
Gerber,  Sprache  als  Kunst  FI  04  31»  ff.  u  a 
und  Baumgari,  Handbuch  der  Poetik  693  ff. 
Iduea. 


immer  Freund  bleibt  .!*  Mit  welchem 
innerlichen  Hohne  muTs  der  grofse  Hassor, 
der  ranliiiertige  Held  diese  erblnnlich  ÜBig« 
Weisheit  entwickeln!  Sich  selbst  wehrt,  und 
verwahrt  er  gerade  damit  gegen  jede  Mäg- 
Uddceit  einer  Versöhnung.  Anden,  wie  es 
scheint,  für  «Iuh  Verständnis  Tekmessas  und 
der  Salaminier:  ist  doch  nach  dem  Aus- 
spruch eines  geiilreiduni  Vnmotm  beni» 
nichts  fiBr  Kilider,  llir  nEauen  und  fttr  daa 
Volk. 

Zu  IlmUsher  TwachtungsroUer  Terwali- 

rung  wie  Aias  hätte  auch  Antigone  reichlich 
Veranlassung.  Ihr  hat  ja  alle  Welt  bishor 
die  Verständigkeit  abgesprochen,  Iimeaa 
Kreon,  die  Alten  von  Theben. ')  Und  gerade 
auf  dialektisch  motivierbare  und  kasuistische 
kluge  Sätze  der  Staatsmaral  stützt  Kreon 
sein  Handeln,  und  er  pflegt,  scheint  es,  für 
die  regelrechte,  ordnuugumiifsige  .\rt,  nach 
der  er  handelt ,  gerade  den  Ausdruck  v6(io^ 
tu  brauchen,  den  Antigone  an  unserer  Stelle 
zweimal  anwendet  (V.  191;  OOB  914  ;  so  hat 
auch  Ismene  Rücksichten  auf  allerlei  Ver- 
hältnisse und  Unterscheidungen  von  allerlei 
Rechten  mit  verständiger  Kasuistik  c^'M«  nd 
gemacht  und  gerade  das  Wort  ßif  ^hfmw 
oder  »^fwo  ßl^  verwendet,  wie  ea  Idar 
Wiederum  Antigone  braucht  (V.  79  59;  907); 
Vernunft,  Besonnenheit  femer  ist  das  Cetenun 
oenseo  der  Ältesten,  und  noch  zuletzt  haben 
sie  kasuistisi^li  flip  Pflichten  gegen  GfJtter 
und  Tote  und  gegen  Staat  und  B^erung 
gegen  einander  abgewogen  <T.  879  ff.).  Wlw 
da  nicht  Anlafs  für  Antigone.  zu  derjenigen 
Welt,  der  sie  unterliegt,  mit  Ironie  zu  sagen: 
Sieh,  gerade  ndt  HilfSs  Deiner  klugen  DialAtik 
beweise  ich,  dafa  ich  ja  genau  nach  Regel 
und  Ordnung  Deiner  kasuistisch-utilitarischen 
Hrnnl  gehandelt  habe,  und  dafür  muls  ich 
starben  t  folglich  sol  —  d  do%&  v^v  ftAfst 
ifAta  tvf%ävti9f  {  egtdi»  tt  ftigft  jiäffa» 
dfpUendim  —  wie  das  Antigone  schon  zu 
Kreon  gesagt  hat  (469  f.).  Daniin  würde  sie 
sich  dann  für  die  Richtigkeit  ihres  'Kalküls' 
auf  das  Urteil  eben  der  Verständigen  und 
Besonnenen  berufen  ('J04  und  den  Wider- 
spruch konstatieren,  dai's  ihr  kluges  Prinzip 
bei  dem  Maoue  kluger  Prinzipien,  Kreon,  so 
wenig  Verständnis  gefunden  hat;  maa  ba- 
achtp.  wie  sie  voiup  K^letv«  hart  suamman- 
atol'sen  iäfst  (9U). 

Freilieh,  sie  richtet  ihre  Rechtfertigung 
direkt  weder  an  Kreon  noch  sonst  an  die 
kluge  Welt  hier  oben,  sondern  an  ihren 
total  Bruder,  sie  redet  ja  hier  tbarhaapt 


>)  V.  49  68  95  99  388  469  472  &10  Ö6ä 
6«S  f.  86S  872  ff. 


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AasdgMi  md  MitieiUmgai. 


477 


nur  noch  mit  der  Unterwelt  und  den  toten 
AagMSngßa  (891  ff  '  Nun  milfste  gerade 
vor  diesen  Au^chdrii^en  und  insbesondere 
vor  Polyueike»  die  Klügelei  Anttgones  erst 
recht  hsrslM  und  lieblos  klingen;  f^nat  uw 
dorh  genau  genommen  dem  Joten  Br  i  li^r.  sie 
wurde  auch  ihn  nicht  bestattet  hab<;ii,  wenn 
sie  «on  lebeoden  EHarn  noeb  etnen  anderen 
Bruder  erwarten  Wflrrtr  Aber  die  Toten 
kennen  Antigone  und  werden  sie  besser  ver- 
•taliein  als  M,  wie  die  Lebenden  und  daninter 
sogar  di'p  Alt'^^'en  Bio  zuletzt  noch  verstanden 
haben.  Also  dem  Bruder,  für  welchen  sie  in 
den  Toi  geht,  kOnnle  Sbr  '«Miiebtw  diatek- 
tisches  Kalkül'  vielleicht  ein  A\isbriich  Hber- 
qoaUender  Bittarkeifc  sein  aus  einem  Herzen 
«OB  Pfliehtn^fal  tittd  Tenrandtenllebe.  *) 
Richtet  doch  auch  Goethe  feine  Apologie 
•oxialer  Niedertracht  an  Männer,  welche  ihn 
fceBDen  nnd  verebfen :  je  cyniieher  er  spriditt 
je  Bchwilrzer  er  seine  Nicht^wfirdigkeit  auf- 
tiigt,  dMto  beller  leuchtet  ihnen  seine  wirk- 
lidie  Oesinnnnip  hervor. 

Auch  Antigone  trägt  stark  auf,  die  leeh- 
nende.  kasnistischo  Lebensklugkeit  der  ver- 
ständigen Welt  wird  in  ihrem  Hunde  zur 
spitzfindig  spielenden  Klügelei  nnd  fast  zur 
Unverstandlichlcoit.  *1  f?o  sclilhnm  v.'^ro  das 
nicht:  die  Sprache  schwerzvoller  und  hobn- 
voller  BuipOrung  gegen  eine  Übermacht  wird 
gerne  spitzfindig  und  leicht  dunkel.  In  der 
Tragödie  des  zornigen  Schmerzes,  dem  König 
Laar,  blüht  es  förmlich  von  Wort-  und  Ge> 
dankenapielereion ,  di(»  oft  zn  VerierrJltseln 
werden.    In  Zorn  und  Verzweiflung  witzelt 

')  DaTs  sie  eich  snletst  auch  an  die  QOtter 
wende,  wie  Bnihn  sagt  (8.  S48),  ist  mmdaäbeni 

nni^eiiau  ansgedrückf:  sich  an  sie  zuwenden, 
lehnt  sie  vielmehr  ab,  V.  921  ff. 

*)  Es  int  immer  meine  Meinung  gewesen, 
dab  wie  bei  der  filektn  des  Sophokles  so 
bei  Ant%one  die  inr  Tbat  treibenden,  den 
Kampf  führenden  Kräfte  nicht  sowohl  eine 
persönliche  Schwesterliebe  und  ein«  all- 

Semeine  Frömmigkeit  seien,  als  vielmehr 
ie  altgrieehiscbett  und  heroischen  Gefähle 
der  nefltt  nnÜ  Ffficht  gegcnfiber  dem  bhits- 
verwandten  Geschlecht,  insonderheit 
den  toten  Blutsverwandten:  soweit  würde 
ich  Kaibel  gegen  Bruhn  recht  geben; 
meine  Elektra  8.  117  f 

•)  Um  Wer  die  Frape  nicht  anch  wieder 
vf»n  die'ieni  Ende  aus  aufzurollen,  bemerke 
ich  nur,  dafs  ich  über  die  logischen  und 
sprachlichen  AnatOfso  durcbaus  nicht  so 
leicht  wegkomme  wie  Bruhn  S.  250;  vgl.  be- 
sonders Kviiala  (Beitnlge  III  40  ff.),  Weck- 
lein (Ar6  Sofih  emrii  l  i  r,  '  ff  ).  Otte  /De  fab. 
Oedipodea  26  ff  ),  F.  Kern  (Z.  f.  d.  G.-W. 
18M  S.  4  ff  );  zuletrt  P.  Oovssen,  Die  Aiiti- 
gwe  S.  Ii— 76. 


Macbeth  über  Rhabarber  and  Senna,  und 
beim  Tode  seines  WeibeR  reflektiert  und 
spintisiert  er  (Ifrnrt,  dafs  Hodonstedt  ihn 
ji-denfalls  mifsv*  i  ^i.4tirlen  hat,  wenn  er  ihn 
%'ßlHg^er  rier/.loni[rkeit  anklagt  (Mach.  V  8, 
V  b).  Ein  Vater  hat  unwissentlich  seinen 
8ohn  getötet,  und  womit  protestiert  schliefs- 
lieii  seb  bitterer  Schmers  gegen  diese  Un- 
natur? Mit  einem  Paradoxon .  Aber  dessen 
Sinn  die  Erklärer  noch  jetzt  nicht  im  klaren 
sind  (Heinrich  d.  Sechste,  m.  Ttil,  A.  n  ft). 
T'^nd  an  dem  allem  ist  nicht  etwa  tdofn  eine 
besondere  Neigung  Shakespeares  und  seiner 
Zeit  sdrald.  Schon  hei  Aeseh^los  ist  an  so 
mancher  Stelle,  zu  der  die  FrklTirer  an- 
merken 'gesucht',  'überladen',  'dunkel',  also 
wonllglieh  'verdorhea*,  Überladung  nnd 
Dunkelheit  nur  die  charakteristisrhe  Wirkunp; 
hohnvoller  oder  verzweifelt  bitterer  Stim- 
ainng.  *)  Die  arme  Tekmessa  bei  Sophokles 
wird  im  Schmerz  über  Aias'  Selbstmord 
und  in  ohnmächtiger  Empörung  gegen  den 
Trtnmph  der  Feinde  so  spitsfindig  und  — 
ohne  den  Vortrag  des  Schanspiders  —  eo 
schwer  verständlich,  dafs  man  schon  min- 
destens drei  Verse  für  unecht  erklilrt  hat 
(Aiap  !t(;i  ff  Dfiß— 968).  Und  gleich  nachher 
die  'gesucht  i)oiiitierte',  'platte',  'Oemein- 
plätzc'  brauchende,  'wunderliche',  ja  'wider- 
liche' Art  des  Teukros.  da  wo  er  mit  dem 
Gürtel  des  Aia«  und  dem  Schwerte  Hektors 
argumentiert  —  sie  ist  eben  eiue  iugrimmige 
Sophisterei,  mit  welcher  die  Ohnmacht  des 
H<'lden  gegen  die  Übermacht  der  Schicksals- 
mäcbte  und  gegen  etwaige  fromme  Gut- 
matigkdt  der  Mensdien  protestiert;  seine 
Unklarheit  hat  auch  Teukroa  schwer  bflfRen 
müssen,  mit  zwölf  Versen  und  neuerdings 
noch  mit  dem  MilWerstindnis  eines  unserer 
enten  Interpreten  *'i 

Dafii  gerade  Ironien  leicht  von  späteren 
Anslegern  Terkannt  werden  nnd  ünUaiheit 
verursachen,  ist  natürlich;  die  Ironie  sjtricht  ja 
von  dem,  was  der  klare  Sinn  wäre,  ungefilhr 
das  Gegenteil  ans.  ht  nnserem  Falle  kOnnte 
nun  aVier  ein  hischen  Unver^^tilndlichkeit 
geradezu  den  Zweck  haben,  eine  gewisse 
Art  Terstlndigkeit  ad  absordmn  sn  l&hren. 
So  spricht  im  König  Johann  (III  1)  der  päpst- 
liche Legat  Pandulfo  der  Form  nach  reine 
Logik  und  Dialektik,  aber  Sinn  entdeckt 

fn  der  3.  Aufl.  von  Engere  Agamemnon 
habe  ich  midi  des  Dichters  in  diesem  Sinn 
mehrfach  angenommen;  vgl.  anch  das  Basler 
Gymnasialprogramm  'Die  Tragödie  Aga- 
memnon' S,  81,  4. 

*)  Ai.  1028  ff.  —  %ä%f[vop  1086  hat  Kaibel 
(Elekim  8.  80)  auf  Aiaa  statt  anf  {Miifo 
bengen. 


478 


AnseigeD  und  IKtteUungim. 


man  in  frawimen  SAtsen  nscli  (Jildemehton 

Urtt'il  nur  mit  Müh"  und  Not:  os  wird  an- 
genommen, der  Dichter  wolle  auf  diese  Weise 
die  spiteflndige  rOmiselte  l^uistflc  peniflieren. 

Angenommen,  Shakespeare  in  der  Pan- 
dnlfoBzene  oder  auch  Goethe  dort  mit  seinem 
Lobe  englischer  lüfebrftucho  hätte  ein  be- 
stimmtes einzelnes,  zu  seiner  Zeit  besonders 
bekannt  gewordenes  Beispiel  der  persiflierton 
Denk-  und  Redeweise  nachgeahmt,  so  würde 
man  von  Parodie  reden.  Bei  der  flöphoklos 
stelle  nimmt  man  wirklich  an,  es  sei  darin 
ein  bestimmtes  Original  nachgeahmt,  näm- 
lich die  Antwort,  welche  nach  Herodot 
(ITT  119)  dtP  Oiittin  des  Intaphrenpn  dem 
König  Dareioa  gab  auf  die  Frage,  warum  sie 
gerade  ihren  Bruder  und  nicht  ihren  Gatten 
oder  einen  Sohn  vom  Tode  losbittf-.  Nach- 
geahmt —  ich  würde  sagen  parodiert;  denn 
das  Original  ist  inhallUdk  und  logiedi  tmd 
sprachlich  wie  geflissentlich,  w-.'^  7■.:■n^  Zwecke 
der  Persiflage  entstellt,  und  kein  Erklärer 
ist  übler  beraten  ab  dar,  <l«r  xau  sagt,  der 
Dichter  habe  die  hübsche  Geschichte  seines 
Freundes  Herodot  aus  purem  Wohlgefallen 
Uer*mit  angebradiL  Oewifb  hat  er  aber 
auch  nicht  den  Freund  persiflieren  wollen: 
es  ist  das  eine  Aa£Eassung  von  Parodie,  gegen 
die  Bu  protestieren  leider  mcht  unnOtig  ist  *); 
nicht  einmal  der  klugen  Frau  des  Intaphrenes 
würde  der  Spott  gelten  —  was  geht  die  den 
Tragiker  oder  gar  Antigene  an?  Aber  die 
Intaphrenesgeschichte  enthielt  einen  be- 
stimmten, im  Morgenland  altbekannten,  in 
Athen  vielleicht  durch  Herodot  sogar  be- 
rühmt gewordenen  'Kalkül'  barbarischer, 
nir)ttgriechiBcher  Frauenklugkeit:  durch  die 
Karikatur  von  etwas  Wohlbekanntem  konnte 
der  Dichter  den  bitteren  Hohn  seiner  hoch- 
herzigen Heldin  noch  wirk.qamer  mm  Au.s- 
druck  bringen.*)  Man  mag  im  Aias  sehen, 
wie  Teokroe  die  regelrechte  Parabel  des 
Menelans  parodiert  lY  1142— lirig):  er  ahmt 
die  Parabel foiTii  weiser  Belehrung  nach,  aber 

Vgl.  meine  Bemerkung  gegen  Kiefsling, 
fledteisens  Jahrb.  1897  S.  79,  and  die  Be- 
merkung Kaibelfl,  Elektra  8.  68,  1. 

*)  Über  ältere  indische  und  persische 
Analoj^ien  zur  Intaphrenesgeschichte  vgl. 
Pischel,  Hermes  XXVUl  (1898)  8.466,  und 
Iffffldeke,  ebd.  XXIX  (1894)  8.  16S  f.  Ähn- 
liches aus  China,  nach  dem  Baseler  Mis«ions 
magaziu  1Ö74,  Neue  Jahrb.  CXXXU  tl874» 
S.  301;  Z.  f.  G.-W.  1880  S.  6.  Parodiert  und 
karikiert  hat  berähmte  kluge  Entsoheidongen 
aoch  die  büdende  Kunst;  vgl.  die  YorSdl. 
ä  Herliner  archHoloff  Oesellschaft,  Februar- 
Sitzung  { Wochenachr.  f.  kl.  Phil.  1898  Sp.44att.) 
über  das  ebenfalls  im  ganaeo  Orient  helounte 
'Urteil  Salomons*. 


sofort  fUlt  er  gldehsam  ans  Fonn  nnd  Begd, 

und  zwar  mit  bewufster  Lässigkeit,  gewollter 
Formlosigkeit,  und  fertigt  so  die  weise  Be> 
lehmng  de«  Gegners  mit  httaender  Ironie 
ab,  nicht  weil  ^e  Parabel  des  Menelaos  an 
sich  und  an  anderem  Platze  falsch,  wäre, 
wohl  aber  weil  die  Weisheit  an  falschon 
Ort  an  falsche  Adresse  gerichtet  worden  iA. 

Man  wendet  in  solchen  Fällen  gerne  ein, 
was  Bruhn  gegen  Kaibel  einwendet  (S.  254): 
nicht  die  Worte  konnten  dergleichen  «ut- 
Hcheiden,  sondern  nur  der  Ton,  und  vom 
Tone  wVifsten  wir  nichts.  Nichts?  Das  ist 
doch  wohl  zu  bescheiden;  auch  Bruhn  hOti 
aus  Worten  die  Tone  der  Ironie,  der  bitteren 
Verachtung  u.  s.  w.  mit  wissenschaftlicher 
Oewifsheit  heraus  (8.  MO  261  n.  a.).  Wenn 
es  denn  aber  wissenschaftliche  Kriterien  föt 
die  Töne  des  menschlichen  Empfindens  im 
Drama  giebt,  so  ttgen  doch  wohl  in  wisereii 
Antiprnrv,  nrten  deutliche  Merkmale  eines 
ironischen,  sarkastischen  Tones  vor:  'ein 
Motive,  das  gans  sehleeht  ist,  tmt  ans 
Komische  gtreifl,  sehr  ff  es  u  cht  und  gar 
SU  sehr  als  ein  dialektisches  Kalkül  er- 
seheint', wie  Ooetiie  sagt,  nnd  etne  flpneh«, 

welche  nach  dem  Urteil  tüchtiger  Philologen 
mindesteas  als  sehr  l&ssig  erscheinen  muTs. 
ünd  der  Zweek  des  Sarkasmva  wlre  ein 
letzter,  moralisch  vernichtender  Protest  der 
unterliegenden  Heldin  gegen  die  siegende 
Ywständigkeit  der  Menschenwelt. 

Vielleicht  hat  so  derselbe  Goethe  mit 
seinem  anderen  GesprFich  voll  Ironie,  Malire 
und  Mephistüpbeleslauue  uns  gezeigt,  wie 
wir  den  verkannten  Willen  einer  zum  Tode 
gebenden  Antigene  aus  ihrer  käui{ifenden, 
leidenschaftlichen  Seele  heraus  verstehen 
konnten.  t>  tfAtag  «ed  Idanai. 

Tnaoooa  Piöss. 

PsviB  Coassna,  Dm  Am»o»i  ms  flerao- 

KI.ES ,     raitE     Tn>: ATRALI8CHE    Um  SITTLICBB 

WuKCMo.  Berlin,  Weidmann  1898.  76  S.  8. 

Nicht  Znfiül,  sondeni  Anseichen  einer 
Krisis  ist  eine  gcwisfle  dringende  Unruhe  in 
der  gegenwärtigen  Kritik  des  Sophokles  und 
insbesondere  der  Antigone.  Oh  die  Knda  an 
glücklicher  Genesung  fiihren  wird? 

Corssens  'Antigone  des  Sophokles'  geht 
ans  ten  derselben  Abhandhmg  Kaibels,  von 
der  in  meiner  obigen  Miscellc  die  Rede 
gewesen  ist.  Den  Versaoh,  die  Antigone- 
▼erse  MS  ff.  als  echt  tmd  als  Auidrack 
stolzer  Verachtung  der  LabdakidentDclitor 
gegenüber  dem  Blut  und  Geschlechte  Kreons 
und  Himons  an  erkUren  und  von  hier  am 
ein  neues  Licht  auf  Charakter  und  Kouflikt 
Antigenes  xu  werfen,  bekimpft  Corsiea  mit 


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AoMigen  vaA  IGtteihnigMi. 


479 


(icüaden  de«  Geschmacks  und  der  Methode, 
der  Saefae  und  der  Logik.  Er  ■elbtt  erklärt 

die  Verse  wieder  für  unecht  und  für  un- 
brAochbar  zum  Verstäadui«  von  Stück  und 
Heldin  (ß.  7—16).  Wesentlich  dagegen  flir 
dieses  yerst&ndnis  iet  ihm  die  nturk  hervor- 
ttetende  VoraoMetanog,  dals  Antigene  unter 
dem  FIndie  iliree  OiwelileohlM  ftehe  wid 
sdbflt  mos  blutschänderischer  Ehe  stamme  — 
letsteree  wohl  die  grandiose  Konzeption  des 
Aeschjlos,  dessen  'Sieben'  dem  athenischen 
Zuschauer  einen  bedeutsamen  Hintergrund 
fQr  die  Sophokleischen  Gestalten  geben 
(S.  15 — 28).  Entscheidend  sodann  für  Wirkung 
des  Stücks  und  Würdigung  des  Dichters  ist 
es.  dafs  erst  Sophokles  aua  dem  Lalidakiden 
Üuch  di«  Konsequenz  gezogen  hat,  nicht  nur 
die  Brüder,  sondern  auch  die  Schwester  dem 
Fluch  verfallen  zu  la;j^('n,  i:r:fi!  d^!'«  tlio 
i'hat  der  Antigoue  und  damit  du-  eigent- 
liche Fabel  des  Stücks  selber  gescliatlVa  hat; 
•chUefsen  doch  die  thebanischen  Heldenlieder 
nach  Welcker,  trota  Bethe,  mit  friedlichen 
oder  w^Wnilicihen  Loiclieiifeieni,  tmd  dar 
letzte  SchlufB  der  'Sieben',  wo  Antigene  dem 
Staatagebot  opponiert,  muls  sp&ier  angefügt 
Mb  <8.  90— 9t). 

Wirksamkeit  und  sittliche  Bedeutung 
giebt  dem  Stück,  dafs  Antigone  jenes  Fluch- 
gewiliiek  mit  v0l%  freier  EntaeUiefcoii^  voll« 
zieht  Antigone  ist  unschuldig,  trotz  Hegel 
und  Böckh,  und  für  Becht  und  Unschuld 
Antigene«  eoll  ancih  das  slheiuflche  Volk  im 
Theater  bestimmt  sich  entscheiden  Nach 
■ttitchem  Beoht  hätte  Kreon  den  toten  Polj- 
aeikea  Aber  die  Landeegreose  werfen,  weiter 
aber  die  Bestattung  durch  die  Anverwandten 
nicht  hindern  dürfen;  aber  Kreon  ist  für  die 
Athener  ein  Tyrann,  ohne  Sittlichkeit  im 
Sinne  Antigenes,  ein  Staataverbrecher,  wie 
Gopthe  sagt;  er  treibt  tein  ganzes  Land  zum 
Aufruhr  (V.  lUhü  S.j  und  lästert  schlielülich 
die  GMttler,  zum  Entsetzen  des  gamen 
Theaters,  um  dann  jählings  in  Schwikhe  um- 
xubchlti^en.  Gegen  willkürlichen  Tjraunen- 
willen,  für  ihre  persönliche  Pflicht  und 
mittelbar  für  das  wahre  Staatswohl  kilmpfl 
Antigone;  daCs  ein  solcher  Kampf  ein  ewig 
ndunvoller  eel,  dnvoB  aollte  daeSMck  dieZv- 
hrirer  flurrh  die  stärkste  fiemiltsersrhütterung 
fiberseugeu;  Antigones  Tod  nach  freiem  £nt- 
■eUnfii  sollte  das  Schicksal  versöhnen  und 
«ie  verherrlichen  Im  Grauen  vor  dem  Tode 
ist  sie  menschlich  und  natürlich;  ihre  Schroff- 
heiten entspringen  nns  dem  sehftrfMen  Bm- 
pfinden  für  Hechtsverletzung:  sonst  leitet 
Liebe  ihr  Bechtegef&hl;  in  der  Äufserung 
der  Uebe  m  BImen  iet  aie  vom  «tttieber 
Bitte  gelMMidett  (8.  86—67»  «1— «7). 


Allerdings  hält  der  Chor  mit  der  An- 
erkennwig  AnÜgonee  snrflek,  aber  er  tat 

eben  eine  dramatische,  nach  Ht-durfnis  der 
Handlung  charakterisierte  Person;  in  der 
KlageA?.ene  Y.  806  C  soll  zudem  «eine  kalte 
Gelatsseuheit  das  Mitleid  der  Zuschauer  zu- 
gleich steigern  und  mAltigen.  Auch  in  den 
Chovliedem  apridit  er  niät  dea  movnKidie 
Werturteil  des  Dichters  aus:  er  reAekÜeri 
die  Wirkong  der  Handlung,  daneben  regu- 
liert er  die  Empfindungen  der  Zuschauer  und 
fHllt,  wie  im  engten  Stasimon,  Zwiieihen- 
Zeiten  aus  (S.  67—61,  67—73). 

Aus  der  theatralischen  Handlung  empfängt 
durch  erschütternde  GeiiuitsV)ewegungen  der 
Zuschauer  die  sittliche  Wirkung,  jene  leben- 
dige Überzeugung,  daiu  tVevelhafler  t^ermut 
aach  des  Mächtigsten  der  Strafe  ewiger  Ge- 
setze verfalle.  Es  ist  eine  hohe  Dichterseele, 
die  sich  in  der  Antigone  spiegelt;  die  Verse 
905  ff.  «inegeln  nicht  denielben  Oeiat  wieder 
iS.  73—76). 

Corssens  Schrill  ist  anregend,  wenn  auch 
nicht  iBuner  gtuts  korrekt  geeebrieben,  der 
Ton  der  Polemik  e\wm  hoch  Sachlich  hat 
er  gegenüber  Kaibel  recht,  vielleicht  nicht 
mit  der  Atheteae  der  Tetee  906  ff.;  vgl. 
meine  obige  Miscelle.  Unsicher  wie  anderswo 
auf  poetischem  Gebiet  scheinen  mir  auch 
hier  die  Ei^ebmaae  der  Qoellenmitemtebimg, 
und  wenn  si«'  sicherer  wären,  würde  für  «laa 
Verständnis  des  Kunstwerks  wenig  ge- 
wonnen Bein:  dn  entaeheidet  daa  Wie  viel 
mehr  als  das  Was  oder  gar  das  Woher. 
Dagegm  verliert  da«  Kunstwerk  sehr  viel, 
wenn  seine  Teile  nicht  organisch  nnd  inte- 
grierend sind;  das  zieht  auch  Corssen  bei 
seiner  Auffassung  der  Cborlieder  noch  an 
wenig  in  Betracht,  obwohl  er  den  Chor  richtig 
als  dramatische  Person  zu  verstehen  eaeht 
(vgl  Flcckeiscns  .Tahrb  1807  S.  72r>ffv  Inder 
Würdigung  der  Heldin  ist  mir  besonders  er- 
freulich, dafs  wieder  jemand  den  Mut  hat 
für  trag^ische  Unschuld  einzutreten  vgl. 
Valentin  in  diesen  Jahrb.  S.  2i>a  Hagegen 
•ehdnt  ee  mir  nach  den  rechtlichen  Voraua- 
setzungen  des  Stückes  selber  uuaOtig  und 
für  die  Tragik  herabwürdigend,  daCs  Kreon 
daflbr  nm  so  eohleohter  gemacht  wirdi  ioh 
bekenne  mich  zu  der  Ansicht  Hettners,  das 
Drama  sei  dann  am  bedeutendsten,  wenn 
swei  «ieh  bekimpfieade  Leidenichaften 
im  Grunde  beide  gleich  berechtigt  seien. 
Unrecht,  von  berechtigtem  Willen  im  leiden- 
sehaftlicben  Eempfe  um  «ein  Reeht  be- 
gangen, erregt  Mitleid:  dieses  haben  die 
Athener,  hoffe  ich,  im  Theater  auch  Kreon 
gezollt,  nnd  eie  hnbeo  eich  vidleieht  noch 
«m  Sefalnaee  aieht  aowobl  fon  der  Bestrafbug 


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480 


Aanign  and  lOttaafauigini. 


eine«  übermütigen  Tjmnncii  moralisch  er- 
hoben, als  mit  einem  Menschen  ihreiigleicben 
mit  zerschmettert  uud  von  'theatralischer' 
Sympathie  beglückt  gefühlt.  Jeduufaila  irrt 
CorsECD,  wenn  er  in  betreff  theatralischer  und 
moralischer  Wirkung  mit  Gopthe  überein- 
zustimmen meint  und  dabei  doch  eigestlioh 
das  Theater  zum  lütial  nad  die  Moni  nun 
Zvoek  mtrhfc, 

Theodok  Plcss. 


Die  KÖNIGSSTANDARTB  BEI  DEN 
FBBSEBN. 

Zn   der  Stelle  Xen.  Anab  I  10,  12:  xal 

ffvrato  hA  nß*ii9  AvuttntfUiop  bemoikoB 

die  meisten  Herausgober,  tlafs  nikrTj  hier 
soviel  heüfle  wie  Speer,  und  berufen  sich 
diOiei  ftar  ISm.  Cyrop.  YU  1,  4:  i^  r 

DiMO  Erklärung  ist  den  Lexikographen 
▼on  Stephanus'  Thesaurus  an  bis  auf  die 
Gegenwart  so  einleuchtend  gewesen,  daTs 
die  Wörterbücher  im  hintersten  Winkel  des 
AstikelB  itHtn  unter  AnfUhrung  unserer 
Stelle  die  BcdeutuDg  -xHx^  aot  d6f9  ob 
cnfa|  tlifiytirov  angcbeu. 

Sollte  nun  Xenopbon,  der  erfahrene  Kriegs- 
8chrift«teller,  einen  ähnlichen  Irrtum  be- 
gangen haben,  wie  wenn  heute  in  einem 
Sehlachtenberiehie  elw«  Kürafs  mit  Laase 
verwechselt  würde,  namentlich  da  sonRt 
nirgends  in  dex  griechischen  Litteratur  ein 
BekgfOr  jene  eenderbeioBegriflBwertatMdhoMg 
■eehweishar  sein  dürfte? 

Dies  anzunehmen  ist  schon  anderen  be- 
denktieh  eiteUenea,  wie  die  HeUungever^ 
Bucbe  beweisen ,  die  K  W  Krüger  in  seiner 
Ausgabe  anführt:  »oAroO  statt  «Anjs  (lieoo- 
timrim),  M  |«b«o«  itatt  dee  GUofNBM  hA 
^Hov  (Hutchinson).  Er  BelLst  Uli  an  der 
Bedeutung  itHtq      döfiv  fest 

BcBdet,  Annehme  eines  einrig  daetehen- 
den  Worljjebrauclis,  wie  eines  Yerderbnisses 
ist  unnötig.  Die  Erklärong  wa  unserer  Stelle 
bietet  des  beieeante  Moeuk  'Alexander- 
Schlacht'  aus  der  Casa  del  Faoao  in  Pom- 
p^i.  Obwohl  gerade  dus  KOnigszeichen  nicht 
nnveitehrt  erhalten  ist,  so  bleibt  doch  seine 
Vom  deKäUdi  genug  erkennbar  Ein  Adler 
mit  aiisgewpannten  Flügeln  lieündet  sich  auf 
einem  »cliildartig  umrandeten,  viereckigen 
Brett,  das  an  einem  Speere  unmittelbar  unter 
der  Spitze  befestigt  ist  Ein  KrOncben  auf 
dem  Haupte  des  Vogek  bezeichnet  ihn  als 
Abceidhen  der  KOnigswürde.  Demnach  be> 
deutet  hier  »Onj  mehte  «ödere»  nie  dM 


Brett,  auf  dem  der  Adler  angebracht  ist.  und 
da»  Xenophon  mit  dem  kleinen  Schilde  der 
griechischen  Leichtbewaffneten  vergleicht 

Wenn  in  der  angeführten  Steile  aus  der 
Kjropädie  der  Speer  ab  Fehaenetange  für 
die  Königsstandarte  geTiannt  ifft,  pn  g'eschieht 
es,  wie  der  Zusammenhang  ergiebt  {nufijf- 
ydiftt  Si  «a^ßv  ayi«  ii  «r^furovX  trdl  ba- 
tont  wird,  dafs  der  Standpunkt  de«  TTtlniga 
im  Kampfe  weithin  sichtbar  sein  sollte. 

Aadi  dai  OhMeeai  in  der  SteUe:  M 
li'rlov,  das  wohl  schwerlich  gleichbedeutend 
sein  dürfte  mit  iitl  dÖQutos,  beweist,  dafs 
dem  antiken  ErkUbtar  daseelbe  BSld  tot- 
i^chwebte,  dne  wir  noeb  anf  jenen  Hceaik 
besitien. 

Ob  der  hier  bektmpfte  Irrtum  (nüxji  mm 

86qv}  bereits  von  anderer  Seite  berichtigt 
worden  ist,  kann  ich  bei  der  Uaaulftnglieh- 
keit  mdaer  flüftniiMiel  aiiM  entedbddfln. 
Sollte  es  der  Fall  sein,  so  würde  das  er- 
neute Vorkommen  jener  Anffaeeong  in  Lexids 
und  Schulausgaben  nur  beweisen,  dafs  ea 
nicht  überflüssig  84gan  langjährige  Mifa- 
verätandnisae  anoh  ein  aweitea  Mal  an  Feld« 
zu  ziehen. 

UäMfa  FwMMeBaaaa. 


DIR  ERSTE  EKLUüE  DES  VEBGIL 

Der  Aufsatz  von  Paul  Jahn:  'Die  Art  der 
Abhängigkeit  Vergtb  tob  Theobtt*  (Pvogr.  d«o 

Kölhiischen  Gymn.,  Berlin  1897,  R  Gärtner) 
hat  den  Verfaesw  veranlalst  den  Versuch  zu 
ma^en,  ob  man  nieht  eiaea  Weg  eiaschlageti 
kann,  auf  dem  die  dicht<>rieche  Eigenart 
Vergils  besser  erkannt  wird  als  auf  d^  von 
Jahn  gewählten.  Damit  aolt  kein  Vorwarf 
gef»eu  die  Gründlichkeit  dic^i  r  Arl  »  it  er- 
hoben werden.  Während  aber  Jahn  mehr 
dae  den  beiden  Diehtem  OemeiBHm«  iae 
Auge  fafst,  möchte  ich  den  Blick  auf  di« 
Art  und  Weis«  ricbtoi,  wie  der  Dichter  sieh 
ton  eeiaem  Yorbfld  befMt  Han  gewinnt 
dann  vielleicht  den  Eindruck,  dafs  die  An- 
klänge an  Theokrit  nicht  etwa  Armut  de« 
Dichters  an  poetischer  Gestaltungsfähigkeit 
bekunden,  sondern  die  Gabe,  B|)ieleBd  im 
Geiste  des  Theokrit  einen  bunten  Wechsel 
von  neuen  Bildern  zu  scbaÜ'en,  die  den  sach- 
kundigen Leser  stets  an  das  Vorbild  ge- 
mahnen, aber  7iirrl*^jch  zur  Ermitteinn?  i^r 
Verschiedenheit  unregen.  Denn  um  etn  müh- 
sames Zusammentragen  der  oimietoen  ZOgo 
aad  ihre  moeaikartiga  ZnaaBuaeaafltMVif 


')  Vgl.  meia  Beferait  Gyuuwnam,  18M 
ITr.  11  8.  SM. 


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Ausdgai  und  MittMinngeii. 


481 


katm  66  sich  nicht  gut  haQde]n.  du  die 
IndividualitSt  Vfr^Mls,  ilie  doch  auch  in  di-n 
Eklogen  eich  offenbart,  wesentlich  ver- 
•düeden  ist  von  der  seinet  Vorbildes ;  Theokrit 
erscheint  ührigens  schon  dvirr^  -^firif  Eip<^n- 
scbaft  als  Vorbild  iu  der  vortcnhattfreu  Be- 
leuchtung. Diese  IndividualitAt  Vergils  zu 
verstehen  int  wohl  bis  zu  einem  ^'ewiasen 
trntd  möglich:  muo  muT»  Paul  Cauur  un- 
bedingt znitimnien,  wenn  er  sagt,  daTs  wir 
selten  so  wie  bei  Vergil  die  Gelegenheit 
haben,  einen  Blick  in  die  poetische  Werk- 
•tttto  sn  Vtmn.  Die  folgende  Beepredmng 
der  engten  Eklope  will  natürlich  nicht  fÖr 
eine  alle  Aufgaben  der  Interpretation  er- 
■didpfende  Leätnng  gelten. 

In  V.  1  findet  sich  ein  AnVlanp  an  Theo- 
krit XII  8,  aber  dort  handelt  es  sich  um 
einen  yetgleteh,  liier  nm  eine  wiiUiehe 
Situation,  dort  um  das  f^ehnende  Eilen  des 
Wanderers  aus  der  aeogeuden  Olut  der 
Sonnenstrahlen  in  den  Sdintten,  Ider  nm 

das  behagliche,  sorglose  Avisruhen  unter  der 
Buche.  Dabei  wird  das  Adjektivum  o%uqi^ 
stinunnngivoll  zn  einem  trgmen  fagi,  hinsn 
tritt  noch  das  malerische  jxittilac  ivgl. 
Tbeokr.  VH  9)«  womit  der  Dichter  sein 
ftsthetieehes  WohlgefaHen  an  einem  schönen 
Baume  offenbart.  Diese  Szenerie  und  der 
£riedlich  auf  Weisen  sinnende  Hirt  geben 
ein  Bild,  da«  in  wirkungiTollem  Kontmat  xn 
don  folgenden  .steht  Zu  beachten  ist  der 
gewfthlte  Ausdruck  meditaris,  der  mehr  auf 
die  lilttiere  kfinstlcrische  Thätigkeit  pafst. 
Von  diewni  persönlichen  Standpunkt  de« 
Dichter«  aus  ist  auch  gilcestrem  Musam  für 
die  niedere  Gattung  zu  verstehen,  vielleicht 
auch  U'}ii*i,  wenn  ea  nicht  wie  gracili  in  den 
Einleitungfversen  Tnr  Aeneis  sich  auf  das 
Äufserlicbe  bezieht.  l>ie  l'nedücheu  Ver- 
hältnisse dei  Tityrus  lassen  den  Meliboeus 
seine  Ijage  um  so  schmerzlicher  empfinden; 
die«  ^eigt  diu  Anapher,  das  Beiwort  dulcta, 
das  eine  Reihe  gemütlicher  Voratellongen 
weckende  patriae  finfs.  wobei  fitws  den 
(regensatz  zur  Fremde  noch  s>chü.rft;r  hervor- 
treten lilkt.  Dann  tritt  der  Gegensatz  aach 
noch  metrisch  Tage  durch  die  Penthc- 
mimeres,  das  rtcubam  mö  tegmine  erhält 
eine  AniAlhrnng  in  Untu»  in  »mim,  Ter*  I 
in  5,  der  uns  den  individuelleren  Zug  der 
Liebe  zu  AmaiyUis  bietet,  und  zwar  in  der 
gewihliett  AnwiradaiweiM  des  rwoww  dioes» 
silnts,  wodurch  gleichzeitig  da«  l.andschafls- 
bild  erweitert,  abgegrenzt  (silvas/  und  be- 
lebt wird;  /bnmiM  l&bt  daa  Ittdeben  nicht 
nur  als  schPn.  sondeni  auch  dem  Pjirechenden 
bekannt  erscheinen.  —  Die  Autwort  des 
Ti^raa  bringt  nut  dem  anr  Eigenart  dei 
Ktns  «uhiMslMr.  t«M.  X 


röm  Dichten  gehörigen  Pathos')  das  GefQhl 
des  Dankes  gegen  den  Wohlthuter  zum  Aus- 
druck, wobei  das  Beiwort  teti^r  der  stilisti- 
■ehen  Liebliaberei  des  l)icht«rB  entspricht 
und  die  für  ihn  liezeichnende  gemütliche 
Teilnakme  an  den  Dingen  bekundet.  In  den 
beiden  nächsten  Versen  schwelgt  Tityrus  in 
dem  ßewufstsein  des  sorglosen  Lebens,  das 
ihm  nun  gesichert  ist.  Die  Sorglosigkeit 
empfinden  gewissermaAcn  auch  die  Binder 
des  Hirten,  wie  das  errare  zeigt,  welches  zu- 
gleich einen  Zuwach»  des  Landschafts bilde» 
bedeutet,  die  auf  der  Wiese  dn  nnd  dort 
zerstreuten  Tiere  Während  der  Worte 
de«  Tityrus  war  Meliboeus  in  Gedanken  mit 
der  Tergleidinng  ihrer  beiderseitigBa  Lage 
beschrtftiij'  Das  Ergebnis  liegt  iu  dem  tum 
eguidem  tnmdeo,  dann  geht  er  zu  dem  für 
eloe  nngemrangene  WeiterfBhrang  dee  Ge- 
sprächs fruchtbaren  miror  magis  Über,  läfst 
durch  undique  totis  eqs.  die  glückliche  Lage 
des  Tl^froa  als  etwas  Yeminadtes  ersdienien, 
weist  auf  seine  Ziegenherde  hin,  wodurch 
die  Szenerie  abermals  einen  Zuwachs  erhält. 
Dem  Streben,  durch  bdiTidnalirieren  die 
Situation  zu  beleben,  entsprechen  die  niichsf  en 
Verse;  sie  bewirken,  dafs  sich  unser  Mit- 
gelBhl  mit  IfeUboena  anch  auf  £e  Tiere 
seiner  Herde  erstreckt,  dazu  hilft  silice  in 
mda  and  das  Zurücklassen  .der  Jungen.  Ans 
dem  Vollaleben  g^riffen  ist  der  ielbstvor- 
wurf  wegen  des  nichtbeachteten  Omens.  Mit 
V.  18  kehrt  der  Sprechende  zu  den  Worten 
des  Tityrus  zurück  und  zu  seinen  eigenen 
Gedanken  in  V.  11.  —  Bei  der  Antwort  des 
Tityrus  ist  charakteristisch  das  weite  Aus- 
holen ;  bei  dem  Gedanken  an  Auguatus  taucht 
die  Grofsstadt  Rom  in  seiner  Erinnerung  av^ 
er  gedenkt  der  Korrektur,  die  seine  Vorstellung 
von  Rom,  die  er  sich  nach  Analogie  der  kleinen 
Landstadt  gemacht  hatte,  durch  die  Wtrit- 
lichkeit  erfahren  hat,  wobei  V.  20  f.  einen 
weiteren  Zug  aus  dem  Hirtenleben  bieten 
und  die  ursprüngliche  Ansicht  des  Tityrus 
von  Hein  durch  Vergleiche  an«  seinem 
Wirkungskreis  und  dem  Lüben  iu  der  Natur 
illustrieren.  Nun  wirft  Meliboeus  die  den 
Gang  der  Unterhaltung  Rrderndi-  Frage  auf: 
Et  quae  tanta  juit  liomam  tibi  causa  vitiendi? 
Der  Dichter  läfst  seinen  Tityrus  ebensowenig 
diese  FVage  direkt  beantworten,  wie  er  ihn 
oben  V.  VJ  sofort  auf  die  Sache  eingeben  läfst. 
ffierdorch  wird  das  Gespräch  natürlicher,  in- 
dividueller, Tityrus  erscheint  schärfer  charak- 
terisiert. Er  ist  ein  Mann,  der  nach  langem 
vergebliehen  Bemfihen  ein  Ziel  «cteidkt  hat. 

Vgl.  die  epische  Färbung  des  Aus- 
dmdm  araiii  wmM<  aynnt, 

81 


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4S2 


Aouig&i  und  Mitteünagen. 


wo  er  fMt  schon  die  HofüiaDg  aufgegeben 
hatte,  and  der  in  seiner  Fronde  eine  fieihe 
von  Stinunungen,  GMOUen  und  ESndrfleken 
kaum  bewältigen  und  ordnen  kann.  Der 
Dichter  schafit  sich  dadurch  die  Gelegenheit, 
eine  gröfnere  Auswahl  intimer  Züge  aus  den 
Jftndlichen  Leben  in  sein  Gedicht  einzufügen : 
so  das  Verhältnis  des  Tityrus  zu  der  Ge- 
liebten, zu  der  anftpruchsTollen  Galatea,  für 
die  vielleicht  auch  das  reliquit  charak- 
tfiriHtisch  ist.  vmd  n  ■■•■r  haushälterischen 
Ajaiaryllis  (vgl.  das  iiiuij^f  noit  fuibet),  femer 
die  Sorge  für  da»  jtecuUum ,  duf.  Enrerbeii 
der  Freiheit  als  dm  dem  Unfreien  vor- 
schwebende Ideal  ivou  der  Nähe  oder  Feme 
dieses  Ideals  hängt  seine  Zufriedenheit  mit 
sich  und  seiner  kleinen  Welt  ab),  schlierslich 
der  Jubel  über  die  erworbene  Freiheit,  die 
paiheliieh  |Mrw>iiiliii«ri  wird.  Sinnig  iet  noeh 
candidior  poFtqitnm  tondmti  hnrba  cadehnt% 
man  stellt  sich  unwillkürlich  vor,  wie  sich  dem 
Ti^rRwl>«i  diesem  Öfter  wiederkelurendeii  Vor» 
gang  HoffnTingslosi)>keif  r.vjl  Retrarbtunpen 
aber  seine  rasch  daidneilead<$n  Jalue  und  ihre 
nngenflgeade  Benfttning  anfdriagten.  Aneh 
in  V.  88 — 86  haben  wir  •  inr  |,f>p*t=;rhe  indi- 
vidualisierende Ausprägung  des  Gedunkens. 
M mi  sieht  den  TH^s,  wie  er  mwigens  das 
für  den  V- ;  kauf  bestinnnte  Tier,  in  der  Hoff- 
nung auf  eine  Besserung  seiner  Lage,  aus 
dem  OehOfke  we^rflOnrt,  wie  ihm  der  Gedanke 
an  den  Gewinn  die  Bereitung  treiflirhen 
Käses  für  die  Bewohner  der  nächsten  Stadt 
erieiehtert,  obwohl  «dne  Erwnrlung  so  oft 
schon  petäuscht  worden  war  ingrntne] 
Man  beachte  gravi»  aert  (vgl.  Moretum  BSX 
dns  Gewicht  nnd  die  Zahl  der  geringeren 
Münzen  entsprechen  dem  Mafsstab  dieses 
Handels  nnd  haben  ragleieh  fOr  den  kleinen 
Mann  etwas  imponierendee.  Diese  8  Terse 
aalen  endlich  auch  das  V.  20  f.  Angedeutete 
weiter  aus.  —  An  diese  hausbackenen  Er- 
wägxingen  des  TitjTus  fügt  Meliboens  ein 
sart  empfnndcne«  Bild  aus  dem  LielieBlelien. 
Wie  er  dazu  kommt,  ist  klar.  Der  Gedanke 
an  die  Abwesenheit  des  Tityras  und  sein 
Verhältnis  lar  AmarjUis  erklären  ihm  das 
bis  dahin  nnverständlichp  Gebaren  dieser; 
er  versetzt  sich  lebhaft  in  ihre  Niihe,  erlebt 
Im  Geiste  nochmale  ihr  Thun  unci  Treiben 
und  sagt  scherzhaft  vor  sirh  hin:  Fi,  ei, 
Amarylli«,  ietxt  wird  mir  manchcB  klar. 
Dabei  Iii  Ist  ihn  der  Dichter  Aufsetimgen 
der  die  Heimkehr  des  feraeweilend(>n  Ge- 
liebten erwartenden  Sehnsucht  zu  einem  an- 
nrattgen  Bild  tossBunenfOgen.  So  stim* 
munpsviill  dieses  an  und  für  sich  ist,  so 
pai'st  es  doch  weniger  zur  Situation,  wenn 
man  rieh  den  gealtetten  Ti^nu  und  die 


haushälterische  Geliebte  vergegenwärtigt  und 
dabei  berücksichtigt,  dafs  es  sich  nur  um 
eine  knne  Trennung  nnd  keinerlei  Liebes- 
leid handelt.  Vergil  hat  also  über  die 
durch  die  Situation  gegebenen  Grenzen 
hin  an  8  idealisiert.  Übrigens  tragen  diese 
Verse  auch  dazu  bei,  die  Verwertung  der 
griechischen  Vorbilder  durch  VerRil  7U  be- 
leuchten. Als  Parallelen  erscheinen  bei 
iiibbeck  Theokr  IV  12,  wo  die  Herde  nach 
dem  abwesenden  Hirten  vor  Sehnsucht  brüllt, 
femer  Rion  I  3"2  und  Mosch.  III  '23,  wo  die 
Natur  über  den  Tod  des  Adonis  und  des 
Biou  klagt;  auch  an  Theokr.  m  10  könnte 
angeknüpft  sein,  wo  vom  Pflücken  von 
Äpfeln  die  Rede  ist.  Dafs  Vergil,  wenn 
diese  Stellen  ihm  rorgeBchweht  haben,  die 
einzelnen  Züge  umgebildet  und  zu  einem 
durchaus  «genartigen  und  selbatändigeD 
^ituationsbild  vereinigt  hat,  dürft«  ein- 
leuchten. Gekünstelt  allerdings  ist  es,  wenn 
die  ganse  lüaitiir  dte  Sehnraeht  der  Anaiyltis 
teilen  soll,  denn  TityruR  ist  kein  Adonis 
und  AmarylÜB  nicht  die  alles  in  ihren  Bann- 
fcMis  sieheode  Aphrodite.  Wir  haben  also 
hier  eine  von  den  für  Vergil  charakterigtischen 
ungeschickten  Verwertungen  griedüscher 
Motive,  wie  sie  Paul  Caner  ('Zan  Ver^ 
HtUndnin  der  nachahmenden  Kunst  des 
Vergil',  £iel  1885)  zuaammengestellt  hat  — 
Die  Verse  des  Meliboens  knüpfen  nur  sehem- 
bar.  rein  aufserlich  an  V  Hf)  an,  g-ehen  that- 
sächUch  auf  V.  19  zurück  und  leiten  den 
TUttus  awangloB  cor  Beanlwuiiung  der 
V.  26  gestellten  Frage  über  Die»^  erscheint 
als  eine  Entschuldigung  auf  den  Vorwurf 
den  er  ans  den  Worten  des  Meliboens  heraus- 
hört. Dem  römischen  Dichter  entspricht 
dabei  der  Ausdruck  frwmtie»  diro»;  die 
stilistischen  Liebhabereien  Tergils  verraten 
sich  in  bit  sems;  zum  ländlichen  Kolorit  ge- 
hören V.  4ö  und  46.  Der  letzte  Vers  hat 
mit  der  Erwerbung  der  Freiheit,  die  des 
Tityrua  nach  Rom  geführt  haben  soll,  nichts 
zu  thun,  er  leitet  zum  Folgenden  über,  wo 
deutlicher  auf  Vergils  Verhältnisse  Bezug 
genommen  wird  Der  Dichter  fülilte  otfen- 
bar,  dafs  die  Identifizierung  Vergil  und 
TityTOB  nicht  recht  stimmt,  daiitjr  das 
Springende  der  ganzen  I  uterhaltung  der 
beiden  Hirten  und  die  Mannigfaltigkeit  der 
an  äich  netten  Bilder;  <sie  nolleu  den  Leser 
von  der  Prüfung  des  Ganzen  ablenken.  Gleich- 
wohl tiil'Ht  sich  zwischen  V.  40  und  4.^  keim» 
feste  Brücke  schlagen,  man  würde  Titynu 
und  «Tfo  tM  mra  manehunt  V.  46  nicht  ver- 
stehen, wenn  man  nicht«  von  den  Beziehungen 
de«  Gedichtes  zu  Vergils  Lebra  wüIste.  — 
Ott  nlelHten  Yerw  dunkterinerai  dnreh 


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AiuMi««B  und  HtttaamigCB. 


468 


den  Mond  des  Meliboeus  daa  Landgütchen 
dei  Titjnw,  dtf  erkennbare  Zfige  mit  d«m 

de«  Pichters  gemein  haben  muTs;  ob  diese 
Zäge  in  die  im  gaoun  Gedicht  voraus- 
g«Mlito  SMBttte  lümittpMMo,  mag  d»hin- 

ge^tellt  bloibcn.  Verpril  scheint  weniger  auf 
da«  abgerondete  Ganze  Gewicht  gelegt  m 
haben,  alt  auf  den  Wechsel  der  ^ncelnen 
aDniotigen  Bilder,  die  hier  wie  auch  ander- 
wärts in  den  Eklogen  nur  loee  verbanden 
nnd.  Die  BinMlheiten  hier  berflhren  deh 
teilwoise  mit  dem  Anschauungskreis  der 
Geotgica,  teils  atmen  ne  ländlichen  Flieden 
naä  Ftoluimi.  In  V.  61  wftdut  mala  an*  der 
Stimmung  de»  einer  ungewiiMB  Zukunft  ent- 
gegengehenden Meliboeus  heMu.  In  Y.  M 
->56  iafc  m  beaehten,  wie  Ttelfeilig  der 
Dichter  die  PhantaHie  des  Lesers  iu  Anspruch 
nimmt:  eanet,  raucatf  gemert  beacbftflUgea 
dai  GehOr,  zugleidi  wM  aber  audi  dem 
Gesichtflsinn  etwas  geboten,  der  frondator 
nngi  oUa  tub  rtipe  {ad  amra»  kennzeichnet 
M  reehi  seine  fröhliche  Stimmung),  die 
Tauben  lassen  airia  ab  ulmo  ihre  Stimme  er- 
schallen. Ihre  Stimme  wird  zweifach  charak- 
terinert durch  raucae  und  durch  das  die 
Saiten  de«  GemSUinSeliwiiignng  versetzenda, 
bezeichnende»  femfr  bringt  noch  nec 

ceasabit  einen  wuiteren  Zug  iii  die  Darstel- 
lung; vielleic}it  soll  auch  der  Singular  turfwr 
eino  Hfdt  i;!iii)g  für  nee  gemrrr  rf^ttohit  haben,- 
Tgl.  i'salm  IUI,  7  1°.  Was  bedeutet  endlich 
die  wiederholte  fortmatB  «nec,  das  wohl 
etwa  zu  V.  28,  aber  so  wenig  ni  H9 
passen  ddrfte?  Der  Dichter  hät  otieubar 
an  den  Stellen,  wo  die  Bezugnahme  auf  seine 
Verhältuisse  deutlicher  zu  Tage  tritt,  seine 
Persoö  um  so  tiefer  in  der  Maskenhülle 
versteckt.  Die  eine  Tbatsache  aus  dem 
Leben  (ies  Vergil  ist  die  Reise  nach  Rom 
zu  Oktavian  aus  dem  bekannten  Anlafs.  Da 
wird  der  AnlaA  verrtecU,  und  die  Persoo 
unkenntlich  gmiarbt ,  ein  Sklave  reist  narh 
Horn,  um  die  Freiheit  zu  erlangen,  was  da- 
bei OUanan  m  thnn  bat.  bleibt  in  Duikel 
^'"hüllt.  Die  zweite  Thatsache  ist  die  Er- 
haltung des  Landgutes;  wo  sie  deutlicher  zu 
Tage  tritt,  lenkt  der  jvgendliebe  Diebter 
von  seiner  Person  ab,  dadurch  dafs  er  den 
Greis  naehdracklich  in  den  Vordergrund 
rildrt.  Dafs  bierin  ein  ITennig  der  Kompo* 

Hition  läfjL',  wird  iiieniaiul  behaujitcn,  aVicr 
es  handelt  sich  darum,  die  Unebenheiten  zu 
verstehen.  —  Im  Gegensatz  zu  dieeer  Partie 
tritt  in  den  nun  folgenden  Worten  des 
Ti^fras  V.  QS  der  politische  Interessekrets 
des  damaligen  ROmen  xu  Tage,  und  Y.  68 
bekundet  eine  gewisse  Verwandtschaft  der 
Auffassung  mit  Aen.  I  720:  pmUatim  abokre 


Sychaeum  incipit.  —  Iu  der  nächsten  Gruppe 
von  Yersen  verrät  sich  die  Vorliebe  dee 
Dichters  für  Hyperbolin  lic>  und  seine  De 
lehrsamkeit;  vgl.  V.  6&  ru/miiMw  creta«.  Dana 
reieben  rieb  in  der  troeUoien  Gegenwart  dee 
Meliboeus  Zukunft  und  Vergangenheit  die 
Hand.  Denn  der  Gedanke  an  seine  bevor- 
atebenden  Irrfdirten  dringt  ibm  die  Frage 
auf:  Werde  ich  mein  altes  Heim  so  wieder 
sehen?  Dabei  veranschaulicht  Umgo  post 
Umftire  da«  Sdmen,  da«  ibn  in  der  Feme 
nicht  verlassen  wird,  ferner  mineht  sich  ein, 
man  möchte  sagen  selbstloses  Interesse  dee 
Xdäxieai  an  seiner  Heimat  ein,  wenn  er 
an  die  Folgen  der  neuen  Vcrhältniase  denkt, 
wobei  gewissexmalsen  der  Freund  der  itali- 
idienldlndwirlflefaaA  das  gegenw&rtige  System 
verurteilt  uud  auf  die  Ursache,  die  (ii.icordia 
ci'riwm,  hinweist.  V.  74  ff,  sind  der  schönen 
Vergangenheit  gewidmet  quottdam 
peeu$,  tum  ego  pogfhae).  Eine  Vergleichung 
von  V  75—77  mitTheokr  1  116,  III  1,  Vm65 
£<>igOQ,  wie  Vergil  Züge  aus  drei  verschie- 
den«A  SitaationeB  an  einer  aenea  Situation 
mit  eigener  Stimmung  zusammengeschlnngen 
hat,  wobei  nodi  viridi,  damnosa,  pendere  und 
froiaU  indiridnelle  Flibnag  bieten  und  car- 
mina  nuUa  canam  sogar  g^ensützlich  zu 
Theokr.  VIII  66  erscheint.  UbrigeuB  bietet 
die  ganze  Versgruppe  zugleich  ein  in  den 
verschiedenen  Einzelheiten  hervortretendes 
besonderes  Naturbild.  —  Im  Gegeusutz  zur 
venweiftlten  Stimmung  des  Meliboeus  atmen 
—  ein  passender  Abüchlnfs  der  Ekloge  — 
die  letzten  Verse  den  idjilischen  Frieden 
zufriedenstellender  VerbUtniase  and  abend- 
licher Nfitiir  S'ionma  procul  villarum  cul- 
iNsaa  f'umatU  bringt  eine  Art  Perspektive  in 
daa  Landscbaflabild,  und  die  Worte  awsertegife 
cnduyit  (litis  de  froniibut  umhrne  fSgen  den 
letzten  Strich  zur  Szenerie,  die  während  des 
Geepirftdw  der  ffirten  dnrob  da«  Forlaebreiten 
der  Zeit  eine  veränderte  Beleuchtung  auf- 
weist. Die  ikxuguahme  auf  d«i  Schatten 
aebeint  aneih  eine  Liebbabarei  de«  Diditeie 
gewesen  zu  tieiu,  vt;l  :  nox  umhr  "  tfi'iijna 
inoolvens  taram  Aen.  II  261,  umbra  cara 
dremimcial  neee  Aen.  n  860,  wn^  irüH 
cireuiHvalnt  fio.r  .Aen  VI  867,  umhru  ohkxitur 
eodim  Aen.  XI  6ll,  umbris  orbem  dividit 
Georg.  T  909.  Am  meisten  berfibren  rieh  mit 
iin<<t'rer  Rtellc  Ekl  II  67:  crrxcfntes  umhras 
dupUcat  $oI  {Vgl  Culex  203)  und  Aen.  I  607 : 
umbrae  nwmtibut  eonvexa  hutrabwmt. 

Diese  Zeilen  sollen  nicht  zur  fTierschätzung 
Vergils  fahren,  aber  doch  zu  liebevollem 
Prfifen  eeiner  diditeriicben  Eigenart. 

GsoBO  lau. 


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4 


484  Anseigeo  und  Mitteiloiigm. 


(iuK'IHK.S  FANIJUKA. 

Die  die^ährige  ^13.),  am  4.  Juni  in  Weimar 
•bf^attene  G«Mn)f«i«uainliiag  der  GKietlM- 

OpsellHchiifk  empfiog  ihren  Hcbönsten  Inhalt 
dorcb  einen  Festvorirag,  den  ü.  v.  Wila- 
mowita-llAllQiidorff  Uber  Goethes  Pan- 

dora  hielt.  Dr-r  Redner  pab  im  Zoitraiim 
einer  kurzen  Stunde  ein  Meisterstück  philo- 
logiadier  Interpratatioii  and  DtTination,  in^ 
dem  er  das  schwieri^^c  Bnichstuck  nym- 
boliachea  Gedichtes  unter  Zuhilfenahme  de« 
nur  aadentend  «künnerten  Schema«  der  Port» 
Hetzung  mit  aiischaulirhi'r  Schürfe  anuly- 
aiette  und  die  tiefen  Grundgedanken  de« 
Oaiuen  an  enirttieln  unternahm.  Er  lehnte 
e«  ab,  auf  Motive  iiml  EitiflüsHi'  ])or»önlicb<'r 
Art  einzogehen,  denen  nachzuforschen  auch 
diese  Diditang  Goethes  Yeranlassung  ge> 
geben  hat,  in  der  Überzeugung,  dafs  solche 
Fragen  'überhaupt  zwar  für  die  psycho- 
logische Analyse,  wie  der  Dichter  «ur  Kon- 
zeption seiner  Gestalten  kommt,  äufserst 
wichtig,  für  die  Erklärung  des  Kunstwerks 
fast  ganz  ohne  Belang  sind'.  Dagegen  be- 
gann er  mit  einer  Übersicht  des  Dramas,  die 
die  Absicht«!!  di  s  Dichfor«  darlegte  und  die 
kargen  KotiMu  des  .Schern)«»  in  überraschen- 
der Weise  vor  den  Hörem  zum  Leben  er- 
wrrlitc  Dil'  v<ir^('frii;jt»ne  AuffasBunj^  beruht, 
wie  t;«j  lüe  Philologie  fordert,  auf  genauer 
Einzelerkläniti^'  üiit  umfassender  Bcnlck- 
sichlij/üiit,'  des  dem  Dichter  vorliegenden 
Stoffes  und  der  Verhilltnisse,  aus  denen  und 
fttr  die  er  geschaffen  hat.  'Man  erkennt 
wohl',  sagt«  der  Redner,  'dafs  Goethe  nach 
dem  ersten  Schritte  zur  menschlichen  Kultur, 
den  der  Feaemnb  des  Prometheus  bezeichnet, 
einen  zweiten  vorführt,  der  Kunst  nnd  Wifsrn- 
schaft  auf  die  Erde  bringt.  Man  begreift, 
dafr  «r  neben  die  Titanen  (Promethens  vnd 
Ejiimefheusi  eine  7w<^ito.  cnipflln>rliehcre 
Generation  stellen  mulste,  für  die  er  sich 
da«  Paar  der  Kinder  (FhQeros  und  Epimeleia) 
erfaDclV  \hn-  waa  lu-ileutt.'  des  nühtMvn  die 
vom  Himmel  herab  sich  senkende  heilige 
Lade  (Kypsele)  mit  den  Dftmonen  von  Kunst 
und  WissciiHihaft,  was  die  Wiedcrlciinft  Pan- 
doras  mit  dem  Ölbaum,  der  'Moria'  de« 
Schemas  f  Wie  hSmie  den  Hensolien  Wissen 
und  KuüHt .  als  deren  priesterliche  flüter 
das  vereinigte  Paar  Phileros  und  Epimeleia 


eingesetzt  werden,  plOtaHeh  vom  EBnunel 

fallen? 

Zur  Aufhellung  dieser  Fragen  sog  Wik- 
tnowtta  die  von  Goethe  ftos  d«i  Attertan 

übemomrapneii  M- ti-.e  heran:  anfser  J<'r 
Pandorasage  bei  Hesiod  und  dem  Prometheu«- 
mythos  im  Platooisdieii  Ptotagoras  vor  allem 
die  Tliatsaclii'n ,  dafs  anf  dem  GnmdBtücke 
der  Akademie  in  Athen  Altäre  des  Prome- 
theus und  des  Bros  standen,  ebenso  der  eitle 
Ableger  des  heiligen  ÖIbaum.<  von  iler  Biir>: 
'Die  CUitierdienste  auf  der  Akademie  lieieneB 
Goethen  in  dem  Ölbaum,  den  Pandoi«  bringt, 
ein  wiinilerbares,  hinimli.-^cheH  Symbol  und 
zugleich  den  Ausdruck  für  die  Yersfihnung 
des  Prometheus.  Die  Akademie  Flstons  so 
der  Stätte  des  Prometheus  und  des  Ero« 
lieferte  ihm  den  fOi  seine  ganze  Erfindnog 
entscheidenden  CMankan,  daTs  die  Wieder 
kunfl  Pandoras  den  Menschen  zur  sorgenden 
und  liebenden  Arbeit  an  den  idealen  Guten 
Wissenschaft  und  Kunst  erhoben  habe.'  Die 
Dichtang  Ulk  bald  nach  dem  Tilsiter  Friodea 
begonnen  worden.  'In  einem  zerträmmert«ii 
Staate,  von  dem  er  sich  mit  bewufstem 
Widerwillen  abwandte,  hat  einst  Piaton  seine 
.\kaileiuie  ^'Pirrnndet,  auch  ein  Reich,  da« 
nielit  von  dieser  Welt  war  In  die  Trümmer 
dm  deutschen  Reiches  führt  Goethe  die  Lad« 
Pandoras  herab'  'Er  bewies  sich  auch 

hier  der  Lehrer  seines  Volkes,  indeui  er 
den  Verlust  menschlich  und  männlich  flbei^ 
nahm  und  den  Weg  in  Regionen  wies,  wo 
das  Gegenwärtige,  Momentane,  Räumlich- 
beschi^nkte  vcrblafst  und  verschwindet  vor 
dem  Ewig-en  '  Was  ist  also  Pandora.  uini 
wodurch  sind  die  Menschen  befähigt,  tidJ> 
PrtestertnmderLade  su  fibemdmienT  fchillen 
Ideal  vergleichbar  —  «o  nnj^efilbr  lantete  die 
Antwort  —  ist  sie  'die  Form  in  unscnu  Geist', 
und  vrenn  die  I^be  lor  evrigen  SchSnlieH 
und  die  hin^jebende  Kraft,  Ver^ant!;eno*  in  ein 
Bild  zu  wandeln,  wenn  Phileros  und  Epimeleia 
sich  finden,  dann  ist  die  H eoaehheit  teif  fltr 
den  Dienst  der  Idee,  die  sich  am  reinst« 
in  Kunst  und  Wissenschaft  offenbart  — 

Wie  der  auch  formell  voUendete  VortMg 
siehtlich  einen  tiefen  Eindruck  in  der  'ab! 
reicheil  Versammlung  hinterliefSf  so  mufs  er 
mal  jeden  eiihftuli<£  wirken,  der  ihn  im 
XDC.  Band«  des  GoetheJahrbudit  leMn  wild. 


Berichtigungen. 

8.  806  Z.  12  V.  u.  1.  Tyrwhitt  statt  Tyrrwhitt. 
S.  860  Z.  8  1.  Virginiua  statt  Appius  Claudius. 


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Stl'dkiczka   Dio  Siegesgöttin. 


Tufci  n 


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Studniczka,  Die  Siegesgöttin. 


Fig.  l.s    \  Oll  ciiit-iii  klu/.<'iiit'Uisclit'ii  Sarkojiliag  iiu  lintibh  Miif^eum. 


Tttlel  III 


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Stuumiczka,  Die  Siegesgöttin. 


L 


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Tafel  IV 


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Stl'oxiczka,  Die  Siogesgüttin. 


Marmorstatue  «Iw 


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Stvdxiczka,  Die  Siegespfttttin. 


'I'afel  VII 


Stl'omiczka,  Die  Sit^gesgöttin 


Tafel  Vm 


Stiuxivzka,  Die  SiegeHgöttin. 


Tafel  IX 


flg.  39  Vom  PaHbenoofirieB.  FIl'  ii  Fi^r  4-j 

Mün/.o  vuii  l'uriiiu.  Müuze  vuii  Klis. 


Fig.  48    Vasenbild  in  Oxford. 


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STunxlf'ZKA.  Die  Siefjesgöttin. 


V'm.  44    Vaseiibild  im  HritiHh  MiiHeuni 


Fij^.  J7  i  hi-iiien  Vilsen i>i Iii  in  Uxlnril 


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T»fel  X 


Fig.  6S   Mamorrelief  in  Mdnehen. 


osiczKA,  Die  SiegCHgöttin. 


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Tafel  XI 


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Stcdmicika,  Die  Siepe»göttin. 


Tafel  XII 


JAHRGANG  1898.    ERSTK  ABTKILUNO    ACHTES  HEFT. 


SPRACHWISSENSCHAFT  UND  GESCHICHTE. 

Akadomische  Antrittsvorlesung. 
Von  Hermann  Hirt. 

So  sehr  sich  auch  im  Laufe  unseres  Jahrhunderts  der  Betrieb  aller  Wissen- 
schaften spezialisiert  hat,  wie  viele  neue  Stämme  gepflanzt  und  emporgeblüht 
sind,  HO  bleibt  doch  die  Wissenschaft  ein  Ganzes,  und  ihre  Teile  hängen  mehr 
oder  minder  unter  einander  zusammen.  Jede  Wissenschaft  hat  zunächst  Nachbar- 
gebiete, mit  denen  sie  in  engeren  Beziehungen  steht  und  auf  die  sie  manch- 
mal hinübergreifen  mufs.  Es  ist  für  jeden  verlockend,  der  den  Blick  nicht 
starr  auf  einzelne  Punkte  gerichtet  hat,  sondern  bei  allen  Einzelheiten  des 
Studiums  den  Blick  in  das  Weitere  nicht  verlieren  möchte,  es  ist  für  einen 
Sprachforscher,  dessen  Arbeit  zum  Teil  enge  Beschränkung  fordert  und  dessen 
Wissenschaft  verhältnismäfsig  fest  in  sich  geschlossen  ist,  besonders  verlockend, 
bei  einer  Gelegenheit,  wie  sie  diese  Stunde  bietet,  die  Gedanken  hinausschweifen 
zu  lassen  zu  dem,  was  uns  mit  anderen  Wissenschaften  verbindet.  Üie  indo- 
germanische Sprachwissenschaft  steht  noch  im  Anfang  ihrer  Thätigkeit.  Sie 
ist,  wie  80  viele  andere  Disziplinen,  ein  Kind  dieses  Jahrhunderts  und  daher 
noch  auf  mühevollste  Detailarbeit  angewiesen.  Sie  ist  eine  Tochter  der  Philo- 
logie, und  aus  den  Philologen  gehen  naturnotwendig  ihre  Vertreter  hervor. 
Der  Philologie  kommt,  indem  sie  den  grammatischen  Bau  der  alten  und  neuen 
Sprachen  untersucht  und  ihre  Herkunft  erschlossen  hat,  ihre  Hauptthätigkeit 
zu  gute,  und  wenn  auch  die  Mutter  das  manchmal  etwas  wilde,  ungebärdige 
Kind  oft  nicht  gern  sieht,  ganz  verleugnen  kann  sie  es  doch  nicht.  Das  Ver- 
hältnis der  Sprachwissenschaft  zur  Philologie  hat  vor  vielen  Jahren  Brugmann 
behandelt*),  und  da  ich  mit  seinen  Anschauungen  im  wesentlichen  überein 
stimme,  lassen  wir  diese  Krage  hier  unberührt. 

Der  älteren  Sprachwissenschaft,  namentlich  ihrem  Begründer,  Franz  Bopp, 
lag  indessen  das  rein  Philologische  ferner.  Sein  Hauptgedanke,  sein  eigent- 
liches Ziel  war  es,  dem  Interessenkreis  seiner  Zeit  entsprechend,  mit  Hilfe  der 
Sprache  in  die  Anfänge  des  menschlichen  Geistes  und  der  menschlichen  Sprach- 
bildung einzudringen.  Wenn  auch  diese  Versuche  vorläufig  aus  begreiflichen 
Gründen  gescheitert  sind,  so  kann  doch  zweifellos  die  Sprachwissenschaft  der 
Psychologie  mehr  Hilfe  leisten,  als  sie  bisher  thut.  Denn  die  Sprache  ist  ein 
Produkt  des  menschlichen  Geistes  und  gerade  nach  der  psychologischen  Seite 


')  Zum  heuti(^n  Stand  der  SpracbwisflenHchaft.  Sprach wisaenacbafl  und  Philologie. 
Eine  akademische  Antrittsvorlesung. 

2(«ae  JahrbOolier.    IH'JB.    I.  32 


486 


H.  Hirt:  SpnwInrisMawhaA  «ad  Q«achidite. 


Tou  bedeutendem  Wert.  Ohne  Uie  Sprache,  so  ist  schon  oft  gesagt,  könnte 
der  Mmaeh  nicht  di«  Steihmg  in  ifer  Natur  einnehmen,  die  et  heute  besitzt, 
und  das  Spradileben  giebt  uns  über  eine  Reihe  peycholc^iacher  Fregen  nchere 
und  eigentflmliche  AuBkonfit  leh  erinnere  nur  an  die  eigentSmlichen  Spradi- 
etSrongen,  Aphasie  u.  s.  w.,  und  die  cahlreichen  pe^chologischen  Yorgange,  die 
sieb  beim  Sprechen  abspielen. 

Aufser  zur  Philologie  und  Psychologie  steht  indessen  die  indogermanisclie 
Sprachwissenschaft  noch  zur  Gescbithtf»  in  (^Ti^at*»r  und  in  mehr  als  einer  Be- 
zuhung.  Dieses  Thema  zu  erörtern  drängt  es  mich  um  ho  mehr,  als  sich 
meine  Arbeit*?n  in  der  letzten  Zeit  auf  diesem  Orenz^ehi»  t  bewejjfen  und  ich 
einst  von  der  Geschichte  ausging,  aber  alsbald  von  der  Sprachwissenscliült  ge- 
fiagen  genonunen  wurde. 

Wir  dUifen  sagen,  dab  den  Historiker  bei  dem  lebhaften  Kampf,  der  uia 
die  Prinaipira  der  Geeehichte  entbrannt  ist,  in  erster  Linie  die  Metbode  der 
Spradhwiasenschaft  interessieren  mufs.  Eines  der  ersten  Worte,  die  dem  Jfii^ 
der  Sprachwissenschaft  in  den  Hörsälen  entgegenscballen,  ist  das  Wort  'Laut- 
gesetz'. 'Verändenmgen  der  Sprache  gesohehen  nach  ansnahmalosen  GeHitzt-n' 
war  das  Prinzip,  mit  dem  die  'Junggrammatiker'*)  vor  einigen  2(1  Jahren 
die  Methode  und  Ergebnisse  unserer  TliiitiiAeit  von  Grund  aus  umgestaltet 
haben.  Man  hat  seitdem  viel  über  den  Begriti  des  Lautgesetzes  gestntteu,  und 
es  ist  zweifellos  darunter  kein  juristisches  Gesetz,  keine  Norm  und  ebenso- 
wenig ein  Gesetz,  wie  es  die  Naturwissenschaften  feststellen,  zu  verstehen.  Es 
will  vielmehr  weiter  nidits  besagen  als  dieses:  Wenn  sieb  ein  lAat  in  einem 
Worte  inneihalb  dner  Gemeinschaft  von  Menschen  Terwandelt,  so  gescbidit 
dies  in  allen  Übrigen  Worten  gleichfalls,  bUs  nicht  besondere  Umstände,  be- 
sondere Ursachen  es  verhindern.  Die  Lantyerandenmgen  gehen  mit  Regel- 
mäfsigkeit  vor  sich.  So  sehr  nun  anch  das  Wort  'Lautgesetz*  des  Nimbus 
entkleidet  ist,  der  es  früher  umgab,  ein  wesentlicher  Punkt  bleibt  bestehen.  Es 
will  besagen,  dafs  in  der  Spracheutwickelung  das  Geset7  der  Kausalität  un- 
bedingte (ieltunir  hat.  Und  dieser  Gedanke,  der  sich  in  den  sieben/it^er  .Tahren 
durchraii^r^  ist  um  benu-rkenswerter,  als  es  sieh  bei  der  SpraiiiWiriSinsi:haft 
nicht  um  eine  Natur-,  sondern  um  eine  Geisteswissenschaft  handelt.-;  Die 
Sprache  ist  dne  Funktion  des  Hensdien,  sie  ist  an  ihn  gebunden  und  kann 
sich  nur  mit  ihm,  in  der  Ocmeinschaft  der  Mensehen  erhalten.  Sie  steht  mit 
den  Ssthetisdiett,  religiösen,  socialen  Eigenschaften  des  Menadien  gana  auf 
einer  Linie,  und  wir  sind  stola  darauf,  in  unserer  Wissenschaft  auwst  erksont 
zu  haben,  d^S  die  Entwickelung  der  Sprache,  die  wir  anscheinend  so  frei  hand- 
haben, Ton  dem  bewulsten  £inflnis  des  Menschen  nnabhangig  is^  dals  hier  die 

')  mt  venia  verbo.  Die  Uezeichuung  bat  ihre  itedeuUamkeit  beute  verloreo,  da  die 
Hetbode  in  nnaerer  WiMenschaft  QbeiuU  ein  und  dieselbe  ist.  Hente  wird  daher  anch 
der  Name  auf  Hehr  verschiedene  Leute  angewandt.  Aber  für  die  damalige  Zeit  war  er  tut 

eine  gt'wiPrit'  .\ii7ahl  von  For^chprn  tirfrliränkl 

*)  Die  Versuche  Scbleichcrs,  die  Sprachwisseaschafl  zu  den  NafcorwisseoscliaAea 
rechnen,  und  ab  geielieitrai  anmMehen. 


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H,  Hirt;  SpnchwiiMiiichaft  tmd  Geachichto. 


487 


GemeinBohaft  aUee  und  die  eüuselne  Penönlidikeit  nichts  ist  Alle  Versuche^ 
die  Sprache  su  reglnneiitieren,  sind  im  weoentlichffli  milalniigeii,  und  nnr  da^ 
wo  mit  der  Schrift  ein  neues,  eigent&mlieheB  Moment  in  die  Sprache  ein- 
gelbhrt  ist,  zeigt  sich  der  EinfluTs  hervorragender  Geister.  Aber  unsere  Schrift 
Sprache  ist  kein  natürliches  Gewächs.  Sie  tragt  ihren  Namen  mit  Hecht.  Sie 
ist  eine  Sprache,  die  sieh  im  wesentlichen  auf  der  Schrift  aufhaut,  div  von  der 
grofson  Mohrzahl  nnsert-s  Volkes  erst  mühevoll  p;pleint  wird;  und  darum  kann 
sie  uns  die  üruiidgeseta«  der  Sprachentwic-keluag  nicht  lehren.  Aber  seihst 
die  bedeutendsten  Geister,  die  grölsten  Meister  unserer  Sprache  sind  wieder 
nnr  Produkte  der  Sprachgemeinschaft  and  arbeiten  mit  dem  Stoff,  den 
Generationett  tot  ihnen  geprägt  and  ihnen  ftberliefert  haben.  Es  wäre  Ter- 
lochend,  heute,  wo  der  Streit  um  die  Pnnsipien  der  OeschiehtswissenBChaft 
weite  Kreise  berOhrt,  auasuf&hran,  was  die  Geschidite  in  ihm-  Methode  roa 
der  Sprachwissenschaft  lernen  könnte.  Doch  habe  ich  mir  heute  dies  nicht 
als  Aufgabe  gesetzt,  sondern  ich  moclite  das  Gebiet  behandeln,  auf  dem  wir 
anaererseits  etwas  für  die  Geschichte  leisten  können. 

Jacob  Grimm  (Geschichte  der  deutsehen  Sprache  XIII)  hat  die  Sinache 
znr  Hilfe  fiir  die  Geschichte  herangerufen  mit  den  schönen  Worten,  die  auch 
mir  aus  der  Set  le  tresprochen  sind:  'Sprachforschung,  der  ieli  anhänge  und  von 
der  ich  ausgehe,  hat  mich  doch  nie  in  der  Weise  befriedigen  köiaiea,  dal»  ich 
nifsht  immer  gern  Ton  den  Wörtern  an  den  Sachen  gelangt  wäre;  ich  wollte 
nicht  blols  Bftoaer  haaeo,  sondern  auch  darin  wohnen.  Mir  kam  es  ▼»rsnchenB- 
wert  Tor,  ob  nicht  der  Geechichte  nnseres  Volhea  das  Bett  von  der  Spradie 
her  süiher  anfgeeehfittelt  werden  kdnntey  und,  wie  bei  Etymologien  inaii<Jwnftl 
Laienkenntnis  fruchtet,  umgekehrt  auch  die  Geschichte  aus  dem  unschuldigeren 
Standpunkt  der  Sprache  Gewinn  entnehmen  sollte.'  Aber  wenn  Jacob  Grimm 
neben  Adalbert  Kuhn  als  der  eigentliche  Rigrüiuler  der  'linguistischen  Paläon- 
tologie' betnichtet  werden  mufs,  so  geht  doch  der  Grundgedanke,  die  Ver 
Wendung  der  Spniche  zu  hi.storischen  Zwecken,  viel  weiter  zurück.  Audi  hier 
hat  LeibnizeuH  grofser  Genius,  weit  vorausschauend,  Hichtiges  erstrebt  und 
manches  geahnt,  was  spätere  Zeiten  erfQUt  haben.  In  seiner  'Brevis  designatio 
meditationum  de  originibus  gentium  ductis  potissimum  ex  indicio  lingoarum' 
hat  er  in  der  Etymologie  und  Spradiveri^eichung  ein  Hilfsmittel  ftr  die 
gasebiehtliche  Forsdinng  erkannt,  das  weiter  zarOckftthrt  als  irgmd  ein  anderes. 

Ich  kann  Ihnen  hier  nicht  —  mit  Rflcksiqht  auf  die  beschrankte  Zeit  — 
die  Entwicklung  dieses  Zweiges  der  Sprachwissenschaft  vorführen,  eine  Ent- 
wickelung,  die  reich  ist  an  Irrtümern  und  Fehlem,  reich  ulier  auch  an  Erfolgen, 
ich  nuifs  mich  vielmehr  darauf  beschränken,  das  bis  jet/.t  Erreichte  \ind  noch 
Erreichbare  nebst  den  W  egen,  die  zu  unserem  Ziel  führen,  kurz  zu  skizzieren. 

Die  Entdeckung  <le8  Zusammenhanges  der  indogermanischen  Spraelieu.  die 
iiekcjustruktion  einer  Ursprache,  war  allein  schon  eine  That  von  einschneidender 
geschichtlicher  Bedeutung.  Die  Vorstellungen,  die  das  Altertum,  die  noch  daa 
vorige  Jahrhundert  Ton  der  Herkunft  der  europaisohen  Völker  hatte,  waren 
damit  teils  Tdllig  Temichtet,  teils  auf  eine  sichm,  solide  Bunn  gesteUi  Die 

SS* 


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488 


H.  Uiri:  Sprachwissenncbatlt  uad  Geeehichte. 


Spnwhe  Terkündet  uns  volkergeacliiditlidie   Zufiammenhilnge,   WO  sie  sonst 
kein  menachlj«  h«  s  Au^ü  erkennen  würde,  und  sie  richtet  Trennangsscbnuiken 
auf,  wo  alles  gkitlifiirmig  erscheint.    Sie  ist  auf  diesem  Gebiet  neben  den 
Nachriclitiii  der  Alt^n  die  Führeriu  gewesen  und  geblieben,  obwohl  andere 
Wissensc'hal'reii  vprsiicht  haben,  ihr  den  Rang  streitig  tu  machen.    Auch  die 
Anthropologie  liat  i  s  v«  rsticht,  die  H<^rknnft  der  eur()])iiiselien  Volker  zu  be- 
stiranien  und  int  dabei  zu  wesentlich  uudereu  Ergebnissen  gekommen  als  die 
Sprachwiweiuduift.   Wir  haben  längst  eingeselien,  daüs  man  anf  unserer  Seite 
oft  in  jugendlicher  Kfihnheit  viel  an  weit  gegangen  ist,  dafs  Sprachgcmein- 
sehaft  nicht  Bassengemeinschaft  beding!^  dafs  wir  awar  von  einer  indogennani- 
sehen  Sprache  und  einem  arischen  Volke,  aber  nie  und  nimmermehr  von  einer 
indogermanischen  Hnsse  reden  dürfen.    Sprachen  werden  von  Volk  zu  Volk 
Obertragen,  die  Kelten  haben  Lateinisch,  slavische  Stamme  haben  Deutsch  ge- 
lernt luul  sind  dadurch  zu  Romanen  und  Deutschen  geworden;  Spraehen  bilden 
daher  kein  niitrihjlicbes  Merkmal  von  der  Herkunft  der  \'ölker.   Aber  gemein- 
same und  gleiche  ►Sprache  ist  noch  heute  die  notwendige  Vurbi  dingung  für  die 
Entstehung   gröfserer   stiüitlicher  Gebilde,  ganz  abgesehen  davon,  dafs  eine 
SprachUbertragung,  mit  der  wir  es,  wo  wir  verwandte  Sprachen  antreffen,  zum 
mindesten  su  tfaun  haben,  immer  ein  geschichtliches  Ereignis  ist^  das  notwendig 
unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich  zidien  mnlis.  Die  Anthropologie  sndit  gegen- 
über unseren  Aufgaben  die  Herkunft  und  die  Verbreitung  der  Rassen  fest- 
zustellen.   Ihr  Ziel  kann  sie  im  bescheidensten  Um&ng  nur  erreidien,  wenn 
es  ihr  gelingt,  verh'altnismüfsig  reine  Rassen  naehauWeisen.  Aber  ob  es  solche 
je  gegeben  hat,  je  in  historischen  Zeiten  gegeben,  das  dürfte  einigerniafsen 
zweifelhaft   sein.     Mehr   noeli    als   in   hi?itorisehen  «ind  die  Völker  in  prä- 
historischen Zeiten   <^<  \viin(lert.    Je  leichter  die  Habe  war,  die  der  primitive 
Mensch  in  Europa  hatt<",  um  so  eher  war  auch  die  Möglichkeit  der  Auswaude- 
r\mg  gegeben,  und  wir  können  gerade  au  der  Hand  der  Sprache  verfolgen, 
welche  ungeheure  VolkerrerBchiebungen  im  Laufe  der  Zeiten  in  Europa  statt- 
gefiinden  haben.   Von  Tielen  giebt  ja  die  Geschichte  selbst  Kunde,  aber  Ton 
der  grofsen  indogermanischen  Wanderung  schweigt  sie,  und  hier  tritt  die 
Sprache  als  hilfsbereite  Dienmn  ein,  die  sichre  Auskunft  giebt 

Auch  die  prähistorischen  Funde,  uralte  Zeugen  der  menschlichen  Tbätig- 
kett,  sagen  so  gnt  wie  nichts  über  die  Wanderungen  der  Völker  in  jenen  Zeiten 
aus.  Da,  wo  zweifellos  ein  Wechsel  der  Bevölkerung  stattgefunden  hat,  bleiben 
sich  die  Funde  gh  iih.  und  wo  die  Bevölkerung  stabil  geblieben,  tritt  oft  eine 
Umwandelung  der  Ivultur  rin.  Mit  den  gröfsten  Schwieriiikeiten  ist  es  daher 
verhunden,  ein  bestimmtes  (lehiet  prähistorischer  Kunde  einem  historischen 
Volke  z,uzuschreiben.  Selbst  ein  so  eingehender  Versuch,  wie  der  Wolfgang 
Uelbigs  ^)  war,  die  Bewohner  der  oberitaliscben  Terramare  fQr  Italiker,  d,  h. 
für  die  Vorfikhren  der  Umbrer-Samniten  und  Latiner  au  erklären,  wird  von 
Eduard  Meyer*)  abgelehnt  und  dttrfte  in  der  Tbat  sehr  unsicher  sein.  Ebenso- 

'}  Di«  Italiker  b  der  Poebene.  Beiträge  zur  altitaÜKhen  Kultur-  und  Konaitgeicluckte. 
*}  GeBckicfate  dei  Altettnma  n  A06. 


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H.  Hirt:  8prar]iwiMi«nf!c1iftft  ond  OMctiichte. 


489 


wenig  finden  wir  in  den  Üborresh'n  tln  Schweizer  Pfahlbaut<?n  den  geringsten 
Anhalt,  um  die  ethnologische  Stellung  ihrer  Rpwohncr  zti  ermitteln. M  Sobald 
wir  aber  deutbare  sprachliche  Urkunden  besitzen,  kommen  wir  meist  zu  gröljserer 
Klarheit  über  die  Stellung  und  die  Herkunft  der  Völker.  • 

Sprachliche  Urkunden  können  »ehr  verachiedener  Art  sein,  und  die  Wichtig- 
keit des  GegenstMidm  bedingt  es,  dab  wir  auch  an  den  kleinsten  nidit  vorQber- 
gehen  dfirfen.  Sehr  günstig  liegt  es  für  unsere  Aufgabe,  wenn  wir  es  mit 
Sprachdenkmälern  insehriftlidier  oder  litterarischer  Überlieferung  sn  tfann  haben, 
oder  wenn  die  betreffenden  Sprachen  noch  leben.  So  gering  andi  die  urkund- 
lichen Reste  des  Phijgischen,  Thrakisehen,  Venetiscben,  Hessapischen  sind,  so 
genügten  sie  doch,  um  den  indogermanischen  Ursprung  dieser  Dialekte  zu 
sichern.  Ain  r  oft  ^enu<;  fehlt  uns  dies  !illt»s,  und  wir  müssen  uns  an  Mofse 
Namen  halten.  Namen  von  l'i  rsoiuMi.  Orten.  l''liisscn,  Viilkrrn.  die  bei  den  alten 
Schriftstellern  iUierliefert  sind  uder  l)is  heute  den  VVechf^el  der  Zeiten  über- 
dauert haben.  So  t>eschränkt  und  unsicher  dieses  Mat^^rial  zu  nein  scheint,  so 
verdanken  wir  ihm  doch  schon  glanaende  Ergebnisse.  Ich  erinnere  z.  B.  an 
MQllenhoffs  Feststellung  der  alten  Keltengrense  in  Dentschlaad.  Vornehmlich 
ans  den  Flnfsnamen  hat  dieser  Forscher  den  Nachweis  gefllhrt^  dals  der  gröfste 
TmI  des  heutigen  DeutsoUanda,  mit  Ausnahme  der  norddeutschen  Tiefebene 
TOD  der  Weser  an  nach  Osten,  einst  von  Kelten  besiedelt  war.  Fast  alle 
unsere  gröfserm  Flüsse,  die  zum  Rhein  und  zur  Donau  strömen,  tragen  nebst 
diesen  Strömen  selbst  keltische  Namen  und  zeugen  dafür,  dafs  die  deutsche 
Sprache  sich  zum  guten  Teil  atif  stammfrerndeTn  Boden  entwickelt  hat.  Und 
welche  Spuren  hat  die  slaviselie  Siedeluiif;  hier  in  unserer  nächsten  Leipziger 
Umgebunp;  in  Ort^««-  und  Flnlsnamen  hiat^rlussen.  Die  ursprüngliche  Ver- 
breitung der  Ligurer,  lljerer  und  anderer  Völker  läfst  sieh  nur  an  der  Hand 
der  Namen  feststellen. 

So  Tiel  auch  auf  diesem  Gebiete  und  in  diesen  Fragen  sdion  gearbeitet 
ist,  so  stehen  wir  dodi  im  wesentlichen  noch  im  Anfimg  einer  ^tematischen 
Tfaitigkeii  Hüllenhoff  hat  sein  Werk  nur  begonnen,  nicht  su  Ende  geführt^ 
und  wenig  Nachfolger  ^'efnnden. 

Das  Namenmaterial,  imf  das  wir  uns  oft  genug  stützen  müssen,  hat  nidit 
in  allen  seinen  Arten  den  «^deiehen  Wert.  Fhefsen  die  IVrsnpennamen  zumeist 
am  reichhaltigsten,  sn  darf  man  doch  bei  ihrer  Bewertung  nicht  verpesten,  dafs 
sie  keine  puiz  lantere  (^u«  lle  smd.  Die  uns  Oberlieferten  gehören  nuturgemäis 
den  otjereü,  hcrrüchendeu  Stiiichteu  an,  und  es  kann  neben  ihnen  noch  ein 
ganz  anderes  Volkselement  bestanden  haben,  von  dem  wir  keine  Kunde  be- 
■itaen.  Die  Namen  der  Russen  in  den  Vertrügen,  die  sie  mit  Bysanz  ab- 
gesehloMon  haben,  sind  durchweg  skandinavischen  Ursprungs;  trotsdem  bestand 
neben  dieser  Herrscherklasse  das  einheimische  Slaventum  fort  und  gelangte 
nach  wenigen  Generationen  zur  Herraehaft.    Heute  sengen  noch  Namm  wie 


Vi  Auch  den  Ausfflbninf^n  Kret«c-hmcra,  Einleitang  in  die  Geschicliie  der  giisdaitobeD 
Sprache  8. 174  ff.,  ist  «teraelbe  Zweifel  entgogenzosetMa. 


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490 


H.  Hirt:  8pTaehwi«8eii«chaft  und  Qeicbiclilie. 


Olga  (aus  skarul  TTolgH^  Oleg  (aus  Hp1fri\  Igor  fan«  Tngvarr),  Vladimir 
von  der  fkandinavischen  Invasion,  die  an  Zahl  der  Köpfe  jedenfalls  nicht  nn 
bedfiitfiid  gewesen  ist.  Gleiches  für  die  Skythen  vorauszusetzen  geht  sthr 
wüW  aji.  Ortsnamen  weisen  dagegen  eher  auf  die  ältere  Bevölkerung,  und  am 
meisten  thun  dies  die  Namen  der  grölseren  Flfisse,  die  z.  B.  auch  in  Amerika 
von  den  etiihdmiaclim  Induuiern  Abemomineii  und  und  nodi  Ton  deren 
Spraebe  zeogen  werden,  wenn  die  lotste  Boihant  ins  Grab  gesnnlnn  iet. 

Wran  wir  heute  aneere  Krantnis  auf  Grund  der  TereeUedeoen  Kriterien 
ttbnrblicken,  so  können  wir  bis  jetzt  schon  sechs  grofse,  von  Grund  aus  ver- 
schiedene Spriichstömine  in  Europa  nachweisen.  Denkbar  wäre  es,  dafs  neae^ 
reichlichere  Quellen  an  Stelle  der  bisherigen  dürftigen  es  uns  ermöglichten, 
den  engeren  ZnsammcTihang  von  einigen  von  diesen  noch  nachzuweisen.  Sehr 
wahrscheinlich  will  mir  dies  nicht  erfclieiiu  n,  sondern  ch  ist  viel  eher  zu  er- 
warU^n,  dafs  wir  uoeh  weitere  Sf^nielifaniilien  eiitdeeken.  Die  Zeit^tn,  in  denen 
man  jede  Sprache  Europan  für  indogermanisch  zu  erklären  sich  bemüht  hat, 
sind  hoffentlich  vorüber.  Europa  zeigt  auf  engstem  Räume  die  meisten  Völker- 
individuen,  es  wird  auch  seit  alten  Zeiten  sehr  TetBcfaiedene  Sprachen  be- 
herbergt haben. 

In  der  Pyreid&enhaibinflel,  um  mit  dem  äufiaerstM  Westen  au  beginnen, 

finden  wir  die  iberische  Spradbe,  von  der  sich  wahrscheinlich  Rest-e  im  heutigen 
Baskischen  erhalten  haben.  Natürlich  können  auch  in  Spanien  einst  noeh  mehr 
grundverschiedene  Sprachen  bestan<len  Imbon,  wie  dies  in  Hinbliek  auf  die  Ver- 
hältnisse anderer  (regenden  eigentlich  nur  zu  erwarten  ist.  Man  hedenke,  dafs 
in  Italien  Liguriseh,  (Jallisch,  Venetisch,  Messaj)iscb  und  Italisi-h.  viidleicht 
auch  noch  mehr  Sprachen  vorhanden  wnren.  \'urliiufig  fehlt  uns  aber  zu  dieser 
Annahme  jeglicher  Anhalt.  Das  Baskiscbc  zeigt  einen  von  allen  übrigen 
Sprachen  eigentümlich  abweichenden  Bau,  der  es  völlig  isoliert  »scheinen 
lÜsi  Alle  Versuchs^  das  Baskiseh-Iberiscfae  mit  den  nordafrikanischen  Sprachen 
SU  Termittebi,  sind  bisher  gescheitert  Doch  sind  diese  Versndie  mit  so  un- 
Huschenden  Mitteln  unternommen,  dafs  in  dieser  Frage  noch  nichts  eni- 
schieden  ist»  Eine  Anzahl  ähnlicher  topographischer  Namen,  die  sich  in 
Spanien  finden  und  in  Nordafrika  wiederkehren,  macht  es  wenigstens  wahr- 
scheinlich, dals  auch  an  dieser  Stolle  das  Meer  keine  Trennung^fcheide  ge- 
wesen ist  und  keinen  Stiilstand  in  den  Wanderungen  zu  bewirken  vermocht 
hat  Von  einer  Verwandtschaft  dieser  Gruppe  mit  den  übrigen  europäischen 
Sprachen  ist  keine  Spur  zu  entdecken. 

An  den  iberischen  schliefst  sich  der  grolse  ligurische  Spracbstamm.  Er 
ist  in  den  historisdien  Zeiten  auf  ein  kleines  Gebiet  am  sinns  Lignstieua  be- 
schränkt, aber  seine  Ausdehnung  scheint  gröfiwr  gewesen  an  sein,  als  wir  auch 
nur  ahnen  können.  Die  Westkflste  Italiens  hatte  er  sichw  inne,  und  wahr- 
scheinlich den  grofsten  Teil  Galliens.  Die  Grenzen  seiner  einstigen  Verhreitung 
sind  ebensowenig  zu  bestimmen,  wie  die  Stellung  der  Sprache,  die  uns  nur 
BUS  Orts-  und  Personennamen  und  wenigen  Glossen  bekannt  ist  Man  hat  sie 
für  indogermanisch  erklärt,  wofür  indessen  kein  ausreichender  Grund  vorliegt. 


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H.  üiii:  Sprachwissenschaft  uod  Geschichte. 


491 


Ich  adiUefie  mich  denen  an,  die  darin  einen  Belbetandigen  Spndistunm  eelisii, 
der  auch  mit  dem  iberischen  oder  etruskiechen  aehwerlidi  irgendwie  zusammen- 
faSngt.  Hoffentlich  bringt  weitere  Untersuchung  gröfscro  Sichprhfiit  in  dieser 
Frage  als  zur  Zeit  zu  haben  möglich  ist.  Auch  das  rätselhaft«^  Etruskische, 
das  nunmehr  in  Italien  folgt,  hat  man  dem  Indogermanischen  zuzurechnrii  ver- 
micbt.  Seit  Corsscn  ist  es  ja  in  diewr  Frage  ni*'  still  geworden.  Aber  wir 
besitzen  völlig  ausreichenden  Gruud,  um  jener  Ansicht  entgegenzutreten.  Die 
Zahlen  auf  den  beiden  etruskischen  Würfeln  sind  das  sicherste  Denkmal  dieses 
Spraehzweiges.  Wie  man  «e  auch  anordnen  mi^^  niMnals  lauen  eie  rieh  mit 
denen  unseres  Sprachkxeises  Terainigen,  und  dunit  ist  dieses  Ph>blem  erledigt 
Denn  es  giebt  keine  indogermamsche  ^radie,  die  alle  ihre  Zahlworte  entlehnt 
hftffte.  Zahlen  gehdrm  rielmehr  an  den  Worten,  die  die  Sprachen  am  treuesten 
festhalten.  Aufserdem  sind  ja  die  etruskischen  Inschriften  durchaus  nicht  un- 
rerstSadlich.  Wiihrend  aber  bei  Funden  anderer  Gebiete  nirgends  längere  Zeit 
rin  Zweifel  über  ihren  indogermanischen  Chanikt^^r  goherrsoht  hat,  stehen  wir 
hier  noch  vor  einem  ungelösten  liiitsel.  Wenn  dvr  grols«;  Fleifs  und  Scharf- 
sinn verschiedener  Forscher  in  so  lauger  Zeit  den  Nachweis  für  die  alte  An- 
nahme nicht  zu  erbringen  vermochte,  so  ist  die  Hoffnung  aufzugeben,  dafs  es 
auf  dem  eingeschlagenen  Wege  jemals  uioglich  sein  wird,  dies  Ziel  za  erreichen. 
Woher  das  Etraskische  stammt,  vermögen  wir  freilieh  meht  zu  sagen.  Aber 
immerhin  hat  ein  neaer  spraehlieher  Fund,  swei  vcHrgriediische  Inschriften  auf 
Launosy  awar  noch  kein  Uaree  Licht  gebracht^  aber  der  Forschung  doeh  neue 
Wege  gewiesen  (vgl.  Pauli,  Altitalische  Forschungm  D). 

Wie  che  Pyrenäen-  und  die  Appeninhalbinsel  in  ältester  Zeit  von  nicht 
indogermanischen  Stämmen  besiedelt  waren,  so  auch  Hellas.  Die  Alten  be- 
riohten  selbst  von  'lein  Stamm  der  Pelasger.  nm  dessen  Bedeutung  viel  ge- 
stritten ist.  Die  Sprachwissenschaft  kann  diese  Frage  nicht  entscheiden,  doch 
kann  sie  soviel  ^»ugon,  dafs  in  Griechenland  einst  eine  nicht  indogermanisch 
sprechende  Bevölkerung  gesessen  hat,  die  mit  der  in  Klcinasien  wohnenden 
snsammenbing,  wie  auletet  Kretsduner  in  «einer  Einleitung  in  die  Qeechichte 
dv  griedusehen  Sprache  8.  401  ff.  nach  dem  Vorgang  Paulis  gezeigt  hat.  Es 
sind  Tor  allem  die  Ortsnamrai  auf  -v^  wie  £6ifiv&os,  jk^6ffvvfh>£y  Ttqw^ 
K6ifaf9os^  *EfföpMf9os  und  auf  tftf  ,  -vr-,  Kva6t6$i,  'TtuttTÖg,  I^Aqvrdg,  'jEtMAff, 
Krjipiaög.,  rittQvaööög,  die  ein  durchaus  un indogermanisches  Gepräge  tragen  und 
mit  denen  auf  kleinasiatischem  Boden  übereinstimmen. 

Wie  weit  sich  die  urgriechischen  Ahnrigines  einst  ausgedehnt  liahen, 
wia«en  wir  bis  heute,  da  man  erst  beginnt,  dieser  Frage  seine  Aufmerksamkeit 
zuzuwenden,  noch  nicht.  Man  kann  auch  hier  auf  allerlei  Überraschungen 
gefafst  sein. 

Kleinarien  gehört  im  geographischen  Knne  aweifellos  au  Europa,  und  wir 
sind  daher  berechtigt  rinen  BIkik  auf  sriiM  VdDcerTerliSltnisse  au  werfen,  vor 
allem,  da  hier  der  Sprachwissenschaft  nodi  reiche  Aufgaben  warten.  Sinerseits 
liegt  an  Terschiedenen  Orten  ein  reidies  Lisdiriftenmaterial  ror,  und  anderer- 
srits  iat  man  rieh  Ober  die  Stellung  dieser  Spradien  nicht  rinig.    Im  all- 


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492 


H.  Hirt:  SpracbwiBseoBchafl  und  Geschichte. 


gemeinen  wird  man  jetzt  die  beste  Belehrung  in  Kretschniers  'Einleitung  in 
die  Geschichte  der  griechischen  Sprache'  finden,  mit  dessen  Anschauungen  ich  im 
wesentlichen  übereinstimme.  Auch  durch  Bugges  neuesten  Versuch  (Lykische 
Studien  I.  Videnskabsselsskabets  Skrifter.  II.  Historisk-filosofisk  Klasse  1897 
Nr.  7.  Christiania)  sind  die  Momente  für  den  indogermanischen  Charakter  des 
Lykischen  nicht  verstärkt,  vielmehr  lassen  sich  gerade  aus  ihr  schwerwiegende 
Punkte  gegen  seine  Aufstellungen  entnehmen.  Wenn  P.  Jensen  in  seiner  Schrift 
'Hittiter  und  Armenier'  (Strafsburg  1898)  jenes  rätselhafte  Volk  zu  Armenieni 
und  damit  zu  Indogermanen  machen  will,  so  mufs  ich  gestehen,  dafs  mich 
seine  Ausführungen  in  keiner  Weise  überzeugt  haben.  Selbst  vorauagosetzt, 
dafs  alle  seine  Lesungen  und  Deutungen  richtig  sind,  so  sind  diese  Sprachreste 
nicht  der  Art,  dafs  die  Verwandtschaft  mit  dem  Indogermanischen  irgendwie 
in  die  Augen  spränge,  und  als  Indogermanist  mufs  ich  erklären,  dafs  man 
ganz  andere  Moment«  als  Jensen  beibringen  mufs,  um  die  Verwandtschaft 
zweier  Sprachen  zu  behaupten.  Was  bis  jetzt  angeführt  ist,  bleibt  teils  sehr 
unbedeutend,  teils  läfst  es  auch  andere  Arten  der  Erklärung  zu. 

Im  Norden  und  Nordosten  unseres  Erdteils,  an  der  Grenze  nach  Asien 
hin,  finden  wir  schüefslich  den  finnischen  Sprachstamm,  der  auf  unsere  Ge- 
schicke keinen  wesentlichen  Einflufs  gehabt  hat,  dessen  Herkunft  und  einstige 
Ausbreitung  indessen  noch  unbekannt  ist. 

In  der  Mitte  Europas  aber  und  nach  Osten  hin  in  einem  schmalen  Streif 
bis  nach  Indien  sitzen  die  indogermanischen  Völker,  deren  Geschichte,  wie  man 
sagen  kann,  die  Geschichte  unseres  Erdteils  bildet. 

Sicher  ist  es  keine  müfsige  Arbeit,  wenn  man  vor  allem  die  Herkunft 
dieses  hochbegabten  Sprachstammos  und  Volkes  zu  ermitteln  versucht  hat 
Denn  es  ist  für  viele  Fragen  der  europäischen  Geschichte  zu  wissen  geradezu 
notwendig,  wo  er  sich  einst  gebildet,  auf  welchen  Wegen  und  in  welcher  Art 
er  in  die  entferntesten  Sitzt*  gelangt  ist.  Zweifellos  ist  unsere  Erkenntnis  in 
diesem  Punkte  während  der  letzten  Jahre  fortgeschritten.  Während  man  früher 
die  Indogermanen  mit  entwickelter  Kultur  als  Bringer  des  Lichts  aus  Asien 
einwandern  liefs,  ist  man  heute  ziemlich  allgemein  der  Ansicht,  dafs  die  Indo- 
germanen ein  europäischer  Sprachstamm  waren,  der  in  den  mittleren  oder  öst- 
lichen Teilen  Europas  seinen  Sitz  hatte.  Und  selbst  wenn  dies  unrichtig  sein 
sollte,  so  können  wir  doch  die  Wanderungen  der  indogermanischen  Völker  nur 
verstehen,  wenn  wir  als  ihr  Ausstrahlungsgebiet  das  östliche  Deutschland, 
Böhmen,  Ungarn  und  die  östlicheren  Länder  annehmen.  Zu  diesem  Ergebnis') 
führt  eine  Vergleichung  der  zu  erschliefsenden  Ursitze  der  einzelnen  V^ölker 
und  weiter  die  engere  Verwandtschaft,  in  der  einzelne  Sprachen  des  grofsen 
Sprachstammes  unter  einander  stehen. 

Schon  frühzeitig  hat  man  sich  das  Verhältnis  der  8  oder  9  grofsen  Sprach- 
gruppen der  indogermanischen  Sprachfamilie  unter  dem  Bilde  eines  Stamm- 
baumes vorzustellen  versucht,  wobei  indessen  die  Anschauungen   über  die 

*)  Vgl.  hierzu  meinen  AufHatz  in  der  (»eographiRchcn  Zcilschrifl  I. 


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H.  Hirt:  Spnidiwmeiiisehift  und  Qeichiehte. 


4d3 


ZosammengehSrigkeit  dor  einzelnen  Sprachen  mannigfach  gewediselt  haheiL 
Erst  neaerdingB  ist  aach  in  dieser  Frage  ein  wesentlicher  und,  wie  wir  hoffen 
dOrfni,  dauernder  Fortschritt 'endeli  Wir  k&inen  eine  uralte  Dialektspaltung 
in  dar  indogarmanisehen  Omndsprache  nachweisen  und  danach  eine  Sstlidie 

und  eine  westliche  Gruppe  unterscheiden.  Zu  jener  gehören  das  IndiBch  lranische, 
an  das  sich  das  Slavisch-Litauische  zunächst  anscblicfst.  Ferner  Albanesiscb, 
Thrakisch  Pln  v^isdi  und  Armenisch.  Die  Armenier  stammten  nach  Herodot 
von  den  Phngoin  ah,  und  diese  Nachricht  wird  dadurch  bestntifft,  dafs  die 
armenische  Sprache  in  wesenthchen  Punkten  mit  dem  Plirygischen  übereinstinimt, 
und  dieses  gehört  wiederuui  mit  dem  Tbrakischeu  eng  zusammen.  Alle  klein 
asiatischen  Indogennaueu  sind  zweifeiioti  uu8  Europa,  zunächst  aus  dem  alten 
Thrakien  eingewandert,  und  es  berfihrten  sieh  also,  wie  man  siehl^  die  YdUcer 
dieser  Sprachgruppe  an  TerschiedMieii  Funkten,  indem  die  SlaTen  niehi  aUsuweit 
▼on  den  Thrakern  safsen. 

Auf  der  anderen  Seite  gehören  Griechisch,  Italisch,  Keltiseh  und  Genaanisdi 
enger  zusammen,  )uul  zwar  so,  dals  das  Griechische  dem  Italischen  näher  steht 
als  otwa  dem  Keltischen  und  Germanischen.  Freilich  haben  wir  kein  Recht, 
von  einer  grako- italischen  Periode  zu  reden,  wie  die  iilteie  Sprachwissenschaft 
that.  aK(  r  gewisse  Beziehungen,  die  auf  einstige  NachbartK:haft  deuten,  lassen 
sich  schwerlich  in  Abrede  stellen. 

Griechen  und  Itahker  sitzen  in  historischen  Zeiten  getrennt  auf  den  beiden 
südlichen  Halbinsehi.  Im  Norden  der  Hellenen  finden  wir  aufaerdem  Völker- 
slwmne,  die  von  den  AHen  unter  dem  Sammelnamen  Illjrier  zusammengefaßt 
werden.  Üher  die  spradiliche  Stellung  dieses  iudogermanisdien  Sprachzweiges 
war  es  sdiwer  mangels  ausreichender  Urkunden,  ms  Uare  zu  kommen.  Erst 
Tor  wenigen  Jahren  sind  die  Tenetnclien  Inschriften  in  Norditalien  gedeutet, 
und  es  hat  sich  dabei  ergaben,  daCl  das  Venetische  ebenfalls  zu  der  westlichen 
Gruppe  gehört.  Wenn  man  nach  diesem  eigentlich  nicht  überraschenden  Er 
gehnis  die  übrigen  illyrischen  t^prachreste  mustert,  ?n  kommt  inan  zu  der  Er- 
kenntnis, (hiis  auch  sie  uchst  dvm  süditalisclirn  >f»'^'^;ipischen  und  dem  Mace- 
donischen  zu  derselben  Sprache  gerechnet  werden  müssen,  und  dals  wir  in  ihr 
höchst  wahrscheinlich  das  Verbindungsglied  zwischen  Griechisch  und  Italisch 
zu  sehen  haben.  Diese  Sprache  zeigt  thatsadilich  eine  Reihe  von  BerOhrunga- 
punkten  mit  beiden.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  den  Nachweis  für  diese  An- 
nahme zu  führen,  was  ein  genaueres  Eingehen  auf  die  Sprachreste  dieser  Gruppe 
erforderte.   [Tgl.  jetzt  Kieperf^Festschrift  181  ff.] 

Der  oft  angenommene  nähere  Zusammenhang  zwischen  Italisch  und  Keltisch 
läfet  sich  auf  Grund  der  Voraussetzungan,  die  wir  notwendig  für  die  Wanderung 
dieser  Sprachstämme  machen  müssen,  sehr  wohl  verstehen,  und  ebenso  Üifst  es 
sich  begründen,  dafs  zwischen  Kelten  und  Germanen,  Germanen  und  Italikern 
(vgl.  hier7n  Verf.,  Zeitschritt  für  deutsche  Philologie  XXIX  180  ff.)  nähere  Be- 
ziehungen gewaltet  halx  ii.  worauf  die  Sprachen  hinweisen.  Wenn  sich  auch 
hier  im  Westen  ein  Glied  un  das  andere  schliefst  und  Griechisch,  lllyrisch. 
Italisch,  EeUaseh  und  Oemunisch  eine  Reihe  sidi  herfihrender  oder  achneideoder 

,  .  ...  ••• 
/  ••• :   •  •  • 

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494 


H.  Hirt:  äprachwiflseuscbail  und  Gesdüchte. 


Spraclikreifld  bilden,  so  kann  der  MitlelpiulU  dmer  ganseii  Grnpp«  nur  in 

einem  Gebiet  weBtlich  der  Karpathen  gesucht  werden,  nnd  es  sind  dann  die  beiden 
groften  indogermanischen  Dialekte  auch  frühzeitig  geograpbiseh  getrennt  gewesen. 

Weiter  auf  die  Fr^e  nach  der  Urheimat  einzugehen,  wBrde  hier  m  weit 
führen,  da  uns  noch  ander»'  ProKltmo  bfaehaftigon  mttesen. 

Jede  der  indogermaiuaclun  Sprachen  tritt  uns  heim  Btginn  ihrer  Ö>«r- 
lietVrung  als  vollständig  selbständig  charakterisiert  entgegen.  Auch  uicht  der 
kleinste  griechische  Satz  läfst  sich  irgendwie  in  Lateinisch,  Keltisch  oder 
Germanisdi  tunsetsen,  —  und  ebenso  hat  jedes  Volk,  das  diese  Sprache  spridit, 
seine  besondere  Eigenheit,  seinen  besonderen  Charakter,  insolem  nuuk  einen 
solchen  einem  Volke  aosehreiben  darf.  Hit  der  Frage  nach  den  Grfinden  f&r 
die  Verschiedenheit  der  indogermamaehen  Spraehen  betreten  wir  eins  der 
schwierigsten  und  vielleicht  Uberhaupt  nicht  recht  gangbaren  Gebiete  unserer 
Wissenschaft,  dem  auch  die  Qesdiichte  stets  ihre  Aufmerksamkeit  zuwenden 
wird.  Wie  sind  die  Sprachen,  wie  sind  die  Völker  so  geworden,  wie  sie  sind? 
Früher  hat  es  kaum  rino  Antwort  nvA'  fliese  Fr!it,'e  fre{^el>e!i  Da  man  sich  die 
Indogermanea  fast  als  die  ersten  Besiedler  europaisciier  Landerstrecken  vor- 
stellte, so  hatte  man  höchstens  die  versehieriene  Natur  ihrer  Wohnsitze  für  die 
starken  Unterschiede  verantwortlich  machen  können.  Aber  es  i^t  schwer  glaublich, 
dals  im  Laufe  weniger  Jahrhunderte  am  IndogennaiMsi  so  sdhr  Ton  einander 
abweichende  Völker  wie  Qriedioa,  Römer,  Kelten,  Qennanen,  Skren,  Inder 
Uitten  werden  können.  Wir  wissen  jetsl^  dafs  auf  dem  grölhten  Teil  des  indo- 
germanischen Gebietes  andere  Völker  gesessen  haben,  Völker,  die  in  ihren 
koltorellen  Leistungen  und  in  ihrer  kulturellen  Sntwiekelung  nicht  immer  hinter 
den  Eindringenden  brauchen  zurückgestanden  zu  haben.  Dafs  diese  Völkw 
durchweg  au«»gownndert  odf^r  fin«mTottet  war^n,  ist  schwerlich  Hnünnehnv-n 
Man  denke  an  das  Beispiel  der  naeh  Güllien  eindringen<len  Germauen  unter 
Ariovist,  die  einen  Staat  im  Staate  bildeten,  man  denke  an  die  zahlreichen 
anderen  vor  unseren  Augen  liegenden  Wanderungeu. ')  Wir  können  ja  auch 
thatHacblidL  aus  d«i  Flu£i-  und  Ortsnamen  entnehmen,  dafs  die  Urbevölkerung 
beharrt  hai  Und  da  mnfsten  dann  im  Laufe  der  Zeiten  Hischbüdungcn  ein- 
treten, Aber  deren  Art  wir  leider  noch  allanwenig  untoriditet  sind,  weil  wir 
albngerii^  Unterlagen  besitzen.  Doch  ist  schon  Tersdbiedenflieh  bemerlri^ 
dafs  die  starken  Vemnderungen,  denen  die  Sprachen  ausgesetzt  sind,  im  wesent* 
liehen  auf  derartige  Mischungen  surttckaufBhren  sind.  Die  Unterworfenen 
leniten  die  Sprache  der  Eroberer,  sie  nahmen  zwar  den  Wortschatz  der  neuen 
Spraehe  zum  guten  Teil  an,  aber  in  Aussprache  und  Syntax  folgten  sie  zumeist 
den  ihnen  geläufigen  Bahnen.  Und  wenn  dann  die  Unterworfenen,  die  gewöhnlich 
zalilreicher  als  die  Sieger  waren,  wieder  mehr  erstarkten,  oder  wenn  sie,  al» 
Sklaven  oder  Diener  im  Hause  der  Fremden  lebend,  notwendig  die  Sprache 


')  Mau  vergleiche  hierzu  Fr.  Katzei,  Der  Urqtrong  und  das  Waadem  der  Völker  geo- 
graphisch  betrachtet  8it>.*Bflr.  der  phil.  hiiL  KlflSie  d.  lichi.  Gm.  d.  Wies,  s«  Leipng. 
flitnuig  vom  6.  Febnar  ISSS. 


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H.  Rift:  Bp?aehvitMiiuebaft  tiad  OMcUchte. 


495 


der  Kinder  bpeinflnssen  innfsten,  so  ircriot  alliiiiUilich  das  r^anre  Volk  nach 
wenigen  Gencnitionen  in  dw  w\w  Fialin,       war  «'ine  nauv  Spraihe  entstanden.') 

Um  dies  zu  erliiuteru,  darf  man  auf  da«  Beinpiel  der  rumänischen  Sprachen 
▼erweisen,  wo  sich  unter  etwu  anders  gearteten  historischen  Verhälhiissen  doch 
im  weseDtliehen  das  Gleiche  loJIstogsii  bat,  was  ich  fUr  das  Indt^muuuache 
▼otanssetae.  Daher  isi  denn  aach  der  Gedanke  gar  nicht  ahzuweieen,  dab  die 
scharfen .  Dialektgrenaen  innerhalb  eines  grSlseren  Spradigebietes  auf  ethno- 
logischen  Versdliedenheiten  beruhen.  Solche  Annahme  hat  merkwOrdi^n  rw^ise 
bei  Historikern  und  Geographen*)  viel  mehr  Anklang  jt^cfumlen  als  in  der 
Sprachwisgpnsthaft.  Diese  verhalt  sich  vielmehr  ziemlich  skeptisch  dagegen, 
aber  sio  schafft  sie  damit  nicht  aus  der  Wolt,  vor  allem  du  fie  ans  sich  selbst 
keine  Krkliirung  der  Entsteh luij^  scharfer  f )ial»'kt|rn'!izf'H  «fi-biMi  kann.  Zeichnft 
mau  aber  eine  Knrt<»  mit  den  liltiii  \  oiks  und  den  lu  utigeu  Dialektgrenzen, 
80  itit  ea  auffällig,  auf  welch  engem  Kaume  äoluhe  oft  verlaufen. 

Wae  TOB  den  Spraehen  gilt,  das  gilt  mxA  von  den  VSIkAn.  Wie  die 
heutigen  Franzosen  z.  T.  die  alten  Kelten  geblieben  sind,  obgleich  sie  romaniseh 
sprechen,  so  wird  andi  an  der  Bildung  des  griechisdien  und  r6inifdi«n  Geistes 
das  alteinheimisdie  Element  einen  gröberen  Anteil  gehabt  haben,  wAb  wir  bisher 
ahnen  können. 

Das  bi^ihtr  Erörterte  biliiet  nur  die  eine  Seite  der,  wie  man  sagen  könnte, 
angewandten  Sprachwissenächaft,  die  andere  wird  gebildet  von  den  Forschungen 
ttber  die  Koltor  der  Indogennanen  und  der  historiaehen  Völker,  soweit  sie 
dnrdi  sprachlidie  Grftnde  ermittelt  werden  kann.  Wenn  man  von  der  Bedeatnng 
der  Sprachwissenschaft  fllr  die  Gesehidite  spricht,  so  scheint  dieses  Gebiet  in 
enter  Linie  erörtert  werden  m  müssen. 

£s  ist  das,  was  den  Ferner  stehenden  am  meisten  bekannt  ist,  und  in  dem 
die  Sprachwissenschaft  den  höchsten  Gipfel  erklommen  zu  haben  schien,  um 
um  so  tiefer  in  den  Abgrund  m  stfinron.  Wahn  iul  auf  etl'r">'.n;<|>)iischem 
Gebiet  eine  Erkenntnis  nach  der  anderen  erzit  It  wird,  kommt  mau  iiier  nicht 
zu  regelreelitetn  I  "ortsehreiten,  sondern  schwankt  zwiselien  Tiber-  und  Uiitcr- 
schätzung,  zwiscliyu  anscheinend  neuen  Fortschritten  und  erneuter  Widerlegung. 

Der  Znaammenhang  der  indogermanischen  Sprachen  wurde  durch  den 
Nachweis  gdiefer^  dafs  die  Flexionsendungen  im  wesentlichen  flbereinstimmten. 
Daneben  stellte  sidi  die  Erkenntnis,  dafs  auch  die  Worte  in  weitem  Um&ng 
die  i^Mchen  waren.  Wenn  aber  gewisse  Worte  in  allen  oder  den  meisten 
Sprachen  in  glei(  }ier  oder  nach  den  Lantgesetaen  veränderter  Gestalt  vorhanden 
sind,  so  haben  wir  ein  Recht,  dieses  Wort  und  den  entsprechenden  BegriflF  der 
Ursprache  2U2uschreiben.  Bo  leicht  diese  Sache  an  und  für  sich  erschein^  and 


')  Ich  habe  meine  AnHchauungen  über  dieMn  Pimkt,  vorläufig  allcrdiogB  nur  andeutend, 
Idg.  Forsch.  lY  36  ff.  medergelcgt. 

*)  So  stoheii  EiepMt,  Alte  Geographie,  und  Kiswa,  Itetische  Lsadeskiuide,  ganx  auf 
dem  Boden  dieier  Anediaiiaiig,  die  audi  voa  WindiMb,  Grd.  f.  nun.  Plnlologie  1*  ver- 
breten  wird. 


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496 


H.  Hirt:  SpirttdiwiiMiiaichKft  uod  QMchictite. 


so  kühn  sie  auch  im  Anfuug  angewandt  ist,  so  s^igten  sich  doch  bald  die 
grofsfcen  Schwierigkeiten  tuif  diesem  Wege.  Alle  G^nrechen  ▼ef&ndeni  ihrm 
WoitBchats  mehr  oder  minder  schnell.  Teils  kommen  neue  Worte  f&r  alte 
und  neue  B^prifib  auf,  teils  renndem  alte  Worte  ihren  Sinn.   So  können  irir 

/.war  anf  Grund  von  gr.'* ärrf/wj,*,  lit.  pilis,  ai.  pur  *Burg*  ein  idg,  pelfs  er^ 
schiiefsen,  aber  der  Sinn,  den  die  Ur/cit  mit  diesem  Wort  verband,  war  gewib 
ein  ganz  anderer  als  der,  den  die  Griechen  in  ihrem  croAtg  besafsen.  Ihn  zu 
ermitteln  bietet  dto  gröfstc  Schwierigkeit,  und  ebensogrofs  ist  die  andere: 
weiche  Wort*'  tlürfcii  wir  der  Urzeit  ziiHcbreibcn V  Nur  in  sflteinü  Fällen  ist 
ein  Wort  in  nlk'ii  iiitln^tTuiiiiiisclRii  Sprailn  ii  crlialtoii.  Häutig  fehlt  es  in  einer, 
zwei,  drei  und  juehr  Sprüchen,  und  die  »Sicherheit,  mit  der  wir  ein  Wort  für 
die  üiaeit  in  Ansprach  nehmen  dürfen,  wird  immer  geringer,  in  je  weniger 
Sprachen  es  erhalten  isi  Aber  andererseits  ist  es  sicher^  dab  Worte,  die  nnr 
in  zwei  oder  drei  Sprachen  Torhanden  sind,  schon  indogermanisch  waren.  Ja, 
eine  einzige  Sprache  kann  uns  altes  Erbgut  bewahrt  hahwL  Das  ei^ebt  sieh 
mit  Notwendigkeit  aus  der  Betrachtung  einer  historis(  lien  Sprachgruppe.  Wie 
wir  den  indogermanischen  Worteehats  durch  Vergleichung  der  einzelnen  indo- 
germanischen  Sprachen  erschliefsen,  so  gewinnen  wir  z.  R.  den  nrjjermanischen 
durch  VergkicLuiitr  der  germanischen  Dialekte.  Und  hier  zeigt  es  sicli,  dafs 
oft  ein  Wort  nur  noch  m  einem  Dialekt  erhalten  ist,  das  durch  seine  Ver- 
wandten in  den  übrigen  indogermanischen  Sprachen  als  urgermanisch,  ja  als 
indogermanisch  erwiesen  wird. 

Ganz  sichere  Kritmen,  um  das  Alter  eines  Wortes  festonstellen,  giebt  es 
bis  heute  noch  nicfai  Und  darin  liegt  eine  Hauptschif^he  unserer  Wissensdiaf^ 
die  indessen  einmal  gehoben  werden  wird,  sobald  wir  den  Wortwitz  systematisch 
durchforschen.  Vorlaufig  ist  jede  Einzelsprache  imendlich  viel  reicher  in  ihrem 
Wortyorrat  als  die  erschlossene  Grundsprache.  Neben  der  Verbreitung  besitzen 
wir  ein  wesentliches  Kriterium,  um  das  Alter  der  Worte  zu  bestimmen,  in  der 
Form.  Wir  können  in  der  Si)ni.che  zwei  Arten  von  W»)rten  nnterscheiden^ 
solche,  die  auf  Grund  vorhandener  Katej^orien  jederzeit  neu  gebildet  werden 
können,  und  solche,  die  nur  ^'edäehtnisuiärsig  überliefert  werden,  üir  die  die 
Möglichkeit  der  Neubildung  aufgehört  hat.  UnterHuchungen  nach  dieser  Kichtung 
sind  freilich  noch  nicht  systematisch  unternommen,  vielmehr  ist  die  Etymologie 
noch  immer  eine  mehr  sekktisch  ab  methodisch  konsequent  verfahrende  Wissen- 
schaffe  geblieben.  Dodi  zeigen  sich  hier  Spuren  der  Besserung,  und  es  ist  zu 
hoffen,  dafs  die  Anregungen,  die  vor  aUem  Bmgmann  ^)  gegeben  hat,  auf  frucht- 
baren Boden  ge&Uen  sind  und  reiche  Früchte  tragen.  Wir  werden  dann  auch 
den  Fragen  nach  den  Ursachen  und  Arten  des  Bedeutungswandels  und  des 
Verlustes  von  Worten,  die  kulturhistoriach  auiserordentlich  wertvoll  sind,  viel 

*)  Die  Auädrilcke  filr  dcu  Begriff  der  Totalität  in  den  indogermanischen  Spr«cbeD 
(Leipsig).   Weitere  Arbeiten  dieser  Art  sind  dorchani  notwendig  und  nickt  aUsusehwer. 

Man  LrauL'ht  dabei  nii  ht  einmal  alle  inflnffermani8cli*'ii  S]irarlieii  hentiiziiziolien ,  si>ndern 
kaun  eich  je  nach  üeiuen  Koontnisseu  auf  einig«  beiichriUikeo  und  wird  doch  immer  wert- 
volle Ergebnitjse  erhalten. 


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H.  Hirt:  SpnkrbwiBMoiduift  und  Oewliichie. 


497 


nniior  kommen,  und  es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dafs  wir  für  die  geschichtlichen 
Kragt'ti  soweit  sie  aus  der  Sprache  eine  Antwort  heischen,  ein  viel  besseres 
Fundament  hesit7-en  werden,  wenn  erst  alle  diese  Seiten  der  Spracheutwickeluug 
äjätcmatisch  untersucht  sind. 

Aber  man  bat  gegen  den  Wert  der  Sprachwissenschaft  auf  diesem  Gebiete 
flberhanpl  Eiiwpnicli  erhoben,  und  in  der  Thafc  mnasen  die  AnsprQdM  iinBerer 
Wisaenachaft  sehr  herabgesetet  werdenj  wenn  auch  nnaere  Arbeit  trotz  mannig 
fiMsher  Fehler  und  Übereilangen  nicht  natdos  gewesen  ist.  Wenn  sich  die 
SpraebwisseiiBchaft  Termi&t,  hier  allein  etwas  zu  leisten,  so  befindet  sie  sich 
in  einem  Irrtum.  Keiner  der  ältere  Forscher,  weder  Grimm  noch  Kuhn,  haben 
die  Sprache  in  erster  Linie  herangezogen.  Das  ist  erst  geschehen,  als  man  die 
Tnulitioncn  Jacob  Grimmn  verlicff,  als  mnn  in  der  S])riichwis««ens(liaft,  mit 
rf  jflu'f  anderweitiger  Arbeit  beschäftigt,  recht  einseitig  wurtK'.  ;i!s  nian  eben 
kiine  Zeit  mehr  hatte,  den  Blick  in  die  Weite  schweifen  zu  ia.sHuu.  Ihm  ist 
jetzt  anders  geworden.  Der  wesentliche  Grund  der  neuen  grammatischen  Auf 
fiisaung  ist  gelegt.  Man  findet  wieder  Zeit,  sich  nach  anderen  Seiten  umKusehen, 
und  es  gewinnt  daher  ein  Geist  wie  Jacob  Qrinmi  wieder  grSreeren  Einflufs. 
Er  wird  mit  seiner  umfiissenden  Odehrsamkeil^  die  das  Gröftte  wie  das  Kleinste, 
TOT  allem  amch  das  Volkstflnülcfae  lieberoll  um&bte,  wieder  ein  Ffibrer,  dessen 
Geisiesart  wir  vertraiiensvoll  folgen  dürfen. 

Znr  Erschliefsung  der  europüischen  Urgeschichte,  zu  der  die  Sprach- 
wissenschaft ein  Scherflein  beitragen  will,  müssen  auch  andere  Wissenschaften 
helfen.  Zunächst  kommt  die  prähistorische  Archänlo<fie  hiny.n.  Dir-  Fniide. 
die  im  Laufe  dieses  .lahrhnnflerts  aus  dem  Schofs  der  Erde  i^«  hüben  sind, 
geben  uns  oin  anschauiiehes  \V\\d  des  Lebens  früherer  Epochen.  Mit  dicfscm 
Gebiet  kann  sich  jeder  befa»sen,  der  ein  oifeues  Auge  besitzt,  man  braucht 
nicht  Sprachf<»acher  va  sein,  um  es  au  bearbeiten.  Aber  dieses  Bild  ist  ein- 
seitig.  Von  den  wichtigsten  Faktoren  des  menscUidien  Lebens,  von  sozialer 
Ordnung,  Religion,  Kunst  und  dem  ganzen  Denken  der  dahingesunkenen  Menschen 
berichtet  es  nichts.  Fttr  dieses  Gebiet  tritt  dann  nngesudit  die  verg^ldchende 
Altertumskunde  ein.  In  den  littemrischm  DenkmSlem  der  verwandten  Sprachen 
liegt  eine  Fülle  von  Erscheinungen  vor,  die  man  nnr  zusammenzustellen  Itrancht, 
um  ihre  Ähnliclikcif,  ja  Gleichheit  zu  erkennen.  Di  r  Hprachforscher  ist  jcdcn- 
falis  am  besten  «la/u  ift  i'ijfnet,  die«<e  vertileidiende  Altertumskunde  zu  betreiben. 
Denn  wenn  es  auch  wohl  keinem  vi  i^fünnt  ist,  alle  indogermanischen  Sprachen 
m  gleicher  Weise  zu  beherrschtn«,  wenn  er  auch  auf  manchen  Gebieten  nur 
mit  Grammatik  und  Wörterbuch  arbeiten  muls,  so  gehört  doch  das  genauere 
VerBt&ndnis  von  4^  5  und  6  der  groben  Sprachgruppen,  ein  Verständnis^  das  ea 
ermöglicht,  direkt  ans  den  Quellen  zu  sdidpfen,  zu  den  notwendigem  Kennte 
niasen  des  Sprachforschers.  Er  wird,  da  er  immer  Philologe  bleibt  und  immer 
wieder  an  die  geschriebenen  Urkunden  herantreten  matk,  von  selbst  dazu 
gefuhrt,  sich  der  vei^leichenden  Altertumskunde  zuzuwenden,  die  TOU  den 
Worten  zu  den  Dingen  emporsteigt,  die  nicht  nur  Hauser  bauen,  sondern  auch 
darin  wohnen  wilL   Und  hier  liegt  die  reichste  Quelle  für  unsere  Forschung^ 


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498 


R.  Hirt:  S|)t«eh-wis8aMeh*ft  und  OMdiiehte. 


der  Bieh  d\p  Ergebnisae  auB  der  Sprache  alleiu  ia  vielen  Füllen  helfend  und 
fördernd  anschliefsen. 

Daa  Bild,  das  wir  auf  (liest'  Weise  von  <lor  prähistorischen  Kultur  Europas 
gewinnen,  ist  heute  ein  weHentlich  anderes,  als  das,  das  mau  früher  entwarf. 
Die  frflh^nm  Aufbssungen  und  Ansiditon  iMben  zwdfdloa  unter  dem  Beane 
allgemeiner  philoeopluBdier  Ideen  gestanden.  Wie  man  die  Indogennanen  eiuat 
am  liebsten  ans  dem  Paradies  kommen  liels,  so  glaubte  man  auch,  dab  die 
Indogennanen  in  ihren  Sitten  nnd  Gebräuchen  jenem  UrvoUce  nahe  standen, 
von  dem  Rousseau  einst  geträumt,  das  von  den  Schlechtigkeiten  und  Verderb- 
nissen der  modernen  Zeit  nicht  angekränkelt^  in  paradiesischer  Unschuld  dahin- 
lebte. Doch  mufste  nieh  dfin  i^^frenfiber  mit  der  Zeit  eine  andere  Anschauung 
Hahn  hiechen.  Virtor  Ilcliii,  iler  so  lange  Zeit  russische  Verliältnis^se  vor 
AuiTfii  irciiiibt  hatte,  wies  mit  eiudriugeiider  Scharfe  auf  die  vielcu  Züge  der 
Barbarei  und  iiuheit  bin,  die  wir  in  dem  Leben  unserer  Vorfahren  treffen, 
und  zeichnete  sein  Bild  mit  düsteren  Farben,  fast  immer  von  dem  Bestreben 
geleitet,  das  geistige  nnd  knltnreUe  Niveau  der  Indogermaaen  möglichst  herab- 
zusetzen. Aber  anch  gegenQber  seinen  AusfAhrnngen  ist  der  Bflckschlag  nidit 
ausgeblieben;  durch  Leists  Forschungen  (Altarisches  jus  gentium,  Altarisches 
jus  civile,  Gräkoitah'sch»?  Rechtsgeschichte)  wird  ein  Bild  entrollt,  das  weit  von 
dem  Ih'hns  abweicht.  Und  man  könnte  daher  auf  das  Urrolk  fast  die  Worte 
des  Dichters  anwenden: 

'Von  der  Parteien  Hals  und  fitinst  vcrvvirrt 
Schwaukt  sein  Charakterhild  in  «It-r  ( jesrhichtf»'. 

Dii^  einzi(Te  Mittel,  nni  in  diener  Frage  zur  Klarheit  zu  kommen  und  einen 
Wertmenser  zu  gewinnen,  ist,  die  V/ilkerkunde  zur  Hilfe  zu  rufen  und  unser^u 
Blick  hinausschweifen  zu  lanücn  zu  den  äugenannten  'Primitiven',  die  sich  noch 
heute  an  verschiedenen  Stellen  der  Erde  erhalten  haben.  Dafs  diese  Völker 
fireiUdi  nicht  so  primitiv  sind,  als  es  uns  scheinen  mag,  ist  richtig,  thut  aber 
nichts  nur  Sacke.  Wir  gewinnen  jedenfalls  mit  Hilfe  der  Ethnologie  «ne  Unter- 
lage f&r  ein  objektiTes  Urtdl  Aber  unsere  Vorfohren.  Wir  brauchen  sie  weder 
SU  hoch  noch  zu  niedrig  einsuschätsen,  wir  können  die  guten  EigensdnUoi 
hervorheben  imd  brauchen  uns  vor  den  rohen  Zügen,  die  uns  auch  bei  ihnen 
entgegentreten,  nicht  abzuwenden,  und  wir  haben  es  nicht  nötig,  wie  Jacob 
Orimm  that.  sie  7,n  verschleiern.  Und  danach  k(5nnen  wii-  ruhig  sagen,  dafs 
sich  die  Indo^rernianeii  nnd  andere  Bewohner  Europas  schon  lange  Zeit  vor 
dem  Beginn  der  gescbicLtlichen  Kumle  üher  solche  Zustande  erhoben  hatten, 
wie  wir  sie  noch  beute  bei  vielen  Völkern  der  Welt  treffen.  Das  Bild,  da» 
Bfieher  von  dem  wirtschaftlichen  Urzustand  und  der  Wirtschaft  der  Natur- 
Tölker  entworfen  hat,  trifft  ftlr  die  Indogennanen  nicht  mehr  sn. 

In  Europa  haben  sich  viehnehr  schon  früh  die  wichtigsten  Haustiers,  der 
Hnndy  das  Schaf,  die  Ziege^  in  vorhistorischer  Zeit  aucb  wohl  das  Sdiwein  und 
das  Pferd  verbreitet'),  und  ebenso  waren  die  Indogennanen  sdion  mit  dem  Ackir- 

')  Vgl.  hierzu  meine  Ausführuiigen  Oeogr.  Zeitachrift  IV  969 


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H.  Biii:  SpradiwiMiieasehaft  aad  Q«ieludite. 


499 


bau  Tertraut.  Sie  spannten  das  Kind  vor  dt  n  hölzernen  Wagen  und  den  ein- 
fat'lieii  Pflug  und  i^fwannen  in  allerdiiifrs  /.itnihch  oberflächlicher  Bearbeitung 
dem  Boden  den  iiotvvLiulijren  Nahrun^Htotl  nl).  Fest«!  Nicdi'rlusöungen,  wit»  »io 
Tor  aüeui  auch  die  rt'alilbauten  zeigen,  die  zu  errichten  erbebliche  Mühe  kostete, 
mflsMii  irir  flchon  äenüieh  IHÜixeitig  vommeteen.  Die  natfirliehe  Ordnung 
des  Lebens  grfindete  aich  »uf  den  Znnaimnenhang  der  Sippe,  die  fest  in  sich 
geecUoflsen  nnd  Wirtadiaffai-,  Reebte-  nnd  Bdigiomigenuänsehaft  war.  Noeh 
heate  beniiai  ■laviache  Völker  eine  alte  Wirtaduftafann,  die  sadruga,  bei 
der  mehrere  G< nenitioiif  n  unter  einem  Dache  wobnen  und  eine  rein  kommu- 
nistische Gesellschaft  bilden,  nicht  zum  Schaden  ihrer  Afigehürigen.  Wir  treifen 
di»  -^»'  Form  in  altortr  Zeit  anch  bei  anderen  Völkern  und  haben  allen  Grund, 
sie  für  die  Urzeit  vorauszusetzen.  In  der  Sippe  und  den  Sip]>fTivprbanden  fand 
der  Einzelne  den  persünliehen  Sehutz,  den  ihm  krine  (>l)ngkeit  gewährte,  und 
da  die  Sippe  eines  Blutes  ist,  muls  auch  jeder  Augebörige  für  die  Fehler  und 
Vergehen  irgend  eines  Mitgliedes  eintreten.  Die  Blutrache  mit  dem  Blutfrieden, 
die  ans  als  lebendige  Einricbtung  nocb  beute  Teraohiedentlidi  in  Europa  mt- 
g^^feitty  iat  in  den  Uneiten  notwendig  gewesen  und  war  der  beste  Sdinta 
für  den  Henaehen  in  Zeiten,  in  denen  eine  ataafUeb  ordnende  Oewalt  niebt  Tor- 
banden  war.  Vor  allem  war  die  Sippe  auch  eine  Rebgionsgemeinschaft.  Der 
Kult  gemeins^anier  Vorfahren  hielt  die  Sippenangebörigen  aucb  dann  nocb  att- 
sammcn,  als  die  übrigen  Dinge  nicht  mehr  wirksam  waren.  Für  die  ganze 
£ntwickelung  unserer  Vorfahren  sind  gerade  die  religiösen  Momente  Ton  aus- 
acblaggebender  Bedeutung  gewesen. 

Doeb  uiiterlaaüe  ich  es,  auf  diese  Punkte  hier  näher  einzugehen.  Mit  der 
Gewinnung  eines  blofsen  Maisstabes  ist  indessen  der  Wert  der  Völkerkunde 
für  unsere  Zwecke  niebt  eracböpftb  Die  indogennaniacbe  Altertumakonde  ist 
ja  eigentlidi  selbst  ein  Teil  der  Völkerkunde,  und  sie  kann  für  vide  eigentOm- 
liebe  und  aUeinalebende  Erscbeinungen  belles  Liebt  gewinnen,  wenn  sie  analoges 
bei  den  PrimitiTen  vergleicbt.  Welche  Erfolge  naeb  dieser  Riebtung  namentUcb 
auf  dem  Gebiet  der  Mythologie  durch  Kohdes  Psyche,  Oldenbergs  Religion  des 
Veda,  Mogks  Germanische  Mythologie  eraielt  sind,  ist  allbekannt.  Auf  anderen 
G*4»i*^ten  ist  man  noch  nicht  so  weit,  aber  dit-  Aussichten,  hier  GhMches  zu 
erreichen,  sind  sehr  grofs.  Das  Wenigste,  was  wir  in  unserem  Kulturkreis 
finden,  ist  sein  besonderes  Eigentum.  Erst  wenn  wir  das  allgemein  Gültige 
ausgeschieden  haben,  kommen  wir  dem  Ziele  näher,  die  Eigenart  unserer  Urzeit 
SO  erkennen. 

Au(8er  f&r  die  Urgeschicbte  hat  die  Sprache  andi  Ar  die  biatoriadien 
Epodien  eine  geaducbtlidie  Bedeutung.  Wie  die  indogennaniacbe  Spraeb* 
wiaaenaebaft  niebt  nur  die  ErscblieTanng  und  Erforaebnng  der  Urspraebe  als 

ihr  Arbeitsgebiet  betrachtet,  sondern  vor  allem  auch  die  historischen  Sprachen 
bebandelt,  so  führt  uns  gerade  atich  hier  die  geschichtliche  Seite,  der  Sprach- 
betrachtimg zu  imnuT  neuen  und  reizvollen  Aufgaben.  Die  meisten  Kultur- 
fortsehritte,  Erhnchm^en  und  Verbesseningen  im  Lehen  sind  nicht  an  mehreren 
Orten  und  bei  verschiedeucn  Völkern  gelungen,  sondern  sie  gebtax  von  einem 


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500 


H.  Hirt:  Sprach wimenidiftft  und  Geschicbte. 


Orte  aus  und  wandern  in  die  weite  Feme.  Die  enrop&iBchen  Völker  eind  die 
Sehfiler  des  grofeen  aeiatieclien  Knltnrreichf»,  von  d^  man  miiJBecht  e^jen 
kann;  es  Oriente  lux.  Aber  mit  den  Dingen  und  Begi'iffen  wandern  auch  die 
Wortei,  und  je  tiefer  wir  in  die  historischen  Zeiten  eindringen,  um  so  deutlicher 
treten  uns  die  kulturellen  Einflüsse  von  Volk  zu  Volk  an  der  Hand  der  Sprache 
entgeg<»n.  Oft  genug  mag  in  solchem  Fallo  die  Sprache  genauere  Auskunft 
geben  als  irgend  eine  andere  Wissenschaft,  wenn  wir  uns  aiuli  nicht  zu  selten 
damit  begnügen  müssen,  das  zu  bestätigen^  was  andere  Gebiete  klar  zeigen. 
Das  Studium  der  Lehnworte  imt  eine  uuliierordentlicb  grolke  kulturhistorische 
Bedeutung.  Wir  mflssen  dabei  noch  darauf  liinweisen,  daTs  die  Erkenntnis,  ob 
ein  Wort  Ldmwort  ist,  immer  erst  durdi  die  genaue  Feststellung  der  Laut- 
geeetse  ennSgUdit  wird.  Gierade  nacb  dieser  Seite  mnd  die  exakten  Forderungen 
der  genauen  Beobachtung  d^  Lautgesetse,  die  die  ^Junggrammatiker'  aufgestellt 
kab^,  von  ausschlaggebender  Wichtigkeit  geworden.  Ohne  sie  mfifst^  wir 
uns  auft  Raten  verlegen,  könnten  jedenfalls  keine  Sicherheit  gewinm  ii 

Unsere  Wissenschaft  hat  es  nie  versäumt,  diese  Seite  der  Sprachbetrachtung 
zu  pflegen.  Wenn  mich  in  neuerer  Zeit  keine  gröfseren  Werke  erschienen 
sind,  die  unser  Wissen  zusiiinnienfalkten,  so  wird  doch  von  den  verschiedensten 
Seiten  immer  und  immer  wieder  darauf  hingewiesen,  welche  kulturgeaehichtliche 
Bedeutung  die  Lehiiworte  haben. 

Ich  glaube  gezeigt  zu  haben,  dab  die  Sprachwissenschaft  durch  mannig- 
fache Fäden  mit  der  Geschichte  verbunden  ist,  und  daiSs  sie  heute  wie  schon 
seit  langem  bereit  ist,  ihr  eine  hilfsbereite  Dumerin  su  sein.  Neben  dem  er^ 
siehenden  Einfluß,  den  die  Spradihetrachtung  an  und  fttr  sich  hat,  und  der  für 
den  jugendlichen  Qeist  nicht  hodi  genug  bewertet  werden  kann,  hahen  wir  in 
dem  BeHjtroelienen  ein  Gebiet  vor  uns,  das  des  allgemeinen  Interesses  sieher 
sein  (liiri,  und  d;is  auch  geeignet  ist,  den  Spraelninterricht  nach  allen  Seiten 
zu  beleben.  In  der  Sprache,  die  wir  sprechen,  uinwe])en  nn??  die  Erinnerungen 
an  eine  Jahrtausende  lange  Üeschichte.  Von  (Jeneration  zu  G^nicration,  von 
Mund  zu  Mund  hat  sie  sich  fortgepflanzt,  und  so  haben  die  Zeiten  Ut  r  Sprache 
ihre  Runen  eingeschrieben.  Es  kommt  nur  darauf  an,  sie  zu  lesen  und  den 
Schate  zu  heben,  der  in  ihnen  mhi 


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ZUB  lONISOHEN  MÜNDART  ÜND  DICHTEBSPBACHE. 


Von  August  Pick. 

Die  griechische  Dialektforschung  sieht  sich  seit  einigen  Jalirzelinten  vor 
ganz  neue  Aufgaben  gestellt.  Die  Fortschritte  der  Sprachwissenschaft  gestatten 
nicht  m«'}ir,  wie  früher,  die  griechischen  Mundarten  nur  beiläufig  als  Ab- 
weiciiungeii  von  der  Atthis,  die  ja  f<eibst  nur  ein  Dialekt  ist,  anzusehen  und 
zu  behandeln;  dazu  kam  die  Fülle  neuer  Dialektquellen,  welche  die  inschrift- 
Ucben  und  litterarischea  Funde  unserer  Tage  uns  erschlossen  haben.  Diese 
luHum  uns  einen  tieferen  Einblick  in  die  Mundarten  gewinnen,  wie  sie  im  YvXk» 
selbst  lebten  und  wie  aie  von  den  Diditern  on^rOnglidi  gehandhnbt  worden, 
wahrend  wir  frfiber  vorwi^nd  «nf  die  trtt^die,  Tiel&dh  TOn  Bedaktoren  nnd 
Absdureibeni  entsteUte  Überliefianing  der  dialektisch  gefirbten  Sehriftatellertexle 
angewiesen  waren. 

Es  galt  nun  die  neu  gehobenen  Schätze  im  Sinne  und  mit  den  Mitteln 
der  Sprachwissenschaft  zu  verwerten.  DaV)ei  war  ci<  ganz  natQrlich,  dafe  man 
sieh  zuuäclist  auf  die  Beschreibung  und  Dar.Htellung  einzelner,  selbst  örtlich 
sehr  begrenzter  Mundarten  beschränkte,  um  so  niclir,  als  gerade  diese  indivi- 
duelle Ausgestaltung  wie  dem  griechischen  Leben  überhaupt,  SO  auch  dem 
Leben  der  griechischen  Sprache  einen  besonderen  Beii  verleiht.  Ebeiwo  natttr^ 
lieh  war  es,  dab  die  junge  Forschung  sich  ninSchst  auf  die  Laote  und  Formen 
der  Hnndarten  warf,  Wortschats  ond  Satsban  nnr  obenhin  streifte.  So  ent- 
stand  «ne  Reihe  von  Monographien,  die,  TOn  der  angedeuteten  Besdu^lnkung 
abgesehen,  «  ine  aufserst  wertvolle  und  als  solche  aaioerkennende  Grondlage 
Ar  eine  umfassendere  Forschung  abgeben.  Ich  nenne  an  dieser  Stelle  nur  die 
gediegenen  Arbeiten  von  R.  Mcistt-r  und  für  dan  loniHche  die  überaus  lleifsige 
Behandlung  der  'iSouuds  and  Inflections'  dieses  Dialekte  von  H.  W.  Smjth 
(^Oxford  1894). 

Aber  über  diesen  miuutiüsieii  Einzelforachungen,  die  sieh  überdies  meist 
gar  nicht  auf  das  dem  Eiu2eldialekt  Eigentümliche  beschränken,  sondern  fast 
ebenso  breit  das  diesem  mit  der  fibrigen  Oiicität  gemeinsame  Sprachgut  be- 
handeln, mob  sich  xweifellos  mit  der  Zeit  eine  ausammenfaeaende,  die  Mund- 
arten so  höheren  Einheiten  niaammenschliefoende  DarsteUnng  erheben.  Das 
eihellt  schon  aus  der  rein  aufserlichen  Notwendigkeit  einer  stlrkeren  Zusammen - 
drangung  des  Stoffes:  oder  sollen  wir  für  alle  Zeit  darauf  angewiesen  sein,  der 
mundartlichen  Entfaltung  der  griechischen  Sprache  wenigstens  ein  Dutzend 
starker  Bände  widmen  zn  müssen?  So  viel  aber  ist  erforderlich,  winu  die  bisher 
übliche  Ijrcite  Weise  in  der  Behandlung  einzelner  Mundarten  festgehalten  werden 

MM*  Jkhrbüoilor.   lova.  I, 


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602 


A.  Fick:  Zur  kmisdieii  IfnudaH  and  Dichlenpneli«. 


soll.  Doch  von  difseui  äulserlichen  Mifsstande  abgesehen,  lälät  «lies  Versinken 
ins  Einzelne  und  Einzelnste  zu  sehr  Tor  der  Mannigfaltigkeit  die  durin  waltende 
Einheit  mrllclctreten:  es  i«t  und  bleibt  dodi  die  Eine  Qriechensprache,  die  eidi 
in  die  Vielheit  der  Mundarten  gliedert,  wie  auch  die  Stftmme  der  Griechen 
sieh  doeh  wieder  sur  Einheit  dee  OrieehearoIkB  zuBanunenechlie&ML 

In  diesem  Sinne  ontemahm  Otto  Hoffmann,  die  grieehiaehen  Dialekte  *tn 
ihrem  historischen  Zusammenhange'  darzustellen  (Göttingen,  Vandenhoeck  und 
Ruprecht,  1892 — 98).  In  dem  ersten  Bande  falste  er  den  arkadischen  und 
kyprischen  Dialekt  als  'südachäische',  in  dem  zweiten  die  Sprache  der  Thessaler 
mit  der  Aeolis  Kleinasiens  als  'nordachäische'  Mundart  zusammen,  indem  er 
beide  Paare,  wie  sclion  ihre  Benennung  angiebt,  als  Entfaltung  einer  alten 
^achäiächen'  Sprachform  angesehen  wissen  will.  i<Veiücli  klaflt  hier  zwischen 
TheeBaüeu  und  Arkadien  «ine  Lüdce,  ist  der  alte,  als  ursprünglich  Toraos- 
attsetsende  5rtUehe  Znsammenhang  der  'achftiedien'  Stimme  serriesen.  Aber 
wie  Hoffinann  in  »einer  Diasertation  De  mixHs  dialeetU  Qraem  (Gdttingen  1987) 
beton^  ist  in  den  Dickten  too  Hittdhellaa,  Ton  Lokiis,  Phokisi  Bootien  mdir 
oder  weniger  deutlich  ein  Uolischer  Untergrund  zu  erkennen;  wir  dürfen  dem- 
nach annehmen,  dafs  die  älteren  Bewohner  dieser  Landschaften,  Minjer,  Phlegyer, 
Kadmeer  u.  a.,  ehe  sie  von  Stammen  des  Nordwestens  überrannt  wurden,  in 
ihrer  Spntche  eine  Verbindimg  zwischen  Thessalien  und  dem  Peloponnes^  den 
Nord-  und  »Süilachäern  darstellten. 

In  dem  dritten  Bande  seiner  'Griechischen  Dialekte'  behandelt  HotFmann 
^iurtuu  zitiert  als  H.)  Mie  Quellen  und  Lautlehre'  des  ionischen  Dialekts,  ein 
vkrter  Bend  soll  die  *Fonnmr  und  Staaunbildungslehre',  hofivmtlidi  aufih  den 
Wortsefaats  and  Sataban  des  Ionischen  enÜialten.  WlÜirend  also  in  den  mt- 
hergehenden  Bänden  je  ein  Band  zwei  Mandartm  xasammenfidMe,  werden 
Band  HI  und  IV,  slso  awei  Bünde  der  Dantdlnng  eines  einx^n  Dialektes 
gewidmet  sein.  Man  mag  dies  mit  der  Wichtigkeit  der  las  und  der  Neuheit 
des  Unternehmens  entschuldigen,  doch  hätte  sich  m.  £.  der  Umfang  sehr  ver- 
ringern, der  Stoif  bedeutend  zusammendrängen  lassen.  Auch  hätte  liier  wie  in 
den  beiden  ersten  Bänden  Hiis  gleiche  Prinzip  der  Zusammenfas-^ung  ^  f  rwrindter 
Mundarten  zu  liölierer  Eiiili<  it  bet(»lgt  werden  müssen,  da  ja  olme  uileM  Zweifel 
las  und  Atthis  ein  engverbuiideiies  Paar  bilden,  dessen  Entfaltung  aus  einer 
gemeinsamen  Wurzel  sich  sehr  wohl  darstellen  liefs,  wenn  auch  einzelne  Fragen, 
wie  die  nach  dem  Verhältnisse  des  attisdien  «  pnmm  anm  dnidigefthrteD 
ionischen  §  (Tgl.  H.  341  ff.)  noeh  nicht  ganz  geklärt  sind. 

HofiniWch  wird  die  Behandhu^  des  attischen  Dialektes,  welche  anf  die 
der  las  unmittelbar  folgen  muls,  wenn  H.  seinem  Yorsatee,  die  griechischeo 
Hundarten  *in  ihrem  historischen  Zusammenhange*  darzuptellen,  tren  bleiben 
will,  den  gemeinsamen  Ursprung  der  Atthis  und  las  deutlich  hervortreten 
lassen;  nannten  sich  die  Attiker  der  alteren  Zeit  doeli  »elbst  'Idopegf  d.  h.  mit 
dem  Vollnamen,  aus  dem  der  ^iame  "iaipeg  gekürzt  ist.*) 

Beweisend  hierfür  ist  tier  Yers  Suloii^*  in  des  Arislotelcs  Tlolir.  A^v.  p.  6,  8  Bla««: 
n^effjhrtttti}»'  ioonAv  yatuv  'Ittorius,  womit  Attika  gemeint  i«t.  (Für  xaivo^^ijv,  wie  BLu< 


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A.  Fick:  Zur  ionischen  Mundart  und  Dichtersprache. 


503 


Dafs  die  Mundart  der  Dorier  und  die  der  nordgriedüsdlflO  StSmme^  weldl« 
Alirais  als  Doris  septentrionalis  bezeichnet  hat,  eng  SQMmmengehSren,  steht 
ganz  aufser  Frage.  In  der  woitcren  Fnrtfi5hning  seines  auf  dem  Titolblatt 
angekündigten  Vorhabens  hat,  H.  auch  in  diestin  weit  uusgcdchnten  sprach- 
lichen Gebiete  die  urspräogliche  Einheit,  den  gemeinsamen  Quelipunkt  im 
Auge  2U  behalten. 

So  wflrde  sich  eine  ursprüngliche  DrefliMt  griechischer  Mundarten  ergeben, 
und  wir  würden  damit  eisftdi  die  Anfiassang  d«:  GriedliMi  selbst  bestätigen, 
die  bekanntlich,  sobald  man  las  tmd  Atthis  snsanimen&bl^  eben&Us  drei  Typen 
der  e^^en  Sprache:  Doris,  Aiolis  nnd  las  ao&tdlten,  nnr  dab  wir  statt  der 

Kürzung  in  Molevg  den  alten  Yollnamen  *jix-{u6g  einzusetzen  haben. 

Mit  dieser  alten  Dreiteilung  der  StSniino  und  Mundarten  stimmt  auch  die 
Natur  dps  Landes  und  dip  hierdurch  bedingte  Geschichte  der  ersten  Ein- 
wanderung des  Volkes,  sobiiKi  wir  von  dem  spiUer  besetzten  Peloponnes  ab- 
sehen. Pindns  und  Parnals  Ijilden  eine  starke  Vtilkerseheide:  im  Westen 
safsen  die  mit  den  Dorierii  gleichspriubigun  Stämme,  von  H.  (De  mistis  d.  Gr.) 
daher  mit  Recht  al»  'Transpindani'  benannt,  im  Osten  die  Achäer,  die  sich 
Tom  Olymp  bis  an  den  Kithairon  Torschoben,  hinter  diesem  entfidteten  die 
laonen  ihre  Eigenart 

Über  der  Dreiheit  dieser  ältesten  Mundarten  steht  die  Einheit  der  gemein- 
Bamen  Ghriechensprache.  Dürfen  wir  bis  au  diesor  attfsteigen?  KSnnen  wir 
ein  'Urgriechisch'  wieder  herstellen,  einen  gemeinsamen  Grundstock,  aus  dem 
die  drei  Hauptdialekte  wie  drei  Zweige  aus  einer  Wurzel  entsprossen  sind? 
Bekanntlich  ist  diese  Frage  eine  offene,  namhafte  Forscher  wie  .Toli.  Schmidt 
und  neuerdings  Kretsohiner  verneinen  sie,  und  es  ist  hier  nicht  der  Ort,  sie 
von  meinem  Standpunkte  der  Bejahung  aus  zu  behandein. 


Nach  dem  Vorj^ge  von  Ahrois  und  Meister  schidki  Ht^faiann  seiner 
Darstellung  der  Dialekte  deren  Hauptquellen  vorans.  FQr  die  las  ist  es 
▼on  g^na  besonderem  Vorteil,  dafs  wir  so  sehr  alte  Dichtertezte  in  diteer 
Mundart  besitzen:  die  Verse  des  Kallinos  mahnen  zum  Kampfe  gegen  die  ein- 
brechenden Kimmerier,  sind  also  etwa  675  v.  Chr.  anzusetzen,  und  Archilochos, 
Tyrtaios  unii  Semonidcs  sind  nicht  viel  jünger.  A>is  diesen  Texten  erhellt 
z.  B.,  wie  H.  richtig  hervorhebt,  dal's  schon  im  Anfange  des  VII.  Jahrb.  die 
io  und  £<a  geschriebenen  Laute  durcba\is  Diphthonge  (fo,  eat)  waren,  und  dais 
auch  iu,  später  zu  ij  zusammengezogen,  nicht  immer  offm  gesj)rucben  wurde. 
So  dient  hier  das  metrisch  gebundene  Dicbterwort  der  richtigen  Erkenntnis 
der  Mundart^  omgekehrt  ist  aber  auch  der  richtig  erkannte  Dialekt  ein  wichtigeB 
Mittel,  das  Diehtwwort  in  seiner  nrsprttn^chen  reinen  Sprachschönbeit  wieder- 
heranstellen.    Freilich  erbeben  sich  durch  diese  Wechselbesiehung  zwischen 

im  Anfauge  des  folgenden  Verses  liest  [tutfipoitiprfif  Dieltt],  mOchte  ich  «iUi'Ofi^i^i'  vonicblagea 
init  Hmbliek  auf  »Um»»  *A%at96s,  9<U«fftes  bei  Bouer.)  Auch  in  der  Iliae  N  tiad  die 
Athener  'Uvng  ^annt;  die  *kcapH  Sliu%kt»yt9  686  sind  dieselbeDi  die  6S9  il0ij*«t»(  lieibeii. 


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504 


A.  Ffek:  Zur  ioniicliMi  Hundftit  und  Diebtenpraebe. 


Dialekt  und  Textkritik  auch  einige  Fragra,  die  nicht  ganz  leicht  und  eicher 
zu  beantworten  sind. 

So  erfahren  wir  7.  B.  erst  aus  Inschriften,  dais  auf  Amorgos  und  Samos 
verschiedene  Typen  der  las  herrschten  und  werden  dadurch  vor  die  ganz  neue 
Frage  gestellt,  ob  die  Reste  der  lamben  des  Scmonides  von  Amorgos,  der 
nach  alter  tHberliefening  aas  Samoe  etammte,  in  der  Sprachfotm  Yon  Amorgos 
oAet  Samos  wiederzugeben  eind^  eine  IVage^  die  sich  nur  durch  genaiieree  Ein- 
gehen anf  die  Inschriften  von  Amorgos  imd  die  hiermit  sasammenluUigende 
Geechichte  der  Besiedelnng  der  Insel  entscheiden  laist. 

Sicher  ist  Amorgos  erst  spät  von  den  Griechen  besetzt,  und  "die  goradd 
hier  so  zahlreichen  Funde  primitiver  Geräte  und  roher  Idole  gehören  gewils 
den  Karern  an'  (Ed.  Mever,  Gesch.  d.  Alt.  II  79). 

Nach  Suidas  s.  v.  Z'ijuu/Vts  i  Westermann,  Biogr.  S.  i  führte  Semonidt."«, 
TO  f|  «(>j;»j?  ^dfiiog  eine  Kolonie  von  Samiem  naeli  ATTiorgos  im  J.  407  nach 
Troja  1184,  also  787  v.  rhr.,  ^xriöt  d'  '^{lOQybv  tig  y'  :iuAtii^  Miftouv,  j^iyiuÄöv, 
'jQX66tvriv.  Dieser  ÄiigaiM  tulgc  Ed.  Meyer  a.  a.  0.  II  301:  (Amorgos)  'wurde 
Ton  Samiem  kolonisiert,  die  hier  die  Städte  Aigiale,  Arhestne  nnd  Mmoa 
gründeten;  in  dieser  (Minoa)  liefe  sich  der  samisdie  Diditer  Simonides,  ein 
jüngerer  Zeitgenosse  des  Ardiilochos,  nieder',  nur  dafs  bei  dieser  Darstellang 
der  Dichter  —  gewifs  mit  Recht  —  nicht  snm  POhrer  der  Kolonie  gemacht 
und  —  dies  nach  Steph.  Byz.  s.  r,  —  in  Minoa  angesiedelt  wird.  Nach  der 
Darstellung  bei  Suidas  könnte  es  gar  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  die 
Fragmente  de?  S.  in  der  Sprachform  von  Samos  wiederzageben  wären.  Aber 
die  Sache  liegt  nicht  so  einfach. 

Bei  Stephanos  heifft  es:  'y^uooyöi^'  i'^ffo?  ftt'a  tCtv  Kvxl^dav,  ^xov6a 

6  luiißo:toi6s.  —  ffvxiva  KuQxtjOwg  äv^Q  Nä^iog  ^)u0s  xccl  KaQXi]6üt»  Svd^aSt, 
la  Kttifxr}0ios  —  Ku^jxy^aia»  hat  man  wohl  nidlit  *Aif»i6W£  —  *Aqi*£6iva»  zu 
snchen,  sondern  den  alten  karisehen  Namen  der  Insel  Jta(iicqtftfdg;  die  Nsmea 
aiof  -iftftfog  —  -ä66og  sind  ja  dmrakteristisch  für  das  Eariscbe  und  idle  Sprachen 

der  Kleinasiaten.  Sihon  Meinte  bemerkt  zu  KaQxilaios:  *fartasse  KuQxrfi6s* 
Die  naxisclu-  Kolonii  .  auf  welche  eher  das  o))igi'  Datum  —  T>^7  v.  Chr.  — 
passen  würde,  wird  für  Arkesine,  die  Stadt  im  Süden  der  insei,  durch  eine 
jiinrrrre  Inschrift  (Düramler,  Athen.  Mitt.  XI  fl^Hß]  112:  Nu^tav  röv'JuaQyov 
\-it)yj'(ii  rtii'  olxovvttov)  be/.eiip4:.  'Die  Erinnening  an  die  Besiedeliintf  vuii 
Arkisim  (hirch  Naxier  bat  sieh  demnach  bis  in  die  römische  Kai>erzeit 
erhalten'  (Becbtel,  Ion.  luschr.  S.  40).  Eine  samische  Gemeinde  in  Minoa  be- 
zeugt eine  Inschrift  des  II.  Jahrh.  nach  Chr.:  Uiifitoi  ol  'J^iogyhr  MhvAow 
»tttotxaOvuitf  nnd  damit  stimmen  anila  schönste  die  Angaben  (s.  o.),  dafii 
Semonides  i|  ^iQZ^  S^^uog  nnd  in  Mmoa  zu  Hause  war.  Die  Bewohner  von 
Aigitde,  der  Stadt  im  Norden  der  Insel,  fühlten  sich  noch  in  römischer  Zeit 
als  Kolonisten  von  Milet:  MaiXi^tttv  t&v  *AftOfybp  jitytdXipf  xettotw^pron' 
heifst  es  CIG  2264. 

Das  Alter  der  naxischen  Kolonie  wird  durch  den  Dialekt  der  Inschrift» 


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A.  Fick:  Zur  ioninrhen  Mundart  und  Dichtersprache. 


505 


von  Amorgoa  verbürgt.  Wie  auf  Naxos  werden  ä  und  e  durch  die  Schrift 
als  H  und  E  unterschieden,  und  zwar  nicht  blofs  in  Arkesine,  sondern  ebenso- 
wohl in  Minoa  und  Aigialc.  Daneben  zeigen  einige  Inschriften  H.  51 — 53  ein 
altes  kleinasiatiaches  Alphabet,  worin  H  sowohl  »  als  e  bezeichnet,  und  zwar 
nicht  blofs  in  Minoa,  sondern  auch  in  den  beiden  anderen  Städten  der  Insel. 

Die  älteste  Besiedelung  der  Insel  erfolgte  demnach  von  Naxos,  und  diese 
drückte  der  Mundart  der  Insel  für  alle  Zeit  den  Stempel  auf;  um  650,  nach 
*  Bursian,  Geogr.  von  Qriech.  II  512  um  Ol.  2i),  besetzten  Samier  die  Stadt 
Minoa,  deren  Name  auf  Kreta  weist;  endlich  Aigiale  erhielt  in  einer  nicht 
näher  zu  bestimmenden  Zeit  Kolonisten  aus  Milet. 

In  den  attischen  Tributlistcn  sowie  in  der  Bundesurkunde  Ol.  100  erscheint 
die  Insel  politisch  geeinigt,  es  ist  nur  von  Amorgos  und  Amorgiern  die  Rede. 
Erst  seit  dem  III.  Jahrh.  v.  Chr.  zerfiel  sie  wieder  in  die  alten  Dreistädte 
(Bursian  a.  a.  0.).  Die  Einigung  ging  wohl  von  Minoa  in  der  Mitte  der  Insel, 
jedenfalls  der  wichtigsten  der  drei  Städte,  aus,  wie  auch  die  jetzige  Stadt 
Amorgos  im  Gebiete  des  alten  Minoa  liegt,  und  so  würde  sich  auch  die  Angabe 
erklären,  dafs  Semonides,  einmal  als  Oikist  von  Minoa  gedacht,  ixtiai  (Ty)v 
vilaov)  eis  JioXeis  tgilg.  Auch  in  den  Kulten  zeigt  sich  die  Verschmelzung 
der  Gemeinwesen:  der  naxische  Dionysos  wird  als  Mivmjrrfg,  die  Hera  von 
Samos  auch  in  der  altnaxischen  Kolonie  Arkesine  verehrt  (Bursian  a.  a.  0.). 

Wenn  die  ältesten  Inschriften  auf  der  ganzen  Insel,  nicht  blofs  in  und 
um  Arkesine,  den  naxischen  Stempel  tragen,  so  wird  auch  Semonides  so  ge- 
schrieben haben,  um  so  mehr,  als  sich  in  seinen  Fragmenten  rein  gar  nichts 
findet,  was  auf  seine  Herkunft  aus  Samos  Bezug  hätte.  Zum  Samier,  Führer 
der  Samier  und  Oikisten  der  ganzen  Insel,  wurde  er  wohl  als  der  berühmteste 
Bürger  von  Minoa,  die  ja  allerdings  eine  samische  Kolonie  aufnahm  vmd  von 
wo  auch  die  vorübergehende  Einigung  der  Insel  im  V.  Jahrh.  ausgegangen 
sein  wird. 

Zwar  sind  einige  Inschriften  der  Insel  in  einem  kleinasiatischen  Alphabet 
geschrieben,  doch  ist  kein  Grund,  in  ihnen  den  Ausdruck  einer  abweichenden 
Mundart  zu  sehen.  Wir  dürfen  daher  annehmen,  dafs  die  Sprechweise  der 
naxischen,  als  der  ältesten  und  stärksten  Siedelung,  alsbald  von  den  späteren 
Zu  Wanderern  aus  Samos  und  Milet  angenommen  wurde.  Ob  der  Dichter 
Semonides  noch  so  eng  mit  Samos  zusammenhing,  um  im  Dialekt  dieser 
Insel  zu  sprechen  und  zu  schreiben,  mufs  freilich  dahingestellt  bleiben,  jeden- 
falls wurden  seine  Gedichte  von  seinen  Landsleuten  auf  Amorgos  alsbald  in 
amorgischer  Aussprache  und  Schrift  verbreitet. 

Hierfür  bietet  sogar  die  uns  vorliegende  Uberlieferung  der  Fragmente  einen 
bedeutsamen  Anhalt.  Zu  Frg.  31  A  ist  in  xe:zh'jtcTui  der  Diphthong,  der  aus 
äa  hervorging,  mit  ija  geschrielien.  Hierzu  bemerkt  H.  richtig:  ^ntjckijärcu  ist 
ältere  Schreibung  für  Tifnkturai,  vgl.  naxisch  z/fti'od<x»/o,  (ikXi\üjv  Inschr.  30.' 
Auf  dies  Fragment  bezieht  sich  Et.  M.  307,  37:  inkr^in  (\lXT^ki[i6f  ix  xov  xXä 
TÖ  n'Aijtf m'^o ,  6  :TCigaxfi(i£vos  TtinXiixa  xal  ntTtkuxa'  6  n'adijTtxog  Tttzkrjfiou, 
Tcixkrixuiy  xtti  xuQu  HinaviÖTi  ^rfnrAijarat.   Hieraus  erhellt,  dal's  xexkilectui  3.  pl. 


506 


A.  Fiek:  Zm  iomBchen  Miuidait  und  Diehtenpneh«. 


pf.  pass.  zu  srAij  ^  Tikü  zu  stekd-ööat  imtl  aus  xestXHtcrca  mit  naxischem  H  =  ä 
umgesetzt  ist,  während  die  geläufige  ionische  Schreibung  mit  B  für  ö  nur  gemalt 
der  spiteren  Form  des  Diphliiongs  ergeben  hatte,  wie  denn  »adi  Ber^  bei 
d«r  danwligen  ünbelnimtschaft  mit  dem  If  &  einiger  Inaein  ganz  riehtiig 
xaiUttttei  d.  i.  arcjrü^r«»  geeehrieben  liai 

In  AmoigOB  war  der  raidie  Hauch  bewahrt  geblieben,  wie  HutMmifdf^ 
HtyTTrnxXiig  Nr.  48  beweist,  die  Samier  hatt-  n  ihn,  wie  alle  Asiaten,  eingebüfst 
Bei  Somonides  ist  der  Hauch  oder  doch  seine  Wirkung  fast  durchweg  über- 
liefert (ilie  Belege  IT.  5501:  i<py'i^tQoi,  ikd'ovd^',  tov&',  ccipeiXeTo,  xd>g  (xcf9^u#'wj 
und  d<p{v6(()]  TovTf'(iot>  spricht  nicht  dagegen,  weil  verniutlich  aus  der  vollen 
Schreibung  tov  ixi^ov  erst  xusammengezogeu ;  aueli  imutgop  hewt  i  i  tiichts, 
wenn  inegog  wirklich  aus  infUQog  •=  ismeros  eutHtauden  ist.  VVeim  sich 
a£  tdloff  von  Theognost  155,  30  ab  Beleg  für  aC  tb  da6vv6fiitfOP  augeftihr^ 
auf  Semott.  7,  76  tä  tdlag  «(m^  bezieht,  was  dock  Behr  wahrsdheinlieh  ist,  so 
bitten  wir  damit  ein  Zengnis  ffkt  h  bei  B.  audi  im  Ankui 

Auf  AmorgOB  spraeh  man  «o-  im  Fkagwort  —  nach  «ori  Inschr.  Nr.  46  — , 
auf  Samos  Termutlich  xo-.  Bei  Semoiiides  liest  man  H.  595:  &vag,  oxri  neben 
oxov,  6xG)9,  xorf.  Man  hat  aLao  die  Wahl;  vielleicht  war  man  schon  in  sehr 
alter  Zeit  unselilüssig,  ob  man  Semonides  im  ionischen  oder  amorgiachen 
Dialekte  lesen  sollte.  Jedenfalls  haben  siich  die  Samier  früh  ihres  bernbmt^n 
angeblichen  LandsTnannes  angenntumen:  wenn  Suidas  a.  a.  0.  berichtet,  S.  habe 
auch  eine  aQ^aioAnyica'  rcjr  Hauiioi'  verfafst,  so  ist  das  selbstverstiindlich 
Fülschung  eines  Saniiers  auf  den  berilkmteu  Namen  j  archäologische  Studieu 
lagen  olme  Zwdiel  dem  allen  lambographea  fem. 

Eafet  man  alle  Momente  fUr  nnd  gegen  sneammen,  so  ftberwiegt  die  Wahr- 
scfaeinlidikeiti  dals  Semonides,  mochte  auch  er  selbst  oder  seine  Familie  ans 
Samos  stammen,  sich  doch  der  auf  Amorgos  herrschenden,  mit  der  altnasiscJieD 
identischen  Mundart  bedient  hat.  Jedenfalls  wandte  man  auf  Amorgos  schoD 
bei  den  ältesten  Abschriften  seiner  lambcn  die  amorgische  Schrift  an.  Viel- 
leicht liegt  hierfür  in  :ri:iXr^((Tui  (s.  o.)  ein  Yollgnltiger  Beweis,  wie  der  Genetir 
Avxäftßeps  (Voc.  Avxccfißu)  ))ei  Arfhilorhns  beweist,  dafs  der  Dichter  wie  die 
parischen  In8chrift4»n  ä  und  e  nicht  untersehiedcn  hat.  — 

Semonides  schrieb  nach  Suidas  (s.  o.)  xiad  itvug  Jig&tog  Idftßovg,  also 
noch  Yor  Ardiilochos.  Hieran  ist  wenigstens  so  viel  wahr,  daia  S.  im  Bau 
seiner  Jamben  von  Archilochos  gpuu  unabhängig  ist:  er  unterscheidet  sich  tco 
diesem  anf  den  ersten  jMidc  dadurch,  dab  er  durehans  keine  AuflSsnngen 
nilalkt  Dies  njH%t  ihn  denn  in  Wörtern,  die  der  rein  iambischen  Messong 
widerstreben,  Dehnungen  durch  den  Ictus  eintreten  zu  lassen.  So  erklären 
sich:  'Atdijg  1,  14  117  -  -  -  neben  Anakr.  43, 6 j  darö  ^liasov  w^^s 

1,  6.^;  ff  oÜQeOiv  14,  1;  dgOo^Qi^g  -  j.  -  17  und  TtovXvxov  ^^o  29.  Die 
Messung  von  ^Atör^g  als  Creticus  deutet  daher  durehans  nicht  auf  eini'  Grund- 
form j^ltdrjg,  wie  sie  Wackemagel  für  das  attische  "Aiöi]^  voraussetzt;  ebenso- 
wenig ist  o^QEöiv  neben  ogfOi  bei  Hcrodot  auf  episelu-n  EinfluTs  zurflck- 
zufÜhren;  wollte  der  Dichter  die  oben  angeführten  Wörter  und  VerbiuuungLU 


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A.  Fiek:  Zar  ionitduMi  Mundari  und  Dicbieninclia. 


507 


in  den  Bfta  seiner  Jamben  einfügen,  so  konnte  er  sie  gar  nidit  «aders  behandeln^ 
bIb  er  gethui. 

Die  einsige  AxLfldsiuig  findet  sidhi  in  10,  wo  du  fiberlidTerte  tttOru  StA 
fumtf&v  Xöyov  ävidgaiunti  nach  Nauck  und  Bergk  ri  t.  utaiQibv  diu  koyrnv  A»  ge- 
lesen wird.  Aber  Bergk  bemerkt  hierzu  eebr  ricbüg:  Cdmm  vd  sie  leeHo  versus 

incerta,  si  quidem  Simmides  nlias  nusquam  soluiionc  Itmgae  syllahae  usus  est. 
Angeftthrt  winl  Her  Vcr^  vom  .Schol.  zw  Eurtp.  Phoen.  207  als  Beleg  für  den 
Ge])r;iuch  des  Aorists  im  Siiua-  dos  Futuru,  hIbo  at'ff^pafiov  dvtl  rov  dva- 
dgaufii'  ^iliiit.  Vielleicht,  ist  zu  lesen  n'  raftK  fucxgäiv  d(l  löytov;  dvi- 
ÖQuiiov^  *Soll  ich  darauf  zunu'kkommpn  V '  Die  Umstellung  tC  tttvt  äviÖQafiov 
fuatp&v  dtÄ  Xöymv,  vgl.  izb  qvxov  1,  Uli,  wfirde  einen  eehleehtgebtnten  Vers 
geben,  der  sich  durch  6, 1  kwam  rechtfertigen  UUst.^) 


S.  179 — 212  giebt  Hoihnann  'AJIgt^meine  Bemerkungen  über  die  Quellen 
des  ionischen  Dialekts'.  Ich  lege  hier  nur  den  Abschnitt  über  die  ionische 
Elegie  8. 182—185  ra  Chwide; 

Nsdi  Ütorer  Anrieht,  der  nodi  H.  W.  8mjth  beipflichtet,  machten  die 
Elegiker  die  Sprache  des  homeriachen  Epoe  nur  Baais  ihrer  Dichtungen, 
indem  sie  das  epische  OefurSge  nur  dnrch  Abstolanng  archaischer  Formen  oder 
durch  Anlehnung  an  den  eigenen  llt  imats  und  Mntterdtalekt  mehr  oder 
weniger  'modifizierten'.  Dafre^fn  rrklari  H.  im  Anscblufs  an  meine  Darl^ong 
in  Bezzenberffers  Beitr.  XI  248  f.,  dafs  gerade  die  ältesiten  ElejjikiT  rein  ionisch 
dichteten  und  erst  die  späteren  nnt^T  dem  Kintlusse  der  Sprache  des  Epos 
standen,  dafs  also  '^die  Sprache  der  Elegie  genau  den  entgegengesetzten  Ent- 
wickelungsgang  genommen,  als  den  ihr  von  Smyth  zugeschriebenen:  sie  war 

*)  Zorn  Sehlime  mOgtn  aodi  dnige  yerbMMnmgivMiddlge  knn  aagedeatei  werden. 

1,  10  int  tlfffdoci  <piXos  aberliefert.  U.  schreibt  (pliov  mit  AnschlurB  an  MeÜMikes 
Koxycktnr  fpUav.    Vielleicht  fittedcti  oder  ?^rrtd'<tt  Sifflnf,  zu  lesen  ^^^(TO^mTfZo^? 

Die  Verse  1,  69 — 70  eiud  zwar  etwtui  matt,  doch  lagsen  sie  sich  halteo,  inebesoodere 
60  ist  eigentlich  gaas  «nbedeBldicb;  fireOidi  mufli  der  Tentob  gegen  die  alte  las  ia 
«MOvrot;  für  -rourt  notwendig  beseitigt  werden.  Man  schreibe  to-*-ovTa  mit  Hinweis  anf 
xttTßylo-i-ov  8  9  lind  Archilocho<i  M:  äU'  lUiQdhj»  iulptUU,  WO  ä^Up  Dat.  m  älio. 

ÜbrigeiiH  iät  hei  Aelian  toto^ov  (Iberliefert. 

1,  74  tdueibi  H.  dhr«A«av  flir  dss  flberiisferie,  dialektwidrige  d«tf«A«»if.  Aber  nach 
Job.  Schmidt«,  von  H.  adoptierter  Theorie  hütte  er  jedenfalls  besser  wenigstens  ivttovsttw 
geechriebpn,  w«>nn  wirklich  in  <lf»n  Verben  auf  (i]vtiov  II.  //  423,  son^t  Avruta"\  neben 
üm  beide  Formen  im  Sinne  dieser  Aufstellung  wechselten.  Will  man  die  ganz  hübsche 
Andemiig  in  imtttvw  nicht  gelten  lasse»,  so  sebreibe  man  d»#(iEm«;  man  begreift  dann 
wenigstens,  wie  dafür  &v9ifmitoi9  als  Glossem  etadriagea  konate,  um  den  sltartttmlidien 
Gebrauch  von  ävinaaiv  als  'Mensch t-n'  zu  markieren. 

1,100  schreibt  H.  für  »(Xtim:  itinltxxai  mit  Berufung  auf  Hipponax  23  AB,  wo  der 
Tokal  vor  «r  ntietriseh  knrs  ist  Aber  wu  Hipponax  sieb  in  ebolisaabiseher  Lanne  erlanbi, 
gilt  nicht  ohne  weitere«  für  Semonides.  Eine  Iktusdehnuiiu'  i«t  allerdings  in  :tiliT:<i  nicht 
anzunehmen,  da  ja  kclnt?  Nötigung  vorlag  gerade  dies  Wort  au  gcbrauchi'n;  Ahrens  will 
xÜXtxcu,  und  wirklich  ist  3r«^««iJU>|iimav  Pari  praes.  zu  »«^MtXofitfMf  ivittvx&Vy  aber  die 
Ahming  eines  solchen  Zwanunenbmiigs  wird  man  hier  sdiwerlieh  sncheB  und  fladea  woEso. 


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608 


A.  Fick:  Zur  ionuchen  Mundart  und  DichteivpiMbe« 


uroprfingUch  niebt  ein  cpisch-homeriflclier  MisebdialelEt,  der  durcli  EiiiMlaEen 
ioniBcher  Fonnen  modifiziert  varde,  sondern  der  eehte  ionischey  reine  Dialekt^ 
den  dum  im  Laufe  der  Jehrbonderie  homerisclte,  nnioniflche  Fonnen  mdir 
und  mehr  entstellten.*  Die  ältesten  Elegiker  stimmen  also  in  ihrer  Sprache 
genau  mit  den  im  elegischen  Yersmafse  abgefafsten  Inschriften  des  ionischen 
Sprnphgebiots ,  denen  sich  jetzt  auch  dir  boiilon  liühschen,  smerst  TOn  H.  ge- 
lesenen Distichen  von  Thasos  H.  Nr.  t)7  uiul  68  zugesellen. 

In  den  inscUriftlich  überlieferten  Elegien  finden  sich  wohl  allerlei  Frei- 
heiten, besonders  in  der  Messung  von  Eigennamen,  die  der  Verszwang  ent- 
schuldigen muTs,  auch  wohl  hier  und  da  der  Qebrauch  eines  sonst  nicht  als 
ioniscli  nadusaweieettden  Wortes,  wie  ^vl  IcatiSm  auf  Furos  eaee.  Yl,  aber  nidiis 
den  Lauien  der  Im  Widerstrebendes,  was  dem  Epos  entlehnt  sein  mfilMe. 
Selbst  der  Pentameteraus^g  vo9  «o^i^mg  Ajv  auf  dner  jfingaren  Insdbnft 
Ton.X!3uos,  nach  Eiri^off  aus  der  ersten  Hälfte  des  V.  Jahrb.,  enthält  niclit 
notwendig  Entlehnungen  aus  dem  Epos.  Der  Gebrauch  von  6  als  BeLativ  ist 
allerdings  der  ältiren  las  fremd,  doch  wird  man  ihn  nicht  durchweg  und  aus- 
schliefslich  iuih  dem  Epos  herleiten  dürfen;  und  (riv  ist  iillerdings  die  ionische 
ümsetziing  des  altepischen  iitv,  aber  toi»  wie  itjt/:  i^fv  kann  mau  zu  den  Nach- 
klängen der  iiolischen  Mundart  rechnen,  die  in  Chios  vor  der  las  hcrrsclite, 
vgl.  H.  S,  223  f.  Sogar  die  im  heroischen  Versmala  abgcfalsten  Inschriften 
ionischen  Gebiets  zeigen  keine  Spur  der  epischen,  hier  dodi  am  ersten  an  er- 
wartenden Mischsprache,  wie  die  schöne,  sprachreine  NikandreinschriA  von 
NaxoB  H.  Nr.  30  seigi 

Die  gleidie  Bdnheit  der  Sprache  findet  sich  bd  den  Uteren  Bfegikeni. 

Mit  Recht  erklärt  H.  S.  183  die  Formel  6xx6xb  xiv  dij  bei  Kallinos  für 
ein  episches  Zitat,  'falls  es  überhaupt  richtig  überliefert  ist'.  M.  £.  stammt 
da.<?  Zitat  nicht  von  dm  Dichter  her,  der  ursprünglich  ^£  luv  iEv  dij}  ge- 
schrieben hat. 

Tyrtaios  nahm  den  Ton  des  Kallinos,  den  der  kriegerisclien  Elegie  auf 
Dafs  er  vftn  Hans  aus  Lakone,  seine  las  also  erst  erlernt  wai,  >vie  H.  S.  184 
meint,  iät  jedenfalls  nicht  2U  beweisen.  Zweifellos  war  er  in  Sparta  heimisch 
geworden,  geborener  Lakone  war  er  wohl  nichi  Bekannt  ist  seine  Herleituog 
ans  Atiien,  noch  mehr  an  beachten  ist  die  Angabe  bei  Snid.  (WestOTnann, 
Biogr.  S.  115)  Adam»  ^  AftAif^tos  mit  der  Zeitbestimmung:  fyt^M^  yo&p  lum 

It*  Hvfutidiaf  d.  i.  636 — 2  v.  Chr.,  was  sehr  schön  au  dem  jetat  herrschen- 
dm  Ansätze  des  /.weiten  messenischen  Krieges  C40 — 623  stimmt.  Ais  Mileeier, 
der  auch  in  Athen  verkehrt  haben  kann,  reiht  sich  Tyrtaios  an  Terpandrot 
von  Lesbos,  Alkman  von  Sardna,  weit<'rhin  an  Hos^iod  von  Kymr,  Arion  von 
Methymna  und  Polymnestos  von  Kolophun;  die  Kolonien  des  Ostens  Ober- 
strahlten lange  Zeit  in  Gesittung  und  Kunstübung  weitaus  das  Mutterland. 
Tjrtaios  Sprache  ist,  von  den  metrisch  sehr  brauchbaren  Lakonismen  -otg  und 
-CMS  aeben  -oi6t  und  jioi  und  diön&vast  örniÖTus  abgesehen,  durchaus  rem 
nnd  darf  uns  als  Ersata  fdr  lE^illinoa  gelten,  von  dem  Tyrtaios,  vidleicht  ab 
sein  Schiller,  durdians  abhängig  war. 


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A.  Fiek:  Zur  iMuiditti  Hnndttt  und  DichtenprMhe. 


&09 


Da«  gröfsere  Bruchstück  des  kallinoa  von  V.  5  an  konnte  geradezu 
TyiilliM  Ter&Ist  haben,  und  so  hat  Thiersch  es  dem  Kallinos  ab-  und  Tyrtaios 
sageeproelien.  Jedoeh  mit  Unreeht:  du  Bfld  in  Y.  20:  &&3Kq  y«Q  yt-iv  nvQYO» 
iv  ifMifMtv  6ffA6tv  paCst  nicht  fttr  das  nnbeliMtigte,  offene  SpMrta,  wohl 
aber  flir  imiiiche  Sttdte.  Hau  denke  b.  B.  an  Teos,  das  nach  OIG  3064  in 
BesirlEe  zerfiel,  die  den  Namen  x^oyoi  führten  nach  den  ^eidibenannten 
Mauerabschnitten,  deren  Hut  den  dahinter  sitzenden  Bürgern  anvertrant  war, 
und  die  wiederum  den  Schutz  der  Hintersassen  bildeten.  Erst  wenn  man  sich 
diese  ionischen  und  nicbtsparhiiiisditni  St-adtverhilltnisso  Tor^o^onAvartirrt,  tritt 
die  volle  Schönheit  nnd  Kraft  des  Bildt's  hervor,  das  also  für  ioaieu  und  gegen 
Sparta  und  damit  für  KalliiK»«  und  gegen  Tyrtaios  spricbt. 

Wie  nahe  es  lag  und  noch  liegt,  alt-  und  gutionische  Dichtertexte  durch 
^iache  Eeminiazenzen  za  entstellen,  zeigt  Tyrt.  10,  27.  Hier  ist  v^6i 
mW  htiimtep  llberlieferi  Die  gaoae  SteUe  ist  im  ol^barw  Hinblick  anf 
n.  X  11-^16  gedichtet  Da  es  nun  dort  71  heifet:  vi^  ü  «e  ixiotxep, 
so  m«Bte  Thierach,  dem  ich  früher  leider  gefolgt  bin,  das  überlieferte  viot€t 
durch  das  homerische  v^a  ds  n  ersetzen  zu  müBscn  und  b^erkte  nidlt^ 
da&  er  damit  dem  Tyrtaios  einen  Sprachschnitzer  in  den  Text  setzte:  die  Sltere 
las  kennt  rmmlich  weder  in  der  Prosa  noch  in  der  Poesie  die  im  Epos  so  un- 
endlich häutige  Verbindung  Sf  rf.  sie  findet  sich  erst  hei  den  jüngeren  unter  dem 
EinfluTs  der  epischen  Mischsprache  stehenden  Elegikern. 

Wenn,  wie  vhvn  gezeigt,  selbst  ein  tüchtiger  Gelehrter  der  Neuzeit  die 
alte  Elegie  in  verkehrter  Weise  episieren  kann,  werden  wir  dann  nicht  eher 
Nachsidit  mit  altai  Bedaktoren  nnd  Abschreibern  haben,  wenn  aie  bei  KaUinoa 
iatM&ts  itiv  dif  für  w^i  fuv  Up  dij,  bei  Tjrtaioe  10,  6  t«Om^«w»  für  ti9väim 
(wie  bei  Theognis  alle  Hss.  neben  ««Ovrffim»  A  haben),  oder  wenn  sie  Tjri  10,  7 
in  lutiaeetm  oOs  «wir  tnnftiu  nach  A  139  «cj^^iU&ffertti  9»  itsp  tmiu»  für  ä» 
das  i'pisehe  x(v  eingeschwärzt  haben?  Andi  hier  mnb  es  heifaen  'allea  be- 
greifen heifst  alles  verzeihen*. 

Die  aiistofsij^e  Erwähnung;  der  nidofK  in  Tyrt  25  uifiardevr'  aldola 
(filijö'  iv  f'xovTa  stammt  ebenfalls  aus  der  homerischen  Parallelftolle. 

wo  es  X  75  heilst  (tidü  t  al^x^vosöi  xvves-  Auf  dem  richtigen  Wege  war 
Cobet,  als  er  ivxiQcc  ^*  «I^ardfrr«  vorschlug.  Näher  läge  fijdvt*  ulfiatofvra, 
doch  bedarf  ea  keiner  Umstellung,  wenn  man  nach  y  SOG  uifttttötvr'  ivdivu 
schreibt;  freilich  wird  die  Bedeutung  von  ivd$vtt  ala  ^r66^tti  angezweiHelt 
(a.  Ebeling  Lex.  Horn.  a.  o.). 

Der  einaige  Widwapmdt  g^n  den  aonatigen  altioniachen  Dichtergebrauch 
findet  sich  Tyri  12,43  igerf^s  fls  &xqov,  da  sonst  dg  nur  unt(>r  dem  Iktds, 
in  der  Senlnmg  nur  fg  erscheint,  doch  kann  Tyrtaios  hier  sehr  wohl  eine  bei 
dem  alten  Kallinos  fr>75  v.  Chr.)  vorkommende  Altcrtümlichkeit  kopiert  haben, 
da  ivg  doch  nrspniii)^Iieli  ionisches  #fs"  erjjfcben  raufste. 

Wie  der  Uenetiv  AvKaußfog  Archil.  28  zum  Vokativ  Avxuußa  91  beweist, 
unterschied  Archilochos  in  Übereinstimmunj^  mit  den  pariselien  Insduiften  n 
und  e  nicht  in  der  Aussprache j  IL  hat  daher  die  Fragmente  des  Dichters  hier- 


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510 


A.  Fidi:  Zur  iooi«cb«D  Mundart  imd  0t^t«npnehe. 


nach  gestaltet  uuU  dadurch  meine  Darstellung  in  Bezzenb.  Beitr.  berichtigt. 
Mit  Reeht  htAosA  H.,  daJb  Archilochos  in  der  El^e  ao  wenig  wie  in  »einer 
sonstigen  Diditnng  Äolifoi«!  WM  don  Epoe  aufgenommen  habe.  1, 1  iai  di« 
wohlbeieuglie  Leowt  'BwakioM  9itito  aUein  ricbtig^  die  andere  *£.  fynatng  mit 
dem  Tenwidrigen  Hiafc  stammt  ans  dem  Schild  des  HersUea  371:  xalg  tt  ^tbg 
fieyaXov  naX  ^EvwüUoio  fdvaxrog,  sie  kann  aber  von  Archilochoa  selbst  dieser 
Stelle  nicht  entnommen  sein,  weil  der  Schild,  über  der  Eoe  Alkmene  aufgebaaty 
nach  weislich  erst  um  600  v.  Chr.,  also  nach  dem  Tode  des  Dichters  verfaÜBt  ist. 

Ebenso  dialektrein  ist  die  Elegie  des  Enenns  von  Faros,  der  von  H.  nicht 
berücksichtigt  ist.  Verglichen  mit  seinem  älteren  Landsmannc  zeigt  Euenos 
in  seiner  Sprache  Spuren  einer  jOngcren  Z€*it,  aber  keine  Aufnahme  unionisoher 
Formen  aus  dem  Epos,  in  den  Vcrseu  dea  Euenos  bei  Theognis  4(>7  f.  ist  r«  481 
RelatiTy  wie  Theognis  501  xhv  iiirgov  i^Qmo  xivm,  imd  eins  der  Uteeten 
Beispiele  ftr  diesen  Gebrauch  des  deiktischen  6;  ebenso  kann  ^aOs  fUr 
^coftfc  490  als  Neuerung  gelten,  doch  libt  es  sidi  durch  ^itß  ersefawn.  In 
xoolb  xtQttAn(fO¥  5,2  (Beigk)  wflnfo  man  mit  Unrecht  episdie  Entlehnung 
wittern:  zovkv  kommt  im  Epos  als  Adverb  gar  nicht  vor,  und  r  'iS7  ist  (vdop^ 
xoXkov  besser  bezeugt  als  nwlö  (nur  der  Acc.  fem.  xovXvv  ist  metrisch  ge- 
sichert), 8o  wenig  wie  xBpeidrrQag,  pj^i'bildet  von  jjfpft'cji'  wie  ifkHV&te^og  bei 
Mimturm  von  dfiHvav,  Homer  kennt  nur  ^^tpdrfpog  O  519. 

Dan  Zeitalter  des  Eueno»  läfst  sich  annähernd  bestimmen  durch  »'irtf» 
genauere  Prüfung  des  Fragments  Theognis  607 — 682,  das  der  Widmung  an 
Simonidea  wegen  ebenso  wie  Theogn.  467  f.  imd  1345  f.  dem  Euenos  zu- 
Busdireiben  isi  Der  Dichter  giebt  hier  nach  seinen  eigenen  Worten  ein 
Bitsei  auf:  tte&td  fun  ^ij^  681,  aber  das  Bitsei  Idst  sich,  wenn  wir  die 
Verse  in  Beziehung  auf  ein  Ereignis  setsen,  das  die  Parier  im  VI.  Jahrh.  let^ 
haft  beschäftigen  mufste. 

in  MUet  herrschte  nach  dem  Tode  des  Tyrannen  Thrasybul  längere  Zeit 
Bfirj^rrwist:  die  jrXovxig  oder  die  deivavrcci,  reiche  Rheder  und  Kaufleute, 
Khiiultn  gt'pen  die  Handwerker,  die  sogenannten  j;^ ipou« j^orf  (u^zV  ~  f^^iX"^i) 
und  die  lV(>yiö'ft;,  die  eingeborene  Plebs.  Endlich  iibertrugeii  die  Miiesier  den 
Pariern  die  Wiederherstellung  der  Ordnung  und  des  Friedens,  und  diese  lep^en 
die  Macht  in  die  Hände  der  Grundbesitzer,  der  Agrarier  ^^Herodot  V  28;  Busoit^ 
Gr.  Qesch.  I  582). 

Diese  VorhSltnisse  spi^eln  sich  in  unserer  Elegie  wieder.  Sim<mid«s,  der 
Freund  des  Diditcrs,  hatte  ihn  auljgefordert,  an  dem  Schiedsgerichte  Teil  zn 
nehmen,  der  Dichter  lehnt  es  ab  seiner  Armut  wegen,  die  ihn  in  den  Verdacht 
bringen  würde,  von  vom  herein  ge^n  die  Reichen  —  die  ^o^vqyo«  —  ein- 
genommen  zu  sein;  sonst  würde  er  sich  wohl  die  Einsicht  zutrauen,  bei  dem 
Rchwierifjfn  ütitornelnrnTi,  das  den  Pariern  zugefallen  —  unter  dem  Bilde  einer 
gewagten  Schitiahrt  {  q^t()6u^aT>u  \  vorrfostHlt  —  erfolgreich  thatiir  zu  sein.  Die 
Lage  der  Milesier  wird  673  f.  ebenso  bildlich  dar<;estellt:  der  j^ute  Steuermann, 
den  sie  beseitigt  haben,  ist  Thraj«ybul:  der  Besitz  ist  zu  uni^leich  verteilt  677  f: 
die  ^OQTtiyoCf  die  obenauf  sind,  da»  sind,  mit  verächtlichem  Doppelsinn  be- 


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A.  Fiek:  Zw  ioaiaehen  Hnndart  und  Diehtenpracibe. 


511 


munnt,  die  advccvrai,  dw  Besi^er  der  vfieg  fpoQTriyoi,  wie  Afschyloa  in  den 
Plirygrm  (Frp.  25^>  Botliu)  den  seefahrenden  Hiiiulclsiiiiiini  varßun^v  g?o(»Ttj.ydv 
uenutj  die  xuxoi  siud  iiutürücii  die  üandwerker  und  diu  (iurgithou,  die  aya^oC 
cmdlidi  die  erbgesanenen  GnmdbMitMr,  deotiii  dio  pariadiaa  Bdiiedniditer, 
mit  denen  der  Dichter  poliiisdi  gleidigeflamit  ist,  die  höchste  Gewalt  in  Milet 
ftberifB^n  haben* 

Die  Yoe^oning  der  Milesier  auf  Grond  der  pariedien  Vennitlehmg  wird 
bei  oder  knzx  nach  der  Thronbesteigung  <l(  s  Kroisos,  der  die  Freiheit  der 
lonier  sogleich  bedenklieh  bedrohte,  stattgefunden  haben;  wir  dürfen  hiernach 
die  Abfassung  des  soeben  gedeuteten  Gedichte  nnd  die  Akme  dee  Dichters  um 

dieselbe  Zeit  setzen. 

£rheblich  alter  sind  die  Verse  in  der  Theognisäammiung  891 — 894; 

Arikttvxm)  d'  üya^bv  xiC^ttui  oivöntÖov^ 
oi  d*  dj'ceO'ol  fptvyov^i^  7e6h»  9h  luauA  dikcMiv* 

&g  dl)  Ktn(feXtd^v  Zfitg  iUssu  ydvos. 
Die  Diatidien  stammen  offmbar  ans  der  Zeit  des  lelantiaehen  Krieges,  dessen 
Ansbmeh  Ardiilochos  (nach  Frg.  3)  noch  erlebt  hat  Die  Form  zeigt  ganz 
die  schöne  Reinheit,  welche  die  ältere  Elegie  auszeichnet.')  Ed.  Meyer  (Gesch. 
d.  Altert.  II  342)  sieht  in  dem  Verfasser  der  Distichen  einen  'korinthischen 
Adlij^en';  ist  es  nicht  natürlicher,  den  Ursprung  des  rT*<fh(hts  in  dorn  nächst- 
beteiligtcn  Euboia  zu  suchen?  Wenn  Korinth  und  Samos  im  lelantischen 
Krieirr  auf  der  Seite  von  t'halkiö  ötaaden,  so  mufs  es  unser  Dichter  mit  Erctria 
gehalten  haben,  vielleicht  war  er  selbst  'ein  Bürger  dieser  Stadt,  wo  nach 
gewissen  Spuren  (s.  Meyer  a.  a.  0.)  Adlige  und  Demokraten,  dyad^ot  und  xtacoif 
abwedhsebid  die  Herrsdiaft  fQhrteo. 

Auf  Euboia,  inabesondere  anf  Ghalkis,  weisen  auch  die  auudtxAf  welche 
jetsi  das  zweite  Buch  der  Theognissammlang  bilden.  Das  Laster  der  Knaben- 
liebe  drang  in  der  ersten  Hälfte  des  VI.  Jahrh.  von  Lydien  lier  zunächst  in 
lonien  ein  and  war  bald  in  (^halkis  und  den  Städten  der  Chalkidier  besonders 
im  Schwange,  wie  das  chalkidische  Volkslied  Plnt.  Amator.  IT  iBergk  III' 
S.  bezeugt,  das  auf  ein  Ereignis  des  Kampfes  zwischen  Chalkis  und  Eretria 
bezogen  wurde  und  nach  Abstreifung  der  verkehrten  Atticismeu  in  6itMav 
und  ävÖQHa  lauU  n  wilrde: 


*)  mt  d»)  erklärt.  Cobct  für  1)iir"li:irisrh ,  auch  B<>rf,'k  meint  ,  weniputens  grammatici 
videtur  gupplemrutuni ,  aber  mau  vergleiche  X  cu^,'  dij  fiiv  ivl  XQO^  ^^'^  xofMCato, 
>  807:  ms  di}  tyuj  ug;f)U»»  #avl|C»',  1  648:  äe  dt)  (lif  5<fiflo9  «t2. 

*)  Bs  nnd  dies  bis  anf  die  vielleicht  entstellte  SchlurRxeilc  Doppelverae  mit  je  6,  d  i. 
2x3  HebnngPD ;  nie  erinnern  an  die  Henviig  der  Bjtriennsehrift  von  Anerget  aad  de« 
6öttervenciduu««e8  voo  Solinui. 


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512 


k.  Fiele:  Zur  ioiiiielimi  Hondwri  lad  DichtonpiadiaL 


Der  alte  Beätand  der  m.  E.  cliaikidisclieu  :i(adixd  in  TheogiiiB  B'  läüst 
sicli  wieder  gewinnen,  warn  man  im  Ange  behült,  dab  die  eehteo  Stfleke  ab 
€iUpifiiyCs*  im  Sinne  toh  Theognis  19  die  Anrede  an  den  Geliebten  mit  ar«f, 
A  «cet,  £  jMbU  »cd,  i^Qtfu  xuättßVy  i  aueidmv  iuiXXtave  xtL  enthielten,  daCi  aie 

ferner,  wie  jetzt  noch  deutlicli  ist,  in  vierzeilige  Strophen  gegliedert  and  endlich 
in  einer  dialektisch  reinen,  ionischen  Sprache  abgefafst  waren:  für  1319 
läfst  sich  O-Fog  einsetzen,  und  iffog  1322  wird  eher  der  äolischen  Liebeslyrik 
als  dem  Epos  entnommen  <«-in. 

Der  äitest«  der  iomscln-n  Elci^iker,  die  unter  dem  Einflüsse  der  epischen 
Mischsprache  utehen,  ist  Mimnermos  von  Kolophon,  ein,  wie  es  schein^ 
jüngerer  Zeitgenosse  Solons,  der  hochbetagt  558  t.  Chr.  starb.  Albahoch 
darf  man  ihn  nicht  hinaafrflcken,  das  verbietet  adion  der  Inhalt  aeiner  Dicfa- 
tangen:  die  Yerherrlidiung  der  xpinnrad^i}  iptl^g  and  ab  Kern  und 
Stern  des  mensclilichen  Daseins  ist  auch  hier  wie  immer  Kennaeiehen  eines 
bedenklichen  Niedei^angs  and  wird  dem  irerdienten  Verluste  der  Freiheit 
loniens  nicht  allzuhinge  vorausgegangen  sein.  Nur  in  Frg.  14  schlägt  der 
Die]if«T  einen  männlicheren  Ton  an,  in  dem  er  auf  das  Vorbild  der  Vorfahren 
in  liiren  Kämpfen  gegen  die  Lyder  hinweist;  den  AnhilH  zu  dieser  Mahnung 
bot  wohl  Kroiöotj'  V'ernuch  ^öGÜ— 550),  aich  die  lonier  völlig  zu  unterwerfen. 
Wir  dürfen  danach  die  Akme  dos  Dichters  etwa  um  575  ansetzen. 

H.  sieht  in  der  Sprache  Himnerma  einen  Übergang  von  der  DialeUrai' 
heit  der  Üteren  Elegie  au  der  Formenmischnng  der  jflngeren.  Für  die  An- 
nahme einer  solchen  MittelsteUnng  bieten  die  Himnermfragmente  eigentlidi 
keinen  Qmnd:  die  Sprache  steht  hier  schon  ganz  unter  dem  Einflüsse  dee 
Epos.  So  ist  Mimnerm  r.  B.  der  erste  der  ionischen  Elegiker,  der  das  Relativ 
og,  offog  mit  verbindet:  1,  6  o  t',  2,  6  oaov  rf,  2,  IH  av  «,  5,  7  o  r\  zweifei - 
hts  nach  dem  Epos,  die  älteren  lonier  kennen  nur  die  Adverbien  «Tf,  &6t{^ 
f'S  ov  re  Semmi.  7,  117,  Aueh  ivu  xt  11  stammt  aus  Homer,  vgl.  z.  B.  X  325, 
wie  ivcc  'wohin  ii,  7  und  u'ß  'wo'  12,  9j  t6&i  t'  11,5  zeigt  die  epische  Ver- 
bindung des  deiktischen  6  mit  re,  ixiSeösreu  2, 13  ist  homerischer  Aeolismae 
nnd  nicht  sa  andern;  den  früheren  BettungSTeraadi,  iiuStUteu  za  leaen,  woaa 
auch  attisch  dav  dioVf  Blass-Eflhner  I  64S)  angesogen  werden  konnte, 
gebe  ich  auf.  11,3  liest  man  tiXiav  f&r  ionisches  ttlmv  and  14,3  offenen 
xXovi'opttCy  &ft  xfdi'ov,  (ptge^uflnfPf  11,5  gar  Ah^vo  statt  jfhjt^.  12,  1  int 
yuQ  ^Xttjpv  Ttövov  überliefert  und  nicht  zu  ändern:  yuQ  Q  nach  epischer  Weise; 
H.  will  Xflft^ev  lesen,  aber  das  homerische  XtXuifiv  hat  kausale  Bedeutung 
'zu  teil  werden  laswn'.  12,  6  erklärt  sich  xoulri  aus  dem  epischen  xnlXog  =• 
xuj-tÄog;  12,7  vdiOQ  mit  n  am  Verswchlusse;  12,11  fVrf/Jijtfft'  iuiv  nach  H.s 
richtiger  Lesung,  vgl.  ^517;  xi^adiifS  14,  6,  ionisch  ist  xtrpdi't;,  s.  H.  295—296. 

Wenn  sich  einige  krasse  Äolismen  wie  eiiftevai^  HvÖgettSi  a.  a.  nicht  in 
den  geringen  Beaten  Mimnerms  finden,  so  kann  daa  sehr  wohl  Zu&ll  sein: 
einem  lonier,  der  vor  Ali^tm  nicht  anrflckschrickt,  rat  die  Anihahme  einea 
jeden  epischen  Aolismus  zuzutrauen. 

Die  Sprachform  des  Xenopbanes  Ton  Kolophon  ist  T<m  fi.  184  genOgend 


A.  Fick:  Zur  ionischen  Htindart  und  Dichtenpraebe. 


51B 


charakterisiert;  man  kann  nocii  hinzufügen  das  Relativ  6  in  tota'  1,  23,  to 
2,  11,  Tov  b,  :i,  rijv  (i,  5,  ävegog  C,  4  cpisoh-ioliBeb  iDr  AvdQÖg  und  mib 
dem  SUlen:  11  21  22  ytang,  12, 2  6itoCtoSf  13  nnd  17, 5  (ti  t%  16, 4 
iffyUf  17, 1  17, 2  x£/^ftf0«,  19, 3  %d  *wie*,  24, 1  «dt/ovtft  (offen),  27  dmirftfa 
und  eltfo^i£mrd«rt,  29  öxe^s^öt  und  vdop.  Es  liegt  eine  eigene  Ironie  des 
Schicksals  darin,  dafs  Xt  iiophanes,  der  die  Epen  ah  siXuafiura  räv  XQoriQmv 
,  .  Toftf'  ovSlv  j^öTov  ivföTiv  so  selir  verachtete,  einer  der  Ersten  sein 
mufste,  die  in  ihrer  dichteriechen  Sprache  so  ^xa  von  diesen  Terachteten  Epen 
abhängig  waren. 

Das  Zeitalter  tita  l*iiok vliiit  s  von  Milet  ist  si'liwt  r  zu  beHtiinmen:  Ninive, 
dessen  Untergang  durch  eigene  Thurheit  Frg.  5  erwähnt  wird,  wurde  610  v.  Chr. 
zerstört,  die  Mahnung  neXtrifV  i%i  niovog  äygov  7,  1  ist  ganz  im  Sinne  des 
Sduedespradies  der  IWer,  den  wir  oben  um  560  ansetzten.  Zn  den  Ton 
H.  184  erwähnten  episehen  Formen  stellen  sich  noch  ivi  4, 2,  ti  7, 2, 
doJc/otHTt  (offen)  9, 1  und  «vdQug  15, 2. 

Die  Sprachform  dieser  jüngeren  ionischen  Elegiker  ist  für  die  noch  spatere 
Elegie  mafs^ehend  gcuoiilt  n,  wie  ein  Blick  auf  die  Theognissammlung  zeigt 
In  den  Stücken,  welche  die  Anrede  an  Kyrnos  als  von  Theognis  selbst  her- 
rübreixl  »rwoiHt,  herrscht  dieselbe  Beimischung  unionischcr,  dem  Epos  ent- 
nommener Formen  und  damit  eine  dem  Leben  entfremdete  und  njich  dem  Er- 
löschen der  ionis;elnii  Mundart  ganz  mni  pir  erstarrte  Kunstsprache. 

Dah  Urteil  Ilotiuiunus  über  den  Entwickeluagsguug  der  Sprache  der 
ionischen  Elegie  hat  sich  uns  bei  erneuter  NachprOfiing  als  richtig  in  seinen 
Gmndzügen  erwiesen,  doch  KLfst  sidi  ihm  eine  nodi  schärfere  Fassung  geben, 
wenn  die  Stellung  Mimnerras  ron  mir  jetzt  richtiger  au%efabt  ist.  Dann 
hemchte  bei  den  ältesten  Elegikem,  also  in  dem  Jahihnndert  von  Kallinoe 
bis  Himnenu  (675 — 575)  durchaus  und  ulh  in  die  altionische  Sprache,  die- 
■dibe,  die  uns  in  den  Distichen  der  ionischen  Inschriften  entgegentritt  Diese 
reine  Sprachform  wurde  noch  bis  in  und  vielleicht  noch  über  die  Mitte  des 
VI.  Jahrh.  z.  B.  von  Euenos  ftirtgesetzt,  daneben  aber  wandte  Mininermos, 
wahrscheinlich  als  Erster,  dit  dem  Epos  nachgebildete  Mischsprache  an,  welche 
nur  uUmählich  die  Alleinherrschaft  errang,  so  jedoch,  dafs  noch  25  Jahre,  viel- 
leicht sogar  ein  volles  Menschenalter  lang  die  alte,  dialektischreine  Sprachform 
aeben  ihr  herlief.  Übrigens  stimmt  diese  Auf&usung,  wie  ich  hier  noch  einmal 
ansdrackUdi  bmerice,  wesentlich  mit  Hui  Darlegimg  S.  182  f.,  und  ich  wfirde 
lebhaft  bedaunm,  wenn  dies  auf  einnn  jfesten  Grunde,  der  unbe&ngenen  Be- 
obachtung sprachlicber  Thatsachen,  aufgebaute  Ei^bnis  um  irgend  welcher  ror- 
gefafsten  Meinungen  willen  nicht  zu  allgemeiner  Anerkennung  durchdringen  sollte. 

Den  gleichen  Gang  hat  die  Sprache  der  Elegie  bei  den  Attikern  cre- 
nommen:  erst  in  den  jüntjcrcTi  InFclirirtrn  oleg^isclier  Messung  tinden  sieh 
epische  Aoli!<mc?i  wie  'Aiöao,  und  die  Sprache  Solon.s  ist,  von  etwaigen  Zitaten 
aus  dem  Epos  aljgesehen.  j^it  und  rein  attisch;  doch  würde  der  weitere  Nach- 
weis uns  über  die  Grenzen  dieser  Abhandlung,  die  es  nur  mit  Quellen  des 
ionischen  Dialekts  zu  thuu  hat,  hinausführen. 


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PHILO  VON  ALEXANDRIA. 


Von  Leopold  Cohn. 

Es  ist  ein  eipenarti|Tes  Schicksal,  das  eiuen  grolsen  Teil  dt  r  Schrifteri  des 
jüdisch-aiexandnniisclu'n  Philosophen  Philo  vor  dem  üntergaii_i  t>ew:ihit  hat. 
Von  den  eigenen  Glaubensgenossen  beinahe  voUstandig  iguoruit  (nur  ganz 
geringfügige  Spuren  seiner  Benutzung  finden  sich  in  der  späteren  national- 
jüdischeii  Idttentar)  und  anch  von  beidniaeb«!!  SchriftsteUera  nur  wenig  ge- 
kannt batle  Philo  um  so  grö&eren  Einflub  auf  die  altdiristiidie  Litteratur 
und  auf  die  Ausbildung  der  chriBtliclien  Dogmatik  und  Bibelezegem.  Ckrait- 
liche  Schriftsteller  lasen  und  studierten  Philo  aufs  eürigste,  nahmen  ihn  sich 
in  Stil,  Ausdrucksweise  und  Dialektik  zum  Muster  und  bildeten  seine  philo- 
sophischen Idwn  in  christlich -dogmatischem  Sinne  um  In  dtn  Bibliotheken 
wurden  daher  begreiflicher  Weine  seine  Schriften  in  ziihlreicheu  Exemplaren 
vervielfältigt  und  durch  das  ganze  Mittelalter  hindurch  in  den  Klöstern  des 
Orients  mit  demselben  Eifer  wie  die  Werke  der  Kirchenväter  abgeschrieben, 
ein  Tnl  der  Schriften  auch  ins  Lateinische  und  Annenische  fibersetat;  die 
C^tenenschreiber  exierpierten  seine  Erklärungen  von  Bibelstellen,  und  Bkr  die 
Verfasser  Ton  FlonlegMn  waren  seine  Scbrülen  eine  reiche  Ftudgrubey  aas 
der  sie  ashllose  Aussprüche  religiös -ethischen  Inhalts  achöpffcen.  In  der 
BenaiBSauce  begann  man  auch  im  Occident  Philo  als  griechischen  Philosophen 
neben  Plato  und  den  Nenj)liit<)nikem  zu  studieren.  Nicolaus  Cusanus,  dessen 
Mystizismus  sich  mit  i'hilcj  und  dem  Neuplatouismus  nahe  berührt,  zitiert  Philo 
als  Plafnnirus.  Papst  NieoluuH  V.,  der  Stifte  r  der  Vatikanischen  Bibliothek 
und  Urheber  einer  ganzen  Ü bersetzungslitteratur lälfit  auch  Philos  Werke 
ins  Lateinische  fihersetsen*  Lilins  Aegidius  LibeUius  Tifemas  unteraiebt  sich 
dieser  Aufgabe,  und  die  Vatikanisdie  und  Barbermische  Bibliothek  in  Rom 
bewahren  noch  heute  seine  Übersetsung  in  adit  statUichen  Binden.  *)  Im 
XVL  Jahrhundert  b^^innt  die  philologische  Bearbeitimg  Philos.  Zwei  un- 
gesehenen Philologen,  Adrianus  Tumebus  und  David  Hoeschel,  werden  die 
ersten  Druckansj^iiTion  verdankt.  Tumebus  besorgte  mit  TTilfe  von  drei  Hss. 
der  Königlichen  Bil)liotliek,  die  sich  damal.s  noch  in  Fontainebieau  befand,  die 
editio  princeps  i  Paris  1552/.  Für  die  ^röl'sere  Ma.ssc  der  Schriften  war  er  auf 
zwei  junge  und  einer  schlechten  Klawse  der  Überlieferung  angehörige  Hss.  an- 
gewiesen.  Sein  Text  seigt  daher  im  grofsen  und  ganzen  dieselbe  Fehkorbaftig- 

*)  Voigt,  D\f  WieaerbeleliunK'  d«l  UswKhen  AltartllBl  II*  S04  ff.  180  ff. 
*)  Pitra,  Ajialecta  aacra  II  331. 


L.  Oobii;  Fliilo  von  AleocMidrift. 


515 


keit  wie  die  Ton  üan  bennizten  Hm.  Abwt  Turaebus  hat  sich  nicht  damit 
begnügt,  den  Text  Has.  einfiwli  ftbmdrncken,  er  abt  Eritil^  und  wenn  auch 
feine  Konjekturen  and  Audernngen  nidit  immer  dae  Richt^  trdTen,  ao  hat 
er  doeh  an  nnrilbtigwi  Stellen  Fehler  der  Hm.  «rkannt  und  beseitigt.  David 
Hoeschel  gab  aus  einem  AugustanuH  (jetzt  Monacensis),  der  einer  anderen 
Klasse  angebort  als  die  von  TtimebiiH  l)eniitzten  Hss.,  und  aus  einer  anderen 
(jetzt  verschollenen)  Hs.  vier  Philouiseh«'  Sohrift<>n,  die  in  der  editio  princeps 
fehlen,  mit  wertvollen  Anmerkungi'ii  heraus  (Frankfurt  1587  und  Augsburg 
1614).  Dann  mhte  die  philologische  Arbeit  lauge  Zeit  fast  vollständig.  Aufser 
J.  A.  Fabricius,  der  alles  Winenawerte  Ober  Leben  und  Sehriften  Philos  aa- 
aammenetellt  und  die  Litteiatar  veneichnet  (Biblioifa.  Gr.  IV  731—760  ed. 
Harle«),  iat  in  dieser  Zeit  kaum  ein  Philologe  an  nennen,  der  sich  ernsthaft 
mit  Philo  beschSIligt  hätte.  Wie  im  Mittelalter  wurde  Philo  wiederum  eine 
Domäne  dor  Tl.'  I  u  'n,  die  in  aahbreichen  Kommentaren  und  Monographien 
hauptsächlich  über  tlie  Beziehungen  zwischen  Philo  und  dem  Neuen  Testament 
Lieht  verbreiten  wollen,  in  Wirklichkeit  aher  nur  IiTtümer  auf  Irrtümer  häufen. 
Von  einem  Theologen  rührt  auch  die  ernte  ujid  bis  vor  kur/.em  einzit»«  kritische 
Ausgabe  Pkiloä  her.  Mit  Thomas  Maugejs  Ausgabe  beginnt  eine  neue  Epoche 
des  Philotextes.  Alle  früheren  Ausgaben  waren  unveranderte  Wiederholungen 
dar  editio  princeps  und  der  Hoeschdaehen  Editionen,  Mangej  gab  dem 
Philotext  eine  neue  sichere  Grundlage,  indem  er  eine  grolae  Reihe  zum  Teil 
wertvoller  Hsa.  beramsog  und  mit  ihrer  Hilfe  den  Text  verbesaerte,  auch  den 
Schriftenbestand  aus  ihnen  erweiterte  und  eine  Sammlung  von  Fragmenten  aus 
anderen  Quellen  hinzufügte.  Sein  Apparat  war  allerdings  sehr  unvollständig, 
die  Kollationen  waren  höchst  mangelhaft,  und  die  Art,  wie  Mangej  von  ibn'  Fi 
Gebrauch  machte,  entspricht  in  keiner  Weise  den  Anforderungen  philologist  her 
Akribie.  Von  grcH'stem  Wert  aber  sind  seine  kritischen  Noten.  Mangej  war 
in  das  Verständnis  der  Philonischeu  Schriften  tief  eingedrungen  und  besals 
^e  gute  Eenntnia  des  Philoniacben  Sprachgebrandia.  Seine  Konjekturen 
treffen  an  vielen  SteUen  den  Nagel  auf  den  Eopf^  Tiele  unter  ihnen  haben 
apftier  durch  Haa.  oder  durch  die  indirrtia  Überlie&mi^  Oure  Beslfi%UBg  ge- 
funden. Hangeys  Ausgabe  enthält  bis  auf  einige  kleine  Stücke  alle  Pbilonischen 
Werke,  die  in  griechischen  Hss.  ü])t'rliefert  sind.  Einen  wertvollen  Zuwachs 
erhielt  der  Schriften  bestand,  als  .1.  B.  .Xiieher  mehrere  Srliriften  l'bilof  aus  dem 
Armenischen  veröH'entliehto  fVcnedit:  \><'J'2  und  1820),  deren  griechische  Orif^inale 
verloren  sind.  Nach  Mangey  haben  die  iextkritischen  Arbeiten  wiederum  fast 
150  Jahre  geruht.  Die  späteren  Ausgaben  sind  von  der  Mangejachen  ab- 
hangig, stehen  aber  an  Brauchbarkeit  hinter  dieaer  snrQcl^  da  die  Herausgeber 
ein&ch  Mangejs  Text  mit  allen  Fehlem  abdrucken  lieHiMi  und  es  nicht  fSr 
nötig  ianden,  aeine  kritischen  Noten  und  Bmendationen  zu  herflckaichtigen. 
Die  Bichterschc  (Leipzig  1828 — l"^ ''^  und  die  Tauchnitssche  Ausgabe  (Leipzig 
1351 — 1853)  haben  nur  das  vor  der  MttQgejschen  voraus,  dafs  sie  handlicher 
und  bedeutend  billiger  sind.  Auf  diese  waren  daher  die  meisten  Gelelnten  in 
unserem  Jahrhundert  anjj^wiesen,  und  mancher  Theologe  und  Pliiiosopb,  yiel- 


516 


L.  Cohn:  Flilk>  von  Alaonuidria^ 


leioht  such  manehir  Philologe,  mag  durch  den  yefwahrloBten  Zniiud  des 
Textes  in  diesen  Antoben  «bgesehreckt  worden  sein,  sieh  eingehender  mit 
Philo  SU  befimsen.  Es  ist  das  Verdienst  der  Berliner  Akademie  der  Wiasen- 
sehalten,  dnreh  eine  im  Jahre  1887  ^t  stdlte  Preisauf^ahe  die  Anregung  sc 
einer  neuen  kritisdiea  Bearbeitung  der  Werke  Philo»  gegeben  zu  haben. 
Hoffentlich  wird  unsero  none  Anflpnbo')  auch  die  Philologen  wieder  vcran- 
las^eu,  l'hilo  eifriger  zu  lesen  als  binher  und  'Itti  tufi'iiiiirfachen  Problemen, 
die  sich  an  seine  Schriften  knQpfen,  ihre  Aufun  i  ksiimkeit  zuzuwenden.  Es 
handelt  sich  hier  um  ein  Gebiet,  auf  dem  die  historische  Theologie  und  die 
klassische  Philologie  «mammenarfaeitMi  mflssen  und  einander  nicht  entbehren 
kSunOL 

Bei  der  Mittehtellnng  avisehen '  Jodentum  und  HeUeniamuSy  die  Philo  ein- 
nimmt, und  bei  dem  eigentfimlichen  Charakter  seiner  Sdxrifbtellm  ist  es 

nicht  leicht,  zu  einetn  richtigen  Verständnis  seines  Wesens  zu  gelangen.  Ein 
umfassendes  und  erschöpfendes  Werk  über  Philo  giebt  es  noch  nicht.  Die 
Werke  von  Ofrorer*)  und  Dnhne'''^  die  ersten  grörscren  Versuche  in  dieser 
Hinsicht,  sind  in  der  Haupttijube  verfehlt  und  <»'rr>('steuteiis  heute  veraltet.  B^idp 
Männer  haben  mit  vielem  FUnis  ein  reiches  Mak  rial  zusammengetragen,  sie  sind 
aber  mit  Vorurteilen  und  verkehrten  Tendenzen  an  ihre  Aufgabe  herangetreten 
und  infolgedessen  m  fiibdien  Ergebniesen  gelangt  Gfrdier  ceigt  schon  im 
Haupttitel  seines  Werkes  die  fiüsche  Tendenx:  Knäteke  OeaMeMe  des  ürdiHsiah 
^  Ums.  L  Band.  Tlah  tmd  «üe  älexanännittite  2%e0sofiihw  n.  b>  w.  Er  wiU  alse 
eigentlich  nicht  eine  Darstellung  der  Philonischen  Eeligioimphilosophie  geben, 
es  handelt  sich  für  ihn  lediglich  dämm,  das  Urchristentum  aus  Philo  oder 
vielmehr  uns  d(  r  jOdifich-alexandrinisohen  Philosophie  zu  erklären.  Zu  die<x»m 
Zwecke  sucht  er  mit  allen  künstlichen  Mitteln  alle  möglichen  Ähnlichkeiten 
zwischen  dem  Neuen  Testament  und  Pliilo  herauszufinden  und  bemüht  sich  zu 
zeigen,  dal's  dem  Christentum  alle  Originalität  mangele.  Bei  der  feindseligen 
Stellung^  die  er  danuds  gegen  das  Christentom  einnahm,  sieht  er  tibwall  Wilei^ 
sprOche  und  Ungereimtheiten  und  spottet  mit  WoUnst  darttber.  Aueh  DiOm 
ging  von  einer  Machen  Ansdhauung  ans:  er  hatte  eigentlidh  den  ehristlidien 
Alexandrin ismus  behandeln  wollen,  geriet  aber  bei  seinen  Studien  darüber 
saenit  auf  den  Neuplatonismus,  den  er  fälschlich  den  heidnischen  Alexaudrinis- 
mns  nennt,  und  dann  weiter  auf  den  jüdischen  Alexandrinismns,  und  in  diesem 
will  er  nun  die  Wur/el  der  beiden  anderen  erkennen.  Wie  (ifrörer  vertritt 
aucli  Dähne  die  Ansicht,  dals  die  jüdisch-alexaudrinisühe  Philosophie  sich  all- 


')  PbilouiB  Alexaudrmi  opera  quae  supersmit  ed.  L.  Cohn  et  P.  Weadland.  Vol.  I  ei. 
L.  CobD,  BeroUsi  1896.  Yol.  n  ed.  P.  Wendland,  tWt.  l>er  Dt  Bd  tit  Im  Druck  vsd 

encheint  demnüchHt. 

'»  A.  Gfrörer,  Philo  und  die  alexandrinische  TbeoROjibie  ihUt  vom  Kiuflu»««'  der 
jüdiach-ägjptiacbeo  Schul«  auf  die  Lehre  des  ueuon  TestAmeots.  Zwei  Abteiluugeii.  Stutt- 
gart 1881. 

*)  A.  F.  Dahne,  Geechichtliche  Darstellung  der  jAdiad^- ileCTadriMisdien  BeligioB^ 
Philosophie.  Zwei  Abteilongen.  Halle  18Si. 


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Ii.  Odin:  Pliilo  von  Alezudrift. 


517 


mäklich  nach  Paläatina  hin  ausbreitote  und  dort  vermittelst  deH  £s8enismua 
a«f  die  EBttlebiiiig  dM  CSntttenfauiifl  ^wirkte. 

Li  ddn  neueren  Dursiellangeii  ist  Philo  gewShnlich  vom  philusaphischen 
Standpunkt  ans  behandelt  worden.    Aber  Philo  war  kein  eyetematiBcher 

Philosoph.    Ausschliefslich  phfloaophischen  Inhalt  hat  nur  ein  ganx  kleiner 
Teil  (^einer  Werke,  in  der  Hauptmasse  der  Schriften  ist  die  Philosophie  nur 
Mittel  zum  Zweck,  Jte  ITauptsnche  ist  die  Erläuterung  der  Bücher  des  Pentar 
teuch.    Philo  ist  voniugsweise  Bibeloxeo^et,  nur  besteht  das  Charakteristische 
seiner  Exeiirese  darin,  dafs  er  flhenill  einen  tieferen  (symbolischeu)  Sinn  in  den 
biblischen  Erzählungen  und  Vorschriften  sucht  und  dann  die  metaphysischen, 
payehologiaelien  nnd  eChisebaii  Meen,  die  er  auf  diese  Weise  aus  ihnen  ent* 
wickelt  nnd  herattBlieet,  mit  Lehren  der  griedueehen  Philosophen  Terknttpft 
and  mit  ihrer  ffilft  «Katert.    Seine  Schriften  enthalten  daher  kein  folge- 
riebtig  entwickeltes  philosopluBchee  System,  sondern  einen  Komplex  Ton  philo» 
sophischen  Gedanken,  aus  denen  sich  mit  einiger  Mühe  «eine  Weltanschanong 
konstruieren  läfst.    Dieser  Eigenart  l'iiihts  ist  bisher  zu  wenig  Rechnnng  jje- 
trügen  worden.  Auch  Zellers  Darstellung  i^Philos.  d.  Griechen  III  2',  '^'^^  ^18), 
die  beste  uml  gründlichste,  die  wir  in  Deutechland  haben,  bleiltt  aus  diesem 
(irunde  einseitig  und  unvollständig.    Dasselbe  gilt  ron  dem  die  philosophische 
Seite  ebenfidla  aeiir  sorgfältig  behandelnden  Buche  des  Engländers  James 
Dmmmond.*)   Jetrt  ist  in  dem  Buche  Ton  tidonard  Herriof)  auch  eine 
firanaösisehe  Darstellang  hinsagekommen.   Leider  entspridit  das  Buch  dnrcb- 
auB  nidit  den  Erwartungen,  mit  deuMi  wir  an  die  LektOre  desselben  heran- 
gegangen sind.    Es  zeichnet  sich  zwar,  wie  wir  es  bei  den  Franzosen  gewohnt 
sind,  (hirih  graziösen  Stil  und  fesselnde  Darstellung  aus  und  unterscheidet  sich 
dH'liireh  sehr  vorteilhaft  vor  der  ftwas  nfichtcmen  nnd  einförmigen  Behand- 
lungsweise  Drummonds,  und  diese  äulseren  Vorzüge  sind  wohl  geeignet,  einen 
mit  dem  Gegenstande  nicht  völlig  vertrauten  Leser  über  die  inneren  Mängel 
hinw^gznttnsdien.    Vielleicht  ist  darin  auch  die  Erklärung  dafür  zu  suchen, 
dab  das  Bach  Ton  der  Aeadänie  des  sdenees  morales  et  politiquee  mit  einem 
Preise  gekrfint  worden  isi  Unseres  Erachtens  hat  der  Verfasser  eine  solche 
Auszeichnung  nicht  verdient.  DaTs  sein  Bndi  nicht  das  leistst,  was  uns  tMt, 
gesteht  der  Verfiuser  selbst  ein,  er  sagt  am  Schlüsse  der  Vorrede:  L'heure 
n'est  pas  enccre  venue  oü  un  historien  philosojJie  pourra  ecrire  sur  Philon  ei 
l'Erolf  Juive  d'Alexftndf'ir  Vomvre  rivnnff  d  comjüHe  qui  nmis  manque;  il  fant 
attetulre  an  mmns  In  ijrundf  vtiiiion  qnr  jtnmut  1' Acath'mü'  de  Berlin  (!).   li  ici  hi 
.  .  .  nom  tädu-rom  dv  dunutr  uu  precis  deim.,  net,  et,  si  ix)ssible,  rommode  de 
cette  phihsophie.    Darin  hat  Herriot  recht,  dafs  der  Zeitpunkt  für  eine  imi- 
finasende  Darstellung  noch  nicht  gekommen  ist:  es  mflssen  noch  manche  Vor- 
arbeiten gemacht  und  über  viele  Punkte  die  Ansichten  mehr  geU&rt  werden, 

')  J.  Dnuamoud^  i'hilo  Jada«u8,  or  tbu  Jewish-alexandriao  philoaophy  in  its  deve- 
lopment  aad  eompIetioB.  t  v«la.  London  1888. 

*)  £d.  Herriot,  Philon  le  Jutf.  EsMi  sur  IVcolc  juive  ü'Alexandrie.  OoTTage  eooconntf 
par  rfn^titnt  Acndt'niie  des  feiencM  loocale»  «t  poUti^aea).  Paria  1898. 

»•II«  J«lirbncb«r.   im.  L  31 


518 


L.  Colm«  Philo  ▼on  Alesnidria. 


ehe  ein  G^eBamtbfld  geliefert  werden  kaniL  An  kanen  Abriaaen  der  PUloniBdien 
PhiloBophie  aber  ist  kein  Hangel.  Mag  sein,  data  es  in  Frukreidi  an  einem 
flolc&en  gefehlt  bat.  Dann  bat  aber  aach  Heniota  Bneb  dieeom  Bedftrfnie  nicht 
abgebelfen.  Wir  müssen  jedem,  der  «di  fiber  Philo  orientieren  will,  entscLieden 
widerraten,  dMMB  Buch  xum  Führer  zu  wählen.  Die  Auffassung  über  Philo 
und  den  Ursprung  spiner  Philosophie,  welcher  dor  Verfasser  huldigt,  ist  in  der 
Hauptsache  verfelilt  und  veraltet.  Er  bt-jit/t  weder  ein  selbständiges  Urteil, 
dan  ihn  befähigt  hätte,  über  die  we^eiitlii  listen  fragen  ins  klare  zu  kommen, 
noch  eine  genügeuUe  Kenntnis  der  Litteratur.  Neuere  Litteratur  ist  zwar 
aiemliob  reidilich  angeführt^  aber  nnr  aum  geringaten  Teil  benntit  oder  berfick- 
aicbtigt,  wie  man  an  vielen  Stellmi  achon  an  der  Zitterweiee  und  den  falechen 
Titeln  der  sitierlen  Bücher  erkennen  kann.  Wichtige  Pablikationen  der  letzten 
Jahre  kennt  fljerriot  überhaupt  nichi  Sein  Buch  trägt  die  Jahreraahl  1898. 
Von  der  neuen  Philo-Auagabe,  deren  erster  Band  im  Sommer  1896  erschienen 
ist,  wcifs  H.  iiocb  nichts  (siehe  oben),  er  benutzt  ausschliefslicli  die  bequeme 
Tauchnitz-Aus^be,  f/in  n>arqw\  au  jmnt  de  nw  du  trxtr,  uu  pnujres  .  .  .  Sttr 
Celle  de  Manfjpffl  Tisciietulorfs  Philonea  und  <iie  Pragmentsammluns:  von 
J.  R.  Harris  führt  er  zwar  im  Litteraturverzeichuis  auf,  aber  ange^eheu  hat  er 
aie  nicht,  wie  aus  folgendem  erbeUt.  S.  239  f.  zitiert  er  die  bekannte  Stelle 
fib«*  die  gottlidien  Mittdkrifte  aoa  Qoaeat  in  Ezod.  II  68  in  der  Aneheraehen 
lateiniacben  ÜboreetBung,  puuqne  le  texte  gtee  m  est  perektt  und  fitgt  die  Be- 
merkung hin2n:  de  texte  fixest  pae  irie  da»;  ü  est  Voeumre  dun  traindmF  asses 
depourvti  d'^xy/rirncc  et,  d'autre  pari,  ü  ne  nons  est  parvenu  qu  altere.  Aus 
Tischendorf  8.  150  und  Harris  S.  66  hätte  H.  ersehen  können,  dafs  der 
griechische  Wortlaut  der  Stelle  erhalten  ist,  und  der  Stofsseufrer  über  die  Fn 
khirheit  der  l^ersetznng  wäre  unnötig  gewesen.  Von  Wendland  fübrt  er  die 
iVeu  entdeckten  Fraymtnte  Fhütßti  an,  benutzt  sie  aber  nirgends;  die  andinn 
Sduriften  Wendlands  sind  ihm  unbekannt.  Dagegen  zitiert  er  einen  aiigei>- 
lichen  Artikel  Wendlanda  fiber  die  Eekthnt  der  Schrift  De  aetermtate  mmdi 
im.  Aidiiv  ÜBr  Oeacbichte  der  Pbiloaophie,  der  in  Wahrheit  aber  die  Sdirift 
Quod  mmm  prchts  lüter  sU  handelt  Eine  grSÜMm  Belke  TM»  Zitaten  und 
Litteratorreraeichniaaen  in  den  einleitenden  Kapiteln  ist  kritiklos  aus  dem 
Buche  von  H.  Bois  übernommen  (s.  unten).  S.  44  werden  aus  der  reichen 
Litteratur  über  den  Esscnisinns  im  ganzen  11  Schriften  oder  Aufsätze  an- 
geführt, darunter  aber  mehrere,  die  gar  nicht  über  die  Essaer,  sondern  nl)fr 
die  Therapeuten  handeln.  Unter  den  beachtenswertesten  Werken,  die  über  die 
Lehre  Philoe  handeln,  zitiert  H.  unter  anderen  auch  eine  Schrift  von  Eichhorn, 
er  meint  aber  die  Abhandlung  von  £.  H.  Stahl  Aber  den  Lehrbegriff  Philo« 
in  EichhoniB  Bibliothek  der  bibliachen  Litteratur  IV  765—890.  Und  eo  lieTaen 
aieh  noch  ?iele  Beispiele  von  aeiner  markwflrdigen  Litteraturkenntnia  anfuhren. 
In  den  nachstehenden  Ausfuhrungen,  die  den  Zweck  haben,  einen  weiteren  philo- 
logischen Leserkreis  über  den  heutigen  Stand  der  Fhiloforschung  und  ihre  Probleme 
zu  orientieren,  wrrd.  n  wir,  indem  wir  an  Heri  iot  anknüpfen,  Oele^eiiheit  habt  ii, 
auf  die  Mängel  seue^  Buches  näher  einzugehen  und  obiges  Urteil  zu  reciitfertigeu« 


.^  .d  by  GüOgl 


L.  Cohn:  Philo  von  Alenndri«, 


619 


I 

In  dem  ersten  Buche  minen  Werkes  behandelt  Herriot  die  Beziehungen 
zwischen  Juden  und  Griechen  seit  der  Zeit  Alexanders  de«  Grofsen.   Ein  grofser 
Teil  tlieser  Erörterungen  stolit  in  keinem  oder  nur  sehr  losem  Zusammenhange 
mit   F*hilo.     Die  ausführiiche   VVieder^ihc  der  Er/iihliinp  von  dem  Einzüge 
Alexanders  in  Jerusalem  war  sehr  überliüssig.    Vun  muiütigcr  Breite  ist  auch 
das  Kapitel  über  das  palästinische  Judentum,  m  dem  die  Frage  behandelt  wird, 
ob  Spuren  grieduBchen  EinfliuBes  id  den  BQcheni  Kolielet  und  Jesus  Sinich 
und  im  Eseenismus  wahrzunehmai  sind.    Für  die  beiden  alttestunentlichen 
BQcImi-  wird  griechiseher  Einflufs  mit  Recht  von  Herriot  beritten;  wenn  eine 
ErwibnuDg  überhaupt  nötig  war,  hätte  das  mit  wenigen  Worten  geechehen 
können.    H.  bietet  hier  übrigens  nicht  Resultate  eigener  Forschung,  sondern 
schreibt  das  Bufli  von  H,  RoisM  »ns.    Er  deutet  e««  sellist  hh.  indem  i'r  au 
mehreren  Stellen,  wn  »r  Litteiatur  uiitiilirt,  von  diesem  Buche  bemerkt:  J\'uus 
tums  servirons  bmwnai)  ik  er  pn'iiciu:  uaviaift.    Aber  wenn  er  nichts  Neues  zu 
sageu  wuiste,  hatte  er  einfach  auf  Bois  verweisen  sollen,  anstatt  verwässerte 
EzEwpte  auB  seinem  Budie  zu  liefern.   In  dem  KApitel  über  den  Essenismus 
erkSUrt  Herriot,  dals  diese  religiöse  Sekte  des  pel&stinisehen  Judentums  stark 
vom  BteiUenismos  impriigniert  war.   Er  vertritt  also  die  veraltete  Anschauung^ 
dafs  der  Essenismus  gewissermalseii  vhi  palästinischer  Ableger  des  jüdischen 
Alexandriuismus  gewesen  sei.    Miui  hat  auf  den  verschiedensten  Wegen  den 
Vfrsnch  fremuelit,  das  Wphpti  des  Essenismus  auf  fremde  Einflüsse  zurück- 
zuführen, indem  mau  bald  dem  Parsisiiius,  bald  dem  Buddhismus.  hiiM  dem 
Hellenismus  eine  Einwirkung  auf  die  Eutstt  hunif  der  Si-ktc  zuHchivibcii  wtdlte.-) 
Irgend  welche  Beweise  für  alle  diese  Vermutungen  sind  nicht  erbracht  worden. 
Wir  müssen  die  Esriler  für  eine  auf  jüdischem  Boden  erwachsene  religiösie 
G^einsdiaft  halten,  die  durch  gewisse  Eigentümlichkeiten  in  ihrer  Lebens- 
wdse  und  in  ihren  Anschauungen  (namentlich  in  Bezug  auf  die  Beobachtung 
von  Reinheitsgesetzen)  sich  von  ihren  Mitbürgern  und  (Maubeni^enosien  unter- 
schied, die  aber  alle  sich  sehr  w<>)il  ans  dem  Geiste  des  traditionellen  Juden- 
t-ims  tiklären  laf«son 'und  ihm  nielit  widersprechen.   Üie  Vermutung  grieclii'rben 
Kintlus.He«  «tütxt  sii  li  allein  iitif  vage  Aufserunijen  des  Josephus.   Wenn  .Josi  plius 
die  Essäer  mit  den  rvtlia^rnieern  vergleicht,  »o  ist  darauf  gar  nicht*;  m  j^elM  u; 
denn  Josephus  liebt  es  überhaupt,  jüdische  Verhältnisse  mit  griechischen  in 
Pandlele  an  setzen,  wie  er  ja  auch  die  Pharisäer  mit  den  Stoikern  vergleicht. 
Dab  der  Kenpythagoreismus  auf  die  Entstehung  des  Essenismus  eingewirkt 
habe,  wie  Herriot  (mit  Zeller  u.  a.)  annehmen  will,  ist  schon  darum  aus^ 
geschlossen,  weil  der  Ursprung  der  jüdischen  Sekte  in  eine  viel  frühere  Zeit 
zurückgeht,  als  die  Anfänge  des  Neupythagoreismus  sich  nachweisen  lassen. 
Und  wie  mit  dem  Essenumns,  so  steht  es  mit  dem  palästinischen  Judentum 

>)  Beiin  Boii,  Emi  snr  le«  onginM  de  la  phUoBophie  jud^o-alezandriae.   Paru  1890. 
Die  Uttfliator  bei  B.  Scbflier,  Qewbicbte  de«  jadtaclieD  Telket  nr  Zeit  Jemi  Christi 

n  MT  s; 

84* 


5S0 


L.  Colui:  HuJo  von  Al«uadri». 


üWhanpt.  Schere  Spuren  eines  Einflusses  griechischer  Philosophie  auf  die 
palSstintfche  Lütwatnr  «ind  nicht  ?or1imdeiL 

Qanz  aoderB  lagen  die  VerhSitnieee  in  Alexandna.  Es  war  naUrlichy  dalb 
die  Juden  in  Alexaiidri%  wo  die  Griedien  an  Ifiidit  und  Bildung  das  herrachende 

Element  waren,  ihre  EzUusivität  nicht  so  streng  bewahren  konnton.  wie  es  in 
Palästina  der  Fall  war.  imd  in  immer  nähere  Berührung  mit  den  Griechen 
kommen  mufsten.  Mit  der  griechischen  Sprache  eigneten  sie  sieh  gritchisclip 
Bildung  an,  und  im  täglichen  Umgänge  mit  geistig  hochstehenden  Griechin 
erlangten  die  Gebildeten  unter  den  alexaudruuschen  Judeu  mit  der  Zeit  die 
Fähigkeit,  in  den  Geist  des  Hellenentums  einzudringen  und  ihn  in  sich  auf- 
suneiimen.  Die  erste  Wirkung  der  Annäherung  des  Judentums  an  den  Hellenis- 
mus war  die  griecbisclie  ÜbefsettEong  der  Btteher  Hosis,  die  sicherlieh  durdi 
das  praktisehe  BedOrfeis  der  griechiseh  redenden  Gemeinde  in  Alexandria,  nieht^ 
wie  man  auf  Grund  der  alten  Legende  lange  Zeit  geghiuht  hat,  durch  den  Ein- 
fall und  die  littenurischm  Neig^^^n;'  n  eines  sammeleifrigen  Königs  oder  seiner 
Hofgelehrten  hervorgerufen  wunle.  Es  ist  n\n'\-  auch  hfgreiflich,  wie  man  in 
den  gebildeten  jiiilisilu'ii  Kreisen  Alexaiulrias,  nachdem  man  die  klassische 
,  Litteratur  der  (Jrifclieii  uikI  die  griechische  Phih)sophie  kennen  gelernt  hatte, 
Vergleiche  zwischen  Judentum  und  Grieeheutum  anstellte  und  darüber  nach- 
dachte, wie  wdil  ein  Ausgleich  swisehen  den  «erbtw  Lehrm  de«  jfldisditn 
OffmbarungBglaubens  und  gewissen  griechischen  Anschauungen  hergestellt 
werden  könnte.  Hier  also  war  der  Boden  vorhanden,  auf  dem  eine  Yer- 
Bchmelxung  jfldischen  und  griechischen  Geistes  möglich  war,  wo  eine  Weli- 
anschauung  wie  die  Philos  entstehen  konnte. 

Wir  kommen  hier  zu  der  wichtigen  Frage:  hat  Phih)  thutsilchlich  Vor- 
gänger gehabt,  an  die  er  angeknüpft  und  <len>n  Sj)uren  er  verfolgt  hat?  Hat 
es  mit  einem  Woit<^  eine  jüdiHch-alexaiulrinisclie  Philosophie  vor  Philo  ge- 
geben/ Man  hat  früher  Philos  Originalität  sehr  herabgesetzt  und  die  Ansicht 
▼ertreten,  da6  eine  jfldiseh-alexandrinische  Philosophie  schon  lange  vor  Philo 
bestanden  und  eigentlich  nur  ihre  letite  Vollendung  durch  ihn  erhalten  habe. 
Girörer  widmet  den  ganaen  iweiten  Tal  seines  Werkes  Ober  Philo  und  die 
alesandriniBche  Theosophie  dem  Nachweise,  "dafs  die  Gnindafige  der  Phüonischen 
Theologie  viel  älter  als  er  selbst  sind  und  dafs  sie  Ulngst  in  Alexandria  unt«r 
den  dortigen  Juden  verbreitet  waren';  er  behauptet,  dafs  eine  besondere  jüdische 
Philosophertsehrile  in  Ägypten  sich  bis  200  v.  Chr.  rückwärts  verfolgen  läfst, 
7.U  der  auch  Philo  gehörte,  und  findet  die  Gnindanschauungen  l'hilos  lange  vor 
ihm  in  einer  Ueihe  von  litterarischen  Denkmälern  ausgesiirochen,  in  der  Öep- 
tuaginta,  bei  Jesus  Sirach,  im  2.  und  3.  Makkabäerbuch,  bei  Aristeas,  bei 
Aristobttl,  in  den  ältesten  Sibyllinen,  im  ^ug.  4.  HakkabieT^biich,  im  Buch  der 
Weisheit;  keine  einaige  bedeutende  Lehre,  nicht  einmal  die  vom  Logos,  ist 
nach  ihm  Philos  Eigentum.  D&hne  teilt  in  dieser  Besiehung  ganz  die  Ansicht 
Gfrörers,  auch  er  findet  die  Spuren  der  Philonischen  Philosophie  in  einer  grofsen 
Anzahl  älterer  Schriften,  in  der  Septuaginta,  bei  Aristobul.  im  apokryphischea 
Esrabach,  im  Buche  Tobit,  bei  Jesus  Sirach,  im  Buch  der  Weisheit,  im 


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L.  Cobn;  Fbilo  von  AleModri». 


2.,  H.,  4.  Makkiihiierbuch,  hoi  Aristeas  u.  a.  Dic^e  Anschauuiifj:  betlarf  heute 
keiner  Widerlf^uiii^  iiielir,  man  hat  langst  einfffsclifMi ,  dafs  «ie  fast  durchweg 
auf  falschen  Voraussetzungen  und  groben  Mii»vcrätäiiiliuHHuii  beruht.  Aber  ganz 
Huigegeben  ist  der  Gfrorer-Dähneache  Standpunkt  bis  auf  den  heutigen  Tag 
noch  mcht,  für  einen  Teil  dei  gcuannten  Sehriften  wird  er  immer  nodi  Ton 
manchen  festgehalten.  Auch  Herriot  geht  auf  diese  Frage  ein  und  behandelt 
(in  etwas  eigentOmlicher  Reihenfolge)  Pseudo-AristeaSy  Aristobnl,  die  Sbptoaginta 
und  das  Buch  der  Weisheit  Mit  Recht  bestreitet  H.  jeden  Ginflub  griechischer 
Philosophie  auf  die  Septnaginta.  Die  Neigung,  Anthropomofphismeil  des 
hebräischen  Textes  zu  vermeiden,  teilen  die  alexandrinisehen  Übersetzer  mit 
den  Verfassern  der  chaldäischen  Paraphnisen  iTargumim),  eine  Einwirkung 
griechischer  Ideen  kann  darin  nicht  erldiekt  werden. 

Bei  der  Behandlung  des  Aristeas  und  des  Aristobul  z^igt  iierriot,  wie 
wenig  er  auf  der  Höbe  der  Wissenschaft  steht.  Den  Aristeas-Brief  will  er  mit 
Scbttrer  um  800  t.  Chr.  anselHn.  I^se  Datieniiig  stOtatt  üeh  davanf,  dafo 
Ariatobuly  der  am  170 — 150  t.  Chr.  gelebt  haben  soll,  die  toq  FBeado-Aristeas 
erzählte  Legende  gekannt  hai  Da  dieser  AriBtobul  aber,  wie  wir  bald  sehen 
werden,  pir  nicht  existiert  hat,  so  fällt  der  dnxige  Grund  fort^  die  Abfassongs- 
zeit  so  hoch  hinaufzurücken.  Dals  keine  Anspielungen  auf  spätere  Ereignisse, 
auf  die  Herrschaft  der  Seleuciden  und  die  Zeit  der  Makkabäer,  in  dem  Briefe 
vorkommen,  kann  man  doch  nicht  emsthaft  als  Beweis  anführen.  Da  der  Ver- 
fasser eich  selbst^  iils  Beamten  des  Ptolemaeus  Philadelphus  einführt  und  als 
solcher  erzählen  will,  wie  nntjpr  diesem  König  die  Bibelnhersetzunj;  eulntanden 
ist,  so  konnte  er  unmöglich  Verhältnisse  einer  äpütereu  Zeit  berühren;  er  fällt 
aber  mn  so  weniger  ans  der  Rolle,  als  er  offenbar  mit  den  VerhSitniasen  der 
Ptolen^neit  sehr  genan  vertraut  isi  Eine  genaue  Datierung  zu  geben  ist 
bisher  nidit  gelnngm.  Der  erste,  Ton  dem  wir  beslammt  sagen  kdnnen,  dab 
er  doi  Brief  benutat  hat,  ist  Josephne.  Dafe  Philo  ihn  gekannt  ha^  wie  man 
allgemein  annimmt,  scheint  mir  nicht  ganz  sicher.  Philo  erzählt  allerdings 
(Do  vita  Mosis  U  5 — 7)  die  Legende  von  der  Entstehung  der  Bibelübersetzung 
ganz  ähnlich  wie  P.seudo  Aristeas,  es  finden  sich  aber  bei  ihm  einige  Ab- 
weichungen. Bei  Ari-iteart  regt  Demetrius  Phalereus  als  Vorsteher  der  alexan- 
drinisehen Bibliothek  bei  Ptolemaeus  Philadelphus  den  (jt/dankt-n  einer  Über- 
setzung der  heiligen  Schriften  der  Juden  iur  dte  Bibliothek  an.  Philo  dagegen 
schreibt  die  Initiative  dem  Könige  selbst  zu  imd  nennt  Dmnetrins  Qberhuupt 
nicht.  Er  kennt  auch  weder  die  Namen  der  Gesandten  (Aristeas  und  Andreas) 
noch  den  Kamen  des  Hohenpriesters  (Elsasar),  an  den  sich  der  KSnig  wendet 
liii^gegen  beseiehnet  «r  im  Gegeoaats  m  Aristeas  den  Hohenprirater  an|^ch 
als  KSnig  und  hebt  diesen  Umstand  nocli  besonders  hervor  (zQiößetg  ev&vg 
i^tXfurF  ^Qog  Tov  Tr}g  *lovdaiag  aQxitgiu  xal  ßaaikta  —  6  yäQ  «vxbg  ^v). 
Nach  Philo  wählt  der  Hohepries^ter  rovg  TfdQ  avxa  Soxi^axKrov;  'EßQccüov 
aus  und  schickt  mu-  nacli  Alexandrien,  eine  Zahl  nennt  Philo  nicht.  Aristeas 
dagegen  lafst  den  J  loiien{)riester  72  Maniu'r,  (5  aus  jedem  der  12  Stämme  i  !\ 
auswählen,  die  er  sämtlich  mit  Namen  aufführt.    Ebenso  weils  Philo  nichts 


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539 


I«.  Cohn:  Philo  von  AlenndriA. 


davon,  dals  das  t  }>er«etzuntis\vt'rk  in  72  Tagen  vollendet  wurde.  Dafür  hat 
Philo  einen  ZuhbIz,  der  bei  Ariäteas  fehlt:  er  er^älllt,  dalk  zum  Andenken  an 
das  ETeignis  allpllurlieh  auf  der  Inael  Phanw  von  den  alecnradriiiiBcheii  Juden 
ein  Fest  gefeiert  wurde.  Alle  diese  Differenzen  sehemra  mir  gegen  eine  direkte 
BenntBung  des  Aristeaebriefes  dnreh  Philo  und  mehr  dafftr  su  spredien,  dab 
Philo  und  Aristeas  unabhängig  von  einander  die  alexandrinische  Legende  von 
der  Entst{;hung  der  griechischen  Bibelribersetsong  wiedergeben;  Aristeas  hat 
die  Legende  weiter  aiisgesrhmückt  und  zn  einer  jüdischen  PropagRudasphrift 
verwertet.  l'l)ri<jenH  entliiilt  die  Schrift  nu  lits,  was  auf  eine  genauere  Bekannt- 
schaft des  Verlassers  mit  der  alexandrinischen  Philosophie  im  Philomachen 
8inne  hindeutete. 

Als  Hauptbeweis  fUr  die  Existena  einer  j&diseb-lielleniBtisehen  Philosophie 
lange  vor  Philo  galt  immer  das  Werk  des  sogenannten  AristobnL  Sdt  dem 
An&ng  des  Torigen  Jahrhunderts  ist  die  Eehtheit  dieses  Werkes  von  vielen 
urteilsfähigen  Gelehrten  mit  gewichtigen  Gründen  bestritten,  von  anderen  aber 
mit  dem  gröJsten  Eifer  immer  wieder  verteidigt,  worden.')  In  neur">ti  r  Zeit 
sind  unter  anderen  Zeller  und  Schürer  für  die  Echtlieit  eingetreten.  Atirli 
Herriot  stellt  sich  atif  die  Seite  der  Verteidiger  der  Echtheit,  AristohTil  ist  für 
ihn  le  Premier  tifpe  comjtht  da  phiiosophe  ßiät <)-(iUjcaiu(ri)i.  A.  Elter  hat  abtr 
in  den  Abhaudlungen  De  Aristobtdo  ludaeo  (Bonner  Universitätsprogr.  1894 
und  1895),  die  Herriot  vollständig  anbekannt  sind,  glaniand  nachgewiesen^ 
dab  es  sidi  um  eine  spatere  FlÜMliung  handelt,  und  damit  diese  alte  Streit^ 
finge  endgiltig  aus  dem  Wege  g(eschsfft  Ein  Peripatetiker  Aristobnlua,  der 
mit  dem  im  8.  Makkabierbuch  (1,  10)  erwähnten  Aristobul  identifiziert  wird, 
soll  einen  Kommentar  zu  den  Gesetaen  Mosis  verfafst  und  dem  Könige  Ptole- 
roaeus  Philometor  (um  170 — 150  v.  Chr.)  gewidmet  haben  Was  daraus  an* 
geführt  wird,  berührt  sich  in  der  Methode  der  Bibelerklärung  mit  Philo.  Aber 
die  Art,  wie  der  Verfasser  alttestameutliciie  Theologie  mit  griechischer  Phüo- 
sophie  zu  verbinden  sucht,  weicht  doch  von  der  Philonisehen  wesentlich  ab 
und  geht  weit  über  das  hinaus,  was  Philo  anstrebt.  Während  Philos  Bibel- 
exegese darauf  ausgeht  su  seigen,  dafs  die  Bibel  im  Grunde  nichts  anderes 
lehre  ab  was  auch  die  grofiwn  griechisehaa  Philosophen  gelehrt  haben,  be- 
hauptet der  sc^jemumte  Aristobul  einfach,  d&fa  die  grieehisohen  Philoaopben 
ihre  Weisheit  der  Bibel  ertlelint  haben,  und  dafs  es  schon  vor  der  durch 
Demetrius  Phalereus  veranlafsten  Übertragung  durch  die  Siebzig  eine  griechische 
Übersetzung  der  bihlisrhcn  Schrieen  gegeben  habe,  ans  der  ein  Pythagoras, 
ein  Sokrates,  ein  Plato  geschöpft  haben  Und  nicht  l)l()I's  bei  den  griechischen 
Philosophen,  auch  bei  den  alten  Dichtern  lindet  er  Spuren  jüdischer  Weisheit, 
er  zitiert  mehrere  an  biblische  YorsteUungou  anklingende  Verse  aus  Orpheus, 
Linui^  Homer  und  Hesiod,  die  teils  tendoiziSs  angestutst,  tetla  einfiidi  erdichtet 
sind.  Ein  derartiges  Machwerk  kann  unmöglich  im  II.  Jahrb.  y.  Chr.  vei&bt 
sein.  Aristobul  wird  suerst  von  demens  Alexandrinus  erwihnt  und  fiberbanpt 

*)  Bewmden  von  Yslekenaer  in  der  Diatribe  de  Aristobolo  Jadaeo  (Lugd.  Bat.  18061 


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L.  Cbha:  Philo  von  Al«iaiidm.  528 

■ 

nur  Ton  diesem  und  von  Eusebius  zitier!  Es  wäre  schon  eine  sehr  merk- 
wfirdigc  Thfttsache,  dals  wir  tou  einer  jtldisch'lielleiuatiBQheD  Sehiift  des 
n.  Jahrh.  t.  Chr.  errt  dtireh  KirdieiiTftter  des  II.  und  IV.  Jalirh.  Kunde  er- 
hatten,  dafs  kein  frfiherer  SchiiArtelkr  eie  erwalmt.   Gans  undenkbar  aber  iek 

es,  dafs  im  11.  Jabrh.  v.  Chr.  in  dem  gelehrten  Alexandria,  wo  gerade  damals 
das  Studium  und  die  philologis  In  F.(  n-^fftung  der  klassischen  Dichter  in 
höchster  Blöt<'  "^taful,  jemand  gewagt  haht  n  sollte,  mit  sn  nnvprschamten  Lügen 
und  Faischuiigeu  an  (Üp  Öffentlichkeit  zu  treten  und  ncah  dazu  sein  Machwerk 
dem  Könige  selbst  zu  widmen.  Man  hat  sii-h  mit  der  Annahme  zu  helfen  ge- 
sucht, dafs  Aristobul  diese  Fälschungen  nicht  selbst  Torgeuouuueu,  sondern 
schon  in  einem  alteren  Werke  vorgefunden  b^e.  Kunentlidi  kai  SdiHrer  sn 
beweisMi  gesuchty  dafs  die  Verse  wie  alle  anderen  gefilaehten  Diditerfiroi^ente, 
die  bei  den  Kirchenvätern  vorkommen ,  aus  dem  Buche  eines  ilteren  jftdiBcfaen 
Hellenisten  stammen,  nämlich  einer  unter  dem  Namen  des  Hekataeus  von 
Abdera  gdälschten  Schrift  Ileql  ^jißg^^uiiv,  die  bereits  im  IIL  JahrL  v.  Chr. 
verfallt  sein  soll!  Aber  wer  nnch  immer  der  Fälscher  war,  in  jedem  Falle 
smd  derartige  Fälsehungen  in  einem  für  griechisch*»  Lcfser  bestimmten 
Werke  und  in  dieser  Zeit  und  in  dieser  St«dt  undenkbar.  Durch  sorcffSltige 
Analjse  der  verschiedenen  Überlieferungen  des  gefälschten  Orphischen  Fr^g- 
mante^)  bat  A.  Elter  den  Nackweti  geffihrt,  dalk  die  jüngste  Fassung  gerade 
die  des  sograannten  Aristobul  ist,  und  er  kommt  nach  Hervorhebung  aller 
Momente  zn  dem  Schlnfii,  daTs  iMide  Schriften,  die  des  Aristobul  und  des 
Pseudo-HekataeuSy  nicht  von  jfldischen  Hellenisten  des  H.  und  ITT.  vorchrist- 
Uehen  Jahrh.  herrühren,  sondern  der  ohristlichen  Af)ologetik  ihre  Entstehung 
verdanken  und  in  dem  an  Fälschanf»en  so  reichen  II.  Jahrh.  n.  Chr.  verfufst 
sind.  Dafs  I'seudo- Aristobul  sich  mit  Philos  Bibelexegeso  beriihrt,  ist  eiufach 
daraus  zu  erklären,  dwfs  der  Fälscher  Philo  gekannt  hat,  wie  Wendland  bei 
Elter  S.  229 — 234  zeigt. Unter  den  angeblichen  Vorläufern  Philos  ist  Aristobul 
demnach  zu  streidisn. 

Das  einsige  litteiuriBclie  Denkmal  des  jfldisehen  Alexandriniamus  vor  Philo 
ist  das  Pseudo- Salomonische  Buch  der  Weisheit  (Smpüt  JESailoftAvro^),  das 
seit  den  Zeiten  des  Hieronymus  bis  in  dae  vorige  Jahrhundert  hinein  vielfach 
geradezu  unserem  Philo  zugeschrieben  wurde.  Was  Herriot  über  dies  Buch 
sagt,  beruht  im  wesentlichen  wieder  auf  Ausführungen  von  H.  Bois.  Nur  sncbt 
Herriot  soviel  wie  mö^lieh  Ähnlichkeiten  mit  Philo  herauszustreichen,  um  zu 
beweisen,  dafs  wir  es  hier  mit  einem  wirklichen  Vertreter  der  jüdisch -alexan- 
drinischen  Philosophie  zu  thun  haben,  dessen  Ideen  sich  denen  Philos  sehr 
nähern  und  eigentlich  von  Philo  nur  weiter  ausgebildet  werden.  Die  sehr 
wesentlichen  und  charakteristiBehen  üntsrsohiede,  auf  die  Bois  im  einseinen 


Yoran^i^egangen  waren  ihm  hjerin  Lobeck  (Aglaopbamus  1  i4B}  und  M.  Joel,  Blicke 
in  die  Religionsgcschicifaie  sa  Aafiuig  des  II.  ehruüiehen  Jahritanderti  ^rsilaii  1880} 

I  77—100. 

*)  Vgl.  auch  WendhMid,  Bjxutm.  Zeitaohr.  YQ  (1898)  447  ff. 


524 


L.  Cohn:  Plülo  von  Akiandri». 


aufimerkaam  maeht,  weideii  von  Herriot  mit  StfllBebweigen  übergangen.^)  In 
Wahrheit  kann  dar  Yeifmer  dea  Badies  dar  Weiaheit  ala  Vor^nger  Pliiloa 
im  eigenÜicheii  Sinne  dea  Wortes  nicht  bezeichnet  werden;  ob  Philo  das  Buch 
gekannt  hat,  scheint  mir  sehr  zweifelhaft.  Der  Verfasser,  der  wahrscheinlich 
in  Alexandria  gelebt  hat,  schreibt  ein  verliiiltnlsrnrirsig  gutes  Griechisch  und 
hat  ^ich  nino  allgemeine  philosophische  Hildmig  angeeignet;  er  mischt  seinen 
aitjüdisclieii  Aii;ichauungen  bisweilen  fremdartige  Ideen  bei,  die  er  der  griechi- 
schen Philosophie  entlehnt.  Uber  seine  Person  und  Zeit  wissen  wir  nichts. 
Über  die  Abfassungszeit  des  Buches  gehen  die  Ansichten  der  Gelehrten  w^t 
ameinander,  nur  ghrabt  man  ii«nHch  allgemein,  dafs  es  noch  yor  Philo  enfp 
standen  ist.  Die  Berflhmngen  mit  Philo  sind  unleoglMir.  Ss  finden  aidk  hei 
Pseudo-Salomo  Ausdracke  und  Vorstellungen,  die  bei  Hiilo  wiederkehren.  Die 
durch  die  stoische  Lehre  vom  Weltgeist  beeinflufste  Schilderung  des  Wesens 
der  göttlichen  Weisheit  und  die  Aufzählung  ihrer  Attribute  (VH  22 — 24)  er- 
innern an  Phiionigche  Schilderungen  des  Logos.  Pseudo - Salomo  zeitr+  '^Iso 
Spuren  der  Geistesrichtung,  die  in  Philo  ihren  prägnanten  Ausdruck  gr  tun  den 
hat.  Aber  von  der  eigentümlichen  Weltanschauung  Phiios  ist  er  sehr  weit 
entfernt  Der  jüdisch»  Alexandrinismus  tritt  bei  ihm  in  einer  ganz  anderen 
Fonn  auf  ala  bei  Philo.  Im  Buche  der  Weisheit  ündm  wir  eine  Misehnng 
nnd  lose  Verbindung  von  alitestamentliehen  und  griechischen  Yorsteilungen, 
das  Ergebnis  der  Philonisehen' Spekulation  ist  die  organisohe  Verschmelaung 
jüdischer  und  griechiseher  Weltanschauung.  Von  den  Hauptlelkren  der  Philo- 
nischen  Philosophie  findet  sich  im  Buche  der  Weisheit  keine  Spur*),  der 
theologisphe  Standpunkt  des  Verfassers  ist  im  wesentlichen  der  des  jüdischen 
OtienbaruugsglaubeiiH,  obwohl  der  altjüdische  B<'gi  iff  der  i  isheit  durch  Ver- 
wendung Platonischer  und  stoischer  Begriffe  eine  VVeiteri)il(iung  erfähit.  Die 
Weisheit  wird  anscheinend  beinahe  zu  einer  von  Qott  selbst  verschiedenen 
gBttlichMi  Sraft  und,  wie  der  Logos  hei  Philo,  an  einem  Mittehresen^  durch 
das  Gbtt  anf  die  Wdt  wirktw  Aber  der  Yeiftaser  ist  Mch  dieser  Umbildung 
des  WeishntsbegrifliM  gar  nicht  bewofat,  und  der  metaphysische  Begriff  der 
Transcendenz  Gottes,  der  bei  Philo  die  Lehre  von  den  göttlichen  Mittelkräften 
▼eranlafst  hat,  ist  ihm  völlig  unbekannt  Auch  der  litterarisehe  Charakter  des 
Buches  der  Weisheit  ist  ein  ganz  anderer  als  d»'r  d(r  Phi]'>ii^< Iumi  Schriften. 
Das  Buch  der  Weisheit  gehört  nach  Forui  und  iiiiialt  zur  altiüdischen  Litte 
ratur  der  Spruchweisheit,  wie  die  Sprüche  Salomos,  iliob,  Kohtilet  und  Jetsui» 
Sirach,  der  Verfasser  preist  die  wahre  Weisheit  und  warnt  vor  der  Thorheit 


*)  Herrioi  sagt  s.  B.  einfiMb:  Flteado-Saloino  aUegoriBteit  wie  Philo;  Bow  dagegen  sdir 

richtig:  La  mtthode  allegorique  n'eti  ptu  pour  lui  (Pb. -Salomo)  ee  fll'eBe  f*U  pour  Phäon. 
Viiisfruiiit  nt  p(tr  rj  crlhnce  de  hi  prPHVf ,  de  hi  dreourrrte ,  de  kt  cnneiliatHtm,  II  VempUke 
d'tme  fa^on  fragmentaire,  non  foiuiamentale,  »poradiquc,  non  sysUrtmtiqwt. 

*)  DbA  in  Ansdrfleken  wie  4v  Up^  «av  ^  S),  i  n&vta  Ujupot  t6rog  (XVI  12)  und 
6  ifavroSvva(i6s  aov  Idyog  (XVllI  15)  nicht  der  Philonische  Logoe,  sondern  das  altt««tamcat- 
lirh.  Wort  {=  Wille)  Oottee  sa  ventehen  ist,  xeigt  W.  Orimni  in  seinem  £onunen(ar  sa 
eleu  betr.  ätellen. 


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L.  Golm:  ThUo  von  AkoEiiidri». 

der  Gottlosigkeit  und  des  Uötzendipnftes.  Philo  g^ht  als  8(')irifist«'llfr  soint- 
eigenen  Wege:  die  Hauptmasse  seiuti  Schriften  stellt  ein  litttriirisciie»  Unikum 
dar,  in  ihrer  eigentümllGhen  Verbindung  von  Bibelexegese  und  philosophischer 
Disknasioii  haben  sie  in  der  ganzen  jadisch-heUenistudien  Littenitar  Icein 
Torbfld. 

In  WnUiehkeit  abo  giebi  ee,  soweit  ans  die  Litteratnr  bekannt  is^  Iceinen 

Schriftsteller,  den  man  mit  Fug  und  liecht  als  Vorläufer  Philos  bezeichnen 
könnte.  Die  jüdisch  uli  ximdrinische  Religionspbiloso})!)!«  iji  (hm  Sinne,  in  dem 
sie  gewöhnlich  verstniidcn  wird,  hat  nur  einen  litU'riiiisclu'u  Vertreter,  das  ist 
Philo.  Von  einer  jüdiBcluii  l'bilosopbenschuK'  in  Alexandria  vor  fnnd 
auch  nach)  Philo  wissen  wir  nichts.  Man  darf  nun  aber  anderernfits  ini_hti 
glauben,  dais  diesem  g^n^^  System  urplötzlich  fix  und  fertig  im  Kopfe  Diilos 
entstanden  ist  Die  Frage  nach  dem  wahren  Ursprung  der  Philonischen 
Spekulation  wird  dadurch  nicht  beantwortet,  dafii  man  in  einigen  jfldisdi- 
heUenistisclien  Sehrillen  mehr  oder  weniger  griechiachen  Einflnb  nachweist. 
Sie  lafst  sich  auf  anderem  Wege  besser  beantworten. 

Wir  haben  oben  darauf  hingewieseü,  dafs  der  erste  litterarischc  Ausdruck 
einer  Annäherung  des  alexandrinift  lien  Judt  iituins  an  da»  Griechentum  die 
Übersetzung  des  Pentatencli  war.  Diu*  praktische  Bedürfnis,  aus  dem  die  Über- 
tragung hervorging,  }»est«nd  darin,  dafs  bei  den  gottesdienstlichen  Versamm- 
lungen an  den  Sabbat-  und  Festtagen  regelmäfsige  Vorlesungen  aus  dem  Penta- 
teadi  (sfmter  anch  aus  den  prophetischen  Büchern)  stattfiuiden.  Da  die 
alezandrinisdien  Juden  im  täglichen  Verkehr  mit  den  Griechen  und  bald  auch 
unter  einander  sieb  der  griechiechtti  Sprache  bedienten,  so  nahm  die  Kenntnis 
des  Hebräischen  bei  ihnen  immer  mehr  ab.  DsImt  wurde,  nachdem  der  Penta- 
teuch  ins  Griechische  übersetzt  war,  audl  bei  den  öffentlichen  Vorlesun^^on  der 
hebräische  Text  durch  den  griechischen  ersetzt.  An  diese  Vorlesungen  knüpften 
sich  in  Alexandria  gewiFs  ehenfo  wie  in  den  Svnagngeti  Palästina»  homiletische 
Erörterungen.  Naclidem  dann  die  griechische  l^hilosophie  in  <leu  gebildeten 
Kreisen  der  Juden  Eingang  gefunden  hatte,  mochte  es  wohl  kicbt  vorkouimen, 
dafs  die  Vortragenden  philosophische  Lehrsätze,  die  eine  gewisse  Ähnlichkeit 
mit  Aussprüchen  der  Bibel  an  haben  soiiienen,  zur  Erläuterung  des  Bibeltextes 
beranaogen.  Solche  ErSrtemngen  Ittfarten  naturgemiUh  zu  weiteren  B^ezionen 
und  Vergfleiehnngai,  und  auf  diese  Weise  wurde  aUmSblicfa  der  Versuch  eines 
Ausgleidis  zwischen  jüdischem  Offenbaningsglauben  und  griecbischer  I^iilo- 
sophie  angebahnt.  Hier  haben  wir  den  eigentlichen  Urspnmg  der  sogenannten 
jfidiseh-alexandrinischen  Philosophip  zn  suchen,  hier  liegt  die  Wurzel  der  Geistes- 
arbeit Philos.  Dafs  Erörterungen  dieser  x\rt  in  Alexandrien  itwas  Gewöhn- 
liches waren,  ersehen  wir  aus  l'hilns  Schriften  stlbst:  er  nimmt  öfter  auf 
frühere  Deutungen  von  Bibelstellen  Bezug,  die  er  entweder  acceptiert  oder  ver- 
wirft In  gewiason  Sinne  talst  ai«^  Philo  mit  dem  TUmnd  Tergleiehen:  wie 
der  Talmud  den  Niederschlag  jahrhundertelanger  Diskusairaen  enfl^t,  die  in 
den  Gelehrtenachulen  PalSstinas  und  Babyloninis  im  Ansdüufs  an  daa  Bibel- 
Studium  gepflogen  wurden,  so  giebt  uns  Philo  an  manchen  Stellen  ein  Bild 


526 


L.  Colui:  üiilo  von  Alesiadrift. 


davon,  wie  in  Alexandria  bei  den  öffentlichen  Vorträgen  der  Bibeltcxi  er- 
kfirt  wurde.   Einige  anner  Schriflra  sind  edbei  als  Homilien  annuelien.^) 

Das  Mittel,  dardi  welches  man  in  Akzandrien  einen  Attsgleicli  awischen 
jfidisclier  Religion  und  griechiscluir  Bildung  herbeuEoflilmni  Tenuchte,  war  die 

Bllegorische  Bibelerklärung.  Man  darf  aber  nicht  etwa  glauben,  dufs  die 
alexandriniscben  Juden  dabei  an  einen  Ausgleich  von  Gegensätzen  dachten. 
Gfrorer  und  Dfihne  stellen  don  ür*«pninfj  der  alcxandrinischeu  PhilosDphie  so 
dar,  als  oh  die  Juden  Aiexandrias  ein  kirne«  ßewufBtaein  von  dem  ZAvit'spalt 
golmbt  liiitton,  der  zwischen  ihrem  überkommenen  Glauben  und  ihrer  griechi- 
schen Bildung  bestand,  und  darum  bemüht  gewesen  seien,  diesen  Gegensatz 
kOnsllieh  an  beaeitigrai  oder  zu  verdediea,  indem  sie  Tetmittelsft  d^  AUegorie 
die  Ldiren  der  griechisehmi  Philosofiliie  in  das  Alte  Testament  bineindeateteD; 
die  Allegorie  sei  ein  Kunstgriff,  dnrdi  dem  die  erseblltterte  AatorilSt  der  Bibd 
finTserlich  gerettet  werden  sollte.  Belamg  und  Heuchelei  wäre  also  gewisser- 
maben  die  Signatur  der  alexandrinischen  Bibelerklärung.  Für  jeden,  der  Philo 
einigermafsen  kennt,  liegt  das  Verkehrte  einer  aolchen  Anschauung  auf  der 
Hand.')  Objektiv  betrachtet  ist  die  allegorische  Deutung  allerdings  ein  Hinein- 
legen von  etwas  Fremdartigem.  Aber  die  Alexandriner  waren  sich  dessen  irar 
nicht  bewufst,  sie  glaubten  so  gerade  das  richtige  Verständnis  der  heiligen 
Schriften  zu  haben.  Mit  den  neuen  Ideen  veränderte  sich  Urnen  das  Verständnis, 
und  die  Übertragung  griechischer  Yorst^ungen  in  das  Alte  Testament  geschah 
gans  nnwillk&rlich.  Dab  die  aU^rtsche  Erklirungsweise  Ton  den  atexan- 
drinsscben  Juden  auf  ihre  heiligen  Schriften  angewandt  wurde,  ist  sehr  be- 
greiflich. Das  Alte  Testament  mit  seinen  aahlreiehen  Anthropomorphismen 
legte  perade  diese  Art  der  Erklärung  sehr  nahe.  Die  erste  Erheljung  des  auf- 
geklärten (ieistes  über  das  kindlich  religiöse  Denkfti  }^i''steht  darin,  da(s  er 
Anthropoiuorphismeii  als  bildliehe  Bezeichnungen  auliil-t,  'Hände.  FüTse,  iVrm 
Gottes'  als  syinlK)ii8che  Ansdrueksweisen  für  die  Macht  und  das  W  ii  kt  ii  (iottes 
erklärt.  Nur  eine  weitere  Kuusequenz  dieser  Auffassung  ist  die  Allegorie  oder 
die  Deutung  von  Mythen  und  rdigiSsen  Enählungen  oder  Yorschriften  auf 
psychische  Zustande  und  metaphysische  oder  ethische  Wahrheiten.*) 

Die  Yorbedingungm  zu  Philos  eigentOmlicha:  Weltanschauung  waren  abo 
vorhanden:  mannigfache  Versuche  allegorischer  Ausl^^g  von  Bibelstellen 
waren  gemadit,  und  die  Verknüpfung  jüdischer  Religionssätze  mit  griechischen 
Vorf^tellunpen  war  angehahnt,  Dafs  Philo  philosophische  Schriften  oder  Bibel- 
kominent«re  solcher  Art.  wie  er  sie  selbst  ^'erfafste.  lu  nntzt  hat,  ist  nicht  sehr 
walirseliL'inlich.  Die  Stt-ilMn,  an  denen  er  frühere  Deutungen  von  Bibelstellen 
erwähnt,  machen  den  Eindruck,  als  ob  er  sie  aus  mündlicher  Tradition  ge- 
schöpft UUAe.  An  mehreren  Stellen  beruft  er  sich  ausdrfiddieh  auf  die 
Tradition.^)    Wie  weit  nun  diese  alexandrinische  Philosophie  oder  Tielmdur 

'ji  Vgl.  J.  Frcudenthal ,  Die  Flav.  Josephus  beigelegte  Schrift  über  die  Uerrachafl  der 
Venituift  (Breslau  imv)  S.  6  ff.  l»7  ff. 

*)  Vgl.  Qeorgü,  Ziiebr.  filr  die  bistor.  Theologie,  Jabig.  18W.  4.  Heft,  8.  9  ff. 
*)  Ebenda  6.  48.      «)  OtOnt  I  6S  ff.  Tgl.  besoaden  De  oiieumdi.  S. 


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L.  OqIui:  Philo  von  JUciaiidrw. 


527 


philusopliisch-allf^orischc  Bibeleief?ese  vor  i'hilt)  !iusj«;el)il(lf't  war,  lafst  sich  im 
einzelnen  nicht  mehr  festsieUeu.  Aber  die  meisten  und  wiciitigsLcii  Lehren 
Philoi  werden  wir  wold  ab  aein  E^entum  aneelien  dfiifim.  Einige  SieUen, 
die  man  Ihr  das  Gegenteil  angeflUirt  hat^  sind  nidii  beweiskraftig^  da  man  sie 
nicht  buchst&blidi  fassen  darf:  FUlo  liebt  es,  bisweilen  eigene  Meinungen  Ittr 
Uter,  ja  sogar  filr  Meinungen  des  Moses  selbst  auszugeben.*)  Um  alles  kurz 
Sttsammenzufassen:  in  der  alexandrinischen  8p«  kuiHtion  vor  I^hilo  zeigt  sich 
mir  vereinzelt  und  unbewufst  der  Einflufs  griechischer  Philosophie,  Philo  ver- 
knüpft den  ganzen  Inhalt  dfs  roli^iosfn  ßlaubfns  mit  seiner  ganzen  wissensrhaft 
liehen  und  philonnplusclu  ü  Bildung  ^u  einer  aus  diesen  verschiedenen  Elementen 
eigeutOmüch  zusammengesetzten  Weltanschauung. 

n 

Im  zweiten  Buche  bandelt  Herriot  fiber  Leben  und  Sekriften  Fliilos.  Wir 
wissen  wonig  muitslddiciies  Aber  Pbilos  Leben^  auch  sein  Geburts-  und  Todes- 
jahr lassen  sieh  nicht  bestimmen.  Wir  kdnnen  nur  vermuten,  dafs  er  im  Jahre 
40  n.  Chr.,  wo  er  an  der  Spitze  einer  Gesandtschaft  an  den  Kaiser  Callgula 
nach  Rom  kam,  in  vnrjTjerfiektcni  .Mter  stand.  Nach  Josephns  fAntiq.  XVIII  8,  1) 
war  er  ein  Bruder  des  Alahurcben  Alexander.  Wir  dürfen  daraus  schliefsen, 
dafs  er  einer  der  wohlhabcndst^Mi  und  vornehmsten  Familien  Alexandrias  an- 
gehörte. Grundlos  ist  die  Behauptung  Herriots,  dalä  die  Alabarchen  aus 
priesterlicber  Familie  sein  mnfsten.  Josephus  sagt  nidits  dsTon,  und  auch 
Eusebius  weift  nichts  von  priesterlidier  Abkunft  Fhilee.  ffieronymus  (De  vir.  ilL  1 1) 
ist  der  einaige»  der  Philo  aus  priesterliehem  Oesefalecbt  sein  ISfti  Da  er  aber 
sonst  alles,  was  er  Ober  Philo  berichtet,  dem  Eusebius  virdankt,  so  verdient 
diese  Nachricht  kein  Vertrauen.  Der  Alaharch  war  nach  Herriot  der  judische 
Beamte,  der  in  Verbindung  mit  einem  Rato  von  40  Mitgliedern  an  der  Spitze 
der  jüdischen  Gemeinde  Alexandrias  stand  und  diese  im  amtlichon  Verki-hr  mit 
Hom  vertrat.  Das  ist  die  alte  irrtümliche  Anwhaunn*:  vom  Alabarchcnamt, 
die  den  AlHbarcheu  mit  dem  jüdiacheu  Ethiiurchen  iduutitiziert.    Der  Aiabarch 

war  in  Wirklichkeit,  wie  SdiQrer  gezeigt  hat*),  ein  rifaniseh«'  Zollbeamter  in 
.Ägypten  und  idimtiseh  mit  dem  sonst  enriUmten  Arabarcbso.*)  Dafa  Philo 
verheiratet  war,  schliefst  Herriot  aus  einer  Anekdote  fiber  eine  angebliche  Äulse- 
rung  von  Philos  Frau,  die  Mangey  unter  Philos  Fragmente  au^enommen  hatte; 

*)  Dafilr,  dalk  auch  der  Logoabegriff  älter  aei  als  Pkilo,  hat  man  die  Stelle  De  «omn. 
I  19  (I  6S8  M  )  i^wAhnlich  anineflUui,  wo  Fbtlo  Utere  AaBleger  von  Gen.  28, 11  ^m/jm^t 
TOjrfl»  fTwIthnf,  (Ii.'  dm  roToj  ah  den  ^lag  lif9s  erklärt  hätten  (Gfrörrt*  I  80,  Zeller 
ITT  2,  ■-'fif. I.  Die  Stelle  ist  ;ilior  wolil  so  rn  ork?Rr<>n,  iIaTh  iÜ*'  iUfcrrn  AusIi^c't  untfr  dfm 
roxog  einen  Eugel  Gottes  verstanden  haben  (wie  »ich  auch  aus  dem  Zusammenhange  bei 
Philo  eiftiebt)  and  dafii  PhOo  nach  lemer  Gewohnheit  statt  dot  Eiigolt  den  Logos  nennt 

1  Ztschr.  f  wiss.  nsi  h.  Thoologio  187ft  8. 13  Qflioh.  d.  jfid.  Tolkfli  Q  640;  Mariiiiiinifc, 
Köm  8taat8verw.  l*  435. 

')  Die  Identität  ist  jetzt  gCHichert  durch  den  Zolitnnt  aus  Kuptoi«  in  Oberägyj>t«u 
(Flinden  Petrie,  Koptos,  London  18M,  Nr.  XXYII).  Vgl.  Beilege  s.  AUgem.  Zeitimg  1897 
Nr,  109. 


528 


L.  Cohn:  Philo  von  Alexandri». 


er  weils  nichi^  dafs  bei  Stobaeus,  aus  dem  die  Anekdote  stammt,  OiXavog  aus 
^^eaUawyg  Tersehrieben  isi*) 

Die  weiteren  AusflUurungen  Bernds  verbreiten  sieh  mit  mmStignr  Avi- 
fOhrlichkeit  ttber  vereehiedene  nebeneieUiche  Dinge,  wie  Fhiloe  BeBehreibungen 

des  Tempels  in  Jerusalem  und  des  Prieeterstandes,  während  wir  Ober  einen  so 
wichtigen  Gegenstand  wie  die  BildimglgrundlBgen  Philos')  so  ^iit  wie  nicbti 
prfahreTi.  Philo  verband  mit  einer  genauen  Kenntnis  den  jfidisi  Iji  n  Helirrion!'- 
gesetzcH  diu  vollkomniniHie  griechische  Bildung,  die  das  damalige  Aiexandria 
bieten  konnte.  Er  hatte  in  der  Jugend  die  gauze  Stufenfolge  der  Elementar- 
bildung (f'yxvxAtog  xatdtiaj  durchgemacht,  Grammatik,  Geometrie  (^Arithmetik;, 
Mnnk  und  Rketonk  etudiett,  und  dne  umfuaei^e  Kenntnis  der  grieebifteben 
Littmtnr  der  Uassiscben  Zeit  sich  angeeignet.  Beweis  dsftlr  sind  die  labl- 
reiehen  Zitate  aus  Dichtem  wie  aas  prosaischen  Schriftstellera  in  seinen 
Sehriften;  er  ütiwt  nicht  nur  Verse  aus  Homer,  Hesiod,  Sophokles,  Euripidei^ 
sondern  benutzt  auch  Thukydides  und  Demosthenes  und  zitiert  Hippokrates. 
Vor  allem  hat  er  natürlich  die  philosophische  Litteratnr  studiert;  Pinto  kennt 
er  durch  und  durch,  ihn  hat  rr  sieb  iti  Sprache  und  Stil  zum  Muster  genommen, 
seine  Schriften  sind  voll  von  Platoiiisehen  Zitaten,  Anspielungen  auf  PIat<iniseht' 
Stellen  und  Plato  eigt^ntümlichen  Ausdrficken  und  Redensarten.  Die  grotistin 
Philosophen  verehrt  er  au&  höchste,  er  nennt  Plato  den  Heiligen  imd  Greisen, 
Heraklit  den  GroCsen  und  Vidberllhmtep,  und  spridit  von  dem  hmügra  ^iaeos 
der  Fytbagoreer  und  den  gSttlieben  HSdumh  Pannenides,  EmpedoUes,  Zeno, 
Kleanthes.  Durch  Sprache  und  Bildung  fttblt  sich  Philo  gana  als  Grieche:  er 
unterscheidet  wie  ein  Grieelie  "Ellr^vts  und  ßdQfitiQM  und  zählt  die  griechisch 
redenden  Juden  zu  den  "EJUiiveg^  die  gnecfaisdie  Sprache  ist  ihm  ^  ^futd^u 
diriXfxtog. 

Die  jodisch-religiöse  Bildimg  l'hilos  beruht  auf  der  alexandrinisehen  Bibel- 
iiberHetüung  Er  verstand  auch  Hebräisch,  wie  die  zahlreichen  Etymologien 
biblischer  Namen  bei  ihm  beweisen,  die  sich  nur  aus  dem  hebräischen  ürt«xt 
erUiiren  lassen.  Aber  seine  Kenntnisse  im  Hebiaisciien  waren  nicht  bedeutend, 
wie  man  an  vielen  MiTsTersfindnisBen  und  Verwedislungcn  sehen  kann.  Seine 
Muttersprache  war  die  griechisdie,  und  die  griechische  Cbersetiung  der  Bibel, 
nicht  den  Urtext,  1« nutzt  er  in  seinen  Sehriften  und  legt  er  seinen  Erläute- 
rungen zu  Grunde.  Die  Septuaginta  hat  bei  Philo  dieselbe  Autoritiit  wie  bei 
den  palästinischen  Juden  der  Urtext,  denn  die  t^bersetzer  waren  nach  seiner 
Mt  iiumg  von  göttlichem  Geiste  inspiriert.  Alle  Gebot<^  der  iiibel  sind  ihm 
göttliche  Ofüpnbarungen,  teils  direkte  Xöyiu  Gottes,  die  von  Moses  verdolmetscht 
und  aufgezeichnet  sind,  teils  Aussprüche  des  von  göttlichem  Geiste  erfüllten  Moses,*) 

>)  Benwyi,  Phokkm  8.  U6. 

-)  V|<1  Zeller  m  I,  841  ff.;  Siflgfiied,  Philo  vod  Alessndria       Audegsr  des  Alton 

TiFtament«  S.  137  ff. 

*)  De  vita  Mos.  m  28:  tüv  loyitov  yuff  ra  ^t^v  i%  nQocmitov  xo6  9eo6  Uytrat  dt'  fpfttj- 
9i9t  rot  •tfev  icfo^ifvev,  tit  dk  4n  %i4nm9  wA  ^nw^Ums  ^VmkMi),  «&  #1  Ik  mfowAmiM 


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L.  ColOL:  PUlo  von  Alemidria.  529 

■ 

Er  kennt  kein  Wort  in  der  Bibel,  das  iiiclit  wiclitifr  und  hedentsam  wäre,  uuh  jrdem 
laj»8en  aieh  tiefe  Lehren  ubleiteii.   Moae»  iät  nach  i*hilo  iiiclit  nur  der  grölkte  iilier 

Propheten,  6  «^^t/Tr^«;  wie  Homer  bei  den  Grieclien  6  MutfTtis,  sondern  anek  der 
grSfirte  und  weiaeste  «Jler  Menschen.  Die  andern  Propheten  nennt  Philo  die  Schiller 
des  Ifoeeg  (yv6(fifm  oder  ^oi-ngtal  to&  Mami^),  auch  sie  eind  DolmetBcher 

Gottes  (fQfiTjvitg  &tov),  und  ihre  Propheseiungen  nnd  Annprfiche  enthalten  gött- 
liche Weiaheit.  Philo  ist  aber  nicht  nur  Qborzeugungstreuer  Anhänger  des  jadischen 
0ffenbarnn«»sglanben8,  er  verlang,  auch  Htreniryto  Beoljachtiint»;  der  von  Mosen  ver- 
ordneten Zerenionialgt  set/t':  trotzdem  er  alles  alle^dri.srh  i-rklärt  und  in  allen  \'er 
ordnunt;en  Symbole  /.u  erldicken  nur  zu  sehr  ^'eneigt  ist,  eifert  er  duch  ener^iseli 
gegen  diejenigen  unter  »einen  ülaubensgenoH^ien,  die  sich  von  der  Beobachtung 
TOn  Oeeetsen^  die  sie  symbolisidi  erklärten,  emaniipieren  wollten.  Die  heiligen 
Schriften  (ai  Ugul  yqafptti)  enthalten  in  ihrer  Gesamtheit  die  bdehste  Weisheit^ 
die  das  Ziel  des  mensehlidiett  Streben»  sein  mab>  die  wahre  Fhiloaoidue.  Hier 
treffen  die  beiden  Bildungselemente  Philo»  zusammen.  Die  jüdische  Theologie 
und  die  griechische  Philosophie,  die  er  beide  mit  gleicher  Liebe  umfafst,  sind 
fnr  ihn  keine  Gegensätze.  Seine  lleligion  ist  ihm  mit  wahrer  Philosophie  iden- 
tisch; Moses  ist  der  gröfste  Philosoph,  und  was  er  lehrt,  befindet  sich  in  vollster 
Übereinotimmung  mit.  dem,  was  auch  die  groÜBen  Philosophen  der  Griechen 
gelehrt  haben. 

Ganz  nngeuügend  sind  Herriote  Ausfiihruugen  über  die  Schriften  Philos. 
Ein  Uarea  Bild  von  dem  eigenartigen  Charakter  der  Schnfistellerei  Pbilos^  von 
der  Überliefenmg^  dem  Inhalt  und  inneren  Zusammenhang  der  einaelnen  Werke 
bekommt  der  Leser  nicht.   Herriot  giebt  snerst  hdehst  flberflttssiger  Weise  ein 

Yerseichnis  der  gadmckten  Schriften  nach  der  von  ihm  benntacten  Ta'nchsite* 

Ausgabe,  das  im  ganzen  58  Nummern  zählt.  Darin  figurieren  z.  B.  auch  die 
Kompilationen  Tir  mermJe  mrretrins  niul  mundo  nh  benondere  Philonische 
Schriften.  Herriot  weii'a  nicht,  daiis  das  Stüek  /A-  merceilc  ntereiricis  aus  ein*  ni 
gröfseren  Abschnitt  de»  Buches  De  sacrificiis  Abelis  et  Caini  und  einigen  Be 
merkungen  der  Abhandlung  De  sacrificaiUüms  zusammengcsch weifst  int.')  Den 
nichi-philonischen  Ursprung  der  Kompiktion  De  mundo  {IJegl  xöofiov)  hatte 
schon  Tomebus  erkannt  und  sie  deshalb  nicht  unter  die  Werke  Philos  auf- 
genommen. Sie  enthält^  wie  ttngst  bemerkt  ist*),  Exserpte  aus  der  FUlonischen 
Schrift  Jltgl  ictp&aqalK^  xtiOfiov  (De  aeternitate  mundi),  denen  einige  Stücke 
ans  anderen  Philonis(  ben  Schriften  beigemischt  sind.  Herriot  weifs  nichts 
davon,  er  halt  le  petit  fraife  rjss^j  eurieux  ffui  porfc  !r  titn  de  De  mundo  für 
eine  besondere  Schrift  l'bilos  und  reiht  sie  unter  die  philosophischen  .fugend- 
schriften  ein;  man  sieht,  wie  üüchtig  er  Curaont  gelesen  bat,  den  er  bei 
dieser  Gelegenheit  (S.  145)  zitiert.  Auch  die  von  Aucher  zusanunen  luit  i^iii- 
lonischen  Werken  aus  dem  Armenischen  pablisierten  Predigten  Aber  Samson 


')  Wendlaiui,  Neu  cutdeckte  Fragineiite  Philos  S.  1*26  ti'.;  Philoma  opera  vol.  I  S.  LXXXV'II. 
QnilkDiBiui,  De  Philmiii  Judaei  openijn  «ODtm&B  Mrie  ei  orduie  chionologico  I  8.  88{ 
Comont,  Philonis  de  aetern.  mundi  S.  XXVH;  Wendland,  PhUenia  opera  vol.  II  S.  VH. 


530  Lu  Cohn:  FbiU»  von  AleiftndriK. 

und  Jon»  vwden  von  Herriot  ab  echte  Schriften  Philoa  mit  au%e{uhrt;  mit 
naiver  Freimütigkeit  sagt  er  dann  von  ihnen:  *Noa>  ne  atmna  oft  placer  le 
De  San^pacne  et  le  «fimo.'  ünter  den  Gelehrten  besteht  ISngst  kein  Zweifel 
darüber,  daft  nie  nicht  vtm  Philo  herrühren*)  und  nur  sofaUig  nnter  seine 

Schriften  geratcti  sind.    Die  verwickelte  Frage  der  Einteilung  der  Philonischen 
Werke  ist  von  Herriot  sehr  oberflächlich  behandelt.    Auf  die  älteren  Arbeiten 
von  Gfrorer,  Däbne,  GroCsniann  und  Ewald  nimmt  er  gar  koiiip  Rucksicht.  Er 
resümiert  mir  ilir  Ansichten  vott  Hchürcr  und  M-.iäsebieau*)  und  polemisiert  rt^^tT^" 
einige  Vermutungen  des  letzteren.    Steine  eigene  Klansifikation  lehnt  sicli  teils 
an  die  Scbfirerache,  teils  an  die  Massebieausche  an.  In  einem  wichtigen  Punkte 
entfernt  er  aich  Ton  beiden,  um  m.  einer  reralteten  und  sicher  falaeben  Awaicbt 
xurScIankehren.   Schon  GlrSTer  hat  erkannt^  dafs  die  Bfldier  De  vUa  Metia  in 
den  Ausgaben,  wo  sie  awisdien  daa  Lebm  Jonphs  und  die  SehriHenreihe 
über  die  Mosaischen  Gesetze  gestellt  sind,  nicht  an  ihrem  richtigen  Platze 
stehen;  sie  stehen  für  sich  allein  und  gfliörf'n  nicht  zu  dem  grofsen  Werke 
über  die  Mosaische  Gesetzgebung,  desi^on  Plan  durch  Aufserungen  von  Philo 
gelbst  feststeht.  Schürer  und  Massebieau  treten  ans  dcnsi'lIxMi  Gründen  für  diese 
Treiüiuug  «in,  und  Massebieuu  bat  noch  den  weiteren  Grund  angeführt,  dalsdic  Vita 
Mosüi  augenscheinlich  für  heidnische  Leser  berechnet  ist,  während  die  Schriften 
Ober  die  Gesetie  sidi  an  die  Adreme  des  jüdischen  Publikums  richten.  Herriot 
ignoriert  alle  diese  Beweise  und  rechnet  die  Lebensbesdireibung  des  Moses  zu  der 
groüi«!!  Esq^osiHon  delalai*  Er  ^anhi  auch  xwei  Qrfinde  dafllr  anführen  an  kSnnea: 
1.  Philon  dedart  qi^ü  6crU  la  Vie  de  Moise  a  Vutieniian  des  üiities,  ou,  tmt  tm 
moins,  de  ceux  qui  sont  digncs  de  la  connaitre.    Ein  schönes  Beispiel  seiner 
Interpretation.    Bei  Philo,  Dp  vit.  Mos.  I  1  stoht  nichts  davon,  dafs*  or  das 
Leben  den  Moses  ä  I  ndnitimi  dis  inifi/s  schreiben  wolle.    Vielmehr  will  Philo 
liier  diejenigen,  die  MoBe»  kennen  lernen  wollen,  mit  seinem  Lehen  bekannt 
machen;  denn  wenn  auch  der  Uubni  seiner  Gesetze  überall  hiu  gedrungen  sei, 
80  kennen  ihn  salbst  doch  nur  wenige:  Mmftias  •  •  •        fiioi»  iwtyffdipm 
duvo7ld7iv  .  . .  xal  yvAfftfuov  totg  dl^oOtfi  fu^  Ayvostv  aiöviw  ÜM^^ium'  rAf^ 
fihv  yäQ  v6fua»  t6  xXiot^  od(  davolülourE,  dtä  xdmjg      oimov^^imis  xe^fxntipmg 
"^VS  yVS  tiQfiaxajv  i<p&axev^  ccvrbv  dl  oaris  i)v  ix"  dXt]9tias 
t6a6tt>  ov  TCokh^C    Die  Worte  totg  d^iovöi  (so  liest  Herriot  selbst  mit  Mangey 
für  das  überlieferk-  ft^i'o/s'^i  ju?)  Siyi'oftv  tetfrov  übersetzt  er  de  ceur  ffid  ftont 
dit/tm  de  lit  mnnnUrr!    2.  ij'  trail''  De  In  monarrhir.  douf  la  plnee  n'est  pas 
douteuse,  send/lv  him  posUTieur  ä  la  Vir  ilf  Mdise.    Plnsimr^;  rpisod^s.  lofufue- 
ment  developpes  dans  ceüe  biograplm  .  .  .  smä  premUes  iians  U  De  tnmtanhm  $ous 
UM  forme  i^m^  gm  SMf^pose  m  r&tf  mriineiir  fbis  eamij^.  Auch  in  anderen 
Teilen  dieser  Schrifitenieihe  kommen  dieselben  Dinge  vor  wie  in  der  Fifo  Jfosit. 


•)  Dahne,  Theo).  Studien  u.  Kritiken  1833  S.  »87  ff.;  J.  Freudentbal,  Die  Flavias  Josephiu 
beigelegte  Schrift  über  die  Heiradiaft  der  Yeraunft  8.  9  ff.  Ul  ff. 

*)  Le  elawemeni  dm  oeuvrea  de  Philon  (—  BIbliotli&qm  de  r<co1«  des  haatoi  ätade«, 
Bcieaeee  religieufea,  vol.  I)  Paria  1888. 


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L.  Oobn:  Philo  von  Alenuidrift. 


581 


Das  beweist  aber  nichts  für  ihre  Zugeliöngkeit,  sondern  spricht  gerade  für  daa 
Gegenteil,  da  Philo  Wiederholungen  innerhalb  desselben  WeAes  geittdfl  m 
Tenneidm  sacht;  und  dafs  er  in  der  Vita  Mosis  manehes  ansflUirliGher  be- 
handelt als  in  dem  Werk  ftber  die  Qesetee,  erkttrt  sich  eben  aas  der  Ver- 
schiedenheit des  Leserkreiaes.  So  beaohaffen  sind  die  Gründe,  die  Herriot  als 
arguments  qtti  cotUrcdisenl  muc  Je  Mtuasehieau  bezeichrct.  Einen  weiteren  Be- 
weis seiner  Interpretationskunst  giebt  Herriot  bei  der  Erläuterung  der  bekannten 
Stelle  Df  prapfttüs  et  fioenifi  Cup  I .  wn  Philo  den  ganzen  Inhalt  dos  Pontatcuehs 
in  drei  Teilt-  zerlegt.  xo(Suo:Totia,  'nimoixou  ^f'gog,  voito^ttixoi'  utQo^,  im«l  liaiiiit 
zugleich  den  ganzen  Plan  tk;iueä  Werkes  angiebt,  zu  welchi^iu  daä  Bueli  De 
praemiis  etc.  den  SchluDs  bildet.  Herriot  Terfallt  hier  in  denselben  Fehler  wie 
IMUine,  er  verstdit  nnter  d^  Iowqixov  {liffog  Philo«  groben  allegorisehen 
Kommentar  aar  Geneab;  das  hindert  ihn  aber  nieh^  De  opifieio  immdi  (17<p2  »otf- 
pMOHÜts)  mit  der  Ea^poaÜioH  de  la  loi  A.  h.  dem  va^toteuiiinf  iifyos  m  rer- 
bindm;  Philo  soll  hier  also  zwischen  die  beiden  zosanunengahSrigen  Teile  ein 
gana  anderes  Werk  eingeschoben  haben,  obwohl  er  ganz  ausdrücklich  sagt, 
dafs  er  Ober  alle  drei  Teili>  der  Reihe  nach  gehandelt  habe,  nho  nur  ein 
zusammenhängendes  Werk  im  »Sinne  haben  kann,  in  welchem  auch  das  Iöto- 
Qixbv  ufQog  vertreten  i/«  weson  sein  mulü.  (ifrürer  und  Massebieau  haben  ge- 
zeigt, dald  darunter  nur  die  Lebensbeschreibungen  der  Patriarchen  gemeint  sein 
k&inen,  die  nadi  bestimmten  Xulaeningen  Philos  in  der  Mitte  stehen  awisehen 
der  sotffMMKoU«  and  dem  vofM&stiamv  ftipog.  —  Die  neuesten  Forschungen  Aber 
die  bsL  ÜberlieÜBrung  der  Philoniaehen  Schriften  sind  Herriot  nnbekanni  Dals 
die  Ausgnhi  n  die  BttchOT  De  spedalibuit  legibus  lückenhaft  und  gröfstenteils 
nnter  falschen  Titeln  gehen,  weifs  er  nicht.  Von  der  Schrift  De  vitn  contem- 
fifativa  sagt  er  nichts  weiter,  als  dafs  sie  für  sicli  allein  steht  (ffardr  um  jil<ice 
ä  pari).  Von  meinem  Land.4Uiann  Masschieuu  hätte  er  lernen  k<")niien,  wohin 
sie  gehört.  Naeh  Mas^ebieans  »ehr  wahrscheinlicher  Vermutung  bildete  die 
Schilderung  der  Therapeutt^n  \^lk-  vtUi  conteniplatim)  ursprünglich  einen  inte 
griarenden  Bestandteil  der  'Atfokoyitt  Mq  *Iwdmmv  (Uber  diw  und  die  "TVo- 
teumi  Philos  weüh  Herriot  nichts  au  si^n)  nnd  die  Fortsetaung  der  Sdul- 
denmg  der  Essier,  die  Eusebius  aus  der  *AmXßf(a  zitiert') 

m 

Die  Darstellung  der  Philonischen  Philosophie  selbst  ist  verhaltnismafsig 
das  Beste  an  dem  Herriotschen  Buche.  Sie  ist  klar  und  zeigt,  dafs  der  Ver 
fasser  sich  in  einen  Teil  der  Schriften  hinein^lesen  und  mit  tlen  Tdern  Philos 
bekannt  gemacht  hat.  Freilich  entbehi't  sie  der  nötirrei\  Tiefe,  so  dals  sie  sich 
mit  Zellers  Darstellung  in  keiner  Weise  messen  kann;  denu  verschiedene  De- 
tails, die  Herriot  in  breiter  Auseinandersetzung  vorführt,  sind  anwesentlich  und 


'j  Die  Frage  der  Klassifikation  und  Chronologie  der  Philoniaehen  Schriften,  deren  Er- 
Ortening  ims  hier  ni  weit  fBhien  wflrde,  wiid  denuiftdut  an  anderem  Orte  aiuftthrlicher 
behandelt  trttden. 


532 


L.  Cokn:  Fliilo  v<m  Aleauuidria. 


■ 

f&r  die  Erkenntnia  Ton  geringer  Bedeutung.  Im  eiiimlneii  ftlilt  es  auch  in 
dieeem  Abaehnitb  tiieht  an  bedenklichen  Anlaeniiigen  und  Beiqiielen  oberHieb- 
Udler  Kenntnis.  Gleieb  im  Anfimg,  wo  Herrioi  Ton  der  aUegoriBcbeii  Hetboda 

Philo»  spricht,  begegnet  der  merkwürdige  Sats:  Naw  SOWnS  qu'dle  f'iait  le  pro- 
duü  log^pte.  (hl  gt'itie  juif.  Die  Wort*'  zcuirt^n  von  einer  fast  unglaublichen 
Ignoranz  Die  Allegorie  ist  nicht  ein  iVodukt  den  jOdiHchen  Geistes,  die  jüdischen 
Alexandriner  haben  sie  einfach  von  den  ürifcben  ül)ernnmmen.  Die  Allegorie 
war  für  die  philosophisch  gebildeten  Griechen  der  hcllciiistiBchen  Periode  der 
allgemeine  Typus  für  die  Erklärung  und  das  Verstäiidiiis  aller  heiligen  Ge^ 
eebichteu.  Die  stoische  Philosophie  hatte  alle  Mythen  des  gnechischeu  Vollu- 
glaubens  allegorisch  gedeutet  und  alle  GStter  au  Symbolen  kosmiseber  Er- 
scheinimgen  aufgelöst  In  ^eidier  Weise  wurden  «Üe  homerischen  Gedidite 
von  stoischea  PhUosopben  mad  Grammatikern  BtoiBcbor  Biehtang  (wie  Krates 
von  Mallos)  allegorisch  erklart  und  auf  diese  Weise  alle  möglichen  Dinge  und 
philosophist  bt  ii  Lehren  aus  ihnen  herausgedeutet.  So  erklärt  es  sich  leichi^ 
dafs  die  akxandrinischen  Juden,  als  sie  ihre  religiösen  Meinungen  mit  den 
durch  ilie  (^Miccliische  Philosophie  gewonnenen  Anschniiuniien  zu  vergleichen 
und  zu  verbinden  begannen,  gerade  diese  exegetische  Methode  auf  ihre  heiligen 
Schriften  anwandten. 

AVas  Herriot  Qber  das  Wesen  der  Allegorie  und  ihre  Anwendung  bei  Philo 
sagt,  ist  ungenügend  and  teilweise  unrii^tig.  Die  ganxe  Pbflosopbie  PhikM 
beruht  nach  seiner  AufGusung  auf  folgenden  awei  Satsen:  La  varite  eti  oonUmt 
dam  les  livres  setaiig;  nutit  ees  Uorei  dokaU  üre  nUenpräes  d  Vaide  de  Va04ifork. 
Das  ist  nicht  ganz  zufa^ffend.  In  den  allegorischen  Schriften  wird  allerdings  alles 
all^risch  gedeutet  und  häufig  ausdrücklich  jede  andere  Erklärung  aia  unmdg- 
lieh  und  lächerlich  oder  kindisch  verworfen,  namentlich  wo  es  sich  um  Anthnv 
pomorphismcn  im  Bibeltexte  baiulelt  Aber  schon  die  Qnmstimtes  et  Solutima 
zeigen,  dals  Philo  den  bu<  lisiitiiii(lien  Sinn  nitht  unbedingt  und  überall  aus 
schlofs;  und  in  den  übrigen  Schriften  wird  die  aliegorische  Deutung  nur  selten 
und  ganz  beiläufig  erwähnt  Herriot  Sf^  nichts  darüber,  wie  Philo  die  alle- 
gorische Auslegung  der  Bibel  begründet.  Philo  hat  sieb  an  mehreren  Stelko 
darttber  ausgesprochen  (am  ansf&brlichsten  Qnod  deua  sit  immut.  §  Ö3ff.  und 
De  «MMfUtf  I  §  232if.).  In  den  beiden  anscheinend  aich  widersprechenden  Satan 
der  Bibel  'Gott  ist  nicht  wie  ein  Mensch*  (Nom.  23,  19  oij  ^  äv^Qfitxof  i 
9i6s)  und  'Gott  ist  wir  »  in  Mensch'  (Deut.  8,  5  db$  Sv^peiXog  ...  6  9tbg  %ai- 
dtv<ffi  (ff)  sieht  Philo  die  beiden  Grundanschanunfi^en  über  Gott  (dvu  ra  «wo 
rüra  xetpalatu  xsqI  rov  ttltiov)  und  zugleich  die  beiden  Wetrf,  d.  h.  die  ih\> 
pelte  Sprache  der  Bibel  ausgedrückt.  Der  erste  Salz  l»e/.eichnet  d»s  wahn 
Wesen  Gottes,  der  andere  richtet  »ich  an  das  Verständnis  des  grofseu  llatiti  u?. 
Es  gicbt  zwei  Klassen  von  Menschen,  solche,  die  sich  Gott  rein  geistig  vor^ 
stellen  können,  und  solche,  die  immer  an  das  Körperlidie  und  Sinnliche  ge- 
fesselt auch  Gott  sich  nur  sinnlich  denken  können.  Moses  hat  auf  beide  Klassen 
RiScksicht  genommen  und  bedient  sidh  daher  oft  einer  Sprache,  die  dem  Fis- 
Bungsvermögen  der  ungebildeten  Menge  sieh  anbequemt  und  dem  hdcfastcn 


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L.  Cduii  Philo  von 


58d 


Wtson  £igonijcbaften  beilegt,  die  nur  dorn  Menschen  zukommen.  Hiernach  also 
begriJudet  Philo  einen  doppelten  Schriftsinn:  der  wörtliche  oder  buchstäbliche 
ist  der  offenbare  und  allgemein  vera^dliche,  der  allegorische  ist  der  Terborgene, 
ntor  Ar  die  Weisen  und  nicht  für  die  grofira  Menge  erkennhare. 

Fonnell  leidet  Herriote  DanteUnng^)  an  einom  Hanptfehlcr:  anf  mehr  ab 
100  Seiten  werden  nadh  den  4  Rubriken  MAtphifstgue^  PayMogie,  Mortäc» 
PcHHque  die  philoBopliIschon  Ansichten  (h-s  idrs)  Pliilon  über  Gott,  intelle- 
gible  und  sensible  Welt,  göttliche  Mittelkräfte,  Logos,  Seele,  £thik  und  poli- 
tisches Lf'b»n  so  entwickelt  und  wiedergegeben,  als  ob  ch  sich  dnrcbwcg  um 
selbständige  Gedanken  Philos  handelte.  Höchst  selten  wird  augedeutet,  aus 
welchen  Quellen  er  geschöpft  hat  oder  auf  welchem  Wege  er  zu  seinen  An- 
schauungen gelangt  ist.  Erst  hinterher,  im  vierten  Bndie  seines  Werkes,  kommt 
Hema^  indem  er  Philos  Verhiltnis  snr  Bibel  einereeits  und  nun  Grieebentom 
endeieraeitB  behandelt,  ganz  allgemein  aneh  auf  seine  Quellen  m  spreeben. 
Wenn  Herriot  das  dritte  und  nerie  Buch  vereinigt  und  bei  den  einzelnen 
Punkten  gezeigt  hätte,  in  welcher  Weise  Philo  biblische  bezw.  jüdische  Vor- 
stellungen mit  griechischen  verband,  wurde  er  offenbar  dem  Leser  einen  bes- 
seren Einblick  in  das  Wesen  und  die  Bedeutung  der  Philonischen  Spekulation 
gegeben  haben  als  durch  sein  Verfahren.  S.  224 — 235  (rieht  er  r.  B.  ciiu'  aus- 
führliche i'araphrase  der  Philonischeu  DarsttjUung  der  Weltschüpfung  nach  der 
Schrift  De  opificio  mundif  aber  ohne  jeden  Kommentar,  ^rahrend  er  hier  gerade 
se^n  konnte,  wie  Philo  beinahe  in  jed^  SatiEC  griechisdie  Torstellongen  und 
PhiloBopheme  Terwende^  nm  die  bibliaehe  SchSpfongsorkunde  sn  erlintem  und 
in  diesran  Rehmen  seine  e^soen  Anschauungen  Uber  Gott  und  Welt  an  mtwtekeln. 

Da&  die  meistMi  Elemente,  aus  denen  sich  Philos  Weltanschauung  zu- 
sammensetal^  ans  der  griechischen  Philosophie  geschöpft  sind,  wird  heute  nicht 


'i  R.'ililufif,'  korri^icri'  ich  cinij:!-  Irrtflmer.  S.  206:  Der  Ausdruck  'sichtbare  rjfitier' 
von  den  Gestinien  kommt  nicht  nur  in  der  Jagendschrifl  ilcfi  i^ageiag  xoajiov,  üooderu 
wiederholt  auch  in  Sebriften  reiferen  Alten  vor  (s.  B.  De  opif.  mondi  §  27).  Philo  sdilierRt 
sich  in  der  philosophischen  Terminologie  so  eug  an  seine  griechischen  Lehnn^ter  an,  dafa 
er  trotz  seines^  MonollHMsmiis  kein  bedenken  trägt,  tlif  (jcstirni',  d\>'  er  für  vemflnftige  voll- 
kommene Wesen  hSJt,  in  Übereinstimmung  mit  Plato  und  den  Htoikem  ttl«  iiftnol  oder 
Ift^ttMür  4«o{  m  beseiehiien,  worunter  eir  nur  gOttUche  ▼oUkommeDe  Womd,  nieht  etwa 
der  Verehrung  und  Anbetung  würdige  Götter  versteht.  —  S.  235:  Plilki  nagt  nirgends  aus- 
drOcklich,  dafs  Gott  die  Materie  selbst  geschaffen  hat.  Die  Weltschöpfiinp  ist  lu-i  ihm 
nur  eine  Wellbildung,  «ine  Ordnung  der  Materie.  Wo  er  von  einer  ächüpt'ung  aus  deui 
Kichlfl  redet,  venteht  er  unter  dem  it^  Cr  wie  Plate  nur  die  9lfi  alt  das  relative  Niditt, 
das  Nil  ht.^cinide  im  Gegematx  zum  absoluten  Sein  {t6  5p  —  Gott),  Zeller  III  2',  38S.  Die 
Materie  ist  vorhiuultM»,  wie  sie  entstandfn,  sajjt  nm  Philo  nirht.  —  S.  262:  Philos  Definition 
der  Zeit  {dtuatufnt  t^f  tov  %6afiov  xivi^afcos)  will  Herriot  auf  den  Pjrtht^oreer  Archytas 
swAekfOfaxen.  FUlo  hat  eie  vielmehr  wBrtlidi  von  den  Stoikem  Ubemommen:  Diog.  La. 
Vn  141;  Diel«,  Dozogr.  8.  461.  S.  28ö:  Die  Worte  Quod  deter.  pot  innid.  §  12«  (fMi/j  St 
TT)Xavyf(truTTj  voTiuärmv  /crlr  avrr,  tlbprsptxt  Herriot:  La  i-oix  e»t  elle-meme  (J)  Ut  plus  l»mi- 
neuge  des  pemeea.  Das  ist  grauiiualiscb  und  sachlich  talscb.  Philo  sagt:  das  gesprochene 
Wort  (4  diit  flAnns  mA  %ä»  £U«v  ^mqnisW  dfytf mnt  i«t  der  khuste  Anidraek  der 
Gedanken;  (pcovi)  ist  in  weiterem  Sinne  tu  fanen,  nnd  Subjekt  iei  vStq. 

»MM  J«ltrba«lMi.  IWü.  I.  36 


634 


L.  Cohn!  Philo  von  Alaondri». 


mehr  bezweifelt.  In  frilheren  Zeiten  herrschten  darüber  die  ärgsten  Irrtünu'r. 
Bis  in  daa  XLX.  Jahrh.  hinein  war  bei  Tbeulogen  und  Philosophen  die 
schauung  verbreitet,  dafs  im  Orient  eine  alte  geheininisToUe  Weisheit  bestanden 
\a^f  am  der  Philo  Mine  ganze  Philosophie  schöpfte,  aue  der  spater  anoh  der 
Gnoetiusiin»  imd  die  Kabbalistik  herrorg^puigeD  eein  tolL  Dieeer  Gedanke 
Ton  der  Existena  einer  alten  ^orientalieehen  PyioBophie'  aieht  sidi  dnreh  die 
meisten  Daratdlnngen  des  XVIII.  Jahrb.,  er  begegnet  z.  B.  auch  bei  Mangey, 
der  die  engen  Beziehnngen  zwisc  lu  n  Plato  und  Philo  daran»  erklären  will,  dafe 
Plato  aus  denselben  orientalisrhcn  Quellen  wie  Philo  geschöpft  nnd  vielleicht 
auch  schon  eine  alte  l'tiei-setzui!<r  des  Alten  Te»tanieiits  l)emitzt  liabe.  \'iel- 
fach  versuchte  man  aucli  diese  orientalischen  Einflüsse  genauer  zu  be/.ei<;hneu, 
indem  man  bald  die  geheinte  UeÜgiousweisheit  der  Ägypter,  bald  den  Parsismus, 
bald  indieehe,  bald  chaldaische  Weisheit  bei  Philo  an  finden  glaubte.  Aneh 
nachdem  tou  Tersehiedenm  Seiten  (Tittmann,  Meinem,  Tiedanann)  der  vo^ 
wiegend  grieehieche  Einflula  herrorgehoben  war,  wurde  doch  noch  von  einigen 
die  Möglichkeit  oder  Wahrscheinlichkeit  orientalischer  Einwirkungen  leetgehaUan. 
Herriot  hat  diese  Ansicht  anch  bei  französischen  Gelehrten  der  neueren  Zeil 
vorgefunden  und  weist  sie  mit  Hecht  zurJlck.  Die  Quellen  <ler  Phüonischeu 
Spekulation  sind  auHsehliel'islich  in  der  griechischen  Philosophie  and  in  der 
jüdischen  Tlieoloirie  zu  siielipn. 

Um  die  Abhängigkeit  Philos  von  der  griechischen  Philosophie  genauer 
feetsostdlen,  bedarf  es  noch  sorgfiUtiger  QueUennntersuchiingen  Qber  die  ein- 
aelnen  Schriften,  woau  eigentlicb  erst  in  neuester  Zeit  durdi  die  Arbeiten  von 
Bemays^),  H.  t.  Arnim*)  und  Wendland*)  ein  4n&ng  gemaeht  ist.  Herriot 
hat  sich  dem  Plane  seines  Werkes  entsprechend  anf  derartige  Untersnehnngen 
nicht  eingelassen.  Sein  Kapitel  PhUm  d  In  Greet  ist  sehr  kura  und  bietet 
nur  allgemeine  Bemorknngen  Qber  Philos  Verhältnis  zu  den  grofsen  Philo- 
sophen und  Phiiosopben.schnlen,  die  viel  Unrichtiges  enthalten  Den  Pytha- 
goreern  verdankt  T'hilo  uiclit  nur  die  ganze  Zahleusymbolik,  er  t«ilt  mit  ihnen 
und  den  von  ihnen  beeinHuTsten  Stoikern  auch  den  Dualismus  Gott  (als  wir- 
kende Ursache)  und  Materie  (als  leidende  Ursache).  Bei  Plato  hatte  herroi^ 
gehoben  werden  mflssen,  dats  Philo  ihm  nicht  bloJs  philoBophische  Lehren,  wie 
die  Ideenlehre  ui^  die  Theorie  der  Weltschfipfui^  entlehnt,  sondern  auch  in 
Stil  und  Ausdrucksweise  ihn  TorauipnreiBe  zum  Muster  genommen  hat  nnd 
Gedanken  und  Redewendungen  von  ihm  allerorten  verwendet.  Der  Einfiufs 
des  Aristoteles  wird  von  Herriot  überschätzt:  in  der  Seelenlehre  hat  Philo  nur 
weniges,  in  der  ülthik  so  gut  wie  nichts  Ton  ihm  angenommen.   Am  meisten 

Kutuwcntar  zu  Philo«  Schrift  Ihql  ä<p^aqeiai  nötfutv,  in  den  Abiiandl.  der  Berliner 
Akademie  der  Wmeoseh.,  phil.-hirt.  Klame  18BS,  mvolleiidefc  herausgeg.  von  H.  üaener 

*)  Quellengtudien  zu  Philo  von  Alcxandria,  Berlin  1686  (Aber  die  Sdiriften  Dt  uettT' 
nitate  minuii.  De  ehrietate  und  Ih  plnntatiom). 

Philo«  Schrift  über  die  Vorsehung,  Berlin  1S92;  Philo  und  die  kynisch -»U>i*cke 
Diatribe  (in  den  Beitiigen  rar  QeMb,  d.  grieeb.  Ffafloioplii«  und  Sdigion  vo«  Weadland 
vnd  KemX  Bet-lin  ISM. 


I 


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L.  Coha:  Philo  von  Alinuidn*. 


535 


hat  Ihrriot  Philos  Verhältnis  zum  Stoizisniufl  verkannt.  Er  glaubt,  dals  Philo 
ikui  nur  des  Uiti&i  de  (Mail  entlehnt  hat.  In  Wahrheit  Terdankt  er  in  philo- 
aophtadtw  Beuehung  den  Stoikern  dae  tnebte,  mehr  noch  ab  Plato.  Philoa 
Psychologie  hUt  Herriot  f&r  ans»  crigmale.  Vielmehr  beruht  diese,  wie  seine 
£Üuk  nun  grSbten  Teil  tmd  die  Physik  gam,  auf  dem  Stoizbmus,  und  ans 
dem  stouf^en  Pantheismus  stammen  auch  »ehr  viele  Bestimmungen,  mit 
denen  er  seinen  Gottesbegriff  und  die  Logoalehre  ausgestattet  hat. 

Auch  die  Bt'merknngrn  übor  Phüos  Verhältnis  zur  Bi)>H| '  i  siiul  ober- 
flächlich und  WLiiig  !6utretleud.  Zweifellos  ist,  dafa  Philos  (iottoi^begritf  im 
weHtntlic  htii  auf  iilttestamentlicher  Anschauung  beruht.  Aber  alle  näheren 
Bestmmiungeu  und  Attribute  sind  aus  der  griechischen  Philosophie  ent- 
lehn! W^m  Philo  Gott  ab  das  unendliche  Wesen  schildert,  das  nicht 
nur  von  den  ünToUkommenheiten  der  endlichen  &eatur  volbttndig  frei, 
sondern  am^  Oher  ihre  Vollkommenheiten  erhabm  bt,  besser  ab  db  Tugend 
und  als  das  Wissen,  ja  sogar  besser  als  die  Idee  des  Guten  und  Schönen 
{xgeitreav  ^  dQetrj  xal  xgeiTrav  i:n6Til^rf  xal  xQsCxTtov  »)  atfrb  tb  «ya^öv 
X«?  «i'to  TO  xftl6v  De  npif.  mundi  §  8),  so  ^cht  er  noch  über  Plato  hinaus. 
di'v  Uott  als  die  Güte  selbst  [avxb  rb  äyad^ov)  bezeichnet  und  so  die  Idee 
des  (juUmi  luit  der  Gottheit  identifiziert.  Mau  mag  darin  den  Einfluis  der 
jüdischen  Auschauuug  von  dem  hochheiligen  und  über  alles  erhabenen 
Wesen  Oottes  erblicken.  Aber  auf6albiid  ist^  dab  die  Neupythagoreer  ähnlich 
Ton  der  Gottheit  sagten,  dab  sie  Ober  alles  Denken  und  Sein  erhaben,  dafo  sie 
nicht  blob  vo&g  sei,  sondern  etwas  Höheres  ab  der  voOs  (Zeller  m  2*,  III). 
Ganz  verkehrt  ist  Herriots  Behauptung,  dafs  Philo  die  Lehre  vom  Logos  der 
Bibel  bezw.  dem  Judentum  verdiiDkt.  Ohne  jede  Spur  von  B^ründung  werden 
folgende  Sätze  hingestellt:  L'iW/V  du  Verhr  r<it  unc  icUk  qui  appartünt  hrancoup 
pltis  au  tif'O-judaismr,  si  Von  ptut  (lins!  dire,  qttau  judnmrir  aUxandvin  .... 
liUlep  da  Ijhjos  drvdit  surtir  du  d''rrlupjM  nvnt  logique  du  ßuiaisnte.  Wenn  dus 
richtig  wäre,  raüisteu  wir  dem  Logos  auch  im  rabbinlscheu  Judentum  beg«  <^iien. 
Aber  weder  in  einm  biblischen  Buche  nodi  in  irgend  einem  andern  Produkt 
der  jfldbdien  Littwatnr  findet  sich  die  geringste  Spar  dsTon.  Die  Weisheit 
spidt  in  dem  PSeodo-Salomonischen  Buche  ab  göttliche  Mittelkraft  eine  ähn- 
liche Uolle  wie  der  Philonische  Logos,  MC  darf  aber  in  keiner  Weise  als  ein 
Vorläufer  desselben  angeschen  werden,  sondern  höchstens  als  eine  Parallele. 
Ich  begreife  nicht,  wie  Herriot  »ich  auf  Hyle  (Philo  aiul  Holy  Scripture)  be 
rufen  und  von  ihm  sagen  kann:  Ri/lr  <i  dotinr  In  link  exmU^  de  tous  ks  texten 
OH  Philm  n  pum'  Iis  'Irmnds  ik  sa  Ütmne  da  Logos.  Bei  Ryle  kann  man 
wohl  Bibelstellen  ^keineswegs  alle!)  finden,  die  Philo  auf  den  Logos  gedeutet 

'   *)  Sebr  naiv  bt  Herrioli  Btaad|NUiki  in  Trof^  der  BibeUcritik.  Die  Schwierigkeit  deH 

biblinchcn  Doppelheridif s  von  «l.  r  Schüpftm),'  «Irs  Mpnirhen  (Oen.  1,  2«  uinl  '1.  7)  begeitiKt 
Philo  durch  die  Erklärung,  dal«  un  der  eraten  Stelle  der  IdealmeuMjb,  an  der  zweiten  der 
erste  körperliche  Mensch  gemeint  sei.  über  diese  Erklftrung  urteOt  H.  folgendermabeD: 
. . .  Z/aepHeutioit  tati$fmt  mm  htmrvmmgmA  «W  exigencts  philonophiques:  nom  n'en  connais- 
ton»  pa»  ^mdre      oceonb  «uw  ht  tifyttiilh  de  b  raiten  et  k  ntpeel  d»  teste  iocH* 

»5* 


5d6 


L.  Golm:  Philo  von  Aleundria. 


hat,  aber  keine  ein/.ii^e,  wo  der  Logos  oder  irgend  eine  Spur  desselben  vor- 
kommt. Philo»  Logo»  ist  zwar  eine  Koutiequeuz  stiiiies  aittestamentlicheD  Gottea- 
Rubens,  da  die  auf  die  Spitse  getriebene  TranBoendens  und  Erhabenheit  Gotto» 
ihn  amr  Annahme  von  golüidien  Hittelkiüften  awang.  Aber  er  hat  den  hogon- 
begriff  niehi  ans  dem  Judentum  entlehn^  er  hat  ihn  eich  aelbat  geechaffen  und 
▼erdankt  alle  Elemente  desselben  der  griecliischeu  Philosophie.  Den  Ausgangs- 
punkt bildete  für  ihn  der  stoische  Begriff  dee  X6yo$t  der  die  ganze  Welt  durch- 
dringenden und  in  ihren  Tcilkräftcn  (köyoi  öae^fiarixoi)  sich  überall  aus- 
breitenden göttlithf'n  \'t'niunft,  der  Weltseele.  Philo«  Schilderung  de?*  Lo«^o», 
alles,  was  er  von  ihm  sagt,  «Itokt  sieh  vtillig  mit  dem  f»tfli«»ehen  Logo«.  Nur 
konnte  er  nicht  soweit  gehen,  uiil  deu  Stoikern  die  VVeltseeie  {die  beseelte 

Materie)  mit  der  Gottheit  zu  identifiaieren.  Der  etoiaehe  PantheiBmns  und  Mate- 
rialismQB  war  fttr  ihn  ein  unmSglidier  Standpunkt,  der  Dualismus  Gott  und 
Welt  und  die  Transcendena  d.  b.  Aulserweltlidikeit  Ootfcea  waren  ihm  ab 
treuem  Bekenner  des  jüdischen  Glaubens  feststehende  Grundsätze.  Er  verbindet 
daher  die  wirkenden  Kräfte  (Xöyoi  ensgiiccrixoi)  der  Stoiker  mit  den  Plato- 
nischen Ideen,  die  von  Plato  aufserweltlicli  gedacht  und  auf  die  Gottheit  als 
aulserweltliches  Wesen  zurückgeffihrt  werden.  Ebenso  wie  Plato  denkt  er  sich 
also  die  Ideen  oder  geistigen  Kräfte  i^voifjul  din'RUftg)  auTsemeltlich ,  al>er 
nicht  wie  Plato  aucii  auiderhalb  der  Gottheit^  sondern  in  Gott  selbst,  von  ihju 
anagehend  und  (entsprechend  der  stoischen  Anschauung)  das  Wdtall  durch- 
dringend und  alles  belebend  und  ordnend.  Alle  Idem  oder  Einaelkialte  haben  aber 
(und  das  ist  riellei^t  ein  Gedanke,  den  Philo  selbsiSndig  entwickelt  hat)  ihren 
VerrinigangB-  und  Mittelpunkt  in  der  Idia  r&v  idf^üv,  dem  Logos,  in  dem  sich 
alle  Wirkungen  Gottes  («l  dvva^ieis  &cov)  zu  einer  Einheit  zusammenschliefsen; 
der  Logos  ist  der  allgemeinste  Vennitller  (fQurjVfvg)  zwischen  Gott  und  der 
Welt,  er  ist  das  Werkzeug,  durch  welches  Gott  die  Welt  erschaffen  und  ge- 
ordnet bat  und  sie  leitet  '  >  Eine  Helir  lose  Verbindung  der  Logoslehre  mit  den 
religiösen  Vorstellungen  des  Judeutuma  liesteht  nur  insofern,  als  Philo  die 
Engel  der  Bibel  als  Utdm  oder  als  iwRitng  ^coi^  deutet  und  den  Logos  bia- 
weilen  symboliseh  ab  ^%iiift^  beseidmet,  weil  der  Hohepriester  nach  biblischer 
Anschauung  der  Vermitäw  zwischen  Gott  und  den  Mensch«D  ist 

Kein  Wort  sagt  Herriot  über  die  Wichtigkeit  der  Philonischen  SchrifteB 
für  die  Septuagintaforschung.  Philo  »t  der  älteste  Zeuge  för  den  Septuagintar 
tt  xt,  dessen  hsl.  Ü>»erlieferung  einer  viel  spateren  Zeit  angehört.  Da  Philoa 
Scbrif"ten  voll  sind  von  wörtlichen  Zitaten  und  Anspielungen  aus  den  bibUscben 
Schriften,  insbesondere  aus  dem  l'entateuch,  so  ist  klar,  tlass  sie  zu  den  wert- 
vollsten ililfsmitteln  für  die  Herstellung  des  ursprünglichen  Septuagintatextee^  ge- 
hdren.  Bekanntlich  ist  uns  der  Text  der  alexandrinischen  Bibelfibersetzung  nicht 
In  der  ursprünglidien  Gestalt  und  in  einer  einheitlichen  Form  erhalten,  sondern 

'>  Zcller  III  2',  3«1.  Nach  Schniekel  Dif  Philosophie  der  mitUereu  Stoa,  Berlin  1H92. 
8.  4S0  ff.)  soll  bereit«  Poflidonias  die  Verknüptuug  der  PLatonisdien  Ideen  mit  den  stoischen 
iifot  anfQfimiwal  volliogen  und  Philo  aei&e  ganse  Logoaldiie  am  Poridoniw  g«KhOpfl 
haben.  Der  QegMMtaBd  erfordert  aber  eine  genancre  Untenttobaiig. 


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L.  CSohn:  Philo  von  Alttutdria. 


637 


iu  verschiedeueu  christlichen  Bearbeitungen!  aus  denen  der  Urtext  rekonstruiert 
werden  umb,  eine  Aufgabe,  die  etvi  P.  de  Lugarde  richtig  formuliert  und 
«nsdidi  in  Angriff  zu  nehmen  vereaeht  hai')  Nach  Lagarde  sind  drei  Beien- 
nonen  m  nniencheiden:  die  hezaplarieche,  d.  h.  die  anf  die  Hezapla  des 

Origenes  gegründete  Rezension^  die  hauptsächlich  in  Palästina  Terbreitet  war, 
die  Rezension  des  Hesychius  in  Alexandrien  und  die  des  Lucian  in  Antiochien. 
Die  letzt^^re  ist  in  hestinimten  H.ss.  inierliefort'};  inwieweit  die  anderen  Hss. 
von  den  einzelnen  Hezensiorn  n  >)ecinHulst  sind,  niufs  noch  genaupr  untersucht 
werden.  Daun  erst  kann  festgestellt  werd(Mi,  welche  Rezension  «ieui  ursprüng- 
lichen Text  am  nächsten  steht.  Bei  diesen  Untersuchungen  müssen  also  die 
Bibdntate  Im  Philo  aorgföltig  herangezogen  werden.  Wae  bisher  in  dieser 
Besiehung  geleistet  ist,  genügt  nieht  and  bedarf  in  allen  Punkten  einer  genauen 
NachprOfong.  Nadi  einem  Slteren  Yersuch  Ttm  Homemann*)  und  gelegent- 
lidien  Bemerkungen  von  Z.  Frankel^)  hat  G.  Siegfiried^  den  Versuch  gemacht, 
dnreh  Sanunlang  und  Sichtung  aller  Zitat<^  (ins  Verhältnis  des  Philonischen 
Bibeltextes  zum  überlieferten  Text  der  Septuaginta  festzustellen.  So  verdienst 
lieh  die  Arbeit  iin  sieli  ist,  so  sind  ihre  Rpsnltat-e  doch  mit  grofscr  Vorsieht 
aufzunehmen.  Denn  die  Stellensammlunvr  lieruht  auf  der  iMungejjjcheu  Aus- 
gabe, die  bei  der  unkritischen  Art,  wie  Maagej  das  hsl.  Material  benutzte, 
gerade  auch  in  den  Bibelzitaten  äufimret  nnaUTerlaasig  ist  Dasselbe  gilt  von 
dem  Badie  von  H.  E.  Rjle^),  das  ttberdiee  an  VoUsfindi^eit  aeihr  viel  au 
wOnsohen  llibr^  Uüt^  Die  Arbeit  mnCi  velletiadig  Ton  neuem  onter- 
nommen  werden.  An  vielen  Stellen  mofste  der  Text  der  von  Fliilo  aitittten 
Bibelstellen  auf  Qmnd  der  besseren  Überlieferung  geindert  werden,  oft  stellt 
sich  Übereinstimmung  mit  dem  Septuagintatext  heraus,  wo  man  bi^'hcr  nach 
den  Ausgaben  Abweichungen  konstatiert  hatte.  Genaueres  über  das  Verhältnis 
zn  den  einzelnen  Rezensionen  und  maisgebeuden  Uss,  der  Septuaginta  wird 
sich  erst  nach  der  Vollendung  unserer  Ausgabe  feststellen  iassea.  Nach  den 
Beobachtungen,  die  wir  in  den  bisher  edierten  Schriften  gemacht  haben,  können 
wir  im  allgemeinen  sagen,  dafs  der  FliiloniBclie  Bibeltext  am  meisten  Überein- 
stimmung zeigt  mit  der  Reaension  des  Lncian  und  mehr  mit  dem  Ooder  Alezan- 
drinus  als  mit  dem  Vatieanns.*)  Die  Bibelmtate  bei  Philo  dOrflen  von  groDwr 


'  Symmicta  TT  !H7— 148  AnmniUgnug  aber  neuen  Augabe  der  grieoh.  Oben,  des 
Alten  Test ,  Göttingen  1882. 

*)  Danach  sind  die  hiBtor.  Schrifton  dee  Alten  Te«i.  von  Lagarde  herausgegeben:  Lib- 
renun  Yet.  Test  eaaoo.  pars  prior.,  GOtUngen  1888. 

*)  Spedmea  exercitat.  erit.  ia  Tsnioaem  LXX  mterpcefatm  ez  Philone,  Güttingen  177S 
—177«. 

Ober  den  Einflnh  der  palästiniNheD  Exegese  auf  die  alezandzjjiicelie  Henaenentik, 
Leipug  18Ö1. 

*1  ZfHchr   f  wissonsch.  Theologie  I^T.'V    V^'l  Siegfried,  Philo  vnn  Alexandria,  8.  162. 
Philo  and  Holy  Scripture  or  the  qootAtioos  of  Philo  from  the  books  of  the  Old 
Testament,  London  ISOS. 

»)  Wendland,  B.-.]  Philt)l.  VVochenschr.  189»  8p.  1181  ff. 
Vgl.  Wendland,  Fhüologus  LVÜ  {1999)  S84  ff. 


638 


L.  Odm:  Tliilo  v«hi  Aleimdri». 


Bedeutung  werden  für  den  Nachweis,  dafis  die  Luciansche  Rezension  diejen^^ 
ist^  die  dem  ursprünglichen  Septuagintatni  am  nächsten  tteht,  und  dafo  man 
dra  Wert  de«  Codex  Vaticanue  m  sehr  Qbmchlfat  hat 

Im  letaten  Kapitel  fiifst  Herriot  aein  Urteil  ttber  Pliilo  ala  Philoioplieii  in 

dem  Siitzo  zusammen:  ItOriffinaU^  n'est  pas  le  caradrre  Ic  ßtts  remarquaible  de 
Fhüon,  Mail  kann  dorn  zustimmen:  Philo  ist  kein  originaler  Denker,  alle  Ele- 
mentf  fpiror  Pliilosophie  kann  man  anderweitig  nachweisen.  Herriot  hat  auch 
recht,  wenn  er  weiterhin  sagt,  dafs  Philo  weniger  ein  Philosoph  als  ein  Theo- 
loge war;  er  will  nicht  die  Wahrheit  erst  finden,  Hondern  die  Wahrheit,  die 
ihm  im  Offenbarungsglauben  gegeben  ist,  beweisen,  die  Philosophie  ist  ihm 
nksbt  Selbatswe«^  aondem  Mittel  snm  Zweck.  Di«  histortsolie  Bedeutung  Philoe 
li^  in  der  eigentOmlichen  Axiy  wie  er  den  Sdiata  Yon  philosophiadien  Ldiran, 
den  ihm  die  TorachiedenMi  Schulen  boten,  flbr  seine  Zweeke  verwendet  und 
ihre  verschiedenen  Theorien  miteinander  verknüpft.  Insofern  hat  man  ihn 
einen  eklektischen  Philosophen  genannt,  und  ich  glaube  nicht,  dafs  Herriot  im 
Recht  ist,  wenn  er  ihm  diesen  Chnralrter  abspricht  und  von  ihm  sagt:  U  est 
im  i'rndit  hraiiroup  phts  qu'un  (dfctique :  Irs  rnifyrKnts  qu'il  fait  ü  Unit  d  ä  tuiis  SC 
jK.rtaposnif.  sr  mi'lanijnif,  mnis  ne  sr  cnmbtnmt  jHift,  Das  kann  man  wohl  von 
den  philosophischen  Schriften  der  Jugendzeit  sagen,  aber  nicht  von  den  übngen, 
in  denen  Fhilo  Mine  eigene  ana  den  veraehiedeDaten  Elementen  kombinierte 
Weltanaehannng  darlegt.  In  demselben  Sinne  nnd  mit  demselben  Rechte  wie 
Plutarch  darf  man  auch  Philo  einen  Eklektiker  nennen. 

Wenn  demnach  Phflo  selbst  wegen  der  Unselbslindigkeit  seines  philo- 
sophischen  Denkens  nur  geringe  Bedeutung  beizumessen  ist,  so  haben  doch 
seinf  Schriften  grofscn  Wert  als  ergiebige  Quelle  für  unsere  Kenntnis  der 
Philosophie  und  der  philosophischen  Diskussionen  jener  Zeit,  /.uuml  gerade  aus 
dem  Jahrhundert  vor  Philo  von  der  reichen  philosophischen  Litt<  ratur  sehr 
wenig  erhalten  ist  und  das  meiste  erst  aus  sekundären  Queiieu  gewonnen 
werden  mub.  Sttne  hiatorisohen  Sdiriftra  (Obirfra  Ftaeeum  und  LegtUio  ad 
Ganm)  sind  eine  wertrolle  OeachiehtsqueUe  fBr  die  Zeit  des  Tibetiaa  nnd  des 
Calignla  und  Ar  die  Beurteilung  der  rSmischen  Herrschaft  in  Ägypten  und 
Eleinaaien.  Aber  auch  in  stilistischer  Beziehung  dürfen  Philos  Schriften  auf 
eine  gewisse  Bedeutung  Anspruch  machen.  Philo  ist,  obwohl  er  als  Stilist  zu 
den  best^'n  griechischen  Schriftstellern  seiner  Zeit  gehört,  unvcrdientennafsen 
%'on  den  Philologen  bisher  vernachlässigt  worden.  Für  die  Kenntnis  der  hel- 
lenistischen Li tteratursp räche  und  ihres  Verhilltnisses  zum  Attizismiis  einerseits 
und  zur  VulgUrsprache  andererseits  lassen  »ich  aus  Philos  Schnfteu  durch  ein- 
gehende sprachliche  Untersuchungen  wertvolle  Au&chlüsae  gewinnen.  Der  auf 
gewisaenhafler  PrOihng  der  hsl.  Überlieferung  gegrändeie  Text  unserer  neuen 
Ausgabe  bietet  jetat  eine  sichere  Grundlage  f&r  sprachliche  Forschungen^  an 
der  ea  bisher  gefehlt  hai  Nur  an  der  Hand  eines  gesicherten  Textea  und  unter 
sorgfältiger  Berücksichtigung  der  Hss  in  zweifelhaften  Fallen  können  sichere 
Resultate  über  Sprache  und  Stil  eines  Schriftstellers  gewonnen  werden.  Anderer- 
seits muls  natürlich  der  Herausgeber  eines  Textes  methodische  Kritik  der  hsl 


L.  Cohn:  Philo  von  Alexandria» 


Uberlieferang  mit  «ehirfeter  Beobaehtimg  des  Spradigebisndia  Terbinden.  Die 
nenen  Herausgeber  des  Philo  glauben  nach  diesem  Ch^ndsatz  verfahren  zu  sein. 
Aber  bei  aller  Vorsicht  sind  Fehler  flbendl  unvermeidlich.*)  Wir  wünschen 
anfti  lebhafteste,  dafs  weitere  Untersuchungen  in  der  Richtung,  wie  wir  sie  an- 
gegeben haben'),  auch  von  andorer  Seite  angestellt  werden  und  dabei  unser 
kritisches  Verfahren  einer  Prüfung  unterzogen  werden  mügo. 

Eine  wertvolle  Kontrolle  der  in  grammatischen  und  orthographischen  Dingen 
▼iel&ch  unzuTerliesigen  und  schwankenden  Überlieferung  der  Hss.  bieten  die 
»HB  der  Zeit  Philot  erhaltenen  Inschriften  und  Papymsnrlnuiden.  Wenn  s.  B. 
die  Hss.  swischen  {tyüut  und  4>yiüi  schwanken  und  bald  die  eine,  bald  die 
andere  Fem  bieten,  so  darf  mm  nieht  fiberall  ^yüut  herstellen  wollen;  denn 
dassdbe  Schwanken  finden  wir  in  Insihriften  und  Papyri  ans  jener  Zeit  und 
zwar  auch  in  solchen,  die  gebildete  Verfasser  verraten;  ebenso  in  tafiutov  und 
rafiBlov  und  dgl.  Die  durch  die  äj^yptischen  Funde  töglich  anwirlisende 
Papyrnslitteratur  hat  unsere  Kejintnis  der  xoivij  in  ihrem  doppeltoi  Sinne,  sowohl 
der  gebildeten  Litteratur-  und  Kau^deisprache  als  der  Volkssprache,  in  unge- 
ahnter Weise  bereichert  und  mannigfache  Irrtfimer  beseitigt.  Sic  hat  auch 
gezeigt,  wie  sehr  die  Aimmbnia  einer  ganz  für  sich  allein  stdienden  *bibliiclien' 
oder  'neutestamentlidhen'  Chraeitat  mfehlt  war.  Es  hat  nie  mn  *JndengriediiBeh* 
g^^eben,  und  von  einem  *nentestamentliehen  Spiadiidiom'  darf  heute  nieht 
mehr  gesprochen  werden.  Die  ägyptischen  Papyri  bringen  immer  neue  Beweise 
daffir,  dafs  die  jüdischen  Bibelübersetzer  ond  die  Verfesser  der  neutestament 
lieben  Schriften  kein  anderes  Griechisch  gesprochen  haben,  als  ihre  heidnisebe 
Umgebung.  Die  alexandriniseben  Übersetzer  haben  zwar  in  ihrem  Bestreben, 
wörtlich  7,n  übersetzen  und  iiu(di  den  Ton  des  Urt-extes  getreu  wiederzugeben, 
m  sjutaktiucher  Beziehung  ^ich  zu  sklavisch  an  ihre  Vorlage  angelehnt,  sie 
haben  anch  eine  Ansdhl  religiöser  und  etiuBdier  Begriffe  nengebildet  oder  rw- 
handene  Ansdrficke  zu  sokJien  nnigebildet>  und  die  neutestamentliehen  Schrift- 
steller haben  aokhe  aas  der  Septnaginta  fibemommen  und  weitergebildet  und 
dazu  neue  geaehaffen:  aber  ein  besonderes  biblisches  Lexikon  und  eine  be- 
sondere biblische  Grammatik  (Formenlehre)  giebt  es  nicht»  Auch  in  theolog^- 
seben  Kreisen  bat  sirfi  diese  Erkenntnis  glneklioberweise  neuerdings  Bahn  ge- 
brochen^i  Mancher  Irrtum  wäre  aber  f^'hon  früher  vermieden  worden,  wenn 
man  Philo  besser  gekannt  hätte.    Viele  Ausdrücke,  die  in  den  Wörterbüchern 


'i  Ek  gestattet  ein  Beispiel  anzufahren.  L<"i  üllc^'  TH  «i  7^  habe  ich  zweimal  das 
Wort  xu^tciuc  in  den  Text  geuetzt,  mit  Unrecht;  denn  es  ist  ein  spezitiBch  chrüitlicher 
Anadniek«  der  weder  in  der  Septnaginta  nodi  tonst  bei  Pbilo  vorkommt.  An  der  eisten 
Stelle  tit  e«  wahrscheinlich  interpoliert  und  zu  fltreichen,  an  der  zweiten  dalür  x^i>'S  nach 
den  Hfi  vri^der  einziiFrtren;  nnrh  Tie  iMisf'>r.  Caini  (  145  ist  in  einem  2itat  bei  loann. 
OamascenuB  xaifiaiuitav  statt  xagirtav  geschrieben. 

*)  Prolef.  meiner  Sonderaaiigabe  der  Schnfb  De  opificio  mondi  S.  XLIff.;  Wendlead, 
Philos  Schrift  vriu  der  Vorsehung,  S.  100  ff. 

*)  G.  Adolf  DttilVmann,  Bibelotudiea,  Marburg  1896,  besonder»  8.  57—168,  and  Neue 
Bibelstudien,  Marburg  1S97 


540  Cohu:  Philo  von  Alezaadna. 

mit  der  Noie  ES.  ab  Bolcbe  beMichoefc  werden,  die  anasehlieblicli  ia  der  Idbrdh 
liehen  Litteratnr  TOrkonimeiiy  finden  sich  in  derselben  Form  und  Bedeutung 
schon  bei  Philo,  aucb  wo  es  sich  nicht  um  Ausdrücke  handelt^  die  Philo  m 

dor  Septuiif^inta  ühf^mommen  hat.  ITbcrhaupt  wendet  Philo,  abgesehen  von 
bestimmten  rclij^iösen  termini,  der  Sej)tiiagint}i  pigentümliche  (d.  h.  der  Vnlpär- 
spra^he  angehörendo)  Fomuni  und  Ausdrücke  nur  da  an,  wo  er  liibelstellen 
zitiert  oder  paraph rasiert;  auf  seine  eigene  Sprache  haben  Stil  und  Ausdrucks- 
weiae  der  Kbel  keinm  Einflula  gieliabt.  Philo  MsliTeilil  das  GriechiBch  der  hd- 
ImietitMlien  LitfeeratarBpiaehe,  alt  derm  Typu»  gewShnlieh  Polybius  gilt,  miadit 
ihm  aber  zahlreiche  Formen  nnd  WMtdnngen  der  Uaanechen  Zeit  bei,  die  sonit 
der  itOMrtl  fremd  sind.^)  Man  kann  darin  vielleicht  schon  die  Einwiricong  des 
zu  seiner  Zeit  beginnenden  Ätticisnius  erblicken.  Indessen  kann  auch  die 
starke  Benutzung  uml  Nachahmunjr  l'latos  eine  »gewisse  Vorliebe  für  ivill 
attische  Ausdrucke  und  Formen-  bei  X'hilo  hervorgerufen  haben. 

*)  Z.  B.  if^t^f  ^efiUM«,  c8eaw0tti,  t^pdf^vf,  oÜVav«  mi^imKwHVt  «iqfTtvr  aeb«B 

ihMvvet»,  iifVTttt^tti,  xaroK<Dxii,  iiTröf,  IvTtoc,  itQamf  u.  s.  w.,  rovs  yortlg  und  rov;  rotkis. 
tinärto  rl'-rttTf  und  tlrtov  H-rt .  öfurvnv  and  ^ftv^Mtt,  iftt4H  und  ifUHtm  4|Mve,  ttff4CH9  vbA 
UQtlÖTrHV,  ^äXaotltt  und  ituiutru. 


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V«n  Gustav  Dium.. 

Uui  wird  68  Heinrich  von  Kleist  ewig  Dank  wissen,  daJs  er  in  den  Zeiten 
▼OD  DenteddAiids  ti^ter  Erniedrigung  vor  den  Augen  der  Nation  die  eherne 
Oeatalt  dea  Qrolaen  Kurf&nten  von  den  Toten  anferweckte,  der  anderfhalh 
Jahrhunderte  savor  ana  ähnlicher  Mühsal  allein  dnrdi  die  Kraft  redlichen 

Wollens  und  durch  unermüdliche  Arbeit  sich  heldenhaft  emporrang,  den  zer- 
fetzten hrandenburgisch-preufsischen  Besitz  innerlich  befestigte  und  ahnutitrslos 
zur  sicht  roii  Grundlage  für  ein  mächtiges  deutsches  Reich  formt«'.  Auch  könnte 
man  es  al«  ein  Zeieht-n  des  dcutsehen  Volk<«inj'tinktcs  bt-tiiiehteji,  dafs  von 
aUen  Hohenzoilerudiamen,  an  deuen  dieseö  Jahrhundert  reich  genug,  vielleicht 
BD  reich  ist,  neben  dem  'Prinzen  von  Homburg'  nur  etwa  Wildenbmchs  *Der 
neue  Herr'  eine  bleibende  Bedeutung  erlangt  hat  Sind  doch  alle  jene  Refeimen 
Friediieli  Wilhdms  I.  nnd  Friedricha  H.  nndenkbar  ohne  die  TUitif^eit  ihres 
grofiien  AhnhemL  Ünd  wenn  man  sonst  gewöhnt  ist,  sumal  beute  mehr  als 
S<m8t,  dem  inneren  Waehaen  und  Werden  einer  Nation  den  gedeihlichen  Fort- 
gang ihrer  Entwiekeliinp;  zuzuschreiben,  so  gilt  von  keinem  Lande  Europas 
mehr  das  ehnrakteristisehe  Wort  des  Genfers  rherV»uliez:  Treufsen  könnte  fJber 
seine  Thür  <-rli!->'!VM'n :  Iiier  arbeitet  raun  und  wl-üs  zu  «jehorchen;  dies  haben 
mich  meiiu'  I  üj.stcii  gelehrt.'  War  doch  dies  von  Anhejjiiin  au  der  be- 
sondere Beruf  des  Uohenzollernstammcs.  Nicht  umsonst  hatte  der  römische 
Kaiser  Sigismund,  dessen  Lebenaintereesen  weit  ab  tou  Deatsohland  lagen, 
sdion  1411  SU  Prefrburg  dem  Bnii^rafen  Friedrioh  Ton  Nttmbwg  Branden- 
burg mit  dem  Auftrage  sn  Lehen  gegeben,  *daa  verbrene  Land  wieder  in  ein 
redliches  Wesen  tu  bringen*  nnd  seiner  Überzeugung  von  der  TCicliti^eit 
dieses  Regenten  schon  1417  ZU  Konstanz  durch  die  interessante  Bedingung 
Ausdruck  verliehen .  dafs  er  die  Mark  obiu'  Entfridl  an  die  mannlicheTi  Erben 
seines  Hauses  \vieder/Aige})en  habe  bekanntlich  ^ah  es  sohdie  nicht  — , 
wenn  er  etwa  zum  Kaiser  gewählt  werde.  Es  ist  wunderl)ar,  dal's  zwei  Jahr- 
hunderte später  dem  Grolsen  Kurfürsten  die  gleiche  Aufgabe,  das  verlorene 
Land  wieder  in  ein  redliches  Wesen  zu  bringen'  in  erhöhtem  Mabe  sofiel  und 
erst  4&0  Jahre  iqpfttw  seinem  edebten  Nachkommen  jene  kSchate  Würde  ftber- 
tragen  wurde. 

In  der  Erkenntnis  dieser  hohen  Bedeutung  des  ersten  grofsen  Hohenzollem 
iiat  die  Qesehichtschreibung  der  letzten  Jahrzehnte  sich  auf  das  eiSnfpte  be- 
sehaftigt,  durch  Veröffentlichung  der  archiTaliachen  Quellen  für  die  innere  und 


54S 


G.  Dieatel:  Der  Grobe  Kurftni 


ftiifsere  Politik  jener  denkwürdigen  Zeit  von  1640 — 1688  wie  durch  eingehende 
BehsDcilimg  der  religiösen  und  litterarischen  Zustande,  der  Finarnnrenraltimg, 
der  Wirtschafte-  and  Handelspolitik,  bis  zu  dem  kflhnoi,  fiuit  traumhaften  An- 
fiinge  einer  kolonialen  Welfrpolitik  unsere  Kenntnis  m  erwtttera  und  unser 
Yerstiindui»  zu  Tertielbi,  fSreilich  kSnnte  wohl  noch  ein  Menechenalter  ver- 
gehen, ehe  diese  vielfuchen  Untemehmungf'n  annillienid  bis  zu  einem  Abschluls 
gekommfü  nr-'m  möchten,  und  um  so  dankenswerter  ist  «»h,  daf«  Mariiu 
Philippson  sich  entschlossen  hat,  diesen  nicht  a})zuwarten,  sondern  Hchon 
jetzt  mit  gründlicher  Benutzung  alles  Vorhiiiuleiicii  eine  LebenisbescLreibnng 
des  Grolsen  Kurfürsten  zu  geben,  deren  erster  Band  bis  zum  Jahre  1660  führt 'j 
fiesaTaen  wir  doch  thatsäehlich  noch  keine  einzige  auf  wissenschaftlicher 
Grundlage  beruhende  Lebenabesohreibung  des  Qrolsen  EurfBrsten  aus  diesem 
Jahrhundert  Die  bebumien  und  immer  nodi  beaditeiiswerteii  Arboiten  von 
Qrlioh,  Droysen  und  ErdmannsdörffBr  verfo^en  nidlit  nur  weitere  Ziele, 
sondern  liegen  auch  grörstenteils  weit  zurflck  hinter  dem  Beginn  der  massen- 
hafti'ii  Einzelforschungen,  welche  fast  gleichzeitig  mit  der  Herausgabe  (1864  ff.) 
der  Urkunden  und  Aktenstücke  zur  Geschichte  des  Kurfürsten  Friedrich 
WiUielm  von  Bnmidcnbnrg  ihren  Anfang  nahmen.  Demnach  erschien  es  als 
eine  nn  höchsten  (Jrude  würdige  Aufgabe  für  einen  weitsehenden  und  auf 
ver;'chiedenen  (ie})i(ten  bewährten  Geschichtschreibor,  mit  vollkommener  Be 
nutzung  des  inzwischen  neu  ausgegrabenen  und  zusammengetragenen  Materiab 
die  Qesfeslt  des  thafkiiftigen  Hdienzollem  in  die  Mitte  seiner  Brtlhlung  za 
stellen  und  die  Geschichte  seiner  Regierung  dar  seines  Lebens  anzugliedern. 
Zu  diesem  Zwecke  kam  es  ihm  awar  nicht  darauf  au,  aus  ArchiTsn  und 
Bibliotheken  neuen  Stoff  zusammenzutragoti,  aber  er  benutzte  doch,  wo  ihm 
das  gedruckte  Material  nicht  zureichte,  hin  und  wieder  auch  handschriftliche 
Werke,  Mitteilungen  und  Briefo  aus  dem  Geh.  Staats-  und  Kriegsarchiv  oder 
aus  der  Kg!  Bibliothek,  so  iibi  r  die  Jn^endfjrHchichte  des  Kurfürsten,  die  Au*? 
stattung  und  Einkünfte  der  Kurfürstin,  die  militärischen  Zustände  und  da* 
politische  Verhältnis  zu  den  Niedorlanden.  In  erster  Reihe  galt  cs>  jodoi  h,  die 
Ernte  anzutreten  aus  den  vielen  Einzelschriften  über  die  Beziehungen  des  Kur- 
lllrsten  zum  Bheinbunde  (Joachim  and  Pribram),  zu  Schweden  (Breutdcer, 
Odhner)^  zu  den  Niederlanden  (Wicquefort^  Siccama),  fibw  seine  Eircheiipolitik 
(Lehmann  und  Landwehr),  SMnen  Geheimen  Bat  (Heinardus),  seine  Beamten 
(IsaaosiAii),  seine  FinaDse»  (&ejsig),  seine  Kdonialpditik  (Schtt<&),  seine 
Handwerksgesetagebung  (Mor.  Meyer),  über  seine  Kriegsobersten  (Mömer),  über 
(b  71  f  >  hndienst  (Jany),  die  städtischen  (Jastrow),  die  bäuerlichen  und  gutsherr- 
lichen  Verhältnisse  ((TrofsniRnnV  endlich  über  die  hrandenburgische  Publizistik 
(Münzer),  ja  über  iles  Kurfiirsten  Beziehungen  /.ur  niederländischen  Maierei 
(P.  SeidelY  Anfsi  rdem  ziejit  Pliilippson  eine  so  i^rofse  Zahl  von  Aufsätzen 
aus  Zoit.Hcluiiten,  von  Dissertationen,  Biographien,  Memoiren  und  Briefwechseln 


•)  Marl.  Philippson,  Der  Grofso  hurtürst  Friedrich  VVilheim  von  BrandeBburg.  I.  Teil: 
INO— 1«60.  Berlin  1897,  8.  CroBl>ach.  711,  46S  S.  gr.  8. 


G.  DiMtelt  Der  Qrofiw  Kwliint. 


543 


heran,  daJ's  die  Ajinaluue  bereclitigt  erscheint,  er  habe  solche,  die  er  ni<ht  an- 
Aihrt  —  z.  B.  Brandes,  Gesch.  der  kirchlichen  Politik  des  Hauses  Braudeubuig 
(1873)  oder  Mülversiedt^  Die  brandenburgische  Eriegnnacht  unter  dem  Gr.  Kur- 
fitrsfcen  (1888)  — ,  für  minderwertig  oder  dareh  neuere  ttherbroffen  erachtei 
Auf  eine  aneftOurUche  Anseinandmelmmg  mit  anderen  Darstellem  und  Dar- 
•tellmagen  Terzichtet  er  im  allgemeinen,  verlegt  sie  mit  Recht  in  die  An- 
merkungen imd  thut  flie  gelegentlieh  mit  wenigen  Worten  ab.  Am  meisten 
därfle  es  den  Kenner  Oberraschen,  dafs  er  der  'überschwänglich  gnnstigen 
MflnuTH.r',  dif  Mcinardtis  von  Adam  von  Schwar/ciibcrir  htHrt,  der  ihn  als  einen 
brandenburgischen  Richelieu,  den  Schöpfer  des  atcheinien  iicercj*  und  d«»n  Be- 
wältiger der  egoistischen  Stände  bezeichnet,  nicht  unbedingt  zustimmt.  Überall 
ist  es  ihm  mehr  darum  zu  thun,  das  Wachsen,  Wollen  und  Wirlcen  des 
jungen  Herradiera  tot  Ang^n  m  ftthren.  In  dieeem  Sinne  betitelt  er  die 
Geectaidite  ieiner  Jugend  und  der  ersten  fQn&ehn  Regierongsjahre  im  ersten 
Buehe  als  'die  Lehijalire'.  Dranoeh  versdunSht  er  es,  das  zweite  Badi,  Welches 
die  notgedningeno  Beteiligung  des  Kurfürsten  an  dem  schwedisch  pnlnisilien 
Kriege  und  sein  Aufsteigen  zu  einer  Grolsmachtstellung  behandelt,  als  die 
Wanderjahre  zu  bezeichnen  und  betitelt  imr  mit  den  Ül)erfich' iflen:  'Der 
Nordischt'  Kri'  tr  Die  Selbständigkeit.'  Am  iru  ij^ten  dörfte  es  beir»  mden,  dafs 
er  im  dritttn  Buche  mit  der  Überschrift  'Innere  Zustünde,  IG-iO— lÜliO'  die 
Darstellung  des  Kampfes  mit  den  Ständen,  die  Minister  Wechsel  und  eine  lange 
Reihe  von  Reformen  daxstellt,  weleha  awar  Aam  Teil  nur  als  Anfinge  er- 
seheinen, aber  im  ganzen  mehr  in  die  Zeit  der  Lehijahre  fiüien  und  das  machte 
volle  Auftreten  des  Kurfllrsten  im  Nordischen  Kriege  erst  erUlrUch  machen. 
Die  natOrliche  Folge  dayon  ist,  dafs  manches  wiederholt  wird  oder  uls  VerroU- 
standigung  von  irflher  Behandeltem  erscheint.  Immerhin  zeugen  diese  kleinen 
Mangel  (h)ch  nur  von  der  grofsen  Sohwiprifrkeit  des  Unternehmens  und  von 
der  noch  gröfseren  Verdienstlichkeit,  die  kolos^sali'  Masse  neuer  Fundgruben 
des  Wissens  einmal  zu  sichten  und  einem  groiken  Leserkreise  zugänglich  zu 
machen. 

Die  Darstellung  der  ersten  vierzig  Lebemgahre  Friedricih  Wühehns  zeigt 
seine  mnere  Befreiung  von  mancherlei  Irrtttmwn,  die  mit  ihm  geborra  oder 
anferaogen  waren,  bis  xum  Tollkommenen  Erfiunen  des  neaw  Btaatsgedankens, 
nach  welchem  nicht  der  Staat  im  Herrscher,  sondern  der  Herrscher  im  Staat 
an^gehoi  habe  und  dadurch  würdig  werde,  alle  selbstsüchtigen  B<;8trebungen 
von  anderer  Seite  mit  allen  Mitteln  des  Rechtes  und  der  Gewalt  mm  Wohle 
des  Ganzen  heldenhaft  niederzuwerfen.  Am  Scbltisse  dieses  ersten  Bandes 
scheint  die  Sonne  der  fürstliehen  Souveränität  bereitH  auf  die  (irundhitren  eines 
organisch  gegliederten,  trtülieh  verwalteten  und  wehrhaften  deutsehen  Staates. 

Fast  wie  ein  Roman  liest  sich  die  Jugendgeschiehte  dieses  eigenartigen 
Helden.  Geboren  am  6.  Februar  (a.  Si)  1620,  also  in  demselben  Jahre,  da 
der  Bruder  seiner  Mutter,  jener  Friedrich  V.  von  der  Ffaht,  mit  einem  SeÜage 
seine  bflhmisehe  Königskrone  wie  seinen  pfSlzisehen  Kurhut  verlor,  wiurde  der 
siebenjährige  Knabe  vor  den  plQnderungssfflehtigen  Horden  Wallensteins  zuerst 


544 


G.  Diestel:  D«r  Orobe  EnvAnt. 


im  Jagtlscliloase  Letzlmgeu  mitten  im  tiefen  Walde,  und  als  auch  dieses  nicht 
mtker  genug  schien,  hintor  den  Mmmvh  dar  Festmig  Fibrin  geborgen.  En 
längn«r  Besach  in  Wolgast  bei  Marie  Eleonore,  der  Behweefter  aelnee  Vaters 
und  Gemahlin  Onstar  Adolfi^  braehte  1631  dem  eUgahiigm  Prinaen  das  Vorbild 
des  gtofaen  SchwedenkSnigs  vor  Augen,  der  ein  Jahr  später  fOr  die  Erhaltung 
des  l^rotestaiitismus  und  des  Geimanentunis  sein  Leben  verlor,  und  bald  daranf 
wurde  der  Dreizehnjährige  wegen  der  Un.sicherheit  in  den  Marken  und  wegen 
nncr  Souphp,  die  das  Kriegselend  orzewrrt  liatte,  711  dem  kinderlosen  Ht-raog 
BogL'^law  von  Pommern  geschickt,  dessen  Land  er  als  sein  künftiges  P^rhttil 
zu  betraelitf'n  und  zu  lieben  begann.  Von  höherer  Bedeutung  jedoch  für  die 
geistige  AuHbililuiig  des  flirsthdicn  Jünglings  war  sein  Aufenthalt  in  den 
Niedeilandeii  and  an  dem  Hofe  seines  Verwandten,  des  dortigen  Statthiilten 
Friedrich  Heinrieh  von  Oranien  seit  dem  August  1634.  Hier  trat  Sun  som 
erstenmale  ein  wohlgeordnetes  Staatswesen  vor  Augen,  mit  seiner  Wehrloaft 
nadk  aulsen,  mit  seiner  Blüte  von  Kunst  und  Wissensehaft  und  mit  seinem 
Reichtum  durch  Seefahrt  und  ^ndlung,  während  sogleich  der  Verkehr  mit 
seiner  hochgebildeten  Tante,  der  verwittweten  Königin  Elisabeth  von  Böhmen, 
und  ihren  anmutsvollen  Töchtern  spinem  Gemüte  reicht-  Nahrung  l)raclit€\  Die 
anmutige,  oft  wiederholt^'  und  vielfach  gemalte  Erzählung  von  seiner  Flucbt 
aus  dem  üppigen  Haag  in  das  Feldlager  des  Oraniers  beschränkt  sich  auf  die 
Thatsache,  dafs  sein  Orouverneiir  Leuchtmar  die  Übersiedelung  vom  Haag  nach 
Amheim  dnrohseixte  und  der  Kurprinz  von  hier  aus  der  eigenen  Neigung 
folgend  vriederholentlich  im  Feldlager  erschien,  oder  aus  edelston  Wiasenseifer 
in  Amsterdam  und  soderen  Seestädten  sich  aber  den  Handel  und  den  Schiffbau 
nntenriditete.  Durch  diese  meihi:^hrige  Entfernung  von  Berlin  und  durch  die 
Sdüirfung  des  freien  ümblicks  und  Ebblicks  kam  schon  damals  sein  Wider- 
vrillen  gegen  den  allmächtigen  Minister  seines  Vaters,  den  fränkischen  iii  icbs- 
gnifon  Adam  von  Schwarzenberg,  zur  vollen  Keife.  Es  empörte  den  sechzehn- 
jährigen Prinzen,  dals  dieser  als  Süddeutscher  und  Katholik  unabliissig  den 
Kurfürsten  Georg  Wilhelm,  dessen  Willen  er  ganz  beherrschte,  zum  on^fen 
Anschlufs  an  das  Haus  Osterreich  trieb  und  durch  den  Beitritt  Brandenburgs 
zum  Prager  Bündnis  das  unglfldcliche  Land  der  Plünderung  und  Verwüstung 
durdi  die  Schweden  preisgab.  Er  glaubte  vrirklich  an  das  Härchen,  dab  der 
Bursdie  mit  blofiwm  Doiehmesser,  welchen  man  einst  anter  seinem  Bett  in 
Eüstrin  entdeckt  hatte,  von  Schwanenberg  hesahlt  gewesen  s«,  xmA  dafii  dieser 
seinen  Aufenthalt  in  Holland  nur  in  der  Hofihung  geraten  habe,  er  werde  dort 
umkommen.  Als  ihm  im  Juni  1636  des  Vaters  Befehl  zukam,  sich  *  wegen  der 
in  Holland  wütenden  Pest*  zu  ihm  tiach  Königsberg  zu  begeben,  in  Wahrheit^ 
weil  man  fürchtete,  dafs  er  sich  mit  Luise,  der  vierzehnjährigen  Tochter  der 
KiMiigiii  von  Böhmen  verlol)en  wolle»  und  weil  die  kleveschen  Stände  dringend 
iluj  zum  St^itthaltt;!-  verlaugten,  zögerte  er,  trotz  der  Androhung  'der  höchst-en 
Ungnade',  ja  'der  Verstofsung*  bis  zujii  Mai  des  Jahres  1638.  Trat  nun  aucli 
eine  wenigstens  Sufiwrliche  Vetsämung  mit  dem  Vater  ein,  da  der  Enrprint 
notgedrungen  joaer  jugendlichen  Heraensneigung  entsagte,  so  blieb  das  HU»- 


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Di«ai«l:  Der  Gidae  KurfUnt« 


645 


traueu  gegen  Adam  von  Schwarzenberg  ducii  daitselbe.  Als  er  nach  einem 
CiMtmaUe,  dM  dimmr  dem  Hofe  gab,  an  den  Ifaaeni  «tankte,  war  er  flber- 
lengt,  vergiftet  sn  sein  und  wbriel»  sogar  den  Tod  aeinea  erst  vierundTienng- 
;^lunigen  Vaters  am  1.  Desember  1640  dem  von  SchwaraenbeTg  ihm  gereichten 
Giftwein  zu.  Unter  solchen  Umständen  war  es  kein  Wunder,  dab  *der  neue 
Herr*  nicht  gesonnen  war,  den  katholischen  Minister  an  seiner  Seite  die  Rolle 
einps  Richelien  spielen  zu  lassen,  nach  welcher  der  energische  und  immerhin 
staatslduiit'  Qrnf  liisht-r  i\\c\d  verj^blich  gestrebt  butto,  aber  noch  war  die 
Zeit  nicht  gekomnu'ii,  'l' n  i it  waltigen  offen  anKuta^ten. 

Friedrich  Wilhelm  iiat  selbst  dreilsig  Jahre  später  den  Zuätaiul  seiner 
Lamle  mit  folgenden  Worten  geschildert:  *Ich  habe  hei  meinem  Regierungs- 
antritt keine  Freunde  gefunden,  sondern  nur  Feinde  und  teine  Mittel  geg^ 
diese;  aUe  meine  Ämter  und  Gef&lle  waren  versets^  die  Eurlande  Ton  Freund 
und  Feind  gleich  verwüstet,  die  Feetungen  rom  Notdfirfl^^ten  entbldCst  und 
gleichsam  in  feindlicher  Haltmit;.'    Hätte  doch  schon  in  friedlichen  Zeiten  der 
Besitz  des  fernen  Preufsens  und  der  kleveschen  Rheinlande,  wie  der  Anspruch 
an  PoTnmnrTi  und  an  das  schleaische  Jägpmdorf  eine  diplomatische  imd  mili- 
tärische Kruftaustrengung  nach  vier  Seiten  zugleich  orfordt'rt,  aber  wo  sollten 
die  Mittel  dazu  herkommen,  seitdem  der  schreckliche  Krieg  seit  zwanzig  Jahren 
die  Marken  in  eine  Wüste  verwandelt  hatte?    In  den  Stildten  wie  auf  dem 
platten  Lande  war  die  Zahl  der  Seelen  im  Jahre  1643  auf  den  vierten  Teil 
httabg^ommenj  die  Einwohnefsebaft  der  Doppelstadt  Berlin-CSUn  war  wohl 
nur  TOn  12000  auf  6000  SeelMi  gesunkeu  und  von  ihren  1209  Hausem  standen 
350  leer,  aber  Brandenburg  hatte  statt  12000  nur  noch  2500,  Prenzlau  statt 
9000  nur  6(K),  die  kleine  Stadt  Strasburg  in  der  Uckermark  überhaupt  nur 
n  Btlrt/cr;  es  gab  Quadratiripilfn ,  auf  welchen  weder  Mensch  noch  Tier  übrig 
^eblicljL'ii  war,  so  dais  man  wedt  r  säftf»  noch  emt^t^.    Schlimmer  noch  war 
der  (ieist  des  Widerstandes,  der  Kleinlichkeit,  Gehässigkeit,  der  Selbstsucht 
und  der  Habgier,  die  niidit  nur  Laudedelleute,  sondern  auch  Beamte,  Richter 
und  Offixiere  bwweUen  zu  offenem  Yerrai  geneigt  machte.   Ohne  Scheu  ver- 
weigerten die  Offiziere  dem  jungen  Kurf&rsten,  der  in  vollem  Vertrauen  auf 
den  göttlichen  Beistand  und  in  dem  redlichen  Streben,  nicht  für  sich  allem, 
sondern  für  sein  Land  und  Volk  zu  arbeiten,  anf  scino  Mfinzcii  das  Wort 
schreiben  liefs:  'Pro  Deo  et  populo',  den  militärischen  'rn  iit  id,  und  der  all- 
mächtig'P  *Dir«>1it()r  (b-s  Kriegswesens'  titnl  'Statthalter  dvv  Marken',  der  Graf 
Schwarzenberg,  bestärkte  sie  in  ihrctri  Widcrstaiul«-  o(U'r  verhinderte  ihn^  Bo 
ntrafung  und  ^inf?  endlich  so  weit,  die  Kaistrlichea  und  die  Sachnen  in  das 
Land  zu  rufen.    Nun  aber  war  »eine  Stunde  gekommen.    Der  junge  Kurfürst, 
der  in  Berlin  aus  Mangel  an  Mitteln  lur  Versorgung  der  Hofkttche  wieder- 
holentltch  vom  Berliner  Magistrat  *fDn&ehn  Hialer*  entleihoi  mulste  und  den 
die  verrannten  Intiheriseben  Geistlichen  allsonntBglich  als  einen  caivinischen 
Sakramentsschänder  ausschalten,  hatte  e.i  bald  nach  seiner  Thronbesteigung 
vorgezogen,  im  f«  rnfn  Kön Imberg  Wohnung  zu  nehmen  und  von  dort  aus 
Sehwarsenberg  mit  iMshiueichelhaften  Worten  in  seiner  Würde  zu  bestätigen; 


546 


a.  DieBteli  Der  Otofee  Knrflnt 


nun  aber  verbot  er  den  Kommandanten  seiner  Feahingen  in  der  Mark  mit 
höchst-er  Entscbiedenheit  die  Aufnahme  einer  kaiserlichen  oder  sachsiBphen  Be- 
satzung, entzog  Jeiu  bisher  AUmächtigeu  die  Leitung  der  auüwiirtigcüi  An- 
gel^enheiten  vead  verlangte  genaue  Beehensdialt  QbM-  seine  CtonbKflsftQiniog 
wUirend  der  lefesten  Jahre.  Als  die  abtrttnnigeii  OfiBziere  nodi  der  Hoffiiimg 
lebten,  Sdiwaraenbog  werde,  wie  ein  aweitor  Wallenstdii,  offen  gegon  seinen 
Hrnm  auftreten,  warf  diesen  ein  Schlagan&Il  am  14.  Mars  1641  auf  die  Toten- 
bahre. Vou  dem  zweihundert  Jahre  ihm  vorgeworfenen  Landesverrat  hat  die 
Geschichtiorschung  dieses  Jahrhunderts  den  katholischen  Fremdländer  voll 
kommon  z»i  n'inis^en  vermocht;  mir  der  Vorwurf  gewissenloser  Habgier  auf 
Kostt'ii  des  vt-rwüsteten  LhiuIcs  und  des  verarmten  LaiidcslRTin  ist  unan- 
gefochten geblieben.  Als  der  .junge  Graf  Johann  Adolf  von  Scbwarz.eiibertr  an 
die  Spitze  der  Aubüuger  seines  Vaters  und  der  auistäudischeii  Offiziere  trat, 
ernannte  Friedrieh  Wilhehn  seinen  idUshsten  Verwandtem  und  Bräutigam  seiner 
Schwester,  den  Markgrafen  Emst  von  Jagemdor^  som  StatUialter  der  Marken^ 
Uels  die  Stande  ausammen  berufen  und  nötigte  den  kecken  Qewalthaber  durch 
Androhung  eines  Hochverratoproseeses  mr  seUeunigen  Flucht  nach  Öeterreich 
(August  1641).  Freilieh  drohten  nun  die  Kaiserlichen  und  die  Sachsen,  den 
Kurfürsten  für  seinen  anffei)lif;hen  Abfall  vom  Prager  Büiidnisso  (1635)  zu 
strafen,  nnd  andererseits  durelizogen  die  Schweden  pifinderiul  niul  mordend  «bi>* 
Land  oder  schlugen  sich  mit  den  veraweifelten  Bauern  in  iVmnliebeu  Gefechten 
herum,  aher  der  Kurfürst  erlangte  im  Einverständnis  mit  den  friedebedürftigen 
Stünden  doch  endlich  durch  eine  Ubereinkunft  mit  den  Schweden  die  Schonung 
seines  Landes  und  befreie  dies  zugleich  ven  der  eigenen  aufrUhreriacheii 
Soldateska,  indem  er  sie  als  'getreuer  VaHall'  don  Eaisor  zu  Hilfe  sandte^ 
Ebenso  gewann  er  auch  in  dem  kmem  Preubra,  dessen  Handel  durch  einen 
SeesolhuseUag  fBr  den  polnisdien  Oberlelinaherm  dem  Ruin  nahe  war,  besaere 
Bedingungen,  als  AT  am  7.  Oktober  1641  in  Warschan  persönlich  zur  feier- 
lichen Belohnung  eracdiien  und  nicht  nur  dem  Könige  ein  Geschenk  von 
4(XH^>  Gulden,  sondern  mich  der  Königin  ein  solche«  von  20(X>0  verhief?. 
während  er  in  seinem  er;ui/.  deutschen  ller/en  den  Wunsch  und  die  lloftnmig 
verschlofs,  dafs  dies  die  letzte  lieiehuuug  eine«  Henogi  von  Preuisen  durch 
einen  polnischen  König  sein  möge. 

Trotz  dieser  kleinen  Erfolge  war  und  blieb  die  Li^  des  Kurfürsten  und 
seiner  Linder  wahrhaft  rersweifdi  Wfihrend  sich  in  Kleve  und  Mark  ab- 
wechselnd die  Holländer  und  die  Hessen  festseteten,  in  dem  benachbarten 
Jfliicb  der  katholische  Pfalsgraf  Wo]%ang  Wilhehn  die  HfiUe  der  Spuiier  fSr 
sieh  hatte,  eqprefsten  die  Sdnveden  unter  Torstenson,  die  Kaiserliehen  unter 
dem  Sisheraog  Leopold  Wilhelm  von  den  unglücklichen  Märkem  alles,  was 
ihro  zuchtlosen  Scharen  zum  Lebensunterhalt  und  zur  Befriedigung  ihrer  LüsU 
bedurften.  Weder  von  dort  noch  von  hier  gelam^teu  die  fälligen  Bezösr»^  in 
«lie  Kassu  de.s  Staat#*s  oder  des  Land«  slierrn.  und  nur  vorübergehend  schutVa 
die  Wandelungen  in  der  Politik,  so  der  plötzliche  Eingriff  Dänemarks  lu  die 
Ytt'haltnisse  des  Nordens,  eine  kur/e  Pause  oder  ein  mit  schwerem  Gelde  er- 


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G.  OiMtel:  Der  Orofim  KnrfDnt. 


547 


kauftts  Versprechen,  den  Eriiressunf^e»  ein  Ende  zu  machen.  Mit  gierigen 
Blickeu  schauten  die  Nachbarn,  die  grol'sen  wie  die  kleinen^  über  die  Orenzen 
des  verSdeten  Landes,  die  QeBeralstaaten  sannen  auf  den  Besitz  von  Kleve  und 
Ibrky  der  Kumt  dachte  aa  Brandenburg  als  an  *eme  fette  Henne',  Polen 
suchte  nur  emea.  AnlaGi,  um  sich  Prenfeens  an  bemächtigen ,  und  Schweden 
Pommem  nm  so  fester  m  der  rauhen  Haad^  da  die  BerSlkernng  offen- 
kundig  dem  Kurfttrsten  zugethan  war.  Nie  war  daH  verarmte  und  zerfetzte 
Land  seinem  von  dir  A'nrsehung  besttnunten  Berufe,  einet  der  Soekel  fQr 
Deutschlands  Ororsniuclitstelhing  zu  werden,  ferner,  dem  Untergange  naher. 
Allein  die  unvcnlrosst'iit'  Thütigkeit,  die  rastlose  Enerpi<\  Au>  weitsphondo  Klug- 
heit uiul  das  stolze  National-  und  Ehrgefühl  des  jugendla-hen  Fürsten  bat  es 
gereitet  und  erhoben.  In  »einer  grofsen  Bedrängnis  folgte  er  dem  Ilate  des 
geistvollen  und  diplomatisch  geschickten  Gerhard  von  Leuchtmar,  des  klugen 
nnd  kidm«i  Konrad  Ton  Bnrgsdorf  wie  des  thatenlustigen  Generals  Johann 
von  Norprath  nnd  sachte  das  Heil  sowohl  in  der  SchSpfung  eines  stehenden 
Heeres  als  auch  im  Btmde  mit  irgend  ein»  auswärtigen  Grolsmaeht 

Um  sich  in  dies« »  'martialischen  Zeiten  mit  dem  Degen  in  Respekt  und 
Antoritit  an  setaen',  betrieb  er  1644  mit  £ifer  die  Bammlung  imd  Aus})ildung 
eines  stehenden  Heeres,  da?  schon  nach  zwei  Jahren  über  77(K)  Soldaten  und 
5 — ('»rKXt  Milizen  zahlte.  Da  von  den  Stünden  iVeulscns,  des  einzisren  zahhings- 
fahigeu  Laiuk-s,  keine  Geldhilfe  zu  erwarten  war,  weil  sie  /.u  st  lir  für  ihre 
Libertät  fürchteten,  brachte  er  die  Kosten  aus  seinen  Eigeubezügen ,  dem 
Pillauer  und  Hemeler  Zoll,  aus  Verpachtungen,  Verpfändungen  und  Holz 
▼erUnfen,  *w  '^^^'^  ^  freiwilligen  Beiträgen  snanamen  nnd  Teimochte 
zngleidi  diplomatisch  geschidct  die  Hifegnnst  des  Kaiserhofes  wie  das  Übel- 
wolkn  der  polnischen  Republik  m  entkräften. 

Um  ansirärts  eine  StQtBe  sn  gewinnen,  knQpfte  er  zunächst  mit  Frank- 
reich und  nüt  Schweden  an.  Jenes,  zur  Zeit  selbst  durch  intelligente  Minister 
im  Aufschwung  b^rriffen,  schieß  begierig  in  die  Hand  des  thatkräftigen  jungen 
Fünften  ein,  versprach  ihm  Hilfe  mit  HfiTirn  Abstiebten  auf  Pommern  und 
Jülich  und  bot  ein  'tranzösifichos  Kräuicin'  zur  Ehe  an.  Schon  erbat  sich 
(1*>46)  d  Avaux  von  Münster  aus  das  l'ortriit  Friedrirh  Wilhelms  für  die  be- 
kannte Grande  Mademoiselle,  die  achtzehnjährige  Toehter  Gastons  von  Orleans, 
die  reichste  Erbin  Frankreichs,  allein  rechtaseitig  schreckte  der  Kurftrst  vor 
der  Aussicht  xarfldE,  dem  anlstrebenden  nnd  l&ndergierigen  Könige  blols 
YMallendienste,  Tielleicht  gar  gegen  seinen  ^iser  leisten  xu  müssen  irad  sog 
seine  Hand  wieder  anrflek.  Fast  ^eichaeitig  fimd  auch  der  schwedische  Heirats- 
plan seinen  Äbschlufs.  Eine  Hexsenssache  war  er  nie  gewesen.  Dem  jungen 
Hohenzollern ,  der  schon  im  Alter  von  16  Jahren  einer  Jugendliebe  zu  Luise 
Hollandine,  der  Tochter  des  pfälzischen  Böhraenkönigs,  tapfer  entsagt  hatte, 
lag  bei  seiner  Wahl  aufser  der  Fortpflanzunfr  seines  Stammes  allein  die  \'cr 
grtifsi'rung  seines  Landes  uml  die  Verstärkung  seiner  Maebt  im  Sinne.  Dai» 
ihn  die  Köniffskrone  einer  (fror>maeht  lockte,  ist  selbstverständlich.  Schon 
GuÄtav  Adolf  hatte  von  der  Verbmdung  seiner  Tochter  Christine  mit  dem  auf- 


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548 


0.  Dieitel:  D«r  Orofie  Knrfllnt. 


gewedien  Vetter  gesprochen,  und  Mine  Witwe  Uarie  meonore  von  Branden*- 
bürg  tfaat  allee,  am  ihn  der  ai^tsehi^lhrigen  Königin  m  empfehk«.  Sie  selbst^ 
nnbereehenbur  in  ihren  ewig  wechselnden  Zn-  und  Abneigungen,  nannte  ihn 

Bpöttisch  wegen  seiner  kunen,  gedningenen  Gestalt  da.s  'Burgermeisterlein'  ond 
xeigte  Lus^  überhaupt  unvermahlt  zu  bleiben,  die  schwedischen  G^roisen  waren 
mchi-  ihrem  anderen  Vetter,  dorn  in  Schweden  j^eborenen  und  er7:f»genen  Karl 
Gustav  von  Pfala-Zweibrürkci  [Kurl  \.)  zugethan,  bt>ide  aber  waren  ebenso 
ab<;eruM<^t.  einen  Herrn  üJki  wulteii  zu  lassen,  wie  der  Kurftlrst  abgeneigt 
war,  der  Königin  'bWk  etwan  als  ein  Kümmerer  autzuwarteji'. 

üm  80  adineUer  kam  nun  im  Jahre  1646  die  Vermahlung  dea  KnrfBiaten 
mit  Lniae  Henriette  ron  Oranien,  der  nennaehnjShrigen  Tochter  dea  nieder- 
ländischen Statthalters  Friedrich  Heinrich,  au  stände^  durch  die  er  dm  Absehlofii 
einer  'festen  und  nahen  Alliance*  mit  den  Generalstaaten  zu  gewinnen  bolBRe^ 
wie  er  ihnen  in  einer  Sitzung  am  23.  Nor.  1646  persönlich  erklärte.  Wegen 
der  zunehmenden  Schwäche  des  A'aters  —  Friidricli  Heinrich  starb  bereits  im 
März  1647  —  wurde  die  Vcrmiiiüung  bem-bleuiiiift.  Sie  fand  schon  am  t).  Dez. 
*in  der  Enge  uiul  ohne  einige  Weitläufigkeiten',  wenn  auch  mit  dem  üblichen 
Prunk  in  Kleidern  und  Juwelen  statt.  Die  Mitgift  der  Bmut  betrug  nickt 
mehr  ab  130000  Bthhr.,  ihre  Anarteuer  war  reich  an  Juwelen  und  goldenen 
Get&t8cbafleD,  um  so  ärmer  an  WSsche  (s.  Philippson  S.  447).  Ihr  H^  war 
zonäcIiBt  nicht  dabei,  weil  auch  sie  erst  die  Jugendliehe  au  dem  anmntigm 
Prinaen  Heinrich  Karl  von  Tarent  Überwinden  mufste,  der  in  holländischen 
Diensten  stand.  Ihr  Pflichtgefühl  und  ihre  Frömmigkeit  —  die  ihr  zu- 
geschriebenen Lieder  hnt  sie  jedoch  nicht  verfafst  —  halfen  ihr,  sich  in  ihr 
Schicksal  zu  tinden;  ihre  edle  Weiblichkeit,  die  zugleich  den  Glanz  äufserer 
Schönheit  ersetzen  mufste,  und  di<'  Bewuiulening  des  charakt«r-  und  geistvollen 
Gemahls,  der  ihr  trotz  mehrjälu'iger  Kinderlosigkeit  uuwaudeibai-  treu  blieb, 
befeBtigien  später  daa  eilig  und  kalthendg  durch  die  Politik  geknüpfte  Band. 

In  seiner  Hoffiiui^  aber  auf  einen  Bund  mit  den  Oeneraiataaten  sah  sich 
dßt  junge  Eorftrst  bald  ToUkommen  getSusdbii  Als  er  dm  Kampf  mit  dem 
Pfiafaignifen  Wolfgang  Wilhebn  um  Jülich  und  Ravensberg  wieder  aufinahm» 
blieb  er  ohne  ihren  Beistand  und  mufste  zufrieden  sein,  durch  einen  neueu 
Vertrag  zu  Düsseldorf  (April  1647)  sich  den  bisherigen  Besitz  und  den  Jülich 
bergiscben  l*rotestanten  ihr  Bekenntnis  zu  sichern.  Um  so  wertvoller  war  für 
den  aufstrebenden  Ffirsten,  den  die  katholischen  Mächte,  Österreich  und  f*olen, 
gewaltsam  niederzuhalten  und  womöglich  zu  erdrücken  strebten,  die  Vermitte- 
lung  des  energischen  und  geistvollen  französischen  Gesandten  d'Avaux  in  Osna- 
brQ^  in  dem  Streite  mit  Schweden  Ober  den  Besita  von  Pommern.  War  ea 
auch  unm^lich,  den  habgierigen  Vertretern  Schwedena,  Johann  Oxenatiema 
und  Salvins,  die  insgeheim  noch  mit  25  und  SOOOO  Thalexn  bestochen  worden 
mufsten,  das  ganze  Pommern  zu  entreifaen,  so  erlangte  BnuuU  nburg-Preufsen 
doch  schüefslich  (Febr.  1047)  durch  die  Bistümer  Minden,  Halberstadt  und  die 
An«>*iicht  anf  Magd^'bnrg  für  die  12(>  (Teviertmeilen  von  Schwedisch  -  Pommern 
«inen  Ersatz  von  175  und  zugleich  mit  diesen  ersten  Anfängen  der  späteren 


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O.  DiMtd:  Der  OmTie  EnifllMt 


549 


Provinzen  Westfalen  und  Sachsen  eine  Brfiekp  zwischen  den  Marken  und  dem 
rheinischen  Kleve.  Schon  wur  es  dahin  gediehen,  dafs  nicht  nur  Schweden, 
aondeni  anoh  Frankreich  und  Oatermeh  sich  fiuBt  gleidiseltig  um  «in  Bflndnie 
mit  Friedridi  Wilhelm  bemflhtMi,  dafo  jenes  ihm  den  Besitc  des  oslerreiehiBchen 
Sehlesiene,  dieses  ihm  gans  Pommern  verhieb.  Allein  seiner  echt  deutschen 
'ri  sir  nung  war  die  Abhi]lg^(kdt  von  den  Ausländern  verhafst,  seiner  evnn- 
geiischen  widerstund  der  engere  Bund  mit  dem  Keiler.  Wahrend  er  mit  vor- 
sichtigen Worten  ilie  Aiitmt'crMicn  hiiiliielt,  war  sein  pifrirrcs  Strobon  dahin 
gerichtet,  dem  Krii'jrc  tin  Ende  zu  machen  und  den  Evun^^clisi  lien  ihif  k<in- 
feasionelle  Freiheit  zu  crnn^en.  Fflr  ein«*  Mritte  Partei',  ein  evangehöchea 
Verteidigungsbündnis  mit  titattlicher  lleere^macht,  lielseti  »ich  anfangs  nicht 
nnr  die  tapfere  Laodgrftfin  Amalia  Ton  Hessen,  sondern  auch  die  protestantischen 
FHlrsten  in  Korddentsdiland  gewinnen,  allein  die  mtschiedene  Weigerung  des 
■achsischen  EnrfBrsten  Johann  Georg,  mit  dem  rata^schen  GalTiniaten  Hand 
in  Hand  zu  gehen,  bewegte  zuerst  die  Weifen,  endlich  m  11  t  die  Landgrilfin 
Amalia  zur  Zurücknahnie  ihrer  Zusage;  mit  Meckienboig  allein,  das  dem  ge- 
gebenen Worte  treu  hlif}»,  liefs  nlch  nichts  ausrichten.  Dennoch  glückte  ee 
dem  unermüdlichen  Kurfürsten  durch  gesehiekte  ^'erhandlunlr  nuf  dem  west- 
fälischen Friedenskongresse  (Okt.  l('»4S)die  rileichstellun;^  itller  drei  Kon- 
fessionen zu  stände  zu  bringen.  "^Für  solche  Gnade',  schrieb  er  an  Wittgen- 
stein, *ist  dem  grondgütigen  Qotte  hillig  sn  danken,  nnd  hOehlich  m  wflnsi^en, 
dab  dadurch  unser  geliehtes  Vaterland  dentscher  Nation  nach  so  lange 
ausgestandoieo  grofiwn  Pressuren»  Drangsalen  nnd  Zerrattungen  in  bestindige 
Tranqniliitiit,  Ruhe  und  Sicherheit  gesetzt  werden  möge.' 

Fast  schien  es  aber,  als  ob  der  Kurfürst  mit  dieser  Vorstellung  von  einem 
'geliebten  Vaterlande  deutscher  Xatinn'  nneh  allein  in  dt  r  Welt  stehe.  Besafsen 
doch  die  Stande  seiner  weit  zerstreuten  L'ind'  reien  nicht  eiinnal  das  geringste 
(iefühl  einer  staatlichen  ZusamTnen^c  lnirii^kt  it  o(h  r  gar  der  Anhänglichkeit  an 
die  Feraou  des  Herrschers.  Im  licrzogtuiu  l'jeul'sen  stellte  der  Adel  nur  halb 
lo  nel  Sddaten  aor  Landesverteidigung,  die  kleineren  jUndbesitier  sogar  nur 
den  neunten  Teil,  als  woan  sie  gesetslieh  verpflichtet  waren,  und  beide  rer- 
weigertm  1644  einmfltig  den  Kampf  gegen  die  Schweden  unter  dem  eitlen 
Vorwande,  sie  durften  sioh  nicht  gegen  Glanbensgenossen  (Lutheraner)  brauchen 
lassen.  Die  Bewilligung  der  dringend  erforderlichen  Steuern  war  von  den 
Standen  weder  dort.  iin<!i  in  der  Mark  zu  erlangen  und  im  rheiniflchen  Kleve 
auch  erst,  als  der  Kurfürst  die  Entlassung  aller  niclit  eingeborenen  Beamten 
und  Tmpppn  vprfHgt  luittc  'Nov.  1649).  Dort  drohte  man  ihm  bestäudig  mit 
Anrufung  des  Königs  von  Polen,  hier  des  Kaisers  imd  der  Generalstaaten.  Es 
ist  nicht  SU  Terwundem,  dafo  dem  heftigen  nnd  immer  nur  für  das  Ganze  ar- 
beitenden Herrn  gegenüber  so  enjßienngen  nnd  selbstsflchtigen  Landesrertretem 
einmal  die  beleidigende  Anrede  entwischte:  'Hundsfötter,  un^rlidie  Leute*,  die 
natürlich  mQhsam  gesühnt  werden  mubte.  Wenn  er  sie  zusammenrief,  kamen 
sie  nicht,  aber  ungerufen  kamen  sie  oft  zusammen,  um  heimlich  mit  den  Aus- 
lindem  zu  lioraten     Als  der  Kurfftrst  1661  ktthn  zu  den  Waffen  griff,  um 

2(«tte  Jalixbacbar.   1S9$.  I.  W 


650 


Dtoftel:  Dar  Orobe  XtuMnt. 


von  ddm  IniilioHBGlieD  P&lzgrafen  Wolfgaiig  Wilhdm  in  Jfilieh-Berg  die  Sdio- 
iraiig  der  62000  Frotestanien  sa  enwingen,  die  er  ihnen  im  April  16i7  ni- 
geeidiert  batte,  erbaten  lie  sich  gegen  ihn  von  den  GenfirabtMtlen  eine  SdmfB- 

nunnschafl  und  verklagten  ihn  bei  dem  Kaiser  als  Friedensbrecher.  Obwohl 
er  sein  Heer  bereit«  bis  auf  7500  Mann  h lachte,  muTste  er  schliefslich  doch 
zufrieden  sein,  dafs  der  Kfiiscr  im  Okt.  1(!51  auf  der  Grundlapfp  der  früheren 
Verheifsungen  den  Pfalz^rafeii  durch  Androhung  der  Keichsexekution  zur  Unter- 
zeichnung des  Friedens  zwang.  Wieder  hatte  er  nich  überzeugt,  dals  er  bei 
den  Lutherischen  —  er  hatte  den  Kurfürsten  von  Sachsen  selbst  durch  das 
Angebot  von  Halbwetadb  nidit  gewinnen  können  —  keine  Hilfe,  hei  den  Nadi* 
b«m  und  seihst  hei  den  eigenen  Standen  nnr  Feindsehaft  m  erwarten  habe. 
Binisig  die  Pommern  sdi^en  ihm  ab  dem  rechtmS&iigen  Erben  dee  1637  ver- 
storbenen Herzogs  Bogishkw  XIV.  von  Herzen  ergeben  gewesen  zu  sein,  allein 
die  Scliweden  hielten  trotz  aller  Verträge,  VersprechungWl  und  *Hand8Älb€n* 
das  Land  dauernd  besetzt.  Erst  die  Weigerung  des  Kaisers,  ihrem  Vertreter 
auf  (h'Tit  Keichntage  zu  Regeushurg  Sitz  und  Stimme  einzurätinM-n .  und  das 
Versj)rechen  des  Kurfürsten,  mehr  al8  vier  Fünt"t«d  der  pouuiitj sehen  Landes- 
schuiden  auf  sich  zu  nehmen,  bewog  nie  zur  liäumuug  der  Feste  (Jolberg  am 
6.  Juni  1653  und  zur  endgiltigen  Abtretung  Hinterponunems. 

So  war  es  dem  staataklngen  Forsten  doch  sdilieftlicih  gegluckt,  obwohl  er 
▼on  Feinden  umringt,  toh  den  eigenen  Stinden  im  Stich  gelassen  war,  ohne 
einen  Schuf»  gethan  su  haben,  gegen  600  QeTiertmeilen  zu  gewinnen  und  da- 
durch seine  Herrschaft  um  ein  Drittel  zu  vergrofsem.  Allein  auch  dieser  außer- 
ordentliche Zuwachs  drohte  bei  nächster  Gelegenheit  verloren  m  ^hen  und  viel- 
leicht das  T'Jbrige  nach  lifh  zu  ziehen,  wenn  der  Kurfürst  nicht  dauernd  freie 
Hand  hatte,  um  die  iMitiel  des  Landes  ausgiebig  zum  Schutze  desselben  ver- 
wenden zu  köuneu  und  dadurch  von  den  Nachbarn  gefürchtet^  von  den  Mach- 
tigen Europas  geachtet  zu  werden.  Bei  dem  ewigen  Suchen  nach  Alliansen, 
bei  dem  bealSndigeu  Anfragen,  Anklopfen  und  Horchen  hatte  er  dodi  edüieb- 
lieh  keinen  reinen  Gewinn  geemtst;  man  hielt  ihn  vielmehr  &st  ftr  einen  un- 
sicheren Kantonisten;  und  doch  war  er  das  langst  weniger  als  irgend  ein 
deutsder  Füist  seiner  Zeit.  Als  der  schwedisch-polnische  Krieg  ausbrach  und 
das  zerstückelte  Land  in  die  äufserste  (Jefahr  geriet,  von  beiden  Kriegführenden 
zerrissen  oder  wie  zwischen  zwei  Mühlsteinen  zerriel><<n  /n  werden,  da  zei^e 
es  sich,  dals  der  35jährige  Monarch  die  Lehrjahre  hinter  sich,  hatte,  dal«  er 
innerhch  gereift  war,  voll  Herracherkraft  und  voll  Selbstbeherrschung,  einer 
Ton  den  Wenigen,  die  aus  der  Stunde  der  äulsersten  Not  eine  Stunde  der  Er- 
hebung an  nie  geahnter  HShe  in  machen  ▼ersteheiL 

In  der  That:  Friedrich  Wilhdm  war  mehr,  als  er  an  sein  schien.  Da  er 
offisn  und  £Mt  Tertianlidi,  heiter  und  witsig  in  der  Unterhaltung  war,  da  er 
gern,  gtit  und  viel  von  politisdien  und  militärischen  Dingen  sprach,  da  sein 
lebhaftes  Temperament  leicht  von  mafsvoller  Freundlichkeit  zu  derber  Grob- 
heit ubersprang,  konnte  man  ihn  wohl  für  oberfläclihVli  und  iinbesonnen  halten. 
Qewüjs,  er  brauste  leicht  auf,  wie  die  meisten  HoheuzoUeni,  und  muTste  sich 


.^  .d  by  GüOgl 


.0.  DiMtel:  0«r  Ombe  KnvAni 


^1 


dann  durch  einen  Beiner  liiiiu  entücliuldigen  lasäeu.  Dum  amualäenden  Syn- 
dikuB  UevMdMn  Bittmeluft,  Mnetn  Dr.  jur.,  gegenltber  wpmäi  er  Munal 
den  Wiiiiaeh  «ns:  *W«ib  anr  die  Doetoxen,  die  RnndaföUer,  daTon  waten,  und 
ieh  mit  den  ebrlieluii  Lenten  allein  za  fdiaffion  Mtte,  eo  wollte  ieh  wciU  bald 
zu  rfclit  kominen',  aber  seinen  obersten  Rechtsgrandsat/  8])rach  er  doch  schon 
in  dem  Vene  ans,  den  der  24 jährige  als  Mitglied  der  Fruchtbringenden  Gesell- 
schaft auf  seinen  'in  Gold  goschmel/icn  G<'sellschafts]»fonTii<i;'  setzen  liofs  und 
der  wohl  verdiente,  besser  gereimt  zu  sein:  'ürol'se  Herrn  tbun  wobl,  sich  zu 
befleifsen.  Den  Annen  als  den  Heichen  Recht  zn  leisten/  Fast  taglich  lielä  er 
sich  über  liechts-  und  andere  Wisseusckatten  Vorträge  halten,  um  seine  Kenntnis 
and  Einaiekt  ni  erweiteni.  Swne  Anebüdmig  war  aom  mmdesfean  aiiff  nn- 
l^eicJi  geweaen  —  Latein  sprach  er  hemr  als  franiBeiacli  — ^  aber  an  Interesee 
fehlte  ea  ihm  nteht,  vnd  aeine  Arbeitekraft  war  unennfidlich.  *Seine  Durch- 
laneht  arbeitet  mehr  als  ein  Sdnitir/  schrieb  der  Graf  Waldeck  an  einen  Kol- 
legen. Schon  deshalb  lebte  er  regelmafsig  und  äufserst  einfach.  Seine  einzige 
Erholung  bildete  die  .laj^d,  die  ITnterlialtung  oder  Karten-  und  Soh.ielispiel  im 
Familienkreise.  Nnr  bei  festlichen  (lelci/enheit^n  erschien  er  prachtvoll  u;e- 
kleidet  und  trieb  kurfürstlichen  Luxus  in  Speise  und  Trunk;  ebenso  auf  lieisen, 
wo  ilm  einst  618  Personen  mit  TiiH  Pferden  begleiteten,  aber  nur,  weil  er  dies 
sriner  Stellung  sdinldig  an  sein  glaubte,  nicht  etwa,  ww  die  meisten  Fflntra 
seiner  Zeit,  in  hlSder  Nachahmnng  Ludwigs  XIV.  Vielmehr  war  er  wohl  der 
dentaciieste  Henrsdier  in  ganx  Dentaehland;  er  nahm  «nellioh  Änatofii  an  kaiser- 
lichen Verordnungen,  die  zn  Tiele  F^mndwörter  enthielten,  und  banflhte  sich 
selbst^  sie  nach  Möglichkeit  zn  venneiden.  Von  snner  Politik  ha^o  nr  selbst 
einmal,  sie  sei  'weder  kaiserlieh,  weder  spanisch,  weder  französisch,  weder 
schwedise}),  Hondern  einzig  gilt  reichisch.'  in  wahrer  llerzensfrönnnij^keit  be- 
gann nnd  sihlolü  er  jeden  Tag  mit  (iebet  und  hielt  fcHt  an  ^inem  reformierten 
Bekenntnis,  aber  er  war  duldsam  gegen  Andersdenkende  und  hafste  die  reli- 
giöse Verfulguagssuchb  Nidtt  blofo  OlaubeuBgenoBsen,  sondern  selbst  Soci- 
nianer,  die  ana  Polen  vertrieben  waren,  w^  sie  die  Dreieini^eit  lengnetm, 
nahm  er  in  Prenfinn  auf. 

Einen  alles  leitenden  Minister  sollte  es  seit  1651  nieht  mehr  geben. 
Koniad  von  Burgsdorf,  der  an  die  Stelle  Sc}}war7enbergB  getreten  war,  erwies 
sich  mit  der  Zeit  als  unfähig  zur  obersten  Heeresleitung,  Finanzverwnltung 
und  Diplomatie.  IJberdies  erregte  seine  Schlemmerei  und  Ausschweifung  die 
Ungunst  der  Kurfürstin,  seine  Bestechlichkeit  und  Begünstigung  «1er  laiul- 
ständischeu  Opposition  den  Zorn  des  Kurfürsten.  Nach  seinem  Sturze  liei's 
Friedrich  Wilhelm  1652  durch  drei  'Geheime  Staats-  und  Kammerr&te*,  Blmnen- 
tiialy  Waldedc  und  Dr.  Tornow  den  seit  1604  bestehenden  Geheimen  Rat  re- 
organisieren, fo^te  aber  auneist  der  Eingebung  seines  genialen,  ideenreiehen, 
aber  gewaltsamen  nnd  intriguantmi  Altersgenossen,  des  Grafen  Georg  Friedrich 
T.  Waldeck.  Dieser  wufste  ihn  nicht  nur  von  der  Untreue  des  Kaisers  und 
von  der  Unzuverlassigkeit  des  in  seiner  Mehrheit  katholischen  KurfÜrstenkolle- 
giums  2u  übensengen,  sondern  bewog  ihn  auch  zum  Anschlofs  an  die  fibrigen 

86* 


668 


0.  DiMtel:  Der  GroAa  Knrfllnt. 


FOnten  DeutadUands,  die  jenen  gegenüber  ihren  Eiafltife  til^di  mehr  sur 
GeUnag  su  bringen  sachten,  und  stellte  ihm  aht  lelntes  Ziel,  das  allein  im 
Bunde  mit  EVankreich,  Holland  nnd  England  an  erreichen  sei,  die  Vernichtung 
der  hababurgiadien  Macht  und  den  Sieg  des  Protestantismus  vor  Augen.  Anf 
diesem  Wege  werde  der  Kurf&rst  'entweder  das  römische  Reich  in  Flor  und 
Axifnahtne  bringen  oder  ein  grofs  Teil  davon  vor  sich  behalten.'  So  sehr  auch 
derartige  hocbfliegcndc  Zakunftfspirn)p  dem  rastlos  emporstrebenden  Geiste 
Friedrich  Wilhelms  geniiils  waren,  so  ftJhlte  sich  dieser  doch  allzusehr  ge- 
hemmt durch  düä  Müstruueu  der  prutestuniischen  Weifen,  durch  die  Unzu- 
Terlasaigkeit  der  antioranischen  Generaktaaten  nnd  durch  die  feindsdige  Oe- 
flinnnng  Schwedens^  das  den  reehtmai'sigcn  £rben  Pommerns  durduuts  nicht 
aufkommen  lassen  wollte;  am  wenigsten  behagte  ihm  die  Aussidil^  die  Schleppe 
des  Königs  von  Frankreich  zu  tragen.  Ohne  Zweifel  war  auch  die  Sngst- 
lichc  Besorgnis  seiner  treuen  Gemahlin  Ton  mächtigem  Einflofs  anf  seine  Ent- 
schlüsse. Durch  innige  Anteilnahme  an  allen  Ffegierungsangelegenheiten,  durch 
Gleichheit  der  religiösen  Gesinnung  und  durch  klugen,  mafsvollen  Rat  war  sie 
dem  anfangs  nur  verehrten,  später  mehr  und  uulir  geliebten  Gatten,  den 
sie  auf  alleu  Keinen  und  Märschen  begleitete,  so  weit  es  irgend  ihre  Gesund- 
heit suUelli,  alhnähltdi  sur  unenthdurlichen  Stfttze  geworden.  Einst  hatte  sie 
selbst  den  Grafen  von  Waldedc  begünstigt,  der  lUTOr  in  oFanisehen  Diensten 
stand  nnd  durch  seine  Gemahlin  mit  ihr  verwandt  war,  spater  jedodi  ^radi 
■je  die  schmerzvolle  BMo^nis  aus,  dafe  die  Vorsditung  *wegen  seiner  reehte- 
TerachtMiden  Entwürfe  gegen  den  kaiserlichen  und  den  polnischen  Oberherm 
ihr  noch  immer  den  Thronerben  versagte.'  Ob  durch  sie  oder  durch  eigene  Über- 
legung dahin  gebracht,  gleichvi  'I:  im  Jahre  l()r)t>  übertrug  der  Kurfürst  die 
höchste  Würde  im  Staate,  die  emcH  Oberprasidenfcen  —  die  KanzlcrwÜrde  hatte 
er  ubguschaü't  —  dem  inalHvolleu  und  frommen  Otto  von  SchwerLu,  der  seit 
Waldecks  Entlassung  {iiibS)  fast  allein  die  höchste  Gunst  besafs.  Allein  auch 
er  bekannte  einem  Franaosen  gegenüber  offen:  Der  Herr  Kurfürst  befragt  uns 
wohl,  aber  handdt  sehliefalich  nach  seinem  K(^e/  Daneben  nahm  Fxiedridi 
W^ilhelm  ebensogem  BOrgerliche  wie  Adlige  in  seinen  Geheimen  Rat  auf,  an- 
mal  ihre  Ausbildung  meistens  gründlicher  gewesen  war.  *Man  legt  in  Branden- 
burg,' hiels  es  damals,  'auf  die  Federn  und  nicht  auf  die  Ahnen  Gewicht,  da 
man  es  einer  Öache  nicht  ansieht,  ob  sie  mit  adligem  oder  bfligerüchem  Geblüt 
traktiret  ist.' 

Eben  diese  vollkommene  Freiheit  von  allen  Vorurteilen  des  Standes  und  der 
Zeit  war  es,  die  den  brandenburgischen  Kurfürsten  weit  über  alle  mitlebeuden 
Fürsten  erhob  und  au  groben  Erfolgen  führte.  Obwohl  von  Natur  schnell  auf- 
brausend, ja  aufehrend  und  von  starkem  Selbstgefühl,  Termoehte  er  eidi  iminoT 
wieder  zu  beherrschen,  nicht  nur  Gerechtigkeit  und  Milde  au  Oben,  sondern  auch 
mit  bedachtsamer  Erwägung  and  weitschauendem  Blick,  ja  mit  wahrhaft  fBrstlichem 
Pfliebtbewufstsein  immer  nur  das  Interesse  seines  Staates,  seines  Volkes,  ja 
de»  deutschen  Reiches  zu  fördern  In  diesem  Sinne  hat  er  sich  auch  keinen 
Augenblick  gescheut^  die  verbrieften  Hechte  der  selbstettchtigeu  und  beschrankten 


.^  .d  by  GüOgl 


0.  DiMtal:  Der  Gfobe  EnrfBnt 


S63 


Landtfftnde  mit  FOfiran  m  treien,  wran  es  galt,  die  Mittel  lur  AiufUinmg 
einor  saknnllBreiehen  That  m  gewinnen.  Am  ec^eUetm  einigte  er  eicli  mit 
den  Standen  Pommerney  die  dae  aehwediedie  Joch  mit  Schmeraen  empfimden 

hatten  und  sich  gleich  nach  der  Befreiung  (1654)  gern  bereit  fanden,  die  Macht 
dee  deutschen  Schutzherrn  mit  allen  Mitteln  zu  unterstützen.  Schwerer  schon 
wurde  ihm  der  Kampf  mit  «Icii  ktirmarkisclicii  Standen.  Da  er  die  Deputation 
derselben  nicht  dazu  bewegen  konnte,  ihm  ein  für  aiieroai  ein  PiiM><rlir]ii!intum 
zu  riiilit-;iri«ichen  Zwecken  zu  bewilliiren,  weil  sie  von  der  Eiluihung  seiner 
Macht  durch  ein  stehendes  i^Ieer  für  ihre  Rechte  fürchteten,  entschlofs  er  sich  . 
1652  alle  lendatSndiecihtti  Edelleate  und  Vertreter  der  Sladte  nach  Berlin  ssa 
bemfen.  Allein  aneh.  bei  ihnen  &nd  er  kein  Gehdr  fUr  seine  Qeldf(»rderungon, 
kein  IntnfeBse  für  den  Sehnts  des  GeNuntetaates,  nur  «idloie  Klagen  und  Bo> 
■chwerden  Aber  die  Terkümmenu^  ihrer  ▼erbrieften  Hechte.  Als  er  sie  ver- 
gebens siebenmal  vertagt  hatte,  am  sie  zur  Nachgiebigkeit  zu  bestimmen,  be- 
schlofs  er  die  Verhandlnnjren  mit  einer  Deputation  fortzusetzen.  Durch  die 
Landtiijrsrezesse  vom  2i).  .Juli  und  5.  August  Ifi,^.^  siih  er  sich  zwar  genötigt, 
den  adligen  (Jutsherren  volle  Befreiung  von  allen  Staats  und  Kommnnalst^nern, 
fast  unumschrünkte  Herrsehuft   uud  (ierichtsbarkeii  über  ihre  'Untertbanen*, 

dio  hörigen  Bauern  und  Bflrger,  zuzugestehen,  aber  er  erlangte  WNiigstens  die 
Zusage  einer  bleibenden  Oeldbewilligimg  zur  'Landesdefension*  und  konnte 
seitdem  diesMi  dehnbaren  Begrifi  reichlich  ausnutno,  um  Hilltirsteumi  au  er- 
heben, aueh  wenn  der  Adel  sie  nicht  bewilligt  hatte,  der  mit  der  Zeit  immer 

gefügiger  wurde. 

Genulf  711  horbverrateriseb  benahmen  sich  die  Stände  von  Kleve  und  Mark. 
Da  sie  mit  liireni  StretxMi  nach  republikanischer  Freiheit  von  den  General- 
staaten im  Stich  gelassen  waren,  riet  ihnen  der  reichhei;üterte  Freiherr  von 
Wilich,  der  wegen  Unbotmüfsigkeit  vom  Kurfürsten  seines  Amtes  entsetzt  war, 
eme  Deputation  an  den  Reidistag  in  Regensburg  zu  schicken  und  im  Einher' 
siandnis  mit  dem  katholischen  Nachbar  den  Ansehlufs  an  Jfllidi-Berg  zu  be- 
trüben. In  der  That  liefs  sieh  dnr  alternde  Kaiser,  der  naeh  der  Wahl  seines 
ältesten  Sohnes  zum  Römischen  Könige  des  Kurfürsten  nicht  mehr  zu  bedürfen 
glaubte,  am  16.  Oki  1^3  herbei,  den  anJrtthreriachen  Deputierten  durch  ein 
Dekret  alle  Wünsche  zn  erfüllen.  Allein  nun  wjtr  nnrli  die  Geduld  des  ener- 
gischen Brandenburgers  vollkommen  erseliöptt.  Kr  erklärte  offen  jenes  Dekret 
für  ersehliehen  und  liefs  Wilich  als  Hochverräter  nach  Spandau  abführen, 
während  die  anderen  Deputierten  sich  durch  die  Flucht  retteten.  Vergehens 
drohten  die  Stands  den  Gefangenen  mit  Gewalt  au  befreien,  vergebens  wandten 
sie  sich  an  den  kmnken  Kaiser,  der  fttr  die  gehofite  Katholisierung  von  Kleve 
und  Hark  sohliefsltch  niehts  su  tiiun  Termochte;  so  findeii  sie  es  endlich  doch 
für  geraten,  die  Freiheit  des  HochTenr&ters  durch  eine  hohe  Geldsumme  zu  er- 
kauCon.  Als  der  Kurförst  nun  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Verfassung  wie  auf 
seine  eigenen  Ven»preehungen  aus  dem  n-ii  lien  Lande  binnen  zwei  Jahren  eine 
halbe  Million  Thaler  erprefst^'  und  an  ttiXX)  Soldaten  zum  sehwedisch  -  pol- 
nischen Kriege  warb,  kam  es  zwar  wiederhoientlich  zu  Versuchen,  sich  von 


564 


G.  IKwtel:  D«r  GroAe  Ewlttni 


ihm  loszureilsen  und  mit  Holland  zu  vereinigen,  aber  endlich  fügten  n«  sieh 
doch  dem  Zwange,  den  der  strenge  Herr  durch  «ein  JuatiskoUegiam  und  seine 
AmtskniBmer  ansfibte,  nunal  die  Hollinder  sieh  von  der  Notwendigkeit  Uber- 
zeugten,  dafii  am  Rhein  und  an  dar  Ostsee  die  Vonnaoht  des  protestan- 
tischen KurfQrsten  aufrecht  edialten  werde.  Später  (1661)  wurde  diosem  that- 
sächlichen  Zustande  in  dem  Rheinlands  andi  die  Form  ein«*  neneo  VerfiMsnng 
gegeben. 

Dills  die  Stiliuie  des  HerÄOgtumß  Preiü'sen,  die  von  jeber  gewöhnt  waren, 
für  ihre  eigeusüchiigen  Begehren  uud  ihre  steten  Beschwerden  über  den  Kur- 
fürsten Ton  Brandenburg  bei  dem  polnischen  Oberlehnsherm  ein  geneigtes  Ohr 
an  findmij  am  schwersteii  sur  ünteratliinmg  des  Oessmtstaates  sn  beatimmea 
waren,  lag  in  der  Natnr  der  Sache.  Erst  mehrere  Jahre  nach  dm  achwedisdi- 
polniichMi  Krisge,  der  diese  ftmste  Provinz  in  die  schlimmste  HiÜeidensehaft 
sog,  gelang  mühsam  ihre  volle  Bewältigung  durch  den  Landesherm. 

Die  Hauptsache  blieb  doch,  dafs  der  Kurfürst  während  dieser  unablässigen 
und  meistens  vergeblichen  Bemühungen  um  Machtgewinrnino;  oder  Macht- 
erweiterung  tr()tz  seiner  gerintfpn  Mittel  mit  Kifer  bestrebt  war,  die  Wohlfahrt 
seiner  zerstreuten  Ländereieu  uacii  allen  Seiten  hin  zu  fordern,  die  materielle 
wie  die  geistige. 

Nicht  nur  die  kostenlose  Hdslieferang  ans  Aem  kniAndüolien  Waldvngen 
snm  Neubau  der  aerstSrtsn  ffiLnser,  sondern  mehr  noch  das  wachsende  Yer- 
tranen  auf  die  Sicberfaeit  hatte  die  Termisteifc  St&dte  wieder  mit  tiiät^en 

Einwohnern  angefüllt  Noch  wilhretid  des  schrecklichen  Krieges  (1645)  stieg 
die  Zahl  der  Feueratellen  in  Frankfurt  von  272  auf  401>,  in  Brandenburg 
▼on  65  auf  152,  in  Treuenbrietzen  gar  von  f^O  anf  174  und  die  Bewohnenyihl 
der  Hauptstadt  wenigsten»  auf  7000.  Aueii  der  Landbau  hob  sich  wieder, 
seitdem  den  Adligen  das  bedeuküche  It&cht  gegeben  wurde,  auf  entlaufene 
Bauern  wie  auf  entsprungene  Verbrecher  Jagd  zu  nmchen  und  die  einge&ngenen 
aur  BeadEsrung  des  TwodeAen  Landes  an  awingen,  oder  Sohne  von  hörigem 
Bauem,  die  sonst  wohl  durch  Versieht  auf  das  Tftterliche  0ut  sidi  der  Kieeht» 
sdiaft  entsiehen  duften,  mit  Gewalt  festsuhalten,  sumal  am  viden  Stellen  die 
Dienste  dieser  Unglücklichen  nicht  gesetelidi  festgest^^Ut,  an  manchen  ''in  Not- 
föllen'  als  ^unbeschrankt*  bezeichnet  waren.  Wohl  bort  man  hin  und  wieder 
schon  von  regelrechten  Pachtverträgen,  aber  im  grofsen  nnd  ganzen  h\u'h  die 
Lage  der  Bauern  beklagenswert.  Besser  hatten  es  nocli  die  Heilsigen  und  ge- 
schickten Niederländer,  welche  der  Kurfürst  nach  dem  Vorgange  der  deutschen 
Ordeusmeister  in  grofser  Zahl  herbeirief  um  die  Flüsse  einzudeichen,  die  Sümpfe 
und  Brflche  anbauflUug  sn  maehen  oder  den  Aeker-  und  Wiesenbau  mit  €fe- 
sdiick  aufrnbessem.  Noch  heute  geben  die  viel«!  Dorfinamen  mit  der  Endung 
*brueh'  oder  *hoUand*  davon  Kunde.  Aber  auch  Schotten,  Lausitser,  Sehlesier 
oder  Einwohner  von  Bremen  und  Verden,  die  aus  religiöser  oder  politischer 
Bedrängnis  ihre  Heimat  verliefsen,  fanden  hereitwüljg  Aufiawhmey  Freiheit  und 
UnterstützTing  mit  Geld  oder  Siiatkom. 

Auch  der  Handel  begann  sich  langsam  zu  heben,  zunächst  wenigstens 


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Gt.  Di«0M:  D«r  Grollw  KurfllM. 


666 


dflr  BinnenliHidel,  den  der  KoHlliet  dnrcli  Anlegung  dee  Oder-SpreekandB  in 
Bnadenborg  nnd  des  'Friedrich'WülidiiiigxmbttiB*  (bot  Umgehung  des  Knrimheii 
Hafis)  in  Oatprenfeen,  sowie  durch  Einfahrrerbote  und  SehnlnSUe  IBrdarte. 
Bald  brediten  die  Zölle  am  Rhem  und  an  der  Elbe  mehr  Gewinn  als  jemals 
zuvor.  Wenn  aber  der  unermüdliche  LandeaTftter  aeineD  Schiffern  1647  bei 
Christian  IV.  dieselben  Snndzollermäfsif^unffen  erwirkte,  welche  den  Nieder- 
ländem  gewahrt  waren,  so  hören  wir  »n«  dfr  BestStignngsurkunde  Friedrichs  III., 
dals  innerhalb  der  dreieinhall)  Jahre  noch  kein  brandenburj^isches  Schiff  im 
Sunde  gesehen  sei.  Trotzdem  lockte  schon  damals  den  hoehÖiegeuden  Sinn 
Friedrieh  Wühehna  der  Gedanke  an  übeneeiaGhe  Kolonien.  Scshon  1647  lAtte 
er  eine  indiadie  Kompagnie  geatiftefe,  wenn  im  eigenen  Lande  geldkiSftige 
Unternehmer  m  finden  gewesen  wSren.  Auch  sum  Ankanf  von  Trankebar,  fllr 
welches  er  den  Freie  mit  Dinemnrk  bereite  Tereinbart  halte,  war  dae  Geld 
nicht  au£sutreiben. 

Handwerk  und  Ocwerbp.  die  nur  dfr  Freiheit  und  des  aufBcren  Schutzes 
bedürfen  um  goldene  Frucht  zu  bringen,  tinh  er  durch  strenges  Verbot  harter 
Beschränkungen  yon  Seiten  der  Zflnfte  und  durch  Schutzzölle. 

Von   uuherechenharem,  materiellem  und  geistigem  Vorteil  für  alle  seine 

weifaeretrenten  Unterthanen  aber  wurde  1649  die  Einriehtung  einer  Stnete- 
poat  dnreh  den  gBBc(hiekt«i  Kammerrat  Metthiaa.  Neben  der  gana  unauTer- 
Uaaigen  Beiebqpoat  gab  ee  «war  adion  eine  knrflirsüiche  Botenpoat  rar  ai^ren 

BefSrderun)^  der  Regierungs  und  Hofbri^ehafteo ,  die  wohl  unerlaubterweiae 
bieweilen  Privatbriefe  beförderte,  sonst  aber  war  man  mit  allen  Sendungen 

einrig  auf  Gelegenheiten,  zumeist  auf  die  sogenannten  Met7gerpos»ten  angewiesen. 
Von  nun  an  gingen  wöchentlich  7:weimal  Po.><twagen  von  Kh've  bis  Berlin  in 
sechs,  von  dort  bis  Königsberg  in  vier  Tagen,  deren  sich  jedermann  zum  brief- 
lichen und  persönlichen  Verkehr  bedienen  durfte.  Allen  Schwierigkeiten  zum 
Trotz,  die  Polen,  Sachsen  und  vor  allem  das  Hans  Tkuds  in  den  Weg  legten, 
erstanden  bald  kurftntliehe  Poattiättser  audi  in  Hamburg,  Bremen,  Leipzig 
und  Danng,  ao  dafe  ea  spiter  deren  70  gab,  die  PenKmen  und  Briefe  auf 
16  grofsen  Postkursen,  im  ganzen  400  deutsche  Meilen  weit  mit  einer  SchneUig- 
keit  beförderten,  die  den  erstaunten  Zcitgenoesen  die  Bezeichnung  *die  fliegraide 
Poöf  abgewann.  Anfangs  erforderte  sie  wohl  einen  Staatszuschufs  von 
tKKXi  Thalern,  brachte  aber  im  Todesjahre  des  gmlspr  Kurfürsten  bereits  über 
40000  Tlialer  Heingewinn,  was  weder  erwartet  noch  beabsichtigt  war. 

Mit  unermüdlichem  Eifer  und  mit  einem  Sinne,  der  weit  über  alle  Vor- 
urteile und  allen  Aberglauben  der  Zeit  erhaben  war,  strebte  Friedridi  Wilhelm 
anch  der  Gerechtigkeit  sur  Herraohaft  an  ▼erhelfen  und  fiberall  dMi  inneren 
Friedm  hersnstellen.  Selbst  im  Heere  wurde  die  Herausforderung  an  einem 
Zweikampf  ebenso  wie  die  Vergewaltigung  eines  Weihes  mit  dem  Tode  be- 
straft, obwohl  beide  Vergehen  im  übrigen  Europa  der  mildesten  Beurteilung 
begegneten.  Auch  das  dürfte  heute  wunderbar  erscheinen,  dafs  er  die  Urteils- 
sprüche der  Kriegsgerichte,  wenn  sie  Ehre  (»der  Leben  betrafen,  vor  der  Voll- 
streckung vom  Zivilrichter  prüfen  liels.  Übrigens  waren  seine  Klagen  über  die 


Q.  Biestel:  Der  Grofse  KurfOrst. 


lAi^lHune,  mangelliafld  und  koettpielige  Reehfapreehuni;  des  KanunergeriditB 
▼Oll  so  geringem  Erfolge,  dafs  er  dem  Geheimen  Rate  in  vielen  Fällen  eiae 
Benifungsgerichtsbarkeit  einräumte,  obwohl  er  sonst  durchaus  die  Unabhängig- 
keit (los  Rcchtsvprfahrpns  von  jodor  Vorwiiltungsbchf^rdL«  filr  richtig  und  nötig 
erklärte.  Fast  maciitloü  war  sein  Streben  nach  dieser  Richtung  in  Preiifsen, 
wo  seit  ItiOO  die  beiden  höchsten  Gerichtshöfe,  das  Hofgerickt  und  der  Pairs- 
hof,  ausschliefshch  im  Interesse  des  Adels  gegen  die  anderen  Stände  ucd  den 
Landeshomi  ihre  Urteile  epimi^en,  suinal  jener  die  Bemfung  an  den  Kdn^ 
Ton  Polen  frei  hatte  und  bei  diesem  erfiBhran|pig«iiul&  UnterstaiBuiig  tutd. 
Hier  konnte  nur  die  Erlangung  d«*  SouTeriailit  Hilfe  eehaHnii. 

Am  weitesten  erhaben  über  sein  Zeitalter,  ja  fast  über  jedes,  «  ]  >f  It  int 
Friedrich  Wilhelm  in  allen  religiösen  Angelegenheiten.  Obwohl  selbst 
ein  überzeugter  evanfrrli'^eher  Christ,  dem  religiöse  Gleichgiltigkeit  oder  gar 
Verspottung  im  tiefsten  Herzen  zuwider  war,  oder  —  richtiger  woiil  —  weil 
er  ein  solcher  war,  hafste  er  joden  Gewissenszwang.  Schon  lö45  lehnte  er 
auf  das  bestimmteste  das  jus  reformandi  für  seine  Person  ab,  er  meinte  auch 
den  Päpstlichen  chrislliehe  Liebe  nidit  verweigern  eu  dflrfon.  Obwohl  «r  anf 
das  entsehiedenste  jedem  Versudi  des  rSmisehen  EUms,  sich  landesherr- 
liehen  Gerichtsbarksit  su  entsieben,  die  Zahl  der  GeisÜicbea  fibermBliug  ro 
yermehren  oder  gar  die  Jesuiten  anzusiedeln,  energisch  Widerstand  leistet^  so 
schützte  er  ihre  Rechte  auf  das  gewissenhafteste.  Er  liels  im  Kleveschen  sogar 
Mönche  in  ihren  Ordenstrachten  einhergel>"n ,  in  Halberstadt  eine  Synagoge 
aufbauen,  whh  sonst  in  evangelischen  Staaten  nirgend  gestattet  war.  Es 
war  sicher  nicht  seinem  Sinne  gemals,  wenn  er  jenen,  wie  den  *Arianem, 
Photinianern,  Weigelianern,  Wiedertäufern  und  Ministen'  auf  dringendes  Ver- 
lai^n  der  Sttnde  die  Abhaltnng  Ton  Gotfceedienslen  yerbot  Sein  hodistea 
Streben  riehtete  sieh  zunächst  anf  eine  dogmatische  und  formale  Einigung  aller 
Evangelischen.  Schon  1641  hatte  er  in  diesem  Simie  ein  Religionsgeqprik^  in 
KönijTsberf;  aldiulten  lassen  und  besehickto  1645  ein  zweites  in  Thom,  welches 
nach  dem  Willen  des  Königs  Wladisliiw  IV.  sogar  alle  christlichen  Konfessionen, 
auch  die  katholischen,  vereinigen  sollte,  aber  die  Kluft  nur  erweiterte,  die  sie 
▼on  einander  trennte.  Xicht  n  ir  ))L'i  den  evangelischen  Fürsten  Deutschlands, 
auch  bei  Cromwell  in  Eugluiui  und  bei  Christine  in  Schweden  hat  er  an- 
gddopit^  aber  —  man  verstand  ihn  nichi 

Nach  Mog^dikeit  förderte  er  Schulen  und  Uniirersi täten.  Die  völlig 
serstörte  Joaehimsthaler  Gelehrtensdiiile  nahm  er  1655  sunädiBt  in  sein  Berliner 
Schlofs  auf  und  verhalf  ihr  zu  reichlicbem  Einkommra,  und  das  Qymnsaiom 
zum  Grauen  Kloster,  ebenfalls  von  ihm  unterstützt,  zählte  1656  bereits  über 
400  Schüler,  die  nicht  nur  in  Latein  und  Religion,  sondern  auch  in  Philosophie 
und  Gn'pchiseh  unterrichtet  wrden.  Den  niederen  Knabenschulen  —  die  er'^te 
Miidchenschule  wurde  in  Berlin  erst  1(370  crflflia-t  fehlte  es  meistens  an 
Lehrern  und  Schülern:  die  groise  Masse  des  Volkö  blitb  nach  wie  vor  in  Al>er 
glauben  und  Unwissenheit  versmiken.  Auch  die  Universität  Frajikfurt  »tieg 
bald  naeh  seiner  Thronbesteigung  durch  Bemfung  g^stroUer  Lehrer  Ton 


0.  OiwM:  Der  <hotn  KnrfHnt 


557 


86  Immatrilralationeii  im  Jakiu  1G40  auf  341  im  J.  1G45.  Der  allberühmten 
Alberiina  in  Königsberg  hatie  es  wohl  nie  an  Sehülern  gefehlt,  da  eueh  der 
polniscbe  IM  mit  Vorliebe  seine  SSline  debin  eehickte;  nm  so  eifriger  war 
der  KnzfDret  danmf  bedadit,  trota  der  entgegengewlBlen  Neigung  der  Land- 
etande  und  imn  Teil  aneh  der  GeisUichatty  wisaenschaftlich  tüchtige  und  so- 
gleicb  duldsame  Theologen  anzustellen,  hier  wie  in  Frankfurt  die  Anhänger 
neuerer  Philosophen  gegen  fanatische  Aristotelesverehrer  iti  Sehnt/,  zu  rühmen. 
In  tIeinK*^n>«-!i  Simie  ^fliult't^^  fr  1655  eine  Hochscliulc  in  Duisburg,  damit 
mau  von  Kleve  oder  von  Minden  aus  seine  Söhne  nicht  etwa  in  das  Düssel- 
dorfer JesuitenkoUeg  oder  auf  die  veraltete  Köbier  liochschule  schicke.  Um 
auch  einen  gebildeten  Ofßzierstand  zu  schaffen,  errichtete  er  1653  zu  Golberg 
eine  ^Bitterakadeniie'i  auf  wdefaer  60  Z^linge  nidit  nnr  in  allen  milit&rischen 
Foüglceiten  nnd  Eenntniaaen,  eondem  aneh  in  Ifotbnnatik,  Muaik  und  Fran- 
iSsiaeh  onterriebtet  wurden.  Endlich  erdlbeto  er  seine  reiche  und  fortdauernd 
Tormehrte  Bibliothek,  seine  Kunst-  and  Katoraliensanunlungen,  seit  1659 
auch  sein  chemisches  Laboratorium  der  allgemeinen  Benutätung,  verwandelte 
den  snmpfigon  Phitz  vor  dem  Sehlnast»  in  einen  *Lnstgarten'  und  liefs  1647 
im  sogenannten  J?'riedi"ichswerder  eine  Allee  von  Linden-  nnd  Nnfsbänmen  an- 
pflanzen. Sogar  ein  Hofmaler  und  ein  HofbUdhauer,  in  der  allgemeinen  Not 
nur  dürftig  bezahlt,  sorgten  dafür,  dafa  auch  die  Künste  in  den  Frunkzimmem 
einiger  SddjSeser  eine  bescheidene  Stelle  &nden. 

Dabei  drang  Friedrich  Wilhehn  OberalV  in  der  Bfiigerschaft  und  selbst  in 
dem  bunt  sosanmiengewfirfelten  MilitSr,  anf  strenge  Sittlichkeit.  Zfigellose 
Weiber  wurden  im  Lager  nicht  geduldet,  Schweren  nnd  Fluchen  mit  schweren 
Strafen  geahndet,  Offiziere  und  Soldaten  («glich  zweimal  zur  Andacht  ver- 
sammelt. Dafs  in  Berlin  unter  seiner  Regierunj^  auf  100  Geburten  durch- 
schnittlieh nur  zwei  unelieliche  kamen,  klingt,  wie  Philippson  mit  Kechi  be- 
merkt, fast  wie  ein  Märchen. 

Nach  solchen  Erfolgen,  nach  einer  so  bodeutungs-  und  mflheToUen  Lehr- 
aeit  war  der  Grolse  Kurfürst  in  gana  anderem  Grade  gerüstet  nnd  befähigt, 
die  Mittel  seines  Ueinen  Staates,  wenn  der  Augenblick  ihn  rief,  in  die  Wag- 
schale der  Wdlgesohidite  au  werÜBn,  ab  15  Jahre  anvor. 

Alle  Hindernisse,  welche  die  Staiule  ihm  bd  der  Ordnung  der  scheinbar 
hoffnungslosen  Finanzwirren  in  den  Weg  legten,  weil  sie  fürchteten,  er  werde 
sonst  wenifT  nach  ihnen  fragen,  hatte  er  glHeklieh  tm  umpehen  oder  zu  über- 
winden vernjoeht.  Seitdem  das  gesamte  Finanzwesen  erbt  (1651)  einer 
besonderen  Kommission  und  dann  (1655)  der  geschickten  Hand  des  Kammer- 
präsidenten von  Canstein  übergeben  war,  kam  Energie  und  Einheit  in  die  Ver- 
waltung^ so  dafs  der  Knrl&rat  allmablich  die  Mittel  gewann,  sein  Heer,  dessen 
Verwaltung  er  einem  General-Eriegskommissariat,  dessen  Ffihrung  er  dem 
Oeneraifeldmarachall  von  Sperr  übergab,  anf  die  nfitige  GrSÜM  an  bringen. 
Scheiterten  auch  alle  Versuche  aur  EinfUhrung  der  allgemeinen  Wehrpflicht^ 
und  ui  niste  er  ihatsächlich  immer  wieder  zu  der  kostspieligeren  Werbung  seine 
Zuflucht  nehmen,  so  bestand  doch  bald  die  grolse  Mehrzahl  der  Truppen  aus 


558  G-  IKeiiel:  Dar  Qtoik»  KnxftnL 

Landeskindern,  da  den  Ausländern  die  Werbung  nicht  gesUtiei  wurde.  Nur 
die  Offisiere  wivenf  ds  in  der  £itlenkBd«iiue  ta  Golbeig  aklit  nMlur  «b  00 
•OBgebildet  werden  konnten,  Glfieksritter  ans  aller  Herren  lindem,  die  mekAen 
ane  Frankreich,  die  Ingenieure  ans  Holland.   Noeh  gall  ala  Haoptwaffe  die 

schwere  Reiterei  der  Kürassiere,  die  an  Zahl  die  schwerfalUge  Infanterie  der 
Pikeniere  und  Musketiere  überwog;  dazu  kam  die  beweglichere  Truppe  der 

Dragoner,  die  zum  fit  ff»cht  von  den  Pferden  spranj^en,  um  zu  Fufs  zu  kämpfen^ 
und  die  ernt  von  Friedrich  Wilhelm  aus  beritteueu  JägerburBclien  gebildete 

leichte  Kfitcn.']'. 

Aucii  mit  dem  Gedanken  an  GrUnduiig  einer  eigenen  Kriegsflotte  hat 
aidi  des  Ktuftraten  weit  TorMMMliender  Oeiet  edion  lange  vor  der  Aoeflilining 
(1682)  getragen.  Der  leidenadiaftliehe  und  dirgeizige  Arnold  Ojaeb  van  Lier, 
ebemale  Gbnvemeur  der  bolKndilch-ostindiiehea  Kompagnie,  daim  Admiral  der 

Generalstaaten,  seit  1647  in  brandenbargiadien  Diensten,  ermahnte  sofort  aar 
GrQndiin^r  einer  ostindischen  Kompagnie,  zum  Ankauf  dee  danisoben  Trankebw 
in  Oetitirlioti,  endlich  IßoH  fwahrend  de«  Kriegest  zur  Gfwinnnng  des  dänischen 
Glflck^tidt,  damit  der  Kurfürst  die  Elbimiiiduii^  beherrsche  und  im  Besitze 
der  liinterpommerschen  und  preufsischen  OstHeelüifcn  als  'üeiieraladmiral  den 
lieiches'  unter  einer  einheitlichen  Flagge  dem  deutschen  Handel  seinen  alten 
Glans  und  seinen  berechtigten  Anteil  an  den  nnenneftlidien  Scbstaen  Indiana 
verechaffen  kdnne.  Allein  stets  feidte  es  noch  am  nötigen  Oelde  nnd  vor  alleni 
anoh  an  der  Zustimmung  der  Niederttnder,  die  einen  Nebenbuhler  auf  der 
Ostsee  nicht  geneigt  waren  aufkommen  m  lassen. 

Immerhin  war  Brandettburg-PrenÜNn  zu  einer  Madit  herangereift,  welche 
sich  fähig  r.pigie,  neben  nnd  vor  dem  veralteten  römischen  Reiche  deutscher 
Nation  eine  weltgeschichtlich  bedeutende  Rolle  zu  spielen,  wenn  die  Stunde 
kam,  die  eu  auf  den  Schauplatz  rief.  Dafs  ihm  beim  Beginn  du»  ersten 
Nordischen  Krieges  nur  die  Wahl  blieb  unterzugehen  oder  höber  auf- 
soflteigen,  lehrte  die  Karte. 

Es  giebt  kaum  einen  unerquicklicheren  Handel  in  der  Wdltgeaehidite^  als 
diesen  Krieg,  den  Philippaon  in  sieben  Kapiteln  anf  182  Seiten  behanddt  und 
der  bekanntlich  in  einen  schwedisch-polnischen  nnd  zwei  dänische  Kriege  zerfalll 
Nicht  das  Bewnfstsein  der  Starke,  noch  weniger  ideale  politische  und  religiöse 
Ziele,  wie  einst  unter  Gustav  Adolf,  haben  Schweden  zum  Kampfe  gereizt, 
sondern  das  Bewußtsein  der  Annnf  und  inneren  Schwäche  und  die  Hoffnung, 
einen  noch  elenderen  Stajit  zu  besiegen  und  zu  beerben.  Seine  Einkünfte  be 
trugen  noch  nicht  vier  Millionen  Thaler,  seine  Einwohnerzahl  1200000  auf  der 
Halbinsel  und  etwas  mehr  in  den  überseeischen  deutschen  Provinzen;  aber  sein 
König,  der  SSjahrige  Karl  fluataT  besafs  trola  seiner  unnatOrliebm  Korpuleoa 
einen  glflbaiden  Ehrgets  und  *bHtBShnlidie  Schnelligkeit'  in  allen  Entschlossen 
und  Thaten,  dssn  ein  zum  Teil  noch  krieggefibtes  Heer  Ton  50000  Mann. 
Warum  sollte  es  ihm  nicht  gliulien,  das  Werk  des  grolsen  Ahnherrn  noch  au 
Obertrumpfen,  indem  er  Polen,  IVeufsen,  Brandenburg  vom  Strande  der  Ostsee 
verdrängte,  vielleicht  gar  Dwemark  eroberte  und  die  skandinavische  Union 


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0.  Diflfltel:  Der  Gnbe  KmrfOni 


herstellte?  Johann  Kanimir  von  Polen,  der  sieb  immer  noch  König  von 
Schweden  nannte,  war  zur  Zeit  von  den  Kosaken,  Tataren  und  Russen  be- 
drängt, mcilir  Dodt  T<m  dem  eigenaflditigen  und  kanaicditigen  Adel,  der  gerade 
damals  (1662)  daa  libemm  veto  warn  Gmeta  erlioben  hatte  und  die  Reiehatanse 
•preogfee^  welehe  in  der  allgameinen  Not  Hilfe  bringen  sollten;  stand  doch  der 
Kron-Grolsfeldherr  Geoi^  Labomireki  sdbsi  am  der  Spitae  einw  Ftftei,  die 
nach  AbschafiFung  des  Kön^tums  und  HersteUnng  einer  imbeschribikten 
MagnatenherrBchaft  strebte. 

So  war  vorauszusehfn,  Schweden  wohl  einen  schnellen  Sic^  errinfren, 
aber  dauernden  nnd  wt'itvnllcn  tiewinn  allein  auf  Kosten  de«  Kurfürsten 
ernten  könne.  Das  mflhäum  gerettete  Hinterponunem  und  das  gar  zu  ferne 
PreuTäen  trennte  die  streitenden  Fremdlinge,  die  ihm  beide  verbalst  waren. 
Noch  dazu  knflpfte  ihn  an  den  durch  Abstammung,  Religion  und  Denkart  ihm 
ferner  stehmdmi  PolenkSnig  die  harte  Feeeel  des  Iiehns?erhiltnt8se8,  das  ans 
den  dunkelsten  Zeiten  des  Mittelalters  stammte,  als  der  einat  so  blühende  und 
miehtige  deutiehe  Orden  hilflos  nnd  verkommen  war.  Nor  dies  onnatilrlidie 
Baii  l  m  ti^te  ihn,  zu  unterliegen  und  durch  Abtretungen  dem  unfähigen  Ober^ 
lelinsberm  den  Frieden  zu  erkaufen,  wenn  w  iluu  nicht  gelang,  durch  Ver- 
haiuUungen  den  Krieg  abzuwehren  oder  —  durch  glänzende  Siegeslbaten  sich 
ünabhiingigkeit  luul  iJindergewinn  zu  cn^treit^n.  Nieht  Wille  und  Vorsatz 
drängten  ihn  auf  den  letzteren  Weg,  sondern  die  Verhaltnisse  selbst,  aber  — 
er  liefs  sich  drängen. 

Als  seine  Abmahnungen  bei  Karl  X.  kein  Gehör  femdcn,  dieser  ihm  viel- 
mehr fSr  die  Auslieferung  der  BUesk  miau  und  Hemel  reiddidien  Ersata  in 
Polen  bot,  wiea  er  ihn  entachieden  ab,  sui^te  den  König  Johann  Easimir,  der 
an  keine  Ge&hr  (^uben  wollte,  an  energischen  Bflstimgm  an  bewegen  und 
Terapraeh  ihm  für  diesen  Fall  kräftige  Beihilfe.  Vergebens  wandte  er  sich  an 
Cromweli,  als  an  den  mächtigsten  protestantischen  Herrscher.  Der  aber  wollte 
von  ihm  nichts  wissen,  weil  der  Kurfürst  einst  auf  Reichshilfe  für  Karl  II. 
gedrungen  hatte,  und  weil  er  hoffte,  sich  mit  Karl  X.  zur  Be^lmpfung  des 
Katholizismus  in  Europa  zu  verbünden.  Vergehens  unterhandelte  er  mit 
Mazariu.  Der  allmäclitige  Minister  schmeichelte  ihm  mit  dem  lange  be- 
strittenen Titel  'Kurfürstliebe  Durclüaucbt',  der  junge  König  naimtc  ihn  'mein 
Bruder*  und  i^rach  die  Hofhung  aus,  von  ihm  ein  Hilfekorps  gegen  Spanien 
zu  erhalten,  aber  Versprechungen  gab  man  nicht  FVankreich  war  mit  Schweden 
so  gut  wie  mit  Polen  verbflnde^  versprach  nur  fllr  den  Frieden  au  wirken  und 
wünschte  alle  drei  Machte  aum  Kampfe  gegen  Habsburg  nmzustinmien.  Endlich, 
als  der  Schwedenkdnig  schon  in  Posen  stand,  liefsen  sich  die  Generalstaaten, 
deren  Ostaee&hrsr  mehr  Lasten  (720000)  trugra^  als  die  aller  anderen  Nationen 
ansainmeni?ennramen,  tsii  dem  Versjirechen  bewegen,  dem  Kurfürsten  4000  Mann 
imd  hrJiHHf  rhlr.  jübriicb  zu  gewähren,  wenu  »eine  Ostseehäfen  angegriffen 
würden.  Alter  jene  Hilfstruppen  blieben  an  der  Grenze  des  schwedischen 
Bremen  stebcn,  und  gegenseitiges  M  iistrauen  hemmte  jede  energische,  gemein- 
flame  Thätigkeit.   Selbst  die  Unterhandlungen  mit  den  Ständen  Wea^reiiiiwns 


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560 


0.  DiMtd:  Der  Grofm  Kwfani 


Teriiefen  frnohÜoB.  Nicbt  nur  die  Eatiliolisdieii,  Boudern  sogar  die  Proteetanleii 
wollten  lieber  su  Sdiweden  geliSren,  desBen  König  im  Okt.  1655  in  Wanehan 
eingeBOgeii  war,  als  la  Brandenbiug.  Nicht  mit  tJnrecht  nahman  ma  an,  da& 

der  KurfQrat  ihr  Land  behalten  wolle,  vor  all»  ni  aber  scheuten  sie  die  Kosten 
und  die  Kriegaznrüstung.  Kaiser  Ferdinand  III.  endlich,  den  Friedrich  Wilhehn 
aoletzt  anrief,  7,ei<rtp  sich  pin?.  'perplox'  tuhI  wenig  geneipi,  sieb  cinzumiscben. 

So  blieb  dem  Kurfürsten,  der  sieb  hIh  Lehiisinfinn  Polens  dem  schwedischen 
Konige  unmöglich  gewachsen  fühlte,  nichts  übrig,  als  den  Gedanken  aufzunehmen, 
den  der  verwegenste  und  abenteuerlichste  unter  seinen  Ratgebern,  Graf  Waldeck, 
schon  beim  Beginne  des  Kriegs  ausgesprochen  hatte:  suMchat  mit  allen  Mitteln 
ein  Heer  von  8000  FaTs^lngem  nnd  4000  Reitern  an&ttsteUen,  an  Stelle  der 
Lehnstreue  die  'StaatsraiBon'  ins  Ange  zu  fraaen  nnd  die  Gelegenheit  zur  Er* 
langung  der  "Souveränität  im  Herzogtum  Prenfsen  zu  benutzen.  Von  nun  an 
galt  es  allein,  möglichst  gute  Bedingungen  zu  erhalten,  gleichviel,  von  wem  Xh 
.Tohaini  Kasimir,  von  dor  Geistlichkeit  und  dem  P;iy>sie  reichlich  unterstützt,  die 
schwedische  n  Kt-tr.'-r  /  i  linde  des  Jahres  1055  xwar  aus  Warschau  wieder  verjagt 
hatte,  die  Schwetit  ii  iiiin  aber  Preufsen  verheerten  und  wenige  Meilen  von  Königs- 
berg standen,  schlufs  Friedrich  W  iUitilm  mit  diesen  am  17.  Jan.  1656  den  Ver- 
trag, durch  welchen  er  nicht  nnr  Preußen,  aondem  auch  daa  bisher  pohusehe 
Särmland  yon  Schweden  an  Lehen  nahm,  aber  ohne  Lehnsabg^ben  nnd  ohne 
AppeUationsreeht  an  den  schwedischen  K5nig,  mit  der  einaigen  Verpflichtnng^ 
ihm  1500  Mann  Hilfstruppon  zu  schicken.  Bei  einer  Zusunimenkunft  in  Barten- 
stein  küfsten  sich  die  beiden  Fürsten  und  machten  Brüderschaft,  allein  der 
l<!ii«erliche  Diplonnit,  der  sclilaue  Lisolii,  sprach  es  schon  damals  fm<,  da? 
Bündnis  habe  keine  Zukunft,  der  Kurfürst  strebe  nach  Unabhängigkeit,  Einst- 
weilen aber  folgte  dieser  noch  einmal,  es  war  das  letzte  Mal,  dem  Rate 
Waldecks  und  schiofs  am  2b.  Juni  mit  dem  Scliwedenkönige  zu  Marienburg 
fSr  daa  Versprechen,  eine  ^Kommnnikationslime*  awiaehm  der  Nenniark  nnd 
Preufsen  au  erhalten,  sogar  ein  OffsneiTbündnis  anm  Kampfe  gegen  Polen. 
Man  kann  sweiibln,  ob  Friedrich  Wilhelm  nwHA  besser  gethan  hätte,  sieh  Bchon 
jetzt  auf  die  Seite  Polens  zu  stellen,  aber  unzweifelhaft  ist  jene  drei(2gige 
Schlacht  bei  Warschau,  am  28. — 30.  Juli  1656,  in  wilcher  vor  allem  durch 
die  Tüchtigkeit  und  gute  Anfilhrung  der  S.')00  Brandenburger  der  Sieg  über 
die  vierfa<'be  pfdnische  Annee  errungen  wurde,  als  der  unvergefsliche  Anfang 
des  preufsischen  Kriegsruhmes  zu  betracbten.  TJnerniel'slich  wuchs,  wif  die 
Feindschaft,  so  die  Bundesgen ossenschaft  des  Kurfürsten  seit  diesem  Erfolge 
an  Bedeutung.  Als  die  Polen  gleich  darauf  durch  Lisolaa  Yermittelung  Frieden 
mit  Rttfsland  machten  und  Karl  X.  Ton  Danemark  bedroht  wurde,  erhielt  er 
am  20.  Not.  1656  im  Vertrage  von  Labiau  für  die  Emeuenmg  des  Marien- 
burger  Bttndnisses  von  Schweden  die  volle  Souveränität  im  Heraogtnm 
Preußwn.  Das  war  es,  wonach  er  vor  allem  gestrebt  hatte;  dennoch  hatte  er 
niehr  gehofft  und  gab  die  Schuld  dem  schwedisch-gesinnten  Grafen  Waldeck, 
der  ziuiächst  seine  Gunst  verlor  und  später  in  schwedische  Dienste  übertrat 
Andererseite  traute  Karl  X.  dem  souveränen  Bundesgenossen  selbst  nicht  mehr. 


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6.  Diert«h  Der  Grobe  Knrfiinl 


661 


Unmittelbar  nach  dem  Abschlui^He  des  Labiauer  Vertrages  sprach  er  es  dem 
französischen  Gesandten  gegenüber  aus:  'Dieser  Kurfürst  ist  zu  machtig,  man 
mufs  seinem  Ehrgeize,  denen  Gfrolae  nienund  so  gut  kennt,  wie  ich^  Sdunnken 
aetmn.  Man  nrals  sich  den  Pllaen  eine«  Fürsten  widersetaen,  der  sieh  einst 
Inrehthttr  mnehen  wird,  warn  man  nicht  Tor  ihm  auf  der  Hnt  ist.'  Er  be- 
eiferte sidty  jeden&lls  den  tollküluien  Fürsten  Ragoczy  von  Siebenbürgen  zum 
Bundesgenossen  zu  gewinnen,  damit  dieser  Osterreich  im  Schach  halte,  und 
zeifrte  nicht  üble  Lust,  ihm  und  dt-iii  Kurfürsten  dir-  ^nze  T^ast  des  polnischen 
Krieges  aufzubürden,  um  sich  gegen  Dänemark  /u  weiideii,  das  im  Mai  1657 
oÖ'l'ii  den  Krio|f  »'rkliirte.  'Ich  mufH  jed»'nfal!<?  aus  diesem  polnischen  Wesen 
herauü',  hat  muii  ihn  sagen  gehört.  Als  uun  auch  Österreich  unter  dem  jungen 
Erdiersog  Leopold  (dem  spateren  Kaiser)  von  dem  seUanen  liisola  ftr  sofortige 
ünterstatrang  Polens  gewonnen  war,  als  sidi  6O00O  Rassen  gegen  Pk«dbeii 
in  Bewegung  setaten,  Terlsngte  Friedrich  Wilhelm  von  Karl  X,  der  ihm  jetzt 
sogar  Sdüesien  in  Aussicht  stellte,  entweder  das  ihm  vertragsmäfsig  zugesagte 
schwedische  HilfskorpS  oder  die  Erlaubnis,  mit  Polen  einen  Separatfrieden  zu 
machen.  Notgedrungen  gab  der  Kniu<r  diese  luiter  der  Be«lingung,  nichts 
yerabredet  werde,  was  Schweden  nachteilig  sei  und  ihrer  Freundschaft  J^^iutrag 
thue  und  verliels  Thum  (Juli  1657)  mit  der  Drohung:  *Wpr  nicht  mit  mir 
ist,  der  ist  wider  mich.'  üewil's,  der  Kurfürst  war  wider  ihn.  Wie  er  die 
frohere  NoÜa^  benntst  hattc^  nm  sich  von  dem  nnf  ähigcn  Polen  hManmachen, 
so  war  ihm  die  jetaige  willkommen|  am  sieh  durch  einen  Bond  mit  Danemark, 
Polen  und  Österreich  fbatrikhlidi  von  jeder  Abhängigkeit  frei  au  machmi. 
Der  letzte  wirklich  einflulsreiche  Minister,  dessen  Rat  schon  seit  Jahresfrist 
nicht  mehr  gehört  war,  machte  diesen  Wechsel  nicht  mehr  mit:  «r  trat  un- 
bedenklich zum  Feinde  über  fMai  l()r»S');  seitdem  hat  niemand  mehr  mafs- 
gebenden  Eintiufs  gehabt,  der  Kurfürst  wurde  sein  eigener  Minister,  wie  drei 
Jahre  spater  Ludwig  XIV.  von  Fraukioich.  Nicht,  dafs  er  sich  sofort  von 
Schweden  losgemacht  hätte:  während  der  kaiserliche  (ksandte  Lisols  und  zwei 
Gesandte  des  polnischen  Königs  sdion  in  Königt>l)erg  mit  ihm  vorhandelten, 
erschien  daselbet  auch  ein  schwedisdier  nnd  machte  mm  Teil  Ifberachwängliche 
Yersprediangen,  es  fb^^  »og^  uodi  ein  letater  Sieg  der  Brandenburger  and 
Schweden  Qber  die  Polen  bei  der  Dirsdhauer  Brücke;  allein  die  kecke  Seibai- 
sucht der  schwedischen  Heerführer,  die  jedes  Verdienst  sich  allein  zuschrieben 
und  ihren  Mannschaften  im  Laude  des  Verbündeten  jede  Willkür  und  Roheit 
gestatteten,  erhitt-erte  im  höchsten  Mafse  das  brnndenbnrgiscyie  Heer.  Selbst 
die  französiseiien  Diphuuaten  sahen  darin  einen  herechtij^ten  (irund  vAim  Partei- 
wechsel. Als  die  schwedische  Besatzung  von  den  Österreichern  aus  Krakau 
vertrieben  war,  kam  es  durch  das  diplomatische  Ckachick  Lisolas  am  19.  Sepi 
1667  BOm  Vertrage  Ton  Wehlau.  An  die  Stelle  des  LehnsTerUUtuisaes  trat 
ein  'ewiges  Bflndnis'  swisehen  Brandenburg  nnd  Polen.  Prenlsen  erhralt 
Friedrich  Wilhelm  ab  souverines  Henogtom  nnd  veraichtete  dsfllr  auf  alle 
Ansprüche  und  EroberttngMi  in  Polen;  doch  verhiefa  ihm  ein  zweites  Akten- 
Stflek  für  den  Kampf  gegen  Schweden  mit  mindestens  6000  Mann  eine  noch 


562 


O.  Diestel:  Der  Grorse  EarfüraL 


zu  vereinbarende  Gebietserweiterung.  Auf  einer  achttägigen  Zusammenkunft 
zu  Bromberg  (Ende  Okt.  1G57)  nahm  das  gegenseitige  Verhältnis  zwischen 
dem  ehemaligen  Oberlehnsherm  und  dem  abtrünnigen  Vasallen  besonders  durch 
die  Vermittelung  der  klugen  und  energischen  Königin  Luise  Maria  ans  dem 
Hause  Gonzaga,  die  ihren  Gemahl  leitete,  wie  *der  kleine  Äthiopier  seinen 
Elefanten',  einen  durchaus  herzlichen  Charakter  an.  Zum  Ersatz  für  Ermland, 
das  Friedrich  Wilhelm  dem  katholischen  Bischof  zurückgab,  erhielt  er  die 
reiche  Handelsstadt  Elbing,  bis  die  llepublik  sie  für  4(XX)00  Thlr.  zurückkaufen 
könnte  und  für  weitere  Hilfe  die  Starosteien  Lauenburg  und  BQtow  in  West- 
preufsen. 

Der  Kurfürst  war  auf  einer  ungeahnten  Höhe  der  Machtstellung  angelangt. 
Als  unabhängiger  Fürst  war  er  in  die  Ileihe  der  Kriegführenden  getreten,  und 
zu  Ende  des  Jahres  1657  erschienen  zum  erstenmale  in  seiner  Residenz,  in 
Berlin,  die  Vertreter  Frankreichs,  Schwedens,  Österreichs  (Lisola  und  Montecuc- 
coli),  Polens  und  Dänemarks,  um  mit  ihm  über  den  Frieden  oder  den  Krieg 
zu  beraten.  Als  nach  mühsamem  Hin-  und  Herzerren  der  verschiedenen  Pläne 
und  selbstsüchtigen  Wünsche  der  Krieg  gegen  Schweden  beschlossen  wurde, 
dessen  Vertreter  drohend  den  Kongrefs  verlassen  und  doch  gleich  wieder  in 
Neubrandenburg  mit  Schwerin  über  einen  zweiten  Friedenskongrefs  beraten 
hatte,  und  am  9.  Febr.  1658  schon  ein  Bund  zwischen  Brandenburg  und  Oster- 
reich vereinbart  war,  brachte  die  Nachricht  von  Karls  X.  kühnem  Marsch  über 
die  beiden  Belte  und  dem  Frieden  zu  lioeskilde  (27.  Febr.)  wieder  alles  ins 
Schwanken.  Der  Sieger  begann  mit  Polen  über  den  Frieden  zu  verhandeln 
und  schmeichelte  Osterreich,  um  Brandenburg  zu  isolieren  und  zu  vernichten. 
Gleichzeitig  betrieb  Mazarin  in  Frankfurt  die  Wahl  seines  Königs  zum  römischen 
Kaiser  und  stiftete  den  Kheinbund.  Allein  Friedrich  Wilhelm  wies  den  eng- 
lischen Genoral,  durch  den  ihn  Crorawell  zum  Anschlufs  an  Schweden  mahnte, 
mit  Entschiedenheit  zurück  und  setzte  die  Wahl  Leopolds  durch,  der  dafür  am 
15.  Juli  1658  versprach,  seine  gesamte  Macht  gegen  Schweden  ins  Feld  zu 
führen.  Die  Genossen  des  Rheinbundes  freilich  unterzeichneten  vier  Wochen 
später  einen  Vertrag  mit  Frankreich  zur  Verteidigung  des  Westfälischen 
Friedens,  also  der  schwedischen  Vorherrschaft  in  Deutschland.  So  schien  es, 
als  ob  die  schauerliche  Wunde  wieder  aufgerissen  werde,  die  sich  mühsam  vor 
zehn  Jahren  geschlossen  hatte.  Da  verkehrte  plötzlich  ein  unerhörter  Zwischen- 
fall die  ganze  Sachlage  und  brachte  die  Welt  dem  Frieden  näher,  als  es  jemand 
erwarten  konnte. 

Wie  vom  Cäsarenwahnsinn  ergriffen,  ohne  sich  um  seine  Bundesgenossen, 
um  Frankreich  und  England  zu  kümmern,  mit  einer  Treulosigkeit,  die  selbst 
in  diesem  Jahrhundert  nicht  ihresgleichen  hatte,  entliefs  Karl  X.  den  dänischen 
Gesandten  Gabel  mit  allen  Versicherungen  der  Freundschaft  und  Zuneigimg 
für  seinen  König  Friedrich  UI.  und  stach  unmittelbar  darauf  am  15.  August 
1658  mit  80(X)  Mann  in  See,  um  K<)j)eiihagt'n  zu  überfallen  und  zu  zerstören. 
Allein,  während  die  Bevölkerung  der  Hauptstadt  mit  äufserster  Anstrengung 
Widerstand  leistete,  rief  Friedrich  Wilhelm  nicht  nur  durch  eine  vielgedruckte 


DigitizGL.  _ ,  .o 


0.  DiMtol:  Dar  Omb«  KniAnt 


668 


and  'gelesene  Flugschrift  ^'Aii  ileii  elirlicheii  Deutschen')  den  Vaterlandssinn 
dar  Dfotacbeii  vd,  sondern  sIelUie  sich  selbst  an  die  Spilie  eines  Bimdeeheeres^ 
dM  «ns  Kaiserliehen,  Polen  und  mneiBt  aus  Bnmdenbaigem  brntendy  deren 
Hslinng  nnd  EriegstOditigkail  schon  dsmals  Staunen  erregte.  Noch  im 
September  fegte  er  die  4000  sdiwedischen  Beeatenngstruppen  ans  J&tland  hin- 
weg, und  nun  schwangen  sich  auch  die  saumseligen  Niederländer,  Oberdies  von 
der  Furcht  vor  Cromwell  durch  dpss<>n  Tod  befreit,  zur  thntivri'n  Mitwirkung? 
auf  In  heifsem  Rinjjkampf  mit  der  schwedischen  Flotte  nmclitt'  die  nieilor- 
ländiöch-düniHcbe  am  ii.  Nov.  den  Sund  frei.  Wt-nig^  Wochen  sjniter  (  14.  DtiC.) 
Ueta  der  Kurfürst  bei  Nacht  die  Schweden  au8  Aisen  vertreiben  und  faiäte 
schon  den  kflhnen  Pkin,  durch  ein  iMdni^sheer  anf  Seeland  dsn  Schweden- 
kSnig  im  Rflcken  anangreifian,  als  wieder  eine  onerwartete  Wendung  eintrat. 
Haaarin,  der  spanischen  Kriegsnot  ledige  schickte  Karl  X.  reiehliehe  Geldunter- 
st&tanng,  und  England  liefs  seine  Flotte  (April  1669)  im  Sund  ankern.  Nun 
aber  zeigte  es  sich  erst  recht,  dafs  aufser  dem  unersättlichen  und  abenteuer- 
durstigen Schwodenkonige  ulle  anderen  sieben  Machtf  iiftcli  Frieden  verliingten, 
nnr  dafs  die  drei  westlichen  xur  Schwächung  llabsburgs  und  zur  Stärkung  des 
iVotestantismus  für  Schwedens  Besitzstand  in  Deni^chland  eintraten,  während 
Dänemark,  Osterreich,  Brandenburg  und  i^uleu  tu  bei  dieser  Gelegenheit  mög- 
lidiat  von  der  deutschen  SeekQste  abdrängen  woltten.  Nachdem  die  West- 
mScbte  auf  drei  Haager  Konaerten  (Mai,  Jnli  und  Ai^iust  1659)  schon  die 
Forderungen  &nrlB  X.  an  DSneniark  mflhsanL  herabgemindert  hatten,  kam  es 
nodi  zu  einem  grofsen  Siege  der  Nied«  rlandt  r,  Brandenburger,  Österreicher  und 
Dänen  (24.  Nov.  165*J)  bei  Nyborg,  der  Fünen  von  den  Schweden  befreite, 
wahrend  der  brandenhnrgi^tclie  Süittlialter  in  Preufsen,  Körst  Radziwill,  ihre 
Besatzungen  aus  Kurland  und  einem  grofsen  Teib'  We8tj>reuf8en8  verjagte. 
Schon  unterbandelten  scbwedische  und  dänische  li<»tsehafter  im  Sinne  der 
Haager  Konzerte  in  Kopenhagen  über  den  Frieden,  schon  versammelten  sich 
die  Vertreter  Sdiwedeuf,  Polens,  Brsndenburgi^  und  des  Kusors  (Jan.  1660) 
in  der  Zistenienserabtei  Oliva  bei  Dansig  aar  Beratung,  ah  Karl  X.  mitten 
miter  erneuten  Rflstungen  gegen  Österreich  mid  Brandenbarg  am  22.  Febr.  1660 
aus  dem  Leben  schied,  gerade  In  demselben  Alter  wie  sein  weit  grofserer  Oheim. 
Aber  wihrand  Gustav  Adolfs  Tod  von  MiUionen  Protcstantim  beklagt  wurde, 
erschien  d»r  i^finige  bei  Freund  und  Feind  nh  eine  Erlösung  von  allem  TTbel. 
Dennocb  wäre  der  eiulgiltige  Frieden  von  Oliva  (H.  Mai  ItiOd)  nielit  zu  stände 
gekommen,  wenn  Friedritli  VVillR'Ini.  der  zur  Zeit,  allein  am  Kaiser  Leopold 
einen  redlichen  Buudusgeuosseu  fand,  nicht  auf  seine  weitgehenden  Ansprüche 
Schritt  llir  Schritt  Tcnichtet  Utle.  Wiederholentlieh  hatte  er  triOiraid  des 
wechaelTollen  Krieges  schon  das  hohe  Ziel  tot  Augen  gesehen,  die  Mündungen 
der  grolben  Strdme  Norddentsdilands  mm  der  Fremdherrschaft  au  befreien, 
allein  seine  HoflFnung  war  stets  vereitelt  worden.  Als  er  auf  dem  Wege  nach 
.Tüiland  mit  leichter  Mühe  hätte  die  Weser-  und  Elbmündung  den  Schweden 
entreifeen  können,  atiefs  er  anf  einen  Orcnzcordon,  den  die  Hbeinbündler  auf 
Befehl  Frankreichs  bildeten,  und  die  Odcrmündungcn  zu  gewinnen,  die  ihm 


564 


0.  Dieitd:  Der  Grofte  Kurfllni 


melir  wert  schienen  als  Minden,  Magdeburg  und  Halberstadt,  hinderten  ihn 
mehr  die  Bnndesgenoraen  als  dis  F«nde.  Er  mniste  sidi  aofiiedeii  geben,  dis 
wmigeii  Ostseehifen,  Colbei^,  Pilku  und  Memd,  deren  Beaits  wUurend  des 
Kriegs  im  liSebrien  Grade  geflOurdet  war,  fest  in  den  H&nden  behalten  nnd  auf 

dem  Friedei)skmii;r  fs  au  Oliva  die  Anerkennung  seiner  souveränen  Herrschaft 
in  PreuJsen  durch  den  Kaiser  und  die  GroDnnickte  erlangt  zu  habin.  Wohl 
hätte  er  mehr  erreichen  können,  wenn  es  ihm  ^rylückt  wäre,  nach  dem  Vor- 
gänge Gustav  Adolf»  alle  protestanti.sclu'n  Fürsten  7.11  einem  grofsen  unfl  starken 
Buude  zu  vertinigen,  zuiniil  er  selbst  von  deutscheüttir  und  frommster  Ge- 
sinnung, wenn  auch  A-ei  von  jeder  konfessionellen  Beschränktheit  war. 

Immerhin  hatte  er  Brandenburg- PreuXsen  wahrend  seiner  ersten  zwanzig 
R^erongsjahre  m  einer  unerhörten  Maditstellung  erhoben.  Wenn  aneh  dem 
JLVÜ  Jahrhundert  der  Begriff  einer  Groikniacht  eigmiUieh  nodi  fir^d  war, 
und  dem  Knrflbnitentnm  wie  dem  Hentogtnin  die  fiebere  Grundlage  einer 
aoldien  durchaus  mangelte,  so  waren  doch  die  'Ziele  einer  Grofsmacht*  in 
seinem  Geiste  und  seinem  Willen  stets  lebendig^  und  sein  'ehernes  Pflichtbewufst- 
seiu*  ^nh  ihm  die  Kraft,  das  Untfestüm  soiiKs  Hohenzollemtempersmentes  so 
zügeln,  abzuwarten,  anzubauen  und  die  Ernte  vorzubereiten. 


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ANZEieElN  UND  MITT£ILUNa£N. 


DIE  WEmAiiEll  LÜTHEEAUSGABE. 

D^Mer  «magelisdiM  d«atodiciyo1k  Mhlt 

rieh  praktiHch  und  wisseiiBchiiftlidi  iiumer 
wieder  zn  leineiB  Latlwr  hingesogeiL  Dmt 
beweist  Kidi  die  betriUhiKdie  ZbU  der  Oe- 
■amtaiugaben  der  Werke  des  Rf'fonnutora, 
die  ee  reranstaliete.  Fast  jedes  Jehrhaadert 
■eifc  der  Befomation  weilt  deren  swei  Mit 
Koch  unter  Lutiiers  Aagen  begannen  Kaapar 
Kreadger,  Oeorg  Hörer  und  Georg  Spalatin 
eine  Sammlung  seiner  decttedien  md  latei- 
mSm^^um  Schriften  heraaszngeben  (Witten- 
berg 158»— l&M).  £•  lag  in  der  ganzen 
Kichtung  der  Jenaer  Umvenität ,  dieser 
Wittenberger  Ausgabe  eine  eigene  entgegen- 
nstellen  (Jena  16&6— lÖÖ^V  Johann  Auri 
fkber  ffigte  derselben  zwei  HrgäuzungsLäucie 
hinzu  (Eisleben  1664 — 1&66).  Das  n&chste 
.Tiilirhundcrt  bra<'ht>-  die  Allenbur^er  1661 
— 1604:,  da«  XVIII.  Jahrhundert  die  Leip- 
siger  (1729— 1740  und  die  Hai  ieaeh« (1740 
iTr^.'ii,  dioHi's  Jahrhundert  die  aogtnälUltt 
trianger  Ausgabe  ('seit  1826). 

Ohne  Zweifel  um  Ist«  die  Erlanger  Aus- 
gabe als  die  best«  aller  Insberigen  bezeich- 
net werden.  Sie  wird  auch  schon  deshalb 
weiterer  Benutzung  sicher  lein,  weil  Aber 
ein  halbes  Jabrhandert  dMaeh  citiert  ww- 
den  ist. 

M»  eine  «kritisdie  Anagabe*  der  Weite 

Luthers  konnto  freilich  ancb  die  'Erlanjjer' 
nicht  beseichnet  werden.  Es  fehlten  die 
biblioginphiMhen  Yerarbeitenf  die  Sanunlnng 
der  vorhandenen  Drucke,  dip  Erfor)<cLunp 
des  J^tdrockes,  die  Untersuchung  des  Ver- 
UUtnissee  der  Etnceldnicke  sn  eirander.  Es 
fehlte  die  Verwertung  der  vürhundenen  Ori- 
ginalhaadschnJten  Luthers.  Zudem  war  im 
Laufe  der  Jabie  mandieriei  neaes  V aterial  ent> 
deckt,  d^i^i  der  wissonsobaftliL-hen  Vorwertiing 
harrte.  SosprachschonDr.K.  F. Th.  Schnei- 
der (D.  Martin  Lathen  Kleiner  Kateduemns 
S  LXVT  f.  es  als  'hinreichend  anerkannt' 
aus,  dafs  eine  kritische  Gesamtausgabe 
der  Werke  Lnthen  noch  nicht  roihanden, 
aber  zu  erstreben  sei.  Und  wenige  Jahre 
ror  dem  Lutheijubiläum  (1883)  bekundete 
die  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin 
dieselbe  Erkenntnis,  indem  sie  die  Preisauf- 
gabe stellte:  'Nach  welchen  Grundsätzen 
würde  eine  neue  kritische  Textousgabe  der 
lütesten,  ctwu  bis  1521  erschienenen  deut- 
schen Schritten  Lutberf  herzustellen  sein?* 

Kene  J«hrbticher.   1898  L 


Damals  hatto  bereits  D  J  K  F  Knaake, 
bekannt  durch  eine  Keihe  aoigfliltiger  Ax- 
beiteu  auf  dem  OeUete  der  ^^^^ftw^irnttwe^t- 
ppKcbichte,  den  Plan  einer  kritischen  Ge- 
samtausgabe erwogen,  seine  Dmchifthning 
ins  Auge  gefisAt  vttd  seit  Jahren  unter  be- 
trächtlirhen  Opfern  einschlägige  alte  Drucke 
angekaoA.  Noch  im  Jahre  des  Luther- 
jabüSvBMi  idhal  endn«  von  seiner  Hand 
bearbeitet  d«r  ante  Band  der  'Kri- 
tischen Gesamtausgabo'  der  Werke 
Luthers.  'Im  Hinblicke  auf  das  bevorstehende 
Lutheijubiläum' ,  schreibt  er  im  Vorworte 
iß.  XVI),  'ermuntert  und  beraten  von  Herrn 
Eonsistoriahrat  Prof.  Dr.  KöHÜin  in  Halle, 
wandte  ich  mich  unter  dem  8.  August  1880 
an  das  Kgl.  prenfsischc  Minjst<.'rinm  der 
pi^cisUichen,  Unterrichts-  und  Medizinalangts- 
legenheiten  mit  dem  Gesuche  um  Unter- 
PLf  miMtirs  Unternehmens.  Nur  mit  in- 
nigem Donk  kann  ich  auf  die  Verhandlungen 
anrflckblioken*  die  sieh  daran  knflpften:  rie 
zeugten  von  Anfanp  an  von  dem  wannen 

Interesse,  welches  die  äache  fand.  Ihren 

Abschlufs  fanden  die  Verhandlungen  dadurch, 
dafs  Se.  Maj.  der  deutsche  Kaiser  huld- 
vollst eine  hohe  Summe  bewilligte,  um  die 
Verbereittingen  fiOr  die  Ansgabe  fortsnseteen 
und  dieselbe  sicher  zu  stellen  Zur  Leitung 
des  Unternehmens  wurde  vom  Kgl.  preulsi- 
schen  Minieteriwn  der  geiatlidien  etc.  ete. 
Angele<^'OT>h'^!ten  eine  Kommission  gebildet, 
bestehend  au«  einem  Vertreter  des  Ministe- 
rinms  (Horn  Obenkensistorinlmt  Prof.  Dr. 
Wrif-  und  zweien  Dele^ertcn  der  Akademie 
der  Wusetuchatten  (Herrn  Geh.  it^erungs- 
r«t  Prof  Dr.  Hflilenhoff  nnd  Berm  CMi.  Be- 
gieningfirat  Dr.  'Wait4s).  Den  Verlag  über- 
nalim  die  Verlagsbuchhandlung  von  Hermann 
BOhlnn  in  Weimar,  wBhrend  die  Bedaktion 
mir  übedrajren  wurde:  andere  auf  dem  Ge- 
biete schon  bewährte  Forscher  werden  mir 
hoirentlieh  rar  Seite  treten*. 

So  diinkeiiHwert  die  Energie  Knaakes  war, 
mit  der  er  es  erreicht«,  dafs  noch  im  Jahre 
1883  der  erste  Band  der  neaen  Lutherans- 
gabe  erschien,  so  mufste  dennoch  die  Frage 
entstehen,  ob  es  nicht  geratener  gewesen 
wäre,  die  Ausgabe  noch  sorgfältiger  vonu- 
bereiten,  insonderheit  durch  Gründung  eines 
'Archivs' ,  in  dem  atrittige  Fragen  erörtert, 
neue  Funde  mitgeteilt,  zu  weiteren  For- 
schnngen  in  Archiven  nnd  Bibliotheken  An- 
regong  hätte  gegeben  werden  können.  Da- 

S7 


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566 


Aueigeii  und  lfitl«iltuig«ii, 


durch  wäre  allerdinga  zuDÜchüt  die  Ausgabe 
«twM  verzögert  worden:  aber  es  wäre  ipUer 
PTn  scIini.'lleroH  Ti-mpo  gesichert  gewesen, 
und  ii^icbi  bü.ll«u  «ich  weitere  Er&fte  der 
Arbeit  zuführen  und  in  dieselbe  einführen 
lassen.  So  kam  es  denn,  dafs  sich  sehr  bald 
Dach  dam  Eracbeinen  der  ersten  Bände  die 
Notwtndiii^i  berfttUBtellt«,  allerlei  'Nach- 
träge, Ergänzungen  und  Ot>richtigungen'  zu 
bringen.  Sie  füllen  einen  ganzen,  recht 
rtatÜichen  Band  (IX)  Mit  dieser  ßemer- 
Ininrj  soll  ni(  hl  im  mindesten  das  Verdienst 
Knaukes  um  die  neue  Lutherausgabe  ge- 
MilimKlett  werden.  Es  war  ja  von  vornherein 
zu  erwarten.  dn?f  t]nü  lititht'rjubiliium  srhim 
an  aicb,  das  Kr^tcbeiueii  der  ersten  Bände 
der  'Kritiacben  Gesamtausgabe'  insbesondere 
zu  eifrigen  und  fleifsigen  Nachforschungen  in 
Archiven  und  Bibliotheken  anspornten,  und 
dafs  manches  Wertvolle  aus  dem  Staube 
und  dfr  Vf'rborgenbf'if  stiller  RüilitrHen 
ans  Tageslicht  gezogen  werde«  würde. 

Um  ein  Bild  d«r  neuen  Lutheranagabe 
in  kurz>'ii  Zü>;pn  zu  geben,  wolb'ii  wir  /'  if^en, 
inwiefern  dieselbe  sich  bestrebt,  eine  ' kri- 
tische* und  eine  'Oee*mt»iis^abe'  tu 
■ein. 

Es  zeigt«  sich  sehr  l>ald,  dai':^  eine  cin- 
lelne,  noch  dazu  mit  einem  öffentlichen 
Amt<^  belastete  Kraft  für  die  Bewältifi^inp 
der  Aufgaben,  die  die  neue  Lutiicrausgabe 
«teilte,  nicht  ausreichte.  Im  April  1890  be- 
rief deshalb  ^Minister  von  Üofsler  den  On  ifs 
walder  Professor  Dr.  Pietsch  unter  lieur- 
lanbnng  veo  seiner  Professur  in  die  Stellung 
cinf«  J^ckretürs  der  Komuiission  zur  Ht  riui« 
gäbe  der  Werke  Luthers.  Ks  sollte  'den 
Mängeln,  die  in  der  kritischen  Gesamtane- 
gäbe  d<'r  Werkt'  rititliers  hie  und  d:i  hervor- 
getreten sind,  durch  eine  mehr  einheitliche 
Leitung  der  Arbeit  für  die  Zukonft  mOgUchst 
vnrp(*heTi£T+ ,  sowie  im  besonderen  auch  eine 
den  berechtigten  Anforderungen  mehr  als 
bisher  ent«prechende  Berficksichtigung  der 
philologischen  und  «sprachlichen  Qeeichte- 
punkte  herbeigeführt'  werden  (XQ  8.  III). 
Als  'kritische*  Ausgabe  will  die  neue  Luther^ 
ausgäbe  Ma<,  was  von  Martin  Luther  in 
Schrift  und  littdc  ausgegangen  ist,  in  der 
echteeien  erreichbaren  OestaJi,  and  iwar  in 
der  einzig  wiiklich  sarhci-miirfen .  weil  der 
Art  der  schriftsteilerigchen  i  hiitigkeit  Luthers 
gemlisen  Anordnung,  in  seitlicher  Reihen- 
folge vorfilhren.'  Dio  neue  Ausgabe  'will 
nicht  ein  nur  theologisches,  sondern  ein 
nationales  Unternehmen  sein.  Mit  die 
wfrhtigste  Seite  der  nationsi  )en  Hedentiinjr 
Luthers  ist  zweifellos  darin  zu  linden,  dal's 
er  den  jungen  SchAlUing  der  GemeintpMche 


durch  seine  Pflege  und  meinen  Einflufs  soweit 
falftigte,  dafs  er  dann  allmählich  zu  einem 
ganz  Detiti^rhland  überschattenden  Baume 
emporwachsen  konnte.  Von  dem  MaTse  de« 
Einflusses,  den  Luther  auf  die  Gemeinsprache 
geübt,  dem  Mafse  der  Krflftigung,  welche 
sie  unmittelbar  durch  ihn  erreicht  hat,  mit 
andern  Worten,  von  Ausdehnung  und  Grensen 
der  sprachgeschichtlich  -  nationnlen 
Bedeutung  Luthers  durch  die  Mittel  wissen- 
■chafUicher  Fonebuag  ein  fest  umrisse* 
nef«  Bild  zu  gewinnen,  ist  an  aicb  fine 
Ebrea{)tiicht  der  deutscheu  Wisseoschatl 
gegen  Luther  und  zugleich  eine  ihrer  drin« 
geiulsteu  Ariftraben,  weil  die  heute  gewon- 
ueue  Erifenntnis,  dafs  diese  Bedeutung  früher 
überschätst  worden  sei,  die  Gefahr  der 
ü  ntefHcbütznnp  so  lange  in  sich  birgt,  aU 
nicht  der  Thatbtistand  genau  festgestellt  und 
untersucht  ist'  ^a.  a.  0.  S.  Vn  f ). 

nieriuicli  ist  nfHip,  vnr  allem  die  in  Witten- 
berg uuUir  Luthers  Augen  hergestellten  Erst- 
lingsdrucke  zu  eruieren.  Damach  sind  die 
Nachdrucke  festzustellen  und  in  Verfolff 
ihres  VerhäJtuioüea  zum  ürdruck  sowie  un- 
tereinander zu  gruppieren.  Es  versteht  sich 
von  selbst,  dafs  der  Erstlin<?silnick  zu  Grunde 
geltigt  und  die  Abweichungen  in  den  Nach- 
dmeicett  veneiohnei  werden.  'Diese  lassen 
uns  erkennen,  wa?  an  jedem  Orte  -.'enndert. 
was  belassen  wird;  sie  werden  vielleicht 
auch  «eigen,  dafs  —  wenigstens  an  numdieo 
Orten  je  spJUer.  dp<?to  wenis^er  peandTt 
wird,  worin  dann  ein  lieweiü  dafür  zu  tindea 
wäre,  dafs  man  sich  an  Luthers  Sprache  ge- 
wohnte und  ihr  Verständnis  keinen  erheb- 
lichen iiindemisaeu  mehr  begegnete  Das 
könnte  dann  auch  in  Weeh.selwirkung  stehen 
mit  den  Änderungen,  die  sich  im  Laufe  der 
Zeit  in  Luthers  Sprache  selbüt  vollzogen,  so- 
fern diese  in  Anbequemungen  an  den  Sprach- 
peliruueh  besonders  oberdeiit.s.  her  Hegenden 
und  Orte  bestanden.  Solche  Wandlungen  in 
Luthers  Sprache  würden  somit  möglicher- 
weise erst  durch  die  Änderungen  der  Nach- 
drucke ins  rechte  Licht  gerückt  werden' 
(a.  a  0  S.  VUIi. 

Weitgehen'le  neacbtiini,'  und  sicherlich 
ungeteilte  Zuäliuunuug  dürft«*  dn^  tioden, 
was  Dr.  Pietsch  über  die  'Sprachgeschichte 
liehe  Bedeiitunp  der  HandsehriOen  Luther?' 
iIX  S.  X)  sagt.  Diese  Bedeutung  bedarf 
sorgfUtiger  Erörterung,  um  einen  festen 
Grundsatz  für  die  Verwertung  der  vorhan- 
denen Lutherhandschritten  insbesondere  für 
den  Fall  zu  gewinnen,  dafs  uns  diese  Hand- 
«chrift  neben  dem  Wittenberger  Origioal- 
druck  erhalten  ist.  'Die  bisherigen  L'nter- 
sndraagen  aber  dni  Yerblltnis  der  Lnlhn^ 


.^  .d  by  GüOgl 


Aoseieen  and  HütoOmigen. 


567 


drucke  zu  den  Handschriften,  soweit  sie  die 
«prachlicbe  Seite  betreffan',  ngi  Pietedi, 

'leiden  an  rinrr  nicht  ganz  richtiffpri  Fraf»e- 
itellung.  Man  will  die  Frage  beantworten: 
Ist  eine  Dantellang  der  Sprache  Lathen  in 
erster  Reibe  nnf  flir  H;uid«chri<teu  oder  auf 
die  Drucke  zu  gründen?  Dabei  übersieht 
man,  dab  ee  dieee«  «entweder  —  oder»  m 
schlechthin  par  nicht  ;,'ic'bt,  dafs  \iflüiehr  jp 
nach  der  Absicht,  die  man  verfolgt,  da« 
eine  wie  dai  andere  berechtigt  ist.  Betrach- 
tet man  TiUthfr  nur  al^  rino  der  deutsch- 
ichreibenden  Persönlichkeiten  des  XVI.  Jahr- 
hnnderta,  rein  fOr  sich,  ao  und  natürlich 
«eine  Handschriflen  einschliefslich  (I<^r  Briefe 
allein  vollgiltige  Zeugen.  Fafst  man  dagegen 
Luther  in  seiner  fprachgesehiehtliehen  Stel- 
lung ins  Auge,  ale  den  Miiim,  ilr^srn  Schrif- 
ten sprachliche  Wirkung  gelhau  haben,  so 
kommt  natärlich  allein  die  Form  derselben 
in  Betracht,  in  der  sie  diosf  Wirkiniß-  (TcHVit, 
d.  h.  die  gedruckte,  und  »war  niicbst  den 
Originnldm^en  noch  die  Nachdrucke.'  Band 
IX  bietet  nach  dem  Orif^inalf  vier  «Ifuf scJh' 
Lutherhandschriileu,  darunter  'die  frühesten 
deat«chen  Aofreichnnngen  Lnfhen  von  grOfse- 
rem  Umfange,  die  uns  erhalten  .«ind'.  und 
zwar  sind  diese  Handschriften  vollständig 
und  mit  Angabe  der  darin  befindlichen  Kor- 
rekturen und  mit  Beibehaltung  der  originalen 
Gestalt  mitgeteilt.  Damit  ist  die  Möglicb- 
heit  n^egeben,  ni  «rforwhen,  welche  Absich- 
ten rlon  Änderungen  zu  Gmndp  lupen,  wclrlie 
die  Hamiöchrift  Luthers  im  i^rucke  erluhr. 

Es  ist  flelbHtverständlich,  dafil  die  in  Wahr- 
heit 'kritische'  auch  eine  Gesamtausgube 
werden  mufs.  Eine  griindliche  Durchfor- 
ichnng  der  Archive  und  Bibliotheken  ist  da* 
her  nnbedinut  nötig.  Zum  'Finden'  kann 
man  freilich  niemand  zwingen.  'Nachträge' 
werden  onvemieidlieh  mtd  vimnfbleiblioh 
sein.  Aber  man  kann  en  dorn  riihrigen 
Sekretär  Prof.  Dr  Pietsch  nachrühmen,  dafs 
er  aaeh  nach  dieser  Seite  hin  thut,  was  ge- 
than  werden  kann,  und  es  ist  zu  hoffen, 
dafs,  wenn  anders  »eine  Umfragen  an  Ar- 
ehive  and  Bibliotheken  gewisMohafte  Beaat- 
wortnn;^  finden,  die  neue  Au!<gabe,  was 
Handschriften  und  Drucke  betriift,  in  der 
Thai  den  Namen  einer  '  Gesamt  ausgäbe' 
verdient  T>ie  letzten  Jahre  hüben  bereits 
aufserordeutlicb  viel  neues,  bisher  gänzlich 
unverwertetes  Material  ans  Licht  gebracht. 
Wt'lch  eine  reiche  Au^liente  liracVitr  il'u- 
Durchforsclxung  der  BiblKttbekcu  /.u  Zwickau, 
Jena,  Königebarg,  Nümborg,  Beidelberir, 
Stockholm  u.  a.  m.  Und  dn1>ri  i^t  zu  liptonen. 
dafs  eine  sjatematische  Durchforschung  erst 
bei  wemgen  Bibliotheken  erfolgt  ist. 


Von  einem  Gebiete  der  Thätigkeit  Luthers 
kann  nMi  behaapton,  daf«  laitte  winene^aft- 

Urhe  Darst*'llung  in  der  Haujitnache  erst  auf 
Grund  der  neuesten  Funde  möglich  ist:  die 
hamileiiedie  TUt^tkeift  dee  BefotiDatore. 

Eine  sprachgeschicbtliche  Verwertung  der 
Predigten  Luthers  war  bisher  nur  in  sehr 
geringem  Mah»  mOglieh.  Der  reiche  Band- 

srhriftenschatT;  der  FniversitjltsVn'Viliothck  zu 
Jena,  den  Georg  Hörer  gesammelt  hat,  kommt 
eiei  der  aeaea  Luthwranigabe  aa  gnte.  Es 

ist  ein  Philolog,  der  diesen  Schatz  in  fol- 
gender Weise  bewertet  (Prof.  Wilhelm  Me^er 
ia  GMtingea  in  den  Naehriehtea  derKgl.Oe» 

sellBcbaft  der  W^issen8chan«n  zu  Göttinpt  n, 
pbüolog.  •  historische  Klasse,  lÖ9ö,  Htt..  4, 
S.4(Sf):  'HitBOIb  dieeer  RArenehen  Naeh- 

Bchriften  können  und  müssen  neue  Wepe 
geöffnet  werden.  Zunächst  läfst  sich  aus 
BOrere  Aa&aiehanngen  ein  fttmüiehee  diro- 

nolo Irisches  Verzeichnis  der  von  Luther  frei 

gehaltenen  Predigten  herstellen.  Mit 

Hüfe  dieeee  VeneiehnieseB  wird  die  wiehti- 

pere  .Arbeit  peniarht  wnrHen  kennen:  die 
NiKbiichriften  Uürers  uü^sen  gedruckt  wer- 
den, und  den  einzelnen  Predigten  mSnea 
die  Nachrichten  anderer  beigegeben  werden, 
soweit  eine  vorangehende  Untersuchung  sie 
als  selbständig  und  verstündig  bcßndet.—' — 
Wenn  wir  Deutsche  dif  alicii  Erklämngen 
zu  Aristoteles  oder  die  vernieiutlichen  Pre- 
digt«n  des  Augustin  drucken,  so  haben  diese 
Nachschriften  Lutln-riHclier  Predijjten  viclmal 
mehr  Recht,  verutleutlii  bi  zu  werden.  Durch 
eine  solche  genauere  Kenntnis  der  Predigten 
Luthers  wird  die  Erkenntnis  sfjnc.i  Wirkens 
und  seiner  Schrifteu  betraichtlich  gefördert 
werden.  Wir  werden  nicht  aar  alemlich 
deutlich  sehen,  wie  Luther  gesprochen  und 
wie  er  mit  dem  Worte  seine  tiemeinde  ge- 
laakt  nad  die  kOnftigen  Mitstreiter  aasge- 
rüstet  hat,  sondern  «iv  in  einem  ansfiihr- 
lichen  Tagebuche  wt-rdcu  wir  in  diesen  freien 
Offenbarungea  seines  Innern  Latbet«  £at> 
wickhin'TSü'ansr  verf(il;,'i'ii'. 

Aus  den  Drucken  bez.  den  Originalhand- 
Kchriflen  erkennen  wir,  wie  der  deutsche 
Luther  für  die  Öffentlichkeit,  in  den  Briefen, 
wie  er  als  Privatmann  schreibt.  In  den 
Nachschriften  seiner  Prcdigtciu  hören  wir 
ihn  unmittelbar  reden.  K>5  Hept  auf  der 
Hand,  dafs  sich  aus  dem  Vergleiche  einer 
Predigt,  wie  sie  Luther  hielt,  mit  der  Pre- 
tii^'l,  wit'  sie  gedniekf  wurde,  sjirarhfieschicht- 
licli  die  wichtigsten  und  wt'rlvuUsten  Schlüsse 
«chen  lassen 

ürafunglich  wird  allcrdingH  die  neue  Ge- 
samtau^abe  werden,  (.'nter  60  Blinden  wird 
•i«  in  iberVoUeodnng  kann  aUden.  Biaher 

«7* 


668 


Aaamgtn  and  UHMOarngm. 


liegen  vor  Ba&d  1— iX,  XU— XIV  und  XIX. 
Baad  XTX  reicht  in  das  Jfthr  1&S6. 

Karl  von  Hase  hat  einmal  gesa^:  'Luthers 
Werke  siud  m  gut  ein  dentaches  Nutional- 
denkmal,  als  der  Kölner  Dom  '  Mu^e  tiiese 
neuo  Geflanituiis(>fabe  der  Werke  Liithcra 
ein«t  iu  ihrer  VoUendiinp  darstellen  da« 
Nationaldenkmal,  das  dcutachtit  Fondm 
ond  deutsche  Wissen^ichuft  (Ifta  Manne  er- 
richtete, der  die  wisseuschaflliche  Forschung 

der  Benett  Zdt  btgrtbidet  hat* 

GsoM  fioenrAU». 


LrmtRATtmoTiscinrBTr  nr-s  nHEiKincn •  wr«Tv»- 

USCHKK    LaMJKS    YOK    Ö  l'  8  T  A  V   K  ()  E  r  J>  if  H. 

Elberfeld,  Lacas,  243  S. 
THe  Frage  in  dieser  Zeitachrift  (Hfl.  6  7, 
6.  4471,  welches  die  nftchste  Sonderlitteratur- 
geeehichte  sein  werde,  ist  schnell  genug 
heartwortet  worden.  Gustav  Koepper  hat 
gefunden,  dafs  die  Litteraturgeschichte  seiner 
Heimat  in  den  'landlaafigen  Litteratnrbe- 
■cbreibnngen'  m  wenig  Beachtnnrr  ^'i'funden 
hat  und  siebt  sich  daher  veratilaisi,  sie  in 
eiiMiil  Bonderwerke  znaammenznsteUeD.  Eine 
Znaammenstellung  —  leider  nichts  Bofsere'?! 
—  allordiugs  mit  einer  hübschen  Auswahl  von 
PrnhtMu  die  gar  manches  bieten,  wae  «oU 
der  HearhtnnfT  wert  iRt,  aber  in  dem  nnge- 
heuren  Aagtsbot  besonders  lyrischer  Erzeug- 
niflse  auf  kleine  Kfeiee  beachi^nkt  bleibt 
Von  Interesse  ist  es  zweifellos,  an  diesen 
Probeu  zu  sehen,  wie  sich  mit  der  Zeit  seit 
nnsrer  klaeeiiehen  Dicbterperiode  >^in  Diirrh- 
schnittekOnnen  entwirVelt  hat,  das  alle  Ach- 
tung verdient  Namon  wie  Emanuel  Back- 
haus,  Paul  Hoohr,  Victor  Hartang,  um  Ver- 
treter von  drei  < ienerationpn  unseres  Jahr- 
hunderts zu  uenuen,  dürften  nicht  gerade 
weit  bekannt  sein,  aber  sie  bieten  so  form- 
vollendete Stirn  tnungszoichnungen,  dafs  sie 
60  Jahre  früher  sicher  zu  w*>it  gröfserer 
Geltung  gekommen  wftren.  Dennoch  wird 
nie  K()e|ij)('rs  Litteraturgeschichte  schwerlich 
bekannter  machen,  da  auch  ihr  haupteäch- 
lieh  lolndM  Interene  «nt^ivgaitgebrocbt  ymr- 
den  vrird. 

Selbstverstiindlich  sind  die  der  allgemei- 
neu  deutschen  Litteralmgeechichte  längst 

einverleiliten  KrHchiiminp-en  ^"e  Heine,  Im- 
mormann.  (!rabbc,  Moser,  Jichücking,  Annette 
V.  Drotit»'.  Kreiligrath,  Ritt«r8haus  ausgiebig 
behandelt,  alirr  wer  frnpt  liei  diesen  tirufscn 
nach  ihrer  HerkuaftV  Mögen  immerhin  <iie 
Westfalen  stolz  darauf  sein,  bif  /.u  den  Ihri- 
gen zu  zählen;  das  deutsche  Volk  hetruchtet 
sie  eben  als  Deutsche,  und  ea  ist  ihm  sehr 


gleichgültig,  ob  sie  als  Westfalen  oder  Schle- 
sier,  als  Nord-  oder  Söddeutache,  im  Westen 
oder  im  Osten  pehoren  «ind.  Hätte  der  Veri" 
den  Versuch  gemacht,  die  Dichter  aus  der 
Eigenart  ihrer  Heimat  zu  erklären  nach  den 
bekannten  Worte:  'Wer  den  Dichter  will 
veratehn,  mul's  in  Dichters  Lande  gehu'.  so 
trftre  dae  gewlfa  verdienstlicher  gewesen,  ob* 
wohl  rermutlich  wenig  dabei  herauag-ekom- 
men  wäre,  aber  der  Verf.  begnügt  sich  gruod- 
s&tzlich  mit  einer  ziemlich  oberflächlichM 
♦ '!i;ir:\'?f  cristik,  mit  allgemeinen  Bemerkungen 
zu  inriMi  Werken  und  Abdruck  einiger  aller- 
dingfl  gut  ausgewählter  Proben,  kommt  alio, 
wie  bereits  oben  bemerkt,  (Iber  eine  Zusam- 
menstellung nicht  hinaus.  Daneben  tindea 
sich  eine  FfiUe  ganz  bedeutungsloser  Namen, 
die  dieHer  neuen  Sonderdarxtellnng  sicher 
keine  höhere  DaHeinsbercchtiffung  verleihen 
Übrigens  zieht  der  Verf.  auch  seine  Orenie 
sehr  weit.  Er  nimmt  Bowühl  golch.-^  lüp  in 
Westfalen  geboren  sind,  nachher  ai>er  ander- 
wärts gewirkt  haben,  auf,  als  auch  solche, 
die  anderwilrt.«  geboren  sind,  aber  ipAter  ta 
Westfalen  gelebt  haben. 

Die  Darstellung  trägt  nicht  selten  atark 
fenilletoniBtischeii  Gi'pr2ge,  z.  B. :  *Waltber 
V.  d.  Vügelweide ,  Gottfried  v.  Strai'sbnrg, 
Wolfram  v.  Eachenbadl,  sie  alle  suchten  sieh 
südlichere  Regionen,  um  der  Sonno  nalier  zu 
»ein,  als  inmitten  der  sumpfgeboreucu  Nebel 
swischen  Lippestrand  und  Weserrand'  (8. 14); 
oder:  'Die  Spielmänner  hatten  sich  ReT^hail 
gemacht  und  griffen  zu  Hobel  und  Pfriem, 
nm  inmitten  der  Umwallungen  sicherer  Städte 
ein  ehrbar  Handwerk  zn  tr'ih^n  ,\ber  >iie 
konnten  das  Singen  nun  einmal  nicht  lassen, 
und  so  schufen  sie  sich,  ehrbar  wie  flir 
Handwerk,  den  Meifternanp'  f  Ih);  oder 
endlich:  ^Das  Thema  {uiaa  Kosmogonie)  ist 
nicht  neu,  es  ist  von  dem  Dichter  der 
Schöpfungsgeschichte  der  Oenesia  bis  auf 
BleibtreuB  «Kosmische  Lieder«  von  der  Phan- 
tasie Berufener  und  Unberuf»>ner  unendlidl 
oft  variiert  worden,  aber  übertroffen  ist  Houti 
wohl  in  seiner  Art  nicht  worden'  (S.  90).  Auch 
unangenehme  Dmckfebler  sind  nicht  seHeo. 

Das  letzte  Kapit^-l  behandelt  die  mnnd 
artltchen  Dichter  VVeitfaleus  und  Rheinlands, 
und  das  mag  für  die  beiden  Provinsea  be- 
sonderes Interesse  haben  und  ist  für  ein« 
rheinisch  -  weatfälischo  Litteraturgeecitichte 
vielleicht  wichtiger,  alf  alles  andere  Gemein- 
deutsrhe,  was  die  lyänder  herv-orpcbrftcbt 
haben.  Alle«  in  allem:  wir  mnasen  auch 
diese  neue  SondeoElittttatiugVMbidita  für  eat« 
behrlich  halten. 

OoTTBOLD  BorrricHita. 


.^  .d  by  Google 


JAHBOAKa  1898.  ERSTE  ABTEILUNG.  NEUNTES  HEFT. 


ZüK  ENTWICKELUNG  GMECHISCHEß  BAUKUNST. 

Von  Fbboinamd  Noaok. 
I 

Die  CtoBcfaiebte  der  grieduBcliMi  Ardiitektiir  ist  immer  in  enfeer  Linie  die 
Geechiehto  des  grieehiaciien  Tempele  gewesen.  Das  o-kl&rl  sieb  sdion  änfor- 
lieh  ans  dem  Yerhultnis  der  erhalteneTi  Monumente.  Am  ])(  :^ten  erhalten,  daher 
merst  und  am  eingeheiRlsit-n  imteraticbt  und  allgemeiner  bekannt  waren  die 

Tempelniinon.  Profane  BauU'n  hörpn  schneller  auf,  df>n  Ansprüchen  und 
Zwecken  der  Menschen  zu  fjjenügeu  und  werden  häufiger  durch  zeitgemilfse 
Nfuhautcn  ersetzt.  Sie  sind  nicht  heilig  und  entbehren  deshalb  (hn  Vorrechtes, 
um  ihrer  selbst  willen  auch  dann  eriialten  zu  werdeu,  wenu  üie  eigentlich 
nieht  mehr  genügen  nnd  g^nen.  Die  Tempel  werden  aber  auch  eehon  von 
▼omherein  gebaut  nm  an  danem  durch  viele  Geschlechier,  dem  Gott  m  Ehren, 
dem  Erbauer  und  Stifter  sum  Buhm  bei  dnr  Nadbiweli  Wie  mancher  Tempd 
hat  als  Motchee  oder  als  christliche  Kirche  sich  Jahrhunderte  über  seine  Be- 
stimmung hinaus,  ja  bis  in  unsere  Zeit  nnerschüttert  erhalten.  Mochte  also 
von  KntiTven  l*i ()fanbaut<?n  scheinbar  weniger  übrig  geblieben  und  das  Wenige 
in  sehr  trümiuerhaftem  Zustande  sein,  so  kam  augenscheinlich  ein  starker 
Mangel  an  Interesse  hinzu,  um  uns  derartige  Ruinen  mit  wenigen  Ausnahmen 
von&uenihalten.  Was  davon  in  irüherer  Zeit  durch  Delargadette,  (iell,  Dodweli, 
die  franaSsische  Expedition  nadi  Horea  u.  a.  Yer^eatlksht  wmrden  kit,  tritt 
gegen  die  grofs  angelegten,  umfangreichen  Publikationen  grieehiacher  Tempel- 
minen  doch  gaiia  unverhSltnism&big  surfick. 

Die  Erfolge  der  letaten  Jahrzehnte  haben  dieses  Verhaltnia  TerschobeiL 
Die  Forschung  hat  begonnen,  auch  den  erhaltenen  Ptofimbauten  grofsere  Auf- 
merksamkeit zuzuwenden,  und  die  Ausgi-abungen  haben  eine  ungeahnte  Fülle 
neuen  Materiales  gebracht.  Aurli  jetzt  wird  freilich  der  griechische  Tempel 
seinen  alten  Vorrang  behaupten.  Demi  'kein  /weil'el  ist,  dai's  sich  die  hellenische 
Architektur  am  Tempelbau  uutwickelt  hat;  Diese  Ansicht  Brunns,  die  vor 
fÜnfondawamEig  Jahrsn  medergeschiieben  wordsD  isly  wird  immer  bestehen^  so- 
fem  wir  dabei  an  die  VerluÜtniMe  und  einaelnen  Knnstfonnen  denken,  die  ftr 
die  Erscheinung  grieehisch-romiseher  Steinarchitektur  beaeiehnend  und  bestimmt 
gewesen  sind,  bis  heute  eine  herrschende  Rolle  zu  spielen.  Die  fDnfundzwanaig 
Jahre,  die  seit  dem  Entwurf  und  der  Ausarbeitung  des  II.  Buches  TOn  Brunns 
'Griechischer  Kunstgeschichte'  verflossen  sind  bis  jetzt,  wo  es  uns  von  pietät- 
Yollf'r  TTand  als  ein  ehrwürdiges  und  koetbarea  Vermächtnis  dargeboten  wird, 

HoM  Jahrbücher.    IH'J».   l.  88 


570 


F.  Noaek:  Zmr  ESntwiekdiing  gricdiiadier  BanlnuMt. 


umschÜelison  die  Erkeuutaiä  iler  ui^kcnischen  Kultur  und  ihrer  Bauwerke  sowie 
dar  dnaelneii  Sehiditen  auf  Hiuu^,  luban  uiu  das  Henion  Ton  Olympia, 
den  alten  Atbenatompel  und  die  attattisolL-ioDtseliett  ^^telle  auf  der  Aloro- 
polie  von  Athen,  die  Hallen-  und  Tenraasenbanten  T<m  Pergiunon  und  Aegp^ 
die  deliaehen  Hauser  und  ein  Stfiek  dee  Peisistrafcischen  Atiien  und  manches 
andere  gcsclienkt.  Dag  heifst  aber  eine  fast  überreidie  Quelle  der  AufUfimDg 
über  Grundfragen  griechischer  Baugeschichte,  so  unverhofft  und  flberra8<^end, 
wie  nur  etwa  ilic  Auffindnrg  der  '^O^Tji'atov  xoXinta,  des  Herondas  und  des 
Bakchyiides.  liitolgcdessen  kann  nun  auch  die  Entwickelungsgeschichte  der 
einzelnen  Profaiihauteii  einjrelieiul  studiert  werden  und  wird  von  dem  künftigen 
Getichichtächreiber  der  antiken  Buukunst  &vJl  einem  viel  breiteren  Räume  be- 
handelt werden  mflssen  als  eeiffaer. 

Li  dem  einzigen  BUflammenfiMaendai  neueren  Werke  ftber  griechiadie  Bau- 
kunst Too  J.  Dmm  (2.  Aufl.  1892)  ist  daau  ein  glftddieher  Anfimg  gemacht 
worden  (S.  308-^364).  Aber,  wie  es  Dürrn  selbst  nicht  anders  erwartet  ha^ 
ist  seitdem  die  Wissenschaft  wieder  so  schnell  vorwärts  geschritten,  dafs  schon 
heute  auch  in  diesem  vortrefflichen  Buche  manches  Kapital  erweitert,  manches 
ganz  neu  geschrieben  werden  müfste.  Trifft  das  schon  bei  dem  ersten  Teile 
zu,  für  den  vor  allem  die  inzwischen  erschienenen  grofsen  Veröffentlichungen 
über  Olympia  und  Perganion  neues,  wertvolles  Material  gebracht  haben,  während 
Delphi  bi»  jetzt  nur  dem  Augenzeugen  wirklich  zugänglich  ist')  und  wir  von 
Puchsteins  und  Koldeweys  Beu'beitung  der  siulischen  und  imteritaliachen 
Tempel  noch  vides  su  erwartm  haben,  —  so  gilt  es  noch  Tiel  mehr  tod  dem 
zweiten  Teile. 

Zu  den  Profiuibauten  leiten  die  grßJseren  Kultplatae  und  selbständigen 

T<>mpelbezirke  über,  in  denen  neben  den  Temp<'ln  die  Scimtzhäuser,  Hallen, 
Thea!  <  I  tehen.  Unsere  Vorstellung  von  solchen  Bezirken  wird  in  erster  Linie 
erweitert  durch  Delphi,  das  Ttnr  in  Olympia  ein  völlig  ebenbürtiges  Gegenstück 
hat;  dazu  treten  der  v\p()lloTi^!p7irk  im  Ptoongebirge,  LylcosurHj  das  Poseidon- 
heiligium  auf  Kalaureia,  das  jn  gröl'serem  Umfange  in  archaischer  Zeit  (^wie 
das  Heraion  von  Argus)  auf  einem  alten,  bereits  mjkenischen  Kultplatze  er- 
stand, und  Thermon^),  die  Altis  der  Aetoler.  Zusanmien  mit  dem  Hieron  von 
EpidauroB  mfliste  Ton  den  Euianlagen  der  AsUepiosterrasse  am  Sfidabhang 
der  Burg  und  denen  des  Amphiareions  von  Oropos,  vom  Besirk  des  Amynos 
und  demj^gen  bei  Bhamnus  die  Bede  sein.  Das  Sabirion  bei  ThdMn  (das 
Übrigens  audi  ein  Beispiel  der  boeotisdien  Apsistempel  bietet)  wäre  neben 
Eleusis  und  Samothrake  zu  stellen.  Die  Baugsacfaiehte  Tcm  Eleusis  führt  uns 
ja,  wie  diejenige  von  Delphi,  auch  bis  in  mykenische  Zeiten  zurück,  und  seine 
allmähliche,  künstliche  Gestaltung  durch  Terrassenhauten  ist  ebenso  beachtens- 
wert, wie  diejenige  des  Burgberges  von  Fergamon,  der  Akropoiis  von  Athen  u.  a. 

')  über  Delphis  ßaudcukmiUcr  sind  bis  jetzt  nur  kürz*  ri'  Berichte  enehienen  im  BolL 

dB  corresp.  hellen  XVIIT  im  175  ff  ;  XX  nsi  f.;  XXI  641  ff. 

')  Über  die  noch  nicht  beendeten  Ausgrabungen  von  Thermon  a.  lierl.  phil.  Woch.  IBiiT 
Nr.  60  8p.  1&6?. 


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F.  NoMk:  Zur  £ntinck«liuig  grieduMher  Boukunai. 


571 


Unter  den  SffiBnilidiea  ProluilMiiten  Btebt  das  ans  dem  EultuB  erwachiene 
Theater  den  s&kralen  Gebinden  am  nlchaten.  Zu  den  AnefOhningMi  Dumte 
Aber  dM  griechische  Theater  treten  jetzt  Dörpfelds  in  seinem  grofsen  Bnebe 

zusammengefafste  Untersuchungen,  durch  die  meiner  Überzeugung  nach  die 
Entwickelung  des  Theators  in  ihren  Grundztlgen  feststeht.  Durch  Bethes  *Pro- 
legomena  zu  einer  Geschichte  des  gneoluHchen  Theaters'  wird  die  Grundfrage 
nicht  mehr  verschoben,  wenn  wir  ihnen  auch  im  einzeiueu  mancherlei  An- 
regung zu  aehärierer  Nachprüfung  verdanken;  hier  wird  natürlich  noch  manches 
ausgearbeitet  und  geklärt  werden  können.  Dörpfeld  selbst  hat  den  Anfang 
gemncht  mit  dem  gladdichen  Nadiweu,  dab  Vifamr  bei  aeinem  griecMschen 
l%eatnr  «ne  bestimmte  Form  sp&ter  kleinasiatischer  üieater  im  Auge  gehabt 
habe.  Ffir  die  Form  des  eigentlidi  grieehisohen  Theaters,  das  noch  in 
heUenistisdier  Zeit  daneben  bestand,  dürfen  wir,  unbeirrt  durch  Yitruv,  den 
Denkmälern  vertrauen.  Wir  gewinnen  dadurch  zugleich  einen  wichtigen  Hin- 
weis auf  Vitruvs  Arbeitsweise  und  seine  Quellen.  Wie  Pansanias,  so  wird 
auch  er  an  den  Denkmälern  zu  prüfen  sein,  und  wir  werden  finden,  dafs  er 
für  die  Banknnst,  wie  sie  in  Griechenland  selbst  geübt  wurde,  niclit  als  inafs- 
gebeude  Quelle  gelten  darf.  Lange  genug  hat  uns  seine  Theaternachiicht  irre 
gefiÜirt,  und  seine  Aubwitat  war  so  grob,  dab  sie  selbst  die  Denkmiler,  die 
dentiich  genug  gesprodien  haben,  Lfigen  steafan  konnte.  PrOfBn  wir  von  Fall 
TO  Fall  und  sehen  wir,  dab  seine  Angaben  gar  nidit  auf  Beobaehtnngen  und 
Messimgen  an  Bauwerken  in  Griechenland  zurückgehen,  so  wird  damit  seine 
Glaubwürdigkeit  zwar  nicht  erschüttert,  aber  audi  für  solche  f^Ue  gar  nicht 
mehr  in  Anspruch  genommen  werden  dürfen. 

Die  ursprüngliche  Form  der  Ilalletibauten  können  wir  mit  Hilfe  der 
neuentdeckten  archaischen  öxoä  ßaoiXixr'j  auf  Thera^)  weiter  zurückverfolgen. 
Auch  die  Hullen  auf  Kalauieia  sind  wertvoll. 

Für  hellenistieehe  Marktanlagen  bieten  uns  jeict  auber  A^^  und 
Pergamon  aneh  Salamis  auf  Cypem,  Magnesia  a.  M.,  £phesoB  und  audi  Jhrienfi^ 
in  Griechenland  Pleoron  wichtige  Beispiele;  ftr  das  vierte  J^hnndert  das 
arlmdische  Megalopolis  und  seit  kurzem  auch  Messene.  Stratos  zeigt  Beste  Ton 
Terraseenbauten,  die  an  die  Agorabauten  yon  Aegae  und  Pergamon  erinnern; 
die  Agora  in  Echinos  Komboti  (AVamanieTi)  kann  bis  ins  fünfte  Jahrb.  zurück- 
gehen. Der  Weiterfülirung  der  Grabungen  am  athenischen  Markt  wird  mit 
gröCster  Spannung  entgegengesehen.  Bis  dahin  müssen  wir  nns  mit  der  ait- 
griechiächen  Agora  auf  Thera  begnügen,  wenn  wir  nicht  auf  Arne,  wie  ich 
vermutet  habe^,  schon  eine  Agora  ans  mykenisoher  Zeit  besitzen. 

Beim  antiken  Wohnhaus  mob  bis  auf  Troia  II  surfickgegangen  werden. 
Die  aosltthrliche  Behandlung  von  Troia  II  gehdrt  allerdings  in  das  Anfiuigs- 
kapitd  der  Baugeschichte  Oberhaupt,  aber  der  Abschnitt,  der  vom  Wohnhaus 
handelt,  mob  doch  wieder  daran  anknUpfen.   Das  erste  grobe  Bild  davon 

')  Ygl.  Hiller  v.  OMfinngen,  Die  arehuache  Kultur  der  Iiuel  Thera  (Vertrag,  gehalten 

auf  der  44.  Philologcnvcrsaminlung  su  Dresden)  S.  11. 
*)  Athen.  Mittoilungen  XIX  4SI. 

«8* 


572 


P.  Noack:  Znr  Entwickeliiii^  griechiicbnr  Baukunst. 


geben  vom  die  mykenischen  FalSate  und  Wohngebiude,  derai  Aiifiassang  frei- 
Uch  nodi  YieUiich  geklärt  und  modifiziert  werden  mufe.  Hier  mnfiB  die  pliiltH 
logische  Arbeit  hinsnkommra,  am  aus  dem  homerischen  Epos  von  dem,  mui 

sieb  mit  ruykenischer  Baukunst  deckt,  die  nachinykenischen  Elemente  za 
sondern  und  dadurch  Anhaltspunkte  für  die  £ntwickelang  des  Hauses  im 
•  ersten  Drittel  des  ersten  Jahrtausends  zu  «gewinnen.  Dann  treten  schon 
anliaische  Denkmäler  ein,  auf  Thera,  Euboia,  in  Athen  an»  Westabhang  der 
Aki'opolis  und  auf  dem  Museionhü^el  die  Feinbearbeitungen,  sowie  ähnliche 
iieöte  am  Südabhang  der  Akropolis  von  Krane  aul  Kephallenia.  Für  die 
spätere  Zeit  kommen  aulser  den  im  Fundament  erhaltenen  Häuserreihen  in 
Oiniadai,  Stratos^  PhhieroB  (Akamanien)  nnd  Demetrias  {Thessalien)  jetst  be- 
sonders die  franaSflischen  Funde  auf  Delos  in  Betracht^  die  das  geheimnisvolle 
'Haus  auf  Delos'  endgfiltig  beseitigt  haben.  Was  Yitmv  von  griediischen 
Häusern  zu  berichten  veifs,  werden  wir  jefast  nur  auf  spatiielleiiistische  Zeit 
beaieben  dürfen. 

Noch  fehlt  selbst  bei  Dunn  ein  Kapitel  über  Strafsen-  und  We<jebau, 
das  mit  den  Kosten  von  Ptbi^^terung  in  Troia  II  und  VI,  den  mykeniseben 
Hochstrafsen  in  der  Argolis  und  in  Bootien  und  dem  durch  die  Teleiiiackie 
einigermafson  datierten  F'ahrgeleise  im  Tajgetos  zu  beginnen  hatte.  Auch  hier- 
f&r  haben  die  neuesten  Ausgrabungen  xu  i^tbekannton  Uateriale  wichtige  Er- 
ginzungen'  geliefert  z.  B,  die  Slaraben  aus  dem  PeisistratiBdien  AÜie%  die  alte 
Strafse  in  Korinth  mit  ihren  Trottoini;  die  heiligen  Straben  dflrilen  nicht  fehlen. 

Der  Charakter  der  ältesten  Brückenbauten  (bei  Mykcnac)  führt  uns  zu  den 
Deichbauten  des  Kopaissees  und  damit  zu  der  Wasser  bau  kun  st  überhaupt^ 
Aufser  dem  imposanten  System  der  Minyer,  das  %vir  seit  1892  er«it  genauer 
kennen,  bietet  sehnn  die  mykenische  Zeit  ('isternen  und  Zuleitungen  aus  (^iullt»n 
in  Verbindung  mit  interessanten  Felsarbeiten  (Mykenaei,  mwie  nnterinüsche 
Abflulskauäle  (Tii-yns,  Arne).    Hieran  würden  sich  in  'geometrischer'  Z«it  die 
ersten  Bmnnenanlagen  an  der  Pnyx,  an  diese  das  ausgebildete  Ejtaalsystexn 
mit  Einste^schachten  awischen  Pnjx  und  Westabbaag  der  Akropolis  sehlielseii. 
Die  grofsen  Stollenleitungeu  unter  Peisistratos  und  Pdjkrates  sind  die  be- 
deutendsten uns  bekannten  Bauten  dieser  Art  aus  älterer  Zeit.    Die  verlorene 
Enneaknmos  läTst  sich  vielleicht  am  besten  illustrieren  durch  das  lange  Sanunel- 
beckon  des  Apollonheilipttimos  auf  dem  Ptoon  mit  seinen  siieben  Abteilungen 
und    (las   von   LoUin<f  beschriebene,  jetzt  langst  zerstörte  Brunnenhaus  bei 
l'apadliates  ( Aetolit'ii  i,   bei   dein   das  Wasser   aus  fünf  Kammern   flofs.  Das 
iiukki%QQOV  tpfitufi  in  Eleusia  und  Cistenicu  in  ukaruaiiischeu  Burgen  und  sonst 
sdüiefsen  sich  tau  Dann  die  Druckleitung  in  Pergamon  nnd  TAPdikniai  Auch 
die  Leitungen  zwischen  den  Badehiusem  in  Qropos  sind  zu  nennen.  Und  viel- 
leicht fanden  hier  die  Silben^schereien  bei  Lanriou  am  besten  ihren  Fiats. 

Als  Wasserbauten  grofsen  Stiles  kennen  wir  besser  als  früher  die  Hafen - 
anlagen.   Die  delisehen  Häfen  sind  von  Ardaillon  untersucht.^)   In  Larymna 


•)  Boll,  de  coneq».  beU^n.  XX  488  f.  Taf.  II  HL 


F.  Noack:  Zur  Entwiekdtuis  grifldiiKlier  BaakonBi. 


573 


(  Lnkns)  ist  mehr  als  'massive  Steindiimme'  erhalten.  Aufser  einer  grolötren 
oüeuen  Khede  mit  einzelnen  geiüdl inigen  Mt>len,  ist  eine  kleine  Uafeubucht  da, 
die  von  einem  aufgemauerten  Quai,  ihnliclt  demjenigen  Ton  Halu,  UDUSOgeo 
and  midi  dem  Meere  su  bo  abgesdUosBen  war,  dafii  der  natOrlidie  £ingang 
doreli  swei  in  TOmie  endigende  Molen  verengert  war  und  somit  leicht  durch 
Ketten  geechlossen  werden  konnte.  Lange  gekrümmte  Molen  bildeten  den 
Hafen  bei  Eretria  und  Eleusis.  Der  ehemalige  Hafen  von  Oiniadai  bietet 
interessante  Einzelheiten.  Dafs  die  Anlagen  des  Piraen;',  bcj^oiuler?  iVw  Scbiffs- 
hauser  in  Zea  und  Munichia  eingehend  beröcksichtigt  würden,  versteht  »ich 
TOD  selbst. 

Endlich  verlangt  schon  die  Menge  der  erhaltenen  Kuineu,  dais  in  der 
'Baukuuät  der  Griechen'  der  Städtebau  gebührende  Beacihtiing  findet.  Fflr 
die  Anlage  grieduscher  StBdte  liegen  die  TonUglidien  Vorarbeiten  6.  Hirsch- 
felds  vor.  Znr  Typologie  muTa  aber  auch  das  Bild  der  einsehien  Stadt  treten, 
nnd  die  Mauern,  Ttlnne  und  Tboranlagen,  deren  Entwickdung  sich  vom  zweiten 
Jahrtausend  her  fast  lückenlos  bis  an  die  Schwelle  der  römischen  Herrschaft 
verfolgen  lalst,  werden  uns  als  gewaltige  Zeugen  dafür  erscheinen,  dafs  der 
Bcf^iff  von  irripohisclicr,  künstlerisch  wirkender  Baukunst  selbst  bei  den 
ernsten  Festungsbauten  nicht  versagt 

n 

Eine  Darstellung  der  griediisdien  Baukunst  darf  heute  noch  weniger  als 
ehedem  mit  der  systonatisdien  Betrachtung  des  steinernen  Tempdgdiaudes 
begvmien,  da  durdi  die  Ruinen  der  mykenischen  Zeit  und  diejenigen  von 
Troia  II  die  Mittel  uiul  V()r1>edingungen  zur  Entwiekelung^eschichte  des 
ganzen  griechischen  Tempels  und  seiner  Einzclforraen  gewonnen  sind.  Darum 
hat  bereits  Dnnn  diesen  Ruinen  eine  nnsführiiche  Einleitung  gewidmet  Aber 
e.«i  i^t  uuch  wirklich  'mr  eine  EiiiliitiiiifX,  und  iiiaa  gewinnt  in  dtr  IVdgendcn 
u^lf^l^i,senden  und  ausg» /.t  ichnctcn  ßehandlun^  des  Tempelbaues  selbst,  deren 
Wert  ich  gewils  nur  duukbar  anerkenne,  den  Eindruck,  dafs  der  Verfasser  die 
Besiehungen  an  den  mjkenisehen  Bauten  in  dem  nOt^eu  Umfange  entweder 
noch  nicht  hwgestellt  hat  oder  nicht  an  sie  glaubt. 

Bs  sd  hier  einmal  erlaubt,  daran  au  erinnern,  dafs  Goethe  seine  Ansidit 
Ober  den  Ursprung  der  griechischen  Steintempd,  *in  so  fern  sie  Sanlenord- 
nnngen  gebrauchten',  gdegentlich  so  ansgesproeben  hat:  'Die  ältesten  Tempel 
waren  von  H0I7,  ?ie  waren  auf  die  simpelste  Weise  aufgebaut,  man  hatte  nur 
für  das  Notwendigste  gesorgt.  Die  Säul<  n  tnu^cn  den  Hnuptbulkeu^  dieser 
wieder  di(  Köpfe  der  Balken,  welche  von  innen  herauslügen,  und  das  (xesims 
ruhte  oben  drüber.  Die  sicbtbiuen  Haikenköpfe  waren,  wie  es  der  Zimmer- 
mann nicht  lamen  kann,  ein  wenig  uusgekerbt  .  .  .  Diese  gana  solide,  einfache 
und  rohe  Gestalt  der  Tempd  war  jedoch  dem  Auge  des  Volks  heilig,  und  da 
man  anfing  von  Stein  zu  bauen,  ahmte  man  sie  so  gut  man  konnte  im  dorischen 
Tempd  nach.'  In  unendlich  em&cher  Weise  ist  hier  gesagt,  was  trotz  allen, 
in  erstsr  Linie  T<m  G.  Bötticher  mit  der  gansen  Wucht  einer  tiefen  über- 


574 


F.  Ko«ck:  Zur  Entwickelang  griechischer  fiauhunst. 


Zeugung  in  seiner  Tektonik  der  Hellenen*  voirgetnigeneii  gegentciüg*  u  An- 
ricbien  die  Denkmäler  schlieblieh  bestitigt  haben.  Die  Einmlformen  sind  so 
wenig  wie  das  Ganse  griechisdier  Tempel  erat  am  Steinban  nnd  fllr  den  Stein- 
bau «fanden  wordeni  eondern  in  mdu&ehen  SntwickehmgSBtDfen  hatte  rieh 

die  Grundform,  der  ^XJrtyptts'  des  griechischen  Tempels  ausgebildet,  efae  sie  in 
den  reinen  Steinbau  übertragen  wurde.    Im  Anschlufs  an  Q,  Sempera  'Stil' 
hiit  auch  Brunn  sich  zu  dieser  Anffassnnf;  bokmint,  uiul  wif  er  schon  im 
cr^^k'll  Entwürfe  seiner  Kunstgeschichte  die  Rückführung  der  dorischen  {%ule 
auf  die  ägyptische  Pfeilersäule  (sotzenannt^»  'protodorische'  Säule  von  Beni- 
liassan)  energisch  abgelehnt  und  mit  Beätimmtheit  ausgesprochen  hat,  'dafs 
wir  die  dorische  Ordnung  nicht  aus  der  Kunst  eines  fremden,  sei  es  des 
ägyptischeUi  sei  es  eines  asiatischen  Volkee  'abgeleitet'  an  nennen  berechtigt 
sind',  —  so  ist  car  damals  audi  sehen  an  dem  Ergebnis  gekemmen,  'dafs  wir 
an  yersehiedenen  Talen  des  dorischen  Tempels  in  seinem  Ur^ns  sowohl 
Stein  als  Holz  haben'  (a.  a.  0.  II  12  ff.).    Was  damals  aber  noch  ein  Rück- 
schlufs  von  dem  fertigen  Sohematismüs  war,  Mndem  das  Organisationswerk  der 
dorischen  Ordnung  jrpwissprmafsen  rückwärts  bis  zu  seineu  Anfängen  vollzogen 
wurdo'j  das  sah  Brunn  niclit  vn'lo  Juhrf  spliter  dnrch  Thatsachen  bestätig  nnd 
kniintc  in  seinem  Manuskript  bemerken;  'Eine  solelie  Th»t»jiche  haben  wir  vor 
allem  mit  der  Erkenntnis  gewonnen,  dafs  die  Hauptformen  des  dorischen  Auf- 
baues —  man  kann  sagen,  der  ganze  Organismus  desselben,  denn  aut«geuommen 
waren  nur  Gellamauem  und  Stufenban  —  nicht  andera  ab  ans  dem  Holaban 
hervorgegangen  sein  können.*  Die  Erkenntnis  gaben  nicht  in  erster  Linie  die 
mykenischen  Rnin^  die  bis  aom  Anfimg  der  atditrager  Jahre  flberfaanpt  nidit 
klar  Terstanden  waren,  sondern  wir  verdanken  sie  Olympia  tmd,  wenn  auch 
nicht  'des  heiligen  Alpheios*,  aber  doch  des  Kladeos  'makel- ablösender  Flut*. 
Als  dieser  die  Erdmassen,  die  er  im  fünften  oder  sechsten  Jahrh.  n.  Chr.  über 
Olympia  gewalzt  hatte,  während  der  deutschen  AnscirahnnfreTi  selbst  wiwlpr 
wegfuhren  mul'ste,  da  wurde  —  1877  —  auch  das  Heraion  wieder  frei,  und 
durch  dieses  erst  haben  wir,  von  Dtii-pfeld  geleitet,  auch  die  mykenischeii 
Bauten  verstehen  gelernt.    Als  Dörpfeld  das  Heraion  in  seiner  urt>prüugiichen 
Gestalt  als  einen  Ban  ans  didcsn  LehmziegeliH&nden,  hdlzemen  Anten  und 
Thdrgew&nden,  hölzernem  QeUUk  nnd  di<&en  Holzaäulen  erkannte  nnd  anf 
Gmnd  dessen  seine  Entstdinng  in  den  An&ng  des  enten  Jahrtansends  setste^ 
waren  die  Schlüsse  Uber  das  Alter  der  mykousdien  Ruinen  noch  nicht  ge- 
sogen; die  n.  Stadt  auf  Hissarlik  i:alt  noch  für  das  homerisehe  Troia  luid 
wurde,  wenn  auch  primitiver,  doch  für  gleichzeitig  mit  Tiryns  und  Mykenae 
gflialten.  Erst  dureli  die  Beobaehtungrn  Iu^n  ptischer  Ein/.elfundo  in  mykenischen 
Buinen  einerseits  und  niykemacher  Tril)utobjekte  und  Importartikel  in  datier 
baren  ät^yptiseheii  Grübern  sowie  atif  deren  Wandgemälden  undererseits  gt  lani: 
es,  die  Blüte  der  mykeniöchen  Kultur  durch  die  Daten  löö<) — 1150  annnhernti 
zu  umschreiben  (vgl.  die  vorzügliche  Zusammenfassung  aller  hierhergeli« n  igen 
Gerichtspnnkte  bei  Bnsolt,  Qrieeh.  Gesch.  V  122  ff.).   Als  dann  1899/94  die 
groÜM,  starkbefest^^  VI.  Stadt  anf  Hissarlik  an        tarat  nnd  dnrch  die  in 


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F.  Noack:  Zur  Ealiwiiekeluiig  grieduaoher  Banlnuist.  575 

ilurw  Schiebt  reidi  Teiirelenen  myTcHnwehen  YaseiiBcberlteii  als  deiaelben 
mykeniseheii  Knltarperiode  angehörig  erwiesen  wurde,  da  war  Troia  II  end- 
gültig ▼om  diesen  Rninenslatten  gel5sl>  nnd  seine  grolsere  PrimitiTitK^  die  schon 

vor!  •  1  luancbes  Bedenken  erregt  hatte,  erkl&rte  sich  dur(}i  sein  bedeutend 
höheres  Alter.  Dadurch  wurde  seine  Bedeutung  auch  für  die  Entwickelungs- 
f^eschichtc  der  BaukuiiBt  eine  viel  gröfsere,  •<icli  nun  als  eine  frühere 

Etappc  li»'r;inHsteiite  und  in  seinen  Banrcstcn  einen  Htand  der  Bautechnik  ver- 
trat, von  dem  »iie  mykenische  Baukunst  in  direkter  Linie  hergeleitet  werden  nnils. 

Gleichzeitig  hatte  Wolfgang  Reichel,  gestützt  auf  ein  langes,  eingehendes 
Stndinm  der  Werke  mjkeniseher  Kleinkunst,  fttr  ein  hestiwls«  Gebiet  den 
Nachweis  erbracht,  dsb  im  homerischen  Epos  die  Brimaenrng  an  mykenisehe 
Knltor  nodi  lebendig  ist,  dab  also  der  Slteste  Bestand  homerischer  Poesie 
nodi  in  deren  Zeit,  ins  zweite  Jahrtausend  v.  Chr.,  znrfickreicht.  Reiehels  in 
man^er  Hinsicht  zu  rüdikales  Urteil  wurde  schon  von  s(  inen  Rezensenten, 
dann  besonders  durch  die  Mitteilungen  von  Tsountas  über  Kundschilde  auf 
mykeuiachcn  Stuckmalereien  f'Eqptjtt.  aQxtctoX.  1896  Tnf.  1  und  Ii  i  etwas  modi- 
hziert,  ist  aber  in  seinem  Grundgedanken  doch  zu  einem  Kck])i'oiler  für  die 
mjkeniäch- homerische  Frage  geworden.  Erst  durch  die  tjuge  Verbindung,  die 
hierdurch  und  dordi  manches  andere  zwischen  homerischer  und  mykenischer 
Knltor  erwiesen  wird,  ist  auch  die  trojanisdie  IVage  in  einor  LSsung  zu  bringen. 
Das  bcmertsdie  Troia  mnls  eine  Stadt  der  mykenischen  Zeit  gewesen  sein,  es 
kann  also  nnr  die  VI.  Stadt  auf  Hiasarlik  in  Frage  kommen.  Jedoch  ist  damit 
nicht  gesagt,  dafs  nun  auch  alles,  was  dort,  .in  den  Jahren  1893  und  1894  ge- 
funden worden  ist,  zu  der  einzelnen  homerischen  Scbildcning  stimmen  mOsse, 
und  die  Art  wie  Klnrre  (N.  Jalirb.  f  Phil.  n.  Päd.  CLIII  [1S9(3]  S.  17  f.)  versucht 
hat,  diese  Übereinstimmung  zu  erzwintren,  uiuIh  ak  verfelilt  ub^eU'hnt  werden. 

Die  Übereinstimmung  zwischen  mykenischer  und  älterer  humerischer 
Kultur  spricht  sich  auch  darin  aus,  dafs  hier  wie  dort  noch  nicht  mit  dem 
TempelhauB  gerechnet  wird.  Die  mykenische  Banknnat  weist  keine  Tempel- 
gefainde  an^  weil  die  religiSsen  Vorstellnngen  noch  kein  Gotteshaus  verlangen. 
Der  unsichtbaren  Qottheit  wird  hSdutens  da  GStterthron  geweiblr,  anf  dem 
sie  am  Opfer  teilnehmend  g^daidlt  ¥rird.  Diese  lotztorc  Ansicht  Reichels,  die 
gewifs  eine  glückliche  ist,  wenn  auch  die  Beweisführung  häufig  zu  matt  er- 
scheint, sei  hier  gleicbfullf!  wpni<?sten3  erwähnt.')  Es  foljrt  die  Wandelung  zu 
dem  von  der  homerischen  Theobjgie  bereits  iiusgestalteton  (Jlauben;  mit  ihm 
tritt  da«  Tempelhaus  in  die  älteste  griechische  Haukujist  ein.  Da  gh-iLlizeitig 
die  Furstenmacht  zerfallt,  bedarf  mau  keiner  Auaktenhäuser  mehr,  so  dals 
diese  selbst,  mit  einigen  Indenmgen,  za  Oottesh&useiB  werden  können.  Auf 
diese  Weise  erklart  sich  bekanntlich  nicht  allein,  weshalb  die  griechische  Bau- 
kunst ihre  Hauptformen  gerade  am  Tempel  ani^bildet^  sondern  auch,  weshalb 
dieser  sich  aus  dorn  Wohnhaus  entwickelt  hati 

Dieses  Wohnhaus  aber  war  ein  Bau  aus  Holz  nnd  Lehm.    Der  Stein 


*)  W.  Bdehel,  Über  vorheUenische  Göttorkalte,  1897. 


676 


F.  Koack:  Zur  Eniwickelaii;  griechiacher  Banlmiuii 


spioltB  Buniolifli  eine  gens  geringfügige  Rolle.  In  Troia  II  bestand  ans  SMn 
nur  das  Fandunent,  das  den  Anfban  Tom  Erdboden  trennra,  tot  der  Erd- 
feadh.ti§^it  bewahren  und  den  Hohpfosten  und  Hohbohlm  eine  solide  Baiü 
darbieten  sollte.  Nur  för  letiiareu  Zweck  war  er  behauen  und  ge^tfcei  Auch 
die  Burgmauer  war  nur^  soweit  sie  als  geböscbte  Terrassenmauer  den  Abbang 
stQtztc,  au8  unbehauenen  kloinen  Feldsteinen  aufgescbicbtet.  Bei  der  zähen 
Beharrlichkeit,  mit  der  die  alten  Völker  am  ÜberkomineneTi  festhalten,  i'st  e«  be- 
greiflich, flalk  der  rei^elrechte  Steinbau  —  übri^rfMis  aucii  iiieht  uniihbätif^i^  vim 
der  iiintwickelung  der  Metallwerkzeuge  —  im  griecbiscbeu  Kulturgobiut  erst 
aUmaUieh  durchdringt.  Festungswerke  und  Grabbauten,  also  die  fOr  die 
Sicherheit  des  Lebens  einerseits  und  von  dem  herrschenden  Ahnen-  und  Seelen- 
kuit  andererseits  geforderten  Beuten,  sind  eher  reine  Steinbanten  als  die  mensch- 
lichen Wohnstätten.  Für  diese  wird  die  von  alters  her  geübte  Technik  bei- 
behalten: die  Bauweise  der  M^ara  in  der  dritten  Periode  von  Troia  U  tritt 
uns  auch  in  denjenigen  der  inykenischen  Zeit,  nnr  in  gröfserer  Vervollkomm- 
nung, entgegen.  Da  sich  hieraus  der  Teiuj)ei  entwickelt,  so  ist  auch  er  zuerst 
ein  Bau  aus  Hnlz  und  Lehm  gewesen:  im  Ileraion  von  Olympia  ist  uns  da» 
monumeutüle  Zeuguis  dafür  erkuiccu.  Der  Tempel  int  dann  das  erste  Einzel- 
gebäude, das  in  Stein  umgesetzt  wird;  aber  auch  da  schafiPt  der  Stein  nicht 
sofort  neue  Formen  und  Glieds,  sondern  die  einsdnen  Teile  der  älteren 
Technik  setsen  sich  gwtts  aUmShlich  in  den  Einbau  um. 

Unter  den  vielen  Fragen,  die,  durch  die  grofeen  Funde  der  Neuzeit  an- 
geregt, heute  an  die  Forschung  gestellt  werden,  steht  die  nach  der  Entwickc- 
lung  der  einzelnen  Teile  des  griechischen  Tempels  im  Vordergründe.  Über- 
blicken wir  die  grofse  Menge  der  uns  mehr  oder  minder  g?it  bekannten 
Tempel,  so  steht  einer  grofsen  Mannigfaltigkeit  der  Einzelformeu  eine  sehr  be- 
schränkte Zahl  grundlegender,  konstniktiver  Ideen  gegenüber.  Und  diese 
andern  sich  im  Verlaufe  der  Jahrhunderte  so  gut  wie  nicht.  Zwischen 
kmintbiflchen  und  ionischen  Bauten  besteht  fiberhaupt  keine  Verschiedoiheit 
bezflglich  der  Konstruktion.  Das  Eorintiusche  ist  im  Grunde  nur  eine  Abart 
dss  Ionischen,  die  nnr  eiiuEelne  Kunstfimnen  desselben  mit  Benutsnng  ilterer 
Motive,  zum  Teil  naturalisierend  weiterbildet.  Der  ionische  Bau  weicht  vom 
dorischen  schliefslich  auch  nur  in  den  Proportionen  sowie  in  der  Lagerung 
der  Deckbalken  (=  Triglyplien])alken)  ab,  indem  er  sie  auf  dem  Architrav 
direkt,  nicht  erst  auf  dem  Friese  aufliegen  läfst.  Alle  übrigen  Unterschiede, 
sogar  der  zwischen  glattem  bezw.  fortlaufendem  Fries  und  Triglyphenfnts, 
fallen  in  den  Bereich  der  mehr  oder  weniger  stilisierenden  Form.  Die  Auf- 
gabe, die  sidi  die  Baukunst  der  Griedien  bellte,  war  zu  allen  Zeiten  eins  ledig- 
lich formale.  Die  fVage,  in  der  die  konstmktiTen  Bestrebungen  der  ver- 
schiedenen Stile  stets  gipfeln,  wie  die  Überspannung  des  liditen  Raumes  su 
erreichen  sei,  war  für  -ji  längst  in  so  klassincluM-  Einfachheit  gelöst,  dafa  aaeh 
das  Gewölbe^  das  sie,  wie  ich  glaub^  vor  den  Etruskem  und  Römern  besaÜMnO, 


')  Röm.  Mitteü.  XU  198  tf. 


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F.  NoMkt  Zur  Entwickeltuig  grieehieoher  Baukiunt. 


677 


übor  eine  lifwheideno  Rolle  nicht  hiiuiusgekommeu  ist.  Jene  klassisclic  Lösung 
war  scliou  ixu  zweiten  JalirtauäcnU  durch  das  mjkenische  Qebäik  und  das 
injlceniaclie  Megaron  flberlunpt  gegeben.  Für  so  manflhiw  Problem  griecluBclier 
Baukunst  haben  wir  alflo  heute  hier  anzufuigen. 

Von  grSister  Bedenhmg  erBeheint  mir  die  Sondmitollimg  der  VL  Stadt 
auf  Hissarlik.  Audi  v.  Ri  her  hat  in  seiner  eingehenden  Untersuchung  'Über 
dafl  Yerhültinä  vom  mjkenischen  aom  dorischen  Banstir  (Abb.  d.  Kgl.  Bayer.  Ak. 
(1.  Wiss.  1896)  Troia  VT  npben  Tiryns  und  Mykenae  als  fjleichartige  mykenische 
Burg  behunilelt.  Nnn  hat  Troia  VI  gewils  mykenischc  Einflüsse  erfahren. 
DafQr  sind  nicht  allciu  die  importierten  mykenischen  Vasen  zuverlässige  Zeugen, 
sondern  auch  die  Grundform  der  Megara,  die  im  Gegensatz  zu  Troia  11  schon 
die  Verinttniflse  der  mykenischen  Megara  in  Griedienknd  zeigen,  und  die 
senkrechten  Yorsprünge  d«  Hauern,  dertti  widitige  Analogie  uns  anf  Arne  im 
Kopaissee  erhalten  isi  Der  fundamentale  üntersehied  aber  besteht 
darin,  dafs  auch  die  aufgehenden  Wände  der  Megara  aus  Stein 
waren.  Dadordi  stellt  sich  Troia  VI  nicht  allein  mit  Tiryns,  Hykenae,  Arne, 
sondern  auch  mit  der  unter  ihm  in  der  Tiefe  liegenden  zweiten  Stadt  in 
starken  Gegensatz,  nnd  gerade  deshalb  glaube  ich  nicht,  dafs  wir  einfach  mit 
dem  Hinweis  auf  das  Soti  der  jeweiligen  Örtlickkeit  dargebot«?iie  Material' 
(V.  Heber  a.  a.  0.  7)  darüber  hinaus  kumnien  werden.  Es  ist  nicht  nur  'nicht 
ganz  ohne  Belang',  sondern  von  grölster  Wichtigkeit,  dal'a  thats&chlich  die 
mykenischen  Megara  in  Qrieebenlaad  die  iltere  Bauweise  von  Troia  II  nur  anf 
einer  hSher  entwidmlten  Stufe  aeigen.  Denn  anf  Hissarlik  selbst  hat  sich 
diese  BntwidEelnng  nieht  ToUsogen.  Vidmehr  scheint  hiw  die  Tendens^  mög- 
lichst aus  Stein  zn  hauen,  wenn  nicht  schon  bei  der  untersten,  ältesten  An- 
siedelung, so  doch  bereits  bei  der  dritten  Schicht  erkennbar  zu  sein;  in  der 
sechsten  Schicht  ist  der  Steinlnui  })ereits  feste  lokale  Tradition,  der  sich  auch 
der  mit  niykeniseh(>r  Bauweise  offenbar  genau  vertraute  BaumeiHter  Oigt.  Im 
Hinblick  aul"  Troia  11  habe  ich  daher  l>ei  der  sechstoi  Stadt  früher  von  einem 
'Bruch  mit  der  alten  Technik  und  der  Einführung  eines  neuen  Prinzips'  ge- 
sprochen (Jahrb.  d.  Insk  XI  314).  Neu  ist  das  Prinxip  des  totalen  Steinbaus 
aber  vielleicht  nur  insofieim,  als  es  damals  in  Troia  VI  mm  ersten  Mal  bei 
dem  Plan  des  mykenischen  Megaron  angewendet  erschdni  Durch  diese 
Verbindung  des  mykenischen  Hausschema»  rait  einor  diesem  fremden,  neuen 
Mauertechnik  in  Klcinasien  erhält  die  £ntwidrelnng  dort  einen  anderen  Lauf 
als  in  Griechenland,  wodurch  uns  wiederum  ein  richtigeres  Verf<tiindnis  des 
ionischen  Baues  erncldossen  wird  (s.  u.).  Es  ist  also  strenggenommen  nicht 
die  Technik  von  Troia  sondern  diejenige  der  dritten  Periode  der  zweiten 
Stadt,  die  auf  Hissarlik  isoliert  erscheint.  In  viel  grüfserem  Umfange  als  in 
Troia  VI  mnd  hier  fremde  Elemente  eingedrungen,  ein  Prozefs,  den  die  damals 
gleidifidls  importierten  kostbaren  Qoldgeriite  nur  bestätigen  können.  Gerade 
die  Berfleksichtigung  der  Manertechnik  von  Troia  VI  und  ihrer  Abweichung^ 
▼on  deijenigen  der  übrigen  Ruinen,  die  nach  y.  Heber  kaum  in  Betracht 
komm^  ermöglicht  also,  eine  früher  ausgesprochene  Hypothese^  dab  die  Bauart 


578  F-  Noack:  Znr  Entwickduiig  grieduMiher  Bankiwat 

des  Palasies  und  der  Pracliithore  plötzlich  als  etwas  üngewöhnlioheä  iu  Troin  II 
eingefilhrt  worden  ist'),  zur  GeviJklieit  zu  erhebeiL  Dieie  Bftuteii  tAai  Ar  mu 
nur  daa  eüusige  und  dealwlb  eminent  wichtige  Zeugnis  fUr  die  Bftukonsi,  «m 
der  flieh  die  mykeniBche  entwickelt  hat  und  deren  Heimat  HisMurlik  jedrafaUs 
nicht  gewesen  ist. 

Von  den  primitiven  Formen,  die  für  uns  heute  nur  noch  die  dritte  Periode 
von  Troia  Ii  vertritt,  führt  die  Entwickelung  zu  denjenigen  der  my kenischen 
Bauwerke.  Ich  darf  dafür  auf  die  Znsammen3tc'lbing(>n  im  Jahrb.  XI  211  213 
216  fiF.  verweisen.  Ebenda  habe  ich  versucht,  das  Auftreten  der  Siiulc,  die  in 
Troia  II  noch  unbekannt  ist,  durch  Gegenflberstelluug  der  Xischeu  der  Hof- 
mauer von  Troia  Ii  und  der  diesen  entsprechenden  Hallen  des  Tirjuther 
innereii  PoksthofeB  m  erklKren.  In  der  mykeniadieD  Architektur  in  Tirjns 
nnd  Hjkenae  ist  sie  schon  völlig  eingebürgert,  an  den  Chrab-  und  Hiorhavten 
der  jUngeren  Bpodie  sogar  schon  in  Stein  omgeoetit  imd  als  dekonitiTes 
Element  -rerwendet.  Unbedingt  notwendig  und  unentbehrlidi  war  sie  jedodi 
anch  damals  nicht.  Die  mjkcnischen  Ruinen  von  Gonlas  (&eta)'),  der  Palast 
Tcm  Ante,  die  Megara  auf  Troia  (bis  auf  eines)  rerw^den  die  Säule  nicht; 
nur  in  einer  offenbar  besonderen  Verwendunf^  ist  sie  in  dem  einen  trojanischen 
Bau  \1  C  und  in  der  einen  langen  Halle  auf  Arne  nachtiewiesen.  Bei  dur  Ver- 
schiedenheit, die  überhaupt  in  gar  manchen  Zügen  zwischen  den  einzelnen 
Auaktenh'äusem  besteht^^),  darf  auch  jene  begrenzte  Anwendung  der  Säule 
uns  nicht  wundem.  Wenn  dieselbe  aber  nur  in  der  Peloponnes  und  hier 
wieder  besonden  in  Tirynfl  zu  ausgiebiger  Verwendung  gelangt,  so  dafs  nnr 
hier  in  der  Argolis  alle  Elemente  der  griechiflclien  Tempelanlage 
▼or gebildet  sind,  n>  ist  man  sehr  stark  TCrsadit,  hierin  den  urkundlichen 
Belog  für  eine  alte  Überlieferung  7m  erkennen,  dafs  thatsüehlich  die  ersten 
griechischen  Tempel  in  der  Argolis  oder  wenigstens  in  der  Peloponnes  ent- 
standen seien.  Noch  VitriTv  weifs  von  einer  Tradition,  dafs  der  Heratempel 
bei  Argos  das  erste  —  zufällig  —  dorisehe  Ochände  gewesen  sei,  und  in 
Olympia  stand  das  Heraion,  das  man  fast  noeli  einen  mykenischen  Bau  nennen 
machte.  —  Es  liefert  den  besten  Beweis  dafür,  wie  viel  auf  die  Mauertechnik 
ankommt.  Denn  gerade  diese  ist  ja  das  spezifisch  Mykcnische  am  Heraion. 
Nnr  der  Lehmziegel  wände  wegen,  die  ihreraeitB  wieder  dnrdi  das  schwer 
lastende  Getölk  bedingt  waren,  hat  man  die  hSkemen  Bohl^Terldeidungen 
der  Anten  und  Thfiirleibnngeii  noch  daran  beibdudim,  und  nnr  weil  man  so 
langsam  zum  Steinbaa  flberging  und  erst  allmählich  einzelne  Teile  gleichsam 
wörtlich  in  diesen  überiotrte,  sind  bei  den  anderen  dorischen  Tempeln  auch 
die  Formen  jener  hölzernen  Bestandteile,  wie  sie  das  Heraion  zeigt,  im  Steine 
nachgebildet  und  erhalten  worden.  Das  Heraion  ist  auch  dämm  von  so  grofsem 
Werte,  weil  sich  wenigstens  an  einem  seiner  Teile  iu  einzigartiger  Weise  dieser 


•)  Archiiol.  Anzeiger  imn  S.  67  (Puchstetn). 

*)  The  Annual  of  tbe  British  School  at  Athens  II  1895/96. 

*)  Ich  werde  daxaof  denmlchtt  sb  anderer  Stelle  surOeUcoiDiiien. 


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F.  KoMk:  Zur  EDtwiekeliuig  grieehiicfaer  Baukanat 


579 


UmsetzuiitrHpro/efs  thatsikhlith  vollzogen  hat.  Wie  Dörpfeld  naehf^ewifHon  hat'), 
waren  aniungiich  auch  dessen  Säulen  noch  von  Holz,  und  auf  ihnen  lag  ein 
hölzernes  Gebälk ;  jene  wurden  im  Lauf  der  Jahrhunderte  bis  auf  die  eine 
SKule  im  Opisthodom,  die  noch  Pausanias  sah,  durch  Steiodlulon  eneiat^  deren 
▼ersdhiedenes  Alter  die*  l&pitollprofile  Terratäi  —  das  Gebalk  ist  ohne  Best 
▼ergangen^  war  also  g«willB  immer  aus  Hok  geblieben.  Selbst  Ton  dem  nach- 
träglich  aufgesetzten  GiebckLuli  ,  das  der  Tempel  schon  früh  erhielt|  hat  sidl 
nur  dsui  hocharchaische  Giebelakroterion  in  Bruchstücken  i^ofunden. 

Die  frühe  Datierung  des  TIeraion  durch  Dörpfeld  ist  von  Puchstein  in 
Zweifel  gezogen  worden  (.lahrh.  XI  70).  Ich  verkenne  das  Gewicht  seiner 
Gründe  nicht,  glaube  aber,  dids  —  man  mag  über  dic.sell)en  denken  wie  man 
will  —  die  Stellung  des  Heraion  in  der  Baugeschichte  unerschüttert  bleibt. 
Ich  gebe  nur  folgendes  zu  bedenken.  Puchstein  hält  es  für  milslich,  ^die 
sicheren  Übereinstimmung^  mit  der  mykmiaehen  Bauweise  in  Technik  and 
Plan  m  einer  Datierung  su  Terwendoi'  weü  in  Olympia  nirgends  mjkenische 
Sparen  gefunden  worden,  und  weil  es  sehr  onwahisdieinUQh  sei,  'dafs  die 
Pisaeer  oder  vidmehr  die  Skilluntier  an  der  Entwiekelung  der  mykenischen 
Baukunst  teilgenommen  haben  und  trotsdem  Ton  mvkenischer  Töpferei  und 
Metallurgie  vollständig  verschont  geblieben  sein  sollten'.  Dazu  komme,  dafs 
selbst  die  primitiven  Funde  der  tiefsten  olympischen  Schichten,  des  häufig 
vorkommenden  Eisena  wegen,  niclit  in  mykenische  Zeiten  xnrückwiesen.  Damit 
ist  aber  nur  gesagt,  dals  das  Ileraion  gewifs  erst  zu  einer  Zeit  errichtet  wurde, 
als  mykenische  Ware  nicht  mehi*  iu  Griechenland  eingeführt  und  vertrieben 
wurde  Aber  hiermit  wird  der  Kernpunkt  der  Frage  nicht  getrodSm.  Ob  das 
Heraion  hundert  Jahre  ilter  oder  jünger  ist,  oh  es  mit  saverlSssiger  Gewilk- 
heit  mSj^idist  nahe  an  die  mykenische  Kulturperiode  gerOckt  werden  kann,  ist 
l^r  nicht  das  Entscheidende.  Dieses  liegt  Tielmehr  darin,  dafs  das  Heraion 
eben  kein  Tempel  ist  wie  viele  andere,  die  im  VII.  und  VI  Jahrh.  auf 
griechischem  Boden  entstanden.  Denn  von  keinem  jener  anderen  Tempel  wissen 
wir,  dafs  er  *in  der  Art  des  Heraion',  nämlich  aus  Lehmziegchv'anden  mit  Holz- 
verkleidung und  Holzsäulen  sich  erhob.  Dem  'vollkommen  entwickelten 
dorischen  Griuuirirs'  des  Ileraion  nieht  der  mykenisehe  Charakter  t;eines  Auf- 
baues, der  sich  nicht  leugnen  läfst,  gleichwertig  gegenüber.  Lud  aus  diesem 
Aofban  sind  wir  verpflichtet  den  Schlafs  zu  xiehen,  dals  die  Fortentwickelang 
der  mykenischen  Baukunst  v<m  dem  Bestehen  dar  mykentschen  Kultur  in 
Griechenland  onabhangg  und  noch  mdgUch  war,  als  diese  langst  Sur  Ende  ge- 
funden hatte.  Wir  können  uns  diMes  'Ende*  ja  doch  einigeima&en  TOrsteUm. 
Die  Blüte  diem-r  Kultur  flÜlt  susammen  mit  d*  rjeiiigen  der  Ilerrengeschlechter 
auf  den  mykenischen  Burgen.  Unter  ihrer  Herrschaft  wird  die  Einfuhr  der 
Erzeugnisse  der  mykenischen  Kleinknn-^t  aufserordentlich  begünstigt  nnd  nimmt 
einen  mächtigen  Umfang  an.  Sie  hört  fast  plötzlich  aui^  und  der  geometrische 


')  Historische  and  philoiogiache  Aufsätze,  Ernst  Curtius  gewidmet  und  Oljrmpift  I 
Text  S.  28  ff. 


&80 


F.  Noaek:  Zur  EntwieüEelaiig  gciecbi«cb«r  Bftnlniiiiit. 


Stil,  der  in  allen  mogUclicn  lokalen  Spirlurton  auf  sie  tol^t,  ist  nur  die  Ictxte 
Ausgestaltung  des  primitiveren  Liuearstiles,  der  der  mykeuiacheu  üccupution 
vorangegangen  war.  Wenn  wir  nun  heute  immer  deutlicher  erkennen,  'dafs  in 
dem  eigeutlielieii  Ifütelpniikt  der  mykemiaehen  Kunst,  der  irgendwo  im  OBten 
lag,  das  mjkenische  Kunstgewerbe  länger  geblllht  hat,  als  auf  dem  heUeniaehen 
Feetlaade'  —  in  dem  von  Wide  naehgewieaenen  mykeniaehen  Einflafi»  auf  die 
Dekoration  geometrischer  Vasen  aus  Kreta,  Rhodos  und  anderen  Inseln  sowie 
Karlen  ist  ein  starker  Beweis  dafiir  i^f^tlten*)  — ,  so  wird  die  Annahme  dodi 
immor  als  die  richtiifste  erscheinen,  düls  es  die  an  den  Namen  der  Dorer  ge- 
knüpften Umwälzungen  waren,  die  der  inyk»  niselu  n  Ilerrenkultur  in  Griechen- 
land ein  jähes  Ende  bereiteten.  V  erlangt  das  aber  den  weiteren  Schlufs,  dafs 
damals  auch  tüimtliehe  alten  Burgen  und  Paläste  zu  (jrrunde  gingen?  Die 
BnmdkatastK^lien  aaf  Tiryna  und  Mykenae  kernen  diensogut  spit^  ein- 
getretoü  aein,  und  die  keramisdien  FVmde,  die  in  den  WohnriLomen  diesw 
Burgen  und  auf  der  Akropolis  von  Athen  gemadit  worden  sind,  «prechen 
dafOr,  dafs  die  neuen  Herren  sich  den  Vorteil  der  gewaltigen  Mauern  nicht 
en^^en  iiefsen.  Mykenische  Megara  können  das  Ende  mjkcnischer 
Knltnr  in  Griechenland  lanfje  fiberlelif  haben.  Nichts  spriclit  cre^pn 
diesen  iSchliüs,  das  Heraion  von  Olympia  iiiul  der  dorische  Tempel  z\viii<;t  n  zu 
•  demselben.  Wer  also  die  Erbauung  dts  Heraion  nieht  über  das  Vlll.  Jahrh 
«urückführen  will,  muTs  zugeben,  dafs  echte  mykenische  Bautechnik  sich  so 
lange  in  der  Peloponnes  erhalten  habe;  wem  dies  widerstrebt,  der  muf»  Dörpfelds 
Führung  folgen,  soweit  er  irgend  kann.  Daa  iat  aelbst  im  Hinblick  auf  die 
geometrischen  Fnnde  bei  und  unter  dem  Herai<m  (Jahrb.  XI  71)  nicht  so  schwer. 
Denn  wenn  von  sachkundigster  Seite  geraten  wird,  daa  Ende  des  attischen 
Dipylonstiles  nicht  unter  das  Vnil  .lahrli.  hinabzurücken  (Athen.  Mitt  X\T[U  137), 
dürfen  wir  einfache  geometrische  (ieräte  und  Figuren  sicherlich  schon  lünger 
als  ein  Jahrhundert  vorher  annehmen.  Auch  als  ein  Bnn,  der  jünj^er  wh  ein- 
zelne i^ennietrisch  verzierte  Gegenstände  wäre,  kann  das  Heraion  in  sehr  früher 
Zeit  eiitütaudeu  und  älter  als  alle  übri'^'en  uns  heute  bekannten  Öteintempel 
sein.  Auf  jeden  Fall  aber  ist  es  der  eiuzi<;e  Bau,  der  eine  alte,  uns  jetzt  als 
mykenisdi  wohlbekannte  Technik  noch  festgehalten  und  damit  die  alte  Hypo- 
these Aber  die  Herkunft  der  Tempelformen  sur  Gewilsheit  erhoben  hat 

Als  das  Megären  znr  Tempelcella  wird,  tritt  es  aus  dem  Zusammenhang 
mit  der  übrigen  Wohnung  heraus,  mufs,  von  der  prc^anen  Umgebung  gelSst^ 
für  sich  stehen.  Da  Wohnungen  und  Palostbanten  aus  der  ehemaligen  rayke- 
nischen  Zeit  noch  existiert  haben  müssen,  als  man  nach  ihrem  Vorbild  die 
ersten  Tempelcellen  baute,  fo  wi  rden  die  ersten  Tempel  schwerlich  diejenigen 
gewesen  sein,  die  im  Auschluls  an  den  Kult  am  Altar  im  Hofe  des  alten 
Anaktenhauses  errichtet  wurden,  wie  es  z.  B.  in  Mykenae,  Tiryus  und  Athen 
der  Fall  war;  die  dortigen  Tempel  setsen  den  i^nzlidien  Verfisll  der  alten 
Palaste  yoraus.    Viel  eher  w^en  wir  nns  die  ersten  Tempelbanten  allein, 

^)  Athen.  Httteilimgen  Xn  sss  ff. 


F.  Noack:  Zar  Entwickclung  gri«ebiwih«r  Baakunst. 


581 


fenuib  Yon  der  Stadt^  im  heiligen  Hain,  eutstandeB  denken  mfisaen,  da  wo 
Bchon.  in  mykeniadier  Zeit  ein  Altar  oder  ein  CtötterÜmm  gestanden  hatte.  So 
t.  B.  das  Heraion  von  Argoe,  zu  detnen  StdUe  ja  bereite  die  mykenieelie  Hoch- 
Btrafse  führte.  Hatten  diese  ältesten  Tempel  auch  nur  die  ein&ehe  Fom  des 
MegaronV  Wir  können  das  so  wenig  beweisen,  wie  widtilecren.  Aber  be- 
denken innsftpn  wir,  dafs  die  ältesten  Gebändo  'in  antis'  t'infache  Megara  der 
tempello.si'n  inylceiiiseben  Zeit,  daije<^on  schon  die  ältonten  Tempelgebäude, 
die  wir  kennen,  peiiptenile  Anl.iiren  sind.  Schon  in  der  Zeit,  als  der  Steinbau, 
ebenso  wie  in  dem  m)  kenibcLen  VVobnhaus,  noch  aui  den  Sockel  beschränkt 
war,  zeichnete  man  dem  Tempel  Tor  den  Frofitabanten  durch  die  ringsum- 
gehende  HaUe  aus  Holuanlen  ans.  Ich  neige  daher  noch  heute  au  der  Ansidit, 
dalii  hierin  von  vornherein  das  aasgeaeichneto  Herlanal  des  Gotteshauses  be- 
stand (Jahrb.  XI  233  u.  Anm.  00).  Da/n  trat  gewife  sehr  früh  die  Erweite- 
rung des  Grundrisses.  Die  der  Vorhalle  entsprechende  Hinterhalle  ist  eine 
so  einfache  Folge  der  durch  die  Peristasis  hergestellten  Allseitigkeit  des  Megaron, 
dafs  sie  nicht  darum  erst  dem  vollkommen  entwickelten  dorischen  Tempel  an- 
gehören kann,  weil  sie  bei  diesem  als  Heirel  erscheint  Oder  haben  wir  wirk 
lieh  irgend  eine  Sicherheit  dafür,  dals  die  offene  Hinterhalle  in  antis  erst  dem 
entwickelten  Dorismns,  nach  Puchsteins  Ansicht  ofienbar  frühestens  vom 
VI.  Jahrh.  ab,  angehdren  kdnue?  Ich  glaube  kaum.  Auch  noch  in  der 
klassisdien  Zeit  finden  sich  im  dorischen  Tempelgrundrifs  YerBchied«iheiten 
zur  Genüge,  und  nicht  nur  der  Tempdl  in  Assos,  der  ältere  Tempel  in  Hhamnus 
und  der  Peisistratische  Dionysostempel  —  Tempel,  unter  die  man  das  Heraion 
unmöglich  hinab  datieren  kann  — ,  sondern  auch  der  jüngere  Dionysostempel, 
der  für  das  Kulthild  des  Alkamenes  errichtet  wurde,  die  Asklepiostempel  in 
Epidauros  und  Athen,  das  Amphiareion  in  Oropos  lassen  die  Hinterhalle  der 
Cella  wieder  weg.  Anderseits  aber  fehlen  Tempelgebäude,  deren  Cellen  ein 
nachweislich  älteres,  oder  gar  dem  Megaron  näher  stehendes  Gnuidriliaschema 
besalsen.  Hau  HDhre  hiergegen  nicht  die  GeUen  einiger  Selinunter  Tempel  an 
(Abb.  I  1 — 3),  von  denen  kaum  der  älteste  Aber  das  VL  Jahrh.  lunau%erflcM 
werden  kann  (Seiinunt  tun  628  gegründet).  Schon  der  Hekatompedos  auf  der 
athenischen  Akropolis  mit  seiner  TTinterhalle  (4)  muTs  mindestens  gleich  alt 
sein,  da  nach  Wiegands  glänzender  Untersuchung  (vgl.  'Eoti'u  v.  9.  März  1896) 
die  berühmteT»  Pnrosrrrnppen,  die  uns  der  'Persersehntt'  der  Akropolis  erhalten 
hat,  seine  Giebel  geschmückt  haben');  auch  die  Dreiteilung  der  CeUa  durch 

•)  E»  erge^H  II  sit  h  ilariiuH  interesflantc  Probleme.  Wie  wurde  die  Peisistratische  Peri- 
Bt«flH,  (leren  tiielxl  (iii-  jetzt  von  Schräder  so  glücklirh  rpkonRtnn<>rtf>n  rinippen  de« 
Gi^ntenkiunpfeH  füliton,  mit  dem  älteren  Üau  verbuaden?  Wurde  damuls  der  alte  Giebel 
lenUlri?  Oder^  wenn  niebi,  blieb  «r  «iditlMr,  d.  h.  fehlte  d«r  neaen  Peristuta  die  h«ri- 
Mmtale  Decke,  oder  verscbwand  er  hinter  bezw.  über  derselbon?  War  die  horizontale 
Pt«roQdeckc  vorhanden,  "o  wird  sie  aus  Holz,  gewesen  Bein,  wie  diejenTfjffii  Alktii'ioriiden- 
tempel  zu  Delphi  i^Hull.  de  corresp.  bullön.  XX  647).  Sich  den  alten  Tempel  auch  ohne 
Pflristsns  fortbestehen  bu  denken,  fiUlt  aidit  lo  schwer,  wenn  man  die  Tbatiaelie  in  ROefc» 
sieht  zieht,  dafs  die  Perifteiii  ein  Tielleieht  nie  geat  mgamKeh  mit  jenem  verbondnier 
Ziuatz  WM. 


682 


F.  Noack:  Zur  Eiitwiek«laiig  grieeliiieher  Baakamtw 


die  Innenwulen  ist  in  ihm  Tolhogen.  Und  was  wäre  denn  an  jenen  Tempeb 
in  Seliniint  aMcrtOmlidier  als  am  Heraion?  Der  hoehardiaiiefae,  neuerdings 
wieder  für  den  Uieeten  erkl&rte')  Tempel  C  hat,  ebenso  wie  der  jflngere 
Tempel  8,  eine  nur  dordi  eine  Tlifir  sn  betretende  Yoiludle  und  trennt  hinten 

von  der  Hauptcella  das  kleinere  sogenaHite  'AUerheiligste'  ab.  Für  jene  Form 

der  Vorhalle  giebt  es  meines  Wissens  nur  eine  altere  Analogie,  die  höchstens 
ebenso  alt  ist  wie  die  otTone  mykenisehe  Halle  in  antis:  den  Palast  von  Arne, 
dessen  beide  Hauptmegara  einen  ebenso  geschlossenen  Vorraom  haben,  dessen 


1  2  :^  4  I  G 


1— S  taptl  In  Stünm.  4  JOtw  Alh—twopii  (vor  VtWitratot)     5  Temp«!  tod  KorfaUi.    t  BotiIm  ««• 
Olpqpift.  T  DMiflafegaiwn  ib  TI^m^  9  H*ttptm«g*Ki(B  aat  Ana. 


Eingang  nur  aus  lokalen  Gründen  ein  seitlicher  ist  (BnlL  de  cotwap.  hellAi.  YVTTT 
Taf.  11;  8.  Abb.  I  8).    Für  das  'Allerheiligste'  (a)  aber  giebt  es  keine  ältere 
Analogie.   Man  liat  angenommen,  dafs  dieses  'bei  einer  Umbildung  des  Grund- 
risses einer  offenen  Ilinterhalle  Platz  gemacht'  habe  fDurm,  Bank.  d.  Gr.*  ö4  i 
Dagegen  spricht  schon  genügend  die  eine  Thatsache,  daüa  die  jfingeren  Tempel  A 

*)  Ton  PtielMleiii,  AreUol.  Anseiger  18M  8.  IS,  wie  Mhon  Benndorf«  Metopea 
Seünnnt  S  38,  wollte,  wahrend  i.  B.  Dum,  Brak.  d.  Qr.*  I        ;init  Senqwr  2>  flir  den 
iltesten  Tempel  ansieht. 


P/lToack:  Znr  Enfewiekelniig  gritdiiiclMr  B*iikiiiitt. 


583 


und  R  {Abb.  I)  in  Selinunt  und  der  Tempel  in  Segesta  das  'Ailerheiligate' 
noch  behalten  und  erst  hinter  diesem  die  offene  Uinterhalle  zeigen.  Diese 
irt  demiueh  ciii&eh  nftch  dom  Yorbüd  andrer  doriMher  Tempel  dem  attetea 
dreigeleilfeen  Tempelhftuse  hinmgeHl^  worden^  letetorM  abor  können  wir  nur 
alt  eim  Speaialilfti  lokaler  seliniintiBeher  Bauweise  aneehen,  die  aufaerbalb  von 
Selinunt  nur  ganz  Tereinaeltey  in  Grieehenland  aellMt  kdne  Nadifolge  ge- 
fimden  hat. 

Neuere  Messungen  Koldewejs  (Archaol.  Anz.  1892  S.  12)  haben  im  Gegen- 
satz zu  den  älteren  Aufnahmen  ergeben,  dals  der  Stylobat  des  Tempels  C  in 
Selinunt,  des  Tempels  also,  der  sieh  im  Cellfinjundrifs  am  Htärkst<»n  von 
griechiücher  Tempelform  uuterächeidet,  auä  mächiigeu  Blöcken  besteht,  die 
gerade  von  einer  Siolenachae  bis  aar  nSchaten  reiehen.  Dies  (1)  wie  das 
Folgende  babe  ich  durch 
die  sohematiBehett  Skizaen 
Abb.  n  za  Teranschaa- 
Bchen  gesuclit.  An  dem 
nach  Puchstein  etwas 
jüngeren  T''mpel  D  und 
dem  noch  jüngeren,  durch 
seine  Metopenreliefs  bald 
nach  560  datierbaren  iS 
finden  aidii  atatt  deeeen 
kleinere,  möhk  i^eich- 
breite  Platten,  die  auf 
die  Sftnlenachsen  keine 
Rficksicht  nehmen  ähn- 
lich am  Heraion  (2).  Erst 
die  jüngsten  Tempel  in 
Selinunt  —  die  auch  in  der 
Hinzufttgung  der  Hiuter- 
haUe  angenfäUig  den  An- 
adilnfii  an  die  ailgemeiner 


a  t 


J)  g,  U«T*ion  TOD  OlynpU, 


griechiadie  CeUaform  wa  finden  suchen  — 
TeKteQen  i^ichgrofiw  Qoadem  abwedelnd  anf  Interkolumiiieii  nnd  Standplitae 

der  föulen  (3).  Hieraus  aber  eine  Datiirung  für  das  Heraion  zu  gewinnen, 
halte  ich  für  unmöglich.  Koldewcys  Beobachtungen  haben  wohl  einzelne  That- 
sachen  erkennen  lassen,  deren  zeitliche  Abfolge  sich  in  den  vorliegenden  Fällen 
auf  Önmd  anderer  Indizien  l)eHtiinnifn  läfst.  Aber  sit-  bilden  keine  un- 
Terrückbar  logische  Abfolge  der  Art,  dafs  damit  eiu  allgemein  gültiges 
Kriterium  für  die  Datierung  anderer,  räumlich  weit  entfernter  Tempel  gewonnen 
wir«.  Die  absichtliche  Beaiehimg  zwischen  Stylobatplatte  nnd  Sinlenadise 
aeigt  sidi  bei  C  (1)  ebenso  wie  bei  Bauten,  die  50  und  100  Jahre  jünger 
sind  (S);  C  ist  nur  das  bis  jetat  nachweislich  erste  Beispiel  daAr.  Der  Fort- 
schritt fiber  C  hinaus  liegt  in  dem  Lageningssystem  der  einzelnen  Stylobat- 
platten:  insofern  ist  die  spätere  Anordnung  Ueinefer  Platten  (3)  der  älteren 


584 


F.  Noadc:  Zar  EntvkkeloiiK  uriMhinchtf  Baakuitit. 


des  Tempek  C  Uborlegeu.  Aucii  wirtl  muii  zugeben  mÜ8seu,  dals  ein  Teuipel, 
dewen  Stylobat  swir  Ueinere  Pkttcm  Terwendeiy  aber  «Ubd  die  Sftoleiitdwii 
nicht  in  Bfleksichi  aebt  (2),  älter  ist,  als  die  Beispiele  diese«  systematisehen 
Verfohrens.  üm  das  Tom  Heraion  zn  aagon,  wäre  das  analoge  Yerbittiiis  der 
Tempel  B  und  8  sn  den  jOngeren  Selinnnter  Tempeln  nicht  einmal  ndtig.  SefaEl 
aber  andorsoits  die  regellose  Lagerung  des  Stylobates  am  Heraion  wiedertim 
eine  Vorstufe  voraus,  die  greise  Blocke  von  Achse  zu  Achse  (=  1)  gehen 
liefH?  Um  das  vom  Horaion  zn  sajren,  müfste  man  im  8tvl<>^>Ht  von  C  auch 
die  \'()r8tulV'  für  ilciijenigen  von  i>  und  S  erkennen.  In  VVahrht'it  aber  haben 
die  ])i'i(ieii  Lagcriiii^svorfahren  gar  nichts  initeiiuinder  zu  thuii.  Das  Prinzip, 
das  aui  Stylobat  von  6'  maiagebeud  war,  Imbun  die  Architekten  von  D  und  S 

nidht  befolgt,  noch  weniger  aber  aas  ihm  etwa  das  ihrige  entwickelt.  Denn 
aus  dem  System  —  das  doch  ofienbar  uns  in  C  entgegentritt  —  entwickelt 
man  nicht  Systonloaigkeit,  wie  ue  D  und  S  seigen.  Viel  eher  dfirfifce  man 
^iher  behaupten,  dafs  die  Architekten  von  D  und  8  bei  einem  alterttUnlichereii 

Verfahren  beharren  bezw.  daau  zurüdckehren.  Zar  Bestätigung  dafür  könnte 
dienen,  dafs  der  Tempel  D  von  C  wie  von  S  darin  abweicht,  dafs  er  das,  ja 
nun  einmal  sichfr  urulto,  Schema  der  Vnrluillo  in  antis  wählt  und  dio  Anton 
in  DreivierUdsäultn  tinleu  laist  (s.  Abb.  Ii;  das  iiiit liste  Gegenstück  zu  letzterer 
Eigentümlichkeit  —  Benndorf^)  Imt  si»'  ('iiimiil  geradezu  'primitiv'  genannt  —  bieten 
die  Querwände  der  HeraionceUa,  deren  Stimverkieidung  ursprünglich  auch  von 
(hölzernen)  Säulen  gebildet  wurde,  ein  Ver&hrBo,  dessen  Srkfirung  in  der 
alten  Hols-Lehmziegeltechnik  zu  suchen  ist  (Jahrb.  XI  216  ff).  Erst  dadurch, 
dafs  die  kurzen  Quonrönde  durchgeschlagen  wurden  (Olympia  I  32  C  Jahrh 
XI  218),  bekam  der  Grundrils  der  Cella  eine  an&erliflhe  Ihnlichkeit  mit  den 
ausgebildeten  dorischen  Tempelcellen;  als  man  das  TTt-raionsc-bonia  mit  dieSMl 
identifizierte,  hat  man  diesen  wichtigen  Faktor  gewifs  übersehen. 

Nach  allen  dioj»cn  fTicrlognngen  bleibt  die  letzte  Entscheidung  zwischen 
dem  Heraion  und  den  sizüischen  TtMijpeln,  sowie  den  ältesten  jjrorsen  Temjxln 
in  (Jrieohetiland  (Hekatompedos,  T.  v.  Korintlij  doch  schiielislich  nicht  dem 
Grundrils,  sondern  dein  Aufbau  vorbehalten.  In  z.  T.  hochaltertümiichen, 
schweren  Verhältnissen,  aber  bis  zum  Giebel  aus  Stein  treten  diese  uns  ent- 
gegen: der  Aufbau  des  Heraion  trogt  das  Gepräge  einer  ganz  anderen  AIte^ 
tftmlichkeit,  denn  seine  Technik  ist  die  der  mykenisdhen  Baukunst.  —  Damit 
bleibt  die  Berechtigung,  die  Einselfbrmra  des  dorisdien  Aufbaues  aus  älteren 
Holzkonsiaruktionen  henraleiten,  bestehen.. 

Mctopen  von  Sälinout  S.  24. 

(FortfleUuiig  folgt.) 


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SOKßA.T£S  BEI  PLATON. 


Von  AinoEso  GsEonc 

Im  Jahre  1869  schrieb  K.  Lehrs:  ^Dcr  Platonische  Sokratcs  ist  das  ge- 
traflisne  Porbftt  dei  wirUiehen  Sokntei,  too  dnem  Heister  gemalt  und  »nf- 
gefiÜBt' . . .  und  Tlato  legt  bekanntlidi  seine  ansgebüdete  Lehre  dem  Sokntes 
bei  Damit  bat,  meiner  Übenengung  naeh,  Plato  nicht  nnr  das  BewnüitMin 
aneepreehen  wollen,  dafa  er  doch  alles  von  Sokrateg  habe,  «ondem  auch  die 
«benengung,  dab  aeine  Fortfuhrung  des  Sokniti^rlu  n  so  von  selbst  folgende 
Konsequenzen  seien,  dafa  Sokrates  bei  etwa  fort^esetzt^'in  Leliren  sie  selbst 
würde  gezogen  haben'.  Ja,  Lehrs  war  yjcncitrt,  die  Echtheit  des  Pannenides 
aufzugeben,  weil  er  in  diesem  Dialoge  einen  WiJei sprach  zu  den  obiiren  Sätzen 
bemerkte,  da  ja  darin  dem  jugendlichen  Sokrates  die  Ideenlehre  ala  eiu  bereits 
klarer  Originalgedanke  zugeschiieben  werde.  Immer  trug  Piaton  seines  I^lirers 
Bild  im  Henen;  anfällige  Erinnerungen  an  Binaelheiten  ans  Sokrates*  Leben 
oder  Wirken  wurden  Änlasie  seiner  Dialoge.*} 

Über  diese  einseitige  Auffassung  eines  um  andere  Zweige  der  Wissenschaft 
hochv^dienten  Oelehrten  ist  die  Piatonforschung  stillschweigend  zur  Tt^es 
ordnun«^  übergegangen.  Aber  kiir/.lieh  hat  sich  ein  anderer,  dessen  eindringende 
Forschun^ir  ülier  Piatons  Geset/v  unt  rwartetes  Licht  verbreitet  hatte,  Ivo  Bruns, 
eine  ähnliche  Aufi'aetäuug  wie  Lehrs  gebildet  und  sie  ausführlich  vorgetragen 
und  begründet*),  freilich  ohne  sich  darauf  einzulassen,  sich  mit  den  vielen  ent- 
gegengesetzten Resultaten  der  bisherigen  Forschung  auseinandensnaeisfien.  Dieses 
nachBuholen  und  die  Befecktignng  des  neuen  gcgenflber  dem  alten  Standpunkte 
im  einaelnen  an  prüfen,  liegt  im  Interesse  der  Saehe,  im  Interesse  der  wetteren 
Forschung.  Und  eine  Selbstbesinnung  hat  auch  dann  ihr  Gutes,  wenn  dadurch 
nicht  neue  Resultate  hervorgerufen,  sondern  nur  der  Zweifel^  oh  der  bisher  ein- 
geschlagene Weg  ein-  richtiger  sei,  bestärkt  oder  beseitigt  wird.^)  Die  Frage, 
ob  Piaton  auch  in  den  Gesprächen  seiner  Blüte,  wie  vielleicht  in  seiner  frühesten 
Zeit,  nnr  historisclu'  Porti-ats  von  Sokrates  und  seinen  Mitunterrednern  liefern 
wollte  und  stets  nur  unbowiilHt  und  in  Klcinij^kt^'iten  von  der  historischen  Wahr- 
heit abwich,  ist  ja  in  mehr  als  einer  Hinsicht  von  allurgrüfstcr  Bedeutung. 

>)  PIato8  Phadnu  und  GutnaU  . . .  v«n  S.  Irtlin,  Leipslg  1869,  Ebd.  tt;  17  n.  0., 

vgl.  19,  1;  14. 

*)  Das  literarische  Porträt  der  Griccbou  .  .  von  Ivo  Bruns,  Berlin  189C,  HL  Buch. 
Hinel  hat  in  Mineni  Bach«  Der  Dialog,  eu  litecarhistoriacher  Yenueb  (Lei]n%  1SS6) 

die  geltenden  Ansichten  nach  der  Seite  der  künstleriflchen  Behandlung  der  Platoniachea 
i>ialoge  dargestellt  und  weiter  auigeführt,  so  dafa  Bruns  als  sein  Antipode  erscheint. 

K«ao  Jaltrbttckvr.  iH'JS.  I.  80 


586 


A.  Qerek«:  fioknlM  bei  PUtom. 


Ich  gehe  von  einer  Einzelheit,  des  dialektischen  Kampfes  aus,  um  die 
Frage  zu  entscheiden,  oh  der  Platunisehe  Siikrates  Gegner  Flatons  und  ihre 
Lehren  belampft  oder  ob  Fbton  nicht  dai«n  dmikt  Sokratee  ^tiet  im 
Thwdietos  über  den  Säte  des  ProtagoxBe  *I)er  Mrasch  ist  das  Hab  aller 
Dinge':  dann  kSnne  man  auch  sageii,  das  Schwein  oder  der  Äffe  sei  das  Mab 
aller  Dinge  (161 G).  Spater  nimmt  er  das  zurück  und  tadelt  diese  imfeme  Axi 
der  Polemik  selbst  auf  das  schärfste;  mit  vollem  Recht  könne  Protagoraa  ein- 
werfen: ^Bestreite  doch  lieber  das,  was  ich  wirklich  behaupte  .  .  .  sprichst  du 
aber  vmi  Schweinen  und  Affen,  so  bctnigst  dn  dich  nicht  nur  sf'll>sf  wie  ein 
Schwein,  Hondem  verffihrst  inu-li  deine  Zuhörer,  sich  so  gegen  meine  Schrift 
zu  benehmen,  was  nicht  anständig  ist'  (1G6C).  Die  Wichtigkeit  dieser  viel- 
besprochenen Bemerkungen  ist  auch  Bruns  S.  261  nicht  entgangen,  er  hat 
danras  aber  ftlscbe  Folgerungen  gezogen.  Er  meint,  Platon  beaenge  dami^ 
dafs  er  nicht  nnr  diese  Art  der  Kritik  mibbtUige,  wmäiam  sie  anch  selbst  nie 
geQbt  liabe,']dals  er  daher  s.  B.  nie  habe  ibran  deolcen  kennen,  AntistheneB  als 
Sokratiker  unter  der  Maske  der  beiden  Klopffechter  im  Euthydemos  zu  ver- 
unglimpfen oder  einzelne  seiner  Lehren  zu  verspotten.  Allein  die  Thatsache 
bleibt  doch  wohl  besteben,  dafs  Platon  den  Euthydemos  und  »einen  Bruder 
Dionjsodoros  in  der  drastischsten  Wei'?e  gezeichnet  u?id  dem  Spotte  preis- 
gegeben hat,  mof^e?!  sie  nun  in  dem  Dialoge  mir  ihre  eigenen  Lehren  vortragen 
oder  mögen  diesen^  was  ich  für  aufgemacht  halte  Lehren  des  Antistheneä 
beigemiscSit  son. 

Bruns  sieht  in  jener  Selbsttierichtigang  im  Tbeaatetos  einen  fnerliehen 
Widerruf  gegen  Sokrates*  dgenes  £rflberes  (161  Bff.)  polemiadies  Auftreten.  WSte 
das  richtige  dafs  also  Platon  auf  gröbere  Polemik  damit  verzichten  wollte,  weil 
er  sie  ttlr  SmanstKodig*)  fUr  eine  ^Brutalität',  ftir  eine  'Roheit'  hielt  (Bnms 
200  f.  303),  so  müTste  nicht  nur  dem  Thoaitetos  das  IT.  Buch  des  Staates 
vorausgehen,  weil  Glaukon  hier  den  f?»' schilderten  kjnischen  (V)  Naturj^tsiat 
*Schweinestaut'  nennt  (372D),  ohne  von  bokmtes  berichtigt  zu  werden  oder 
selbgt  spüter  den  Aufdruck  zurückzunehmen,  sondern  Platon  mOfste  im 
Theaitetoti  zur  Einsicht  gekommen  sein,  dab  er  sslbst  hier  (wie  andi  im  Euthy- 
demos) früher  die  Grenzen  des  Ansfatndes  ftbersehritten  lÄtte.  Platon  rafilste 
abo  bewobt  snnen  Meister  sagen  lassen,  statt  es  selbst  von  mdk  m  sagen,  er 
habe  aidi  früher  (im  Theaitetos  wie  an  den  anderen  Stellen)  unanständig  be- 
nommen. Und  dieser  Zug  vertrüge  sich  schlecht  mit  der  Pieia^  die  selbrt  die 
TOn  Bruns  bekämpften  Forscher  dem  Platon  nicht  rauben  lassen  würden. 

Die  Ansicht  ist  aber  in  der  Grundlage  falsch.  Schon  Schleierraacber  hat 
erkannt  und  Bonitz  bewiesen,  dafs  die  ersten  von  Sokrates  im  Theuitetos  vor- 
geliraeliti  ii  Einwendungen  gegen  die  Erkenntnistheorie  des  Protagoraa  keineswegs 
von  Platuu  geteilt  soiidem  ausführlich  abgewiesen  werden  (1G4C  —  168C),  und 
somit  älteres  Gut  vorliegt^  das  hier  nur  kritisiert  wird.  Die  Quelle,  die  Schleier- 

Mit  Schleienuat-ber,  Zeller,  Booitz,  Urban,  Düounler  u.  a.  ich  weiis  uicbt,  ob  Braiu 
daa  unbewieaeae  Behaaptungen  nennt,  die  rieb  whwer  widerlegen  lieben  (."Ioh):  wenn  ada« 
Behauptoiig  rieh  widerlegen  Iftbt,  featigt  du  die  entgegenatriiende  allgemeine  Amchaueag'. 


Gercke:  SokratM  bei  PJaton. 


687 


macher  allf^raein  ab  sophistisch  bezeichnet  hatte,  ist  von  Dümmlor  als 
Antistlieuisch  erkannt  worden,  und  Natorp,  Bonitz- Heller,  Zeller  u.  a.  haben 
seiner  Beweisführung  zugestimmt.^)  Von  Antisthoncs  stammte  also  die  witzige 
Pturodie  her  'das  Sehwem  ist  das  Malii  aller  Dinge',  nnd  Dun  wirft  Sokratee 
bei  Platon  unter  d«r  Maske  einer  Selbstberichtigung  vor,  er  benehme  sieh 
selbst  schweimsch.  Das  pafiit  an  Staat  II  872D  nnd  Vü  535E. 

Ganz  ahnlich  scheint  mir  Piatons  Verfahren  im  Phaidros  260  B — D,  nur 
etwas  milder.  Um  die  Notwendigkeit  einer  wissensehaAUchen  Grundlage  ffir 
die  Rhetorik  zu  erweisen,  zei^  Sokiaks  die  Konsequenz  des  Gegenteiles  an 
einem  drastischen  Vergleiclie,  f'iprt  dann  aber  hinzu:  'Wir  haben  doch  wohl 
die  lltHiekuiist  gröblicher  li  -i  I  i  müht,  als  notig  war;  sie  würde  woW  selbst 
sagen:  «Was  treibt  ihr  sondernaren  Menschen  für  Possen?  Ich  zwinge  doch 
niemand,  der  die  Wahrheit  nicht  kennt,  das  Reden  zu  lernen»  .  .  Also,  sagt 
Sokrates^  mfisse  man  seine  Grflnde  hlh«n.  Diese  Selbsterkenntnis  hinderte  also 
Pkton  nichts  soerst  derb  und  plebejisch  wie  ein  Komiker  Tonngehen.  War  das 
seine  Art?  Hatte  man  ihm  das  TOrgeworftn,  wie  Natorp  (PhiloL  N.  F.  II  446  f.)*) 
meinte?  Jener  possenhafte  Vergleich  lautet  so:  wenn  Sokrates  den  Phaidros 
Überreden  wolle,  sich  für  den  Krieg  ein  Pferd  an  kanCan,  ohne  dals  sie  beide 
ein  Pferd  kennten  sondern  nur  glaubten,  es  müsse  lange  Ohren  haben,  und 
wenn  er  gar  darum  ein  Lob  des  Esels  verfn^te  nnd  ihn  als  Pferd  anpriese 
wegen  seiner  treffliehen  Eigenschaften  im  Kriege,  dann  würde  er  sich  lüeher- 
lich  machen.  Ehen  die><en  Vergleich  hat  nun  Antisthenes  gehruiicht.')  Er  riet 
den  Athenern,  m  der  Volksabstimmung  die  Esel  für  Pferde  zu  erklären,  und 
als  sie  das  Üfar  fhSrieht  erkürten,  sagte  er:  *Aber  Feldherm  worden  bei  euch 
doeh  andi  Leute,  die  niehts  gelernt  haben  nnd  nur  durch  Abstimmung  dazu 
«mannt  sind'  (Laert.  Diog.  VI  8).  Auch  Flaton  hat  eine  tlmii^Aft  Nnta- 
anwendung  des  Vergleiches  angedeutet:  es  ssi  nidit  mehr  fichertich,  sondern 
sehlimaii  wenn  ein  Redner  die  Bürgerschaft  zu  etwas  Bösem  uherreden  woDte, 
wie  wenn  es  gut  wäre,  nur  weil  beide  Teile  nicht  Gut  und  Böse  könnten.  Das 
ist  eine  weitere  Folgcmng  ans  dem  Bilde  des  AntistheneB,  das  Plnton  seinen 
eigenen  sorgsamen  Erörterungen  vorausschickt.  Auch  hier  erkennen  wir  den 
xtunxbg  tqöxos,  der  das  Bindvieh  in  die  Polemik  gegen  Piatons  Ideenlehre 
brachte  (Euthjd.  301 A). 

Man  thnt  nidit  gut  daran,  in  all  den  verwickelten  Problemen  die  spezielleren 
modernen  Untersuchungen  ftst  durchweg  zu  ignorieren,  ihre  Widerlegung  gar 
nidit  EU  Tenrachen.  Denn  wenn  in  ihnen  andi  manches  Falsche  mit  nnter^ 
gelaufen  sein  mag,  so  werden  sie  doch  nicht  nmgestolsen  durch  allgemeine 
Sitae,  wie  'dafi»  es  eine  Bmtaliiät  wäre,  wenn  Platon,  um  den  Antistbenes 
personüeh  m  Ternngümpfen,  dam  seinen  Sokrates  Tsrwandt  h&tle^  an  dessen 

i>üijuulor,  Anüath.  68,  Aksd.  lU,  Vgl.  Zeller  U  1*  301,  1.    Jetzt  will  Stuemikl 
wieder  einan  Unbekaoniai  fllr  Ant.  ebtetten:  Rh.  Ifw.  Uli  468  f, 

•)  Vffl.  dagegen  auch  uieiDe  Anm   in  SanjipeB  Auag.  «Icr  GorgiaB  (Berlin  1897)  zu  4ClC. 
')  Vgl.  Winckelmann,  Aut.  fmgm.     61  Anm.  Schon  Polykrateg     !iri*  l.  die  Kritik  Jem 
Öokrate«  zu  (Xcn.  Aponm.  I  2,  9),  vgl.  Joel,  Der  echte  .  .  .  Sokratea,  ßcrliu  lö9a,  i  4bl, 


V 


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588 


A.  G«rck«:  flolmtM  liei  Plftton. 


Lieblingsschülern  dief5cr  Antisthcnes  o;phorte*  (Bruns  260).  Diese  St<^llini<r  des 
Antisthenes  ist  iinbr/t  uo;t,  mir  seine  Anhiin^lichkeit  an  Sokraies  bezeugen  uns 
Xenopbon  Mem.  111  II,  11-  Symp.  4,  44;  S,  4  ft.  mul  Laertius  VI  2.  Gesichert 
ist  dagegen,  dai's  dem  feingebildeten  Aristokraten  iUatoa  wie  dem  tiefgelelirten 
Aristoteles  der  'ungebildete'  Proletarier  von  Hexaen  unsympathisch  war.  Die 
neuere  Forschung  hat  ^Hmer  seit  Bitter  das  Sopliistisclie  in  8«ner  Lelire  wie 
seinem  Auftreten  hervorgdiobtti,  und  nadi  den  Anafilhmngen  tob  Windelbnnd 
und  V.  Arnim  ^)  bleibt  aufser  dem  persSnlichen  Vorbilde  des  Sokrates  ond 
dem  Streben  nach  Glückseligkeit  ttiittclst  Tugend  kaum  noch  irgend  etwas 
Sokratisches  an  dem  Schüler  des  Qorgias.  Piaton  konnte  also  den  Pseudo- 
Sokratikor,  ävr  jode  Forschung  unmöglich  machto,  mit  gtitcm  Rechte  als 
Sophisten  angreifen  und  dem  Sokrates  die  Rnlle  de';  Kritikers  übertragen.  Er 
nannte  den  Angegriffenen  nie,  weil  er  nach  guter  (it-piiogenheit  Lebende  nicht 
nannte  (auTser  Ljsias  und  läukruteü  im  riiaidrus,  wus  Hermes  XXXH  380  halb 
erfcliii  ist)  sondern  den  Titos  oder  Gains  seiduMte,  um  den  IVibiua  an  kari- 
kieren.') Das  erUSrt  uns  sogleich,  warum  Bruns  Poftrilts  von  Plafiona  Bivalm 
fiberiiaupt  nicht  nachweisen  konnte  (S.  261  ff.). 

Aller  WahTBofaeinliohkeit  nadi  ging  der  Phaidros  dem  Theaitetos  und 
Euthydcmos  yoran,  so  dafs  man  die  zunelimende  Derbheit  der  Polemik  gegen 
Antisthenes  beobachten  kann,  wie  ja  auch  dem  Isokratcs  gegenüber  Plafcons 
Freundschaft  in  Feindscliafk  umgeschlagen  ist  nnd  diese  sich  immer  mehr  ter- 
schärft  hat.    Doch  das  führt  über  den  1? ahmen  dieser  Erört^-rung  hinaus. 

Bruns  leugnet  durchaus,  dafs  der  iUatonische  Suknttes  auf  die  litterarischen 
Fehden  des  IV.  Jahrh.  ii^nd  welche  Rücksicht  nähme,  sogar  im  Phaidros 
(9.  226),  obwohl  er  diesen  Dialog  nicht  schon  zu  Lebzeiten  des  Sokrates  ab- 
gefifdbt  denkt  sondern  die  ganze  schrillsteUerisohe  l%ätigkeit  Piatons  erst 
nach  399  wegen  Apol.  89  G  f.  mit  Natorp  beginnen  UL&t  (228).  Nur  ftr  deu 
Anhang  des  Enthydemos  giebt  er  Spengels  Beweisen  nach  und  sieht  in  dem 
nngenannten  Rhetor  den  mit  Piaton  zerfallenen  Isokrates  (S.  314),  glaubt  aber 
f iilHchlich  diese  Ausnahme  besonders  motiviert  und  Piatons  vid  härteres  Urteil  im 
Munde  seines  Lehrers  erhebUch  gemildert.  Wer  diese  Konzession  macht,  wird 
sich  schwerlich  Spengels  und  Useners  Auffassung  der  jiersöulichen  Stellung 
Piatons  gegen  T/ysias  und  für  Isokrates  und  im  Gegensatze  zu  dem  Urteile  dm 
Antisthenes  auf  die  Dauer  verschliefsen  können,  er  müfste  denn  mit  Usencr 
den  Phaidros  vor  399  oder  wenigstens  die  betreffenden  Schriften  des  Antisthenes 
und  den  Beginn  des  Streites  später  ansetsen.  Allein  die  Berfleksifiiitigung  dner 
drastisdien  l^nisehen  Aulsernng^  die  ySiMg  nnsokrattsch  isl^  war  ja  schon  oben 
nachgewiesen,  und  das  Eingreifen  des  Phaidros  in  die  rhetorischen  Zwistig" 

')  Windclliand  iu  seiner  Epoche  machenden  npsrhit-hte  der  riiilo.^ophic;  H.  v.  Arnim, 
Diu  von  Prusa,  üerl.  189t>,  32  ff.;  vgl.  auch  Natorps  Artikel  Ant  in  Faulj-Wiasowas  ReaJ- 
eaeyklopftdie  I  S. 

*)  Bruns  S.  260,  der  die  Unterdnitk^uig  de«  Namens  S.  3U  beifl|iiellM  nennt,  hat 
nilHchlich  \t  iall^'rmpinBrt,  waa  niaT^  einleuchtend  richtijf  Vi  riicrkt  'man  »tcMt  nicht  einen 
Lebtiodcn  dar  und  uiciut  einen  anderen  Lebenden'  ^Die  att.  iiercdü.  II*  30  Anm.). 


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A.  Ctercke:  fiokmtet  bd  Flaton. 


keiten,  wie  sie  etwa  ein  Jahnehnt  nach  Sokrates'  Tode  ausgetr^en  wurden, 
stebt  anderweitig  fest');  nicht  Sokratea  yerwarf  alle  Sehriftstellerei,  was  Lelira^ 
und  Bnu»  226  f.  ans  dem  PhaidroB  bersnsgeleMn  haben,  «ondeni  Pbton  seibat 
tritt  hier  gegen  die  lAyot  yMypa^iJvot  auf,  Terstehi  darunter  aber  die  rheto- 
rischen Übungsreden  (und  weiter  Welleidit  auch  die  Litfcwatur,  aber  ?OKZi^- 
weise  die  nichtdiaiogische  Litteratur):  nur  als  Erinnerongsblatter  behalten 
JSeden  Wert,  etwa  wie  Kolleghefte,  und  so  seine  Dialoge. 

Sonst  sieht  Bruns  nur  im  Menexenos  uns  nidit  nülu  r  bekannte  littt  rarische 
Beziehungen,  über  die  der  antike  Leser  unterrichtet  war  (S.  359);  aber  diesen 
Dialog  hält  er  (eben  deshalb?)  fär  unecht.  Für  die  sicher  echten,  naeint  er, 
brauchten  wir  Iseiuen  leitgescfaichtlicheti  Kommmtar,  mn  sie  und  ihre  Wirkong 
sa  Terstehen,  obwohl  dem  antiken  Leser,  das  giebt  Bnms  zu,  manche  ans  Ter- 
borgenen  Anspiehmgen  und  ZmwMnmfmhKnge  offen  lagen.  Das  Terstehe  ieh 
nicht:  wenn  aniaere  Anlasse  fQr  die  Qestaltong  einzelner  Züge  oder  ganzer* 
Dialoge  vorlagen,  so  mufs  deren  Ermittelung  ein  unbestreitbares  Ziel  der 
Forscbnng  bilden,  und  ihre  Resultate  sind  unentbehrlich  für  die  Erklärung. 
Wer  vorsteht  gerade  die  reifsten  Dialogo  wirklich,  wenn  er  sich  dagegen 
prinzipiell  verschliefst?  Wer  könnte  wohl  Piatons  iiintwickelung  in  hoinen 
iiehren  wie  »einer  Dialogkuiist  verfolgen  ohne  diese  üesichtspunktc?  Nur  wer 
•nf  «UsB  dieses  Ton  ^nniherein  mstcfatet,  dem  kann  der  Flatonisehe  Sokrates 
als  rMn  hMtorisches  P<»rfaAt  ersbheinen  und  als  Piatons  Lebensaufgabe,  dieses 
Portiftt  immer  wieder  in  anderer  Belendhtang  m  malen.  Je  mehr  man  da- 
gegen sich  in  die  Einzelheiten  versenkt,  um  so  mehr  treten  fast  ttboall  die 
nnhistorisehen  Zflge  des  Platonischen  Sokrates  hervor.  Wo  wir  diese  aber  ver- 
missen, da  müssen  wir  weiter  forschen,  ob  das  nicht  an  nns  und  unserer 
mangelhaften  Kenntnis  der  geistigen  Bewegungen  in  der  ersten  Hälfte  des 
IV.  Jahrb.  liegt.  Das  ssckeint  mir  eine  rechte  Nntzainveudung  der  bokratischen 
ars  nmnenäi  statt  der  von  Bruns  geübten  Zurückhaltung  gegenüber  den 
modsmen  Vennntnngen:  die  Simde  dw  Kritik  mag  nun  hier  ansetzen,  das 
skeptische  iatixHv  fördert  nidii 

DaOi  Piaton  trota  des  Sdiemes,  als  ob  er  die  echte  Sokratisehe  Lehre 
Überliefere,  vielmehr  seine  eigene  vortrage,  die  durch  Anfiiahme  Pjthagoieiacher, 
Elsatischer  nnd  Heraklitischer  Elemente  eine  durchaus  andere  geworden  sei, 
hat  schon  1742  Brucker  behauptet');  und  auch  Bruns  erkennt  an,  dafs  der 
Platonische  Sokrates  oft  Gedanken  ausspreche,  Hie  sicherlich  nicht  er  sondern 
Piaton  gedacht  habe  fS,  2^4  f ).  Trotzdem  behauptet  Bruns,  PUiton  habe  nur 
unbewuist  daä  historische  Hi\d  »eines  Meisters  etwas  geändert,  das  hebe  abtjr 
die  subjektive  Treue  Piatons  und  seine  Absicht,  durchweg  das  Sokratesbild 
nach  dem  Leben  sa  seiehnen,  nicht  auf  (S.  282  f.).  Ünd  wShrend  er  hier  von 

•)  Vgl.  Hermes  XXXTT  ff  urnl  die  dort  zum  Teil  angcfTlhrte,  nniriui<,'reirli('  Littcrntnr. 
FaUch  auch  Windclband  in  Iw.  Müllers  Haadb.  Y  1>  112  und  Natorp,  Phüol.  N.  F. 
n  448  nebit  Anm.  It,  richtiger  diMW  484.  Hinel  Dial.  I  176  Mend,  vgl.  160  418. 

*)  Vgl  Düring  (Ke  Lehn  des  SokratM  . .  Hflaeben  1666,  8. 6),  der  selbtt  Xeaophon 
auffafiit  wie  Bmn«  Flaton. 


590 


A.  Oercke:  Sokntos  bei  FMon. 


einer  yoniiuMeteiiiig  spricihty  beMichmt  er  bald  dusuf  (S.  285)  es  ab  eine 
Thateache^  dafli  Plaion  Jaliraelinte  hindurch  fortgefahren  habe,  den  Sokratee  in 
derselben  Art  va.  Terwendan,  wie  sie  ursprünglich  naeh  dem  Tode  des  Mdatem 

aufgekommen  sei.  Er  schliefst  daraus,  dals  auch  der  selbständiger  und  ein- 
flnfareicher  werdende  Philosoph  damit  laut  bdcunde,  dals  nach  seiner  Ansicht 
die  wi'ssenscliuftliclien  Fortsclirittc  seiner  pigenon  Forsclinng  wie  der  des  ihm 
nahestehenden  Kreises,  da  sie  nur  die  Arbeit  dos  Sokratcs  fortsetzten,  sich  atich 
nur  als  die  Fortsetzung  .s»'in«  s  Lc})cnswerkfc's  geben  durften.  Das  ist  der  Staud- 
punkt von  Lehrs.  Und  duiuit  ist  die  seit  Brucker  immer  meiir  gefestigte  and 
▼cn  Bruns  im  Prinsipe  eingeräumte  Grondansehauung  naheou  wieder  anf- 
gegoben:  entwed»  lehrt  der  Platonische  Sokrates  sieiher  ünadEnftnohee^),  oder 
er  tiiut  es  nidit  —  terUim  nen  äaiur. 

Zum  Belege  s^er  Ansicht  fOhrt  Bruns  die  Ideenlehre  an,  deren  Geneab 
*  PLatons  Sokrates  im  PLaidoii  })eschreibt.  Ob  diese  Angaben^  namentlich  betreffs 
des  vergeblichen  Versuches,  das  System  des  Anaxagoras  auszubauen,  historiscbee 
Miiterial  entweder  über  des  Sokrates  oder  über  Platons  Fi-twickelungsgang 
enthalten,  ist  ein  vielerörterte«  Problem,  das  nucli  iiiclit  siciu  r  entschieden  i«?t. 
Aber  entschieden  ist,  dafs  die  Ideenlehre  unsokratisch  ist  und  nicht  eint-  ein- 
fache Fortf&hrung  der  logischen  Begriffsbestimmungen  darstcUt  sondern  über 
ihren  engen  Krms  su  einer  nmfiuseuden  metaphyaisdien  Sp<Uation  hinaus- 
gedrungen  ist,  und  das  unter  dem  ]Sin£usse  der  Heraklitischen  Lehre  des 
&atylos  und  wohl  nodi  mehr  der  entgegengesetzten  Bkatiseh-HegariaeheiL 
Diese  Ergebnisse  der  philosophischen  Forschung  wie  ihre  Begründung  ignoriert 
Bruns  und  erklärt  rundweg:  *Es  läfst  sich  nichts  abdeuteln  an  der  Thatsachc^ 
dafs  Piaton  damit  den  Kernpunkt  seines  Systems,  die  Ideenlehre,  der  Anregung 
des  Sokrates  zu  verdanken  behauptet*  (S.  286). 

Die  Ideenlehre  ist  eng  verbunden  mit  der  Pythagoreisch-Platonisclieu  von 
der  Wiedereriunerung,  mit  dem  Glauben  au  tliw  Ewigkeit  der  Seele,  wie 
das  schon  der  Phaidros  mit  dnn  FeiMr  fast  jugendlldier  Begeisterung^)  aus- 
geführt  hai  Sokrates  abw  hatte  dieses  ganie  Gebiet  ftlr  auiserhalb  der 
Wissensdiaft  liegend  gehalten  und  persSnlich  sich  nicht  einmal  darin  fest  ent- 
Bcliieden,  ob  die  Seele  nach  dem  Tode  des  Körpers  fortlebe  oder  nicht.*)  So 
läfst  Piaton  ihn  in  der  Apok^e  40C  ff.  sich  äulsem,  und  gewils  historisch 
treu.  Dann  muls  aber  sein  nnbedingUs  Eintreten  fiir  die  Unsterblichkeit  im 
Phaidon  unhistorisch  sein,  wie  auch  die  siiintliehen  Beweise.  Und  diesen 
Widersi)rueh  gegen  die  Apologie  mufs  Piaton  hewul^it  begangen  haben,  weil  es 
ihm  nicht  mehr  auf  die  Person  des  Sokrates,  sondern  auf  seine  inzwischen  ge- 
wonnene Überzeugung,  die  neue  Wahrheit,  ankam.   Das  lalst  er  den  Sokrates 

«)  Da«  ha/k  schon  der  heote  leider  vemacbl»8aigt«  Schleiermacher  mit  markigen  Stricben 
nachgewiesen  und  z.  B.  Natorp  genauer  Mr  Qmfgtas  und  Phaidn»  verfolgt  (Aidiiv  f.  Gesch. 
d.  PhiloB.  U  402  ff.  Phüol.  N.  F.  U  588  ö  ). 

^  Noiden,  Die  antShe  Kwiftineia,  Leips.  1898, 1 69,  i ;  106, 2.  Brana  UUt  dicM  «tdiaiucbe 
Bpiaohe  flb  Kach^ilduu^  «los  Stilea  de» 

^  Vgl.  ZeUer  U  i «  IBO.  Meine  Eiul.  su  Plat  (iwg.  31  f. 


A.  Oercke:  Sokratds  b«i  Flaton. 


591 


flfllbst  amapredien:  'Ihr  aber,  wenn  ihr  auf  mich  hdri^  achtet  gering  dra 
Solnateiy  die  Wahrheit  aber  viel  höher,  and  atinunt  mir,  wenn  ieh  euch 
Wahres  an  aagt  n  scheine,  zu,  sonst  aber  widersprecht  mir  in  jeder  Weiee* 
(PhaidoQ  91 C).  Ebenso  hat  später  Aristotelee  der  Wahrheit  den  Vonsug  ge- 
geben vor  seinem  Lehrer  Plat(jn.*) 

Deutlicher  konnte  dieser  kaum  bezeugen,  daCs  es  <^ar  nicht  seine  Absicht 
war,  in  dem  Lehrinhallc  des  Phaidoii  ein  getreues  Bihl  (h  r  von  Sokrat*"*!  einst 
empfkugeueu  Anregungen  und  Lehren  zu  zeichnen;  nie  treten  vieüuehr  in 
GegenaaliB  an  der  Person,  ünd  das  dürften  wir,  anch  ohne  das  &ngnis  des 
Phaidon,  dodi  nie  Aber  der  kOnsUerischen  Form  der  Platonischen  Dialoge  ver- 
gessen, dab  ihrem  Yerftsser  ihre  künstlerische  Ansgestaltung  eine  ittudid,  ihr 
philosophischer  Gedankeninhalt  die  Hauptsaehe  war,  um  derentwillen  er  jene 
schrieb:  nicht  der  ßiog  £«ni^As€vs  war  sein  Ziel,  sondern  die  d6i<u  IJXtctmviiiutCf 
die  Forschnng  der  Schule,  von  der  die  Dialoge  nur  Abbilder,  f^Stoln,  waren 
(Phaidr.  276 A\  Und  war  der  Sokrates  in  vielen  mehr  als  ein  tlÖaioVf  mehr 
als  der  typische  Vertreter  (Ut  IMatonischen  Plulu.sophie? 

(iewiis  hat  Platou  im  i'hauiuu,  im  Kriton  und  iu  der  Apologie  die  Gestalt 
de«  Sokrates  nach  dem  Leben  gezeichnet  und  viele  historische  Einzelheiten 
ans  seinen  letaben  Tagen  anseheinend  getreu  berichte^  nnd  anbh  andere  Dialoge 
tragen  sichtliche  PortriittQge.  Das  verkennt  heute  wohl  niemand.  DaTs  es 
noeh  einmal  mit  Niu^hdmck  hervorgehoben  wird,  ist  gewilk  nütsdich.  Ah» 
man  darf  nicht  das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten.  Nicht  einmal  das  historische 
Detail  ist  überall  getreu  oder  sinngemafs  wiedergegeben.  Dafs  z.  B.  die  an- 
gebliche Hilflosigkeit  des  Sokrates  als  Prytane  im  Jahre  406  unhistorisch  im 
Gorgias  473E  geschildert  ist,  hat  man  bereits  im  Altert  unie  bemerkt  (Athen.  V  21 7  F). 
Ja  selbst  die  Darstellung  der  letzten  Tage  des  V'erurtoiltcu  und  der  Gang  seines 
Prozesses  sind  von  der  Legende  bereits  ausgeschmückt  und  von  der  Apologetik 
verUari*)  Das  schadet  freilieh  den  Dialogen  um  so  weniger,  als  das  Persön- 
liche meist  nnr  'wie  beilftufig'  auftritt  (Bruns  119). 

Aber  au  den  PortrUafigen  geh5rt  mehr,  das  ganae  Auftreten  des  Mannes, 
seine  Ironie  und  Bescheidenheit,  seine  maieutisch- dialektische  Methode  der 
Induktion,  sein  religiöser  Glaube  und  seine  politischen  Überzeugungen.  Wenn 
Piaton  diese  historisch  treu  wiedergef^cben  hatte,  dann  hatten  wir  mit  einer 
Thatsaehe  von  weittragender  Bedeutung  zu  recliiien.  Alier  das  hat  er  nicht^ 
wenigstens  nicht  mehr  in  den  kunstvollen  reiferen  Dialogen  i'haidros,  Gorgias, 
Theaitetos,  Symposion  und  Phaidon,  noch  weniger  in  der  Hauptmasse  des  Staates. 
Es  würde  zu  weit  führen,  hier  darzulegen,  wie  nicht  nur  der  Lehrinhalt  ein 
anderer,  umlunenderer  und  vertiefter  geworden  is^  sondern  audi  die  Deduktion 
an  Stelle  der  Induktion  tritt,  systematiBdie  Darlegungen  Platz  greifen  und 
Sokrates  mit  sicherem,  Insweilen  fost  unfehlbarem  Selbstbewulatsein  auf  die 
unwiderleglichen  Resultate  seiner  Philosophie  hinweist,  ohne  die  Gründe  der 


')  Nik.  Ethik  I  4,  vgl.  Archiv  f.  Gesch.  iler  Thilos.  IV  132  440  f. 

*)  Uijczel  »teilt  das  1 191  ff.  im  Zauunmeiüiaiige  mit  dea  AnaduoniBmen  vondglieh  dar. 


592 


A.  Qercke:  Sokratoa  bei  PUton. 


RivaleD  PlatonB  wa  umgehen  und  ohne  Hdi  m  machen  vor  den  leisten  Fhigem 
des  Leboie.  Audi  hier  finden  eidi  noeh  ah  und  an  einielne  historioehe  Portrftt- 
iflge  eingestreat,  aber  mit  unendlicher  Kunst  zusammengewob«!  mit  all  den 

undersartigen  Elementen,  so  dafs  ein  dichter  Schleier  fiber  Piatons  Dialog- 
kanst  zu  liegen  scheint:  es  ist  der  Dichtung  Schleier  aus  der  Hand  der  Wahrheit. 

Ihn  hat  cn^t  in  jünfistor  Zeit  die  Piatonforschung  zu  lüften  y^egonnen'); 
und  noch  feLlt  viel  zu  dem  voUstäiidigcu  Nachweise,  wie  Platonö  Idealfigur 
sich  auä  dem  historischen  Sokrate»  güDetiäch  entwickelt  liat.  Aber  die  Forschung 
scheint  mir  auf  dem  besten  Wege.  Denn  wir  verstehen  diese  Gestalt  voU- 
Icommem,  wenn  wir  iriieen,  wie  sie  entstanden  tet  (Bnms  S.  282).  Und  wir 
vwstehen  dann  aneh  Plalons  YerUUtnis  an  Sokrates  nnd  die  innere  BntwicdEelni^ 
des  nnTergleieUichen  Genius,  die  uns  noch  hoher  stdit  als  das  Portrftt  seinea 
Lehrers.  Piaton  hat,  so  viel  scheint  mir  schon  jetzt  klar  zu  sein,  dem  Sokrates 
die  BoUe  des  Gespnichsleiters  in  seinen  ersten  kleinen  Dialogen  gegeben,  als 
er  selbst  noch  durch  und  durch  Sokifitik«  »-  war  oder  sich  doch  wenigstens 
als  solcher  fÖhlte;  das  war  eine  Thiit  pi  t  it\  oller  Dankbarkeit.  Aber  die  philf>- 
sophische  Wahrheit  stand  ilim  höher  als  die  historische  und  als  »eine  Freunde. 
Zuerst  vielleickt  uubewuiät  miäcUte  er  ünsokratisches  dem  Bilde  bei,  allmählich 
bewubtnr.  Denn  er  konnte  gar  nieht  an  dem  historischen  Sokrates  bis  ins 
einxelne  festhalten,  als  er  in  der  wisaensdiafUiehen  Methode,  im  Umfrage 
seiner  Forschung^  in  der  ProUemstellung^  bans  in  aUem  WesentliehM  Aber  ihn 
hinauskam  und  der  erste  Oiganisslor  der  Wisnenschaft,  der  erste  grobe 
Philosoph  wurde.  Dafs  er  trotzdem  an  der  Gewohnheit  seiner  Jugend  fest- 
hielt, dem  SokrateH  alle  seine  Errungenschaften  7n?;nschreihen,  fremde  das  zeigt 
die  Stärke  seiner  Pietät.  Aber  darauf  konnte  er  nicht  gefafst  sein,  dals  man 
deshalb  sein  Eigentum  ihm  absprechen  und  ihm  nur  die  dichterische  Form 
der  Dialoge  und  eine  sorgsame  AusAlhrung  und  Fortbildung')  Sokratischer 
Lehren  laraan  wUrds,  dafs  man,  nm  seine  Pietät  und  Diditematur  zu  heben 
oder  an  retten,  den  Philosophen  preisgeben,  die  Wefarheit  selbBt  (wie  er  sagt) 
dner  Person  cplbm  wflrde. 

Piatons  Sokrates  ist  also  in  wesentlichen  Stttcken  anhistorisch.  Aber  ist 
denn  das  so  schlimm  oder  merkwfirdig?  Bruns  meint  S.  284,  die  Dialoge 
'alten  Stih*  wären  doch  für  Leser  geschrieben,  die  Sokrates  noch  personlich 
gekannt  hätten:  für  einen  Zwitter-Sokrates  hatte  also  weder  das  ihm  freundliche 
noch  das  erat  für  Sokrates  zu  gewinnende  Publikum  erwärmt  werden  können. 
Ich  denke,  das  wollte  l'latnn  auch  gar  nicht,  oder  wenigstens  schon  l)ald  nach 

')  Treffond  hat  Hirzel  (Der  Dialo-,'  I  174  ff.)  riatons  Kunst  fjoiccbildert.  Den  echten 
Sokrates  von  dem  Flatooischen  za  scheiden,  wie  ihn  Joel  von  dem  Xenophoutischen  lu 
MheidSD  vmaeht  hat,  habe  ieh  aadi  dem  Ttngsqge  Sohleiennaehen  und  Katoipe  (oben 
8.  604, 1)  üi  der  Eiiileiinng  saat  Gotgis*  %  A  (vgl.  Sttch  %  6  und  6)  nudhdut  für  dieiea  einen 
Dialog  gewajft 

*)  Lehm  meinte,  Hokrates  selbst  würde  diese  Konsequeazen  bei  etwa  tortgcsctztem 
Lehnn  geiogen  haben.  Aber  «r  iifc  doch  Uber  tiebnB>  JsIim  alt  gewovden,  «tarb  sIm  in 
einem  Lebensalter,  wo  in  der  Regel  niemniid  mehr  .von  neuem  anietit  sn  vOllig  neoer 
Problemstellung  und  Orundonschauung. 


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A.  Oerclc«:  Bokniet  bei  P!»toii. 


593 


399  nicht  mehr,  sondern  für  seine  eigene  Philosophie  werben,  für  die  nent» 
Walirlicit,  die  sivh  ihm  orschlosson.  Wer  sie  bekämpfte,  der  btkämpfk'  nicht, 
den  Sokruks  oder  belb»t  Platou,  äondoru  die  Philosophie  (Gorg.  484  A),  der 
belAmpfte  die  «btolute  Wahduiit  (Gorg.  486  B).  Dtts  genügt  sn  der  von 
Bruns  S.  283 f.  gewOnachien  Erkttnmg  Ittr  Platons  Verfiüiren.  ünd  wie  dieser 
striUen  ancH  seine  ZeiligulOBBen  und  Gegner,  Philosophen,  Sophisten  und  Rheioren 
fBx  sieh  und  ihre  Schulen.  Hfttte  Flaton  absnts  stehen  und  sein  Sokrates- 
portrüt  ausmalen  sollen? 

leokrates  hat  sich  in  vielen  Schriften  mit  Piaton  auseinandergesetzt,  ohne 
ihn  je  zu  nennen.  Antiathcnes  hat  heide  mit  kTniscber  Derbheit  angegriffen. 
Sollte  Piaton  dazu  schweigen,  weil  die  Dialogform  zur  Antwort  nicht  palste? 
Hatte  er  ^ich  in  der  künstlerischen  Form  vergriffen  und  blieb  ihr  aus  Eigen- 
sinn oder  aus  falscher  Pietät  gegen  yokrutoa  getreu  V  Wemi  etwas,  so  wer 
doch  gerade  das  Sokratisehe  QesprSeh  geeignet,  nieht  wie  dn  GemSlde  auf 
etwaige  Bedenken  su  schweigen,  sondern  alle  Einwinde  und  AngriA  su  herflck- 
sichtigen  und  sn  beantworten,  mochte  immer  der  Gespiiehfthrer  als  ein  Zwitter- 
Sokrates  erscheinen.  VieUeicbt  hat  d«r  alternde  Flaton  wirklich  ähnlich  darttber 
gedacht,  da  er  in  den  'Trilogien*  die  Gestalt  des  Sokrutcs  fest  ganz  bei  Seite 
schiebt.  Aber  das  that  er,  als  die  Generation,  die  Sokrates  personlich  gekannt 
hatte,  fast  ausgeätoriien  war. 

Wie  stellt(Mi  «ich,  als  sie  noch  <^rol"senteil3  lebte,  Platons  Leser  zw  seinem 
Vt'rfnhrt'iiV  Erschien  es  ihnen  al«  Willkür,  als  unborcchtigte  und  unverzeih- 
liche Auhistoresie?  Schwerlich.  Polykrates  hat  Sokiates  nach  393  angeklagt, 
wie  wenn  er  noch  lebte,  aber  seine  Vorwürfe  trafen  nicht  mehr  ihn  sondern 
den  Antisthenes')^  und  dessen  Freund  Lysias  lieb  Sokrates  sich  gegen  diese 
neuen  AnUagepunkte  mit  kynisdi-lysianisohen  Ghünden*)  verteidigen;  beides 
war  unhistorisch  und  doch  fftr  Leser  bestimmt^  die  Sokrates  persSnlieh  gekannt 
hatten,  die  aber  auch  in  der  Rhetorschule  gelernt  hatten,  sogar  den  That- 
bestand  zu  verdrehen,  wenn  das  wirksamer  schien.')  Xenophon  hat  in  seine 
Sokratischen  Schriften  viele  Sätze  aufgenommen,  die  er  nie  von  Sokrates  gehört 
hatte,  die  vielinelir  ans  Schriften  des  Antisflu-nes  Mind  Platons Vj  stammten; 
namentlich  die  kynischen  Lehien  hat  er,  t^oweit  sie  ihm  gefielen,  unbefangen 
seinem  Lehrer  zugeschrieben.  Und  Piaton  hat  es  wenigstens  seit  393/0  nicht 
viel  anders  gemacht,  er  hat  ihn  eingreifen  lassen  in  seine  eigenen  Kampfe,  er 
hat  ihm  sdne  Lehren  zugeschrieben,  auch  wenn  sie  den  Sokratischen  schnur- 
stracks widerspiacben,  wie  die  Todammung  der  groJaen  Staatsmftnner  Atheni^ 
er  hat  dem  Polykntea  ein  ganz  neues  System  entgegengestellt,  das  Sokrates 
als  Philosoph  von  Beruf  im  Gorgias  vortragt,  und  er  hat  schliefslich  Sokrates 

M  Jop!  ,  Der  echt«  und  der  Xenophontische  Sokrates  i  481 ,  eine  wichtige  Erf^nzunfif 
meiner  AuMi'ührungen  über  Poljkrates  in  der  Einl.  zu  PI.  Gorg.  43  ff.    Anders  Bruns  193  ff, 

*)  Er  er^d  wohl  aneh  die  GMehiebte,  datb  8okr.  70  oder  80  Mini»  gesrbt,  saBgeliehen 
und  verloren  hal)e  ohne  Bewegongf  davon  weif«  anliier  libantoi  Apal  S.  7B.  ant  Demetrioi 

JPbal.  Iici  Plut.  Arist.  1. 

*)  Vgl.  flermes  XXXU  354.  •  ' 


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594 


A.  Gereke:  SokittfcM  bei  Plsion. 


softnunpfen  laaseiij  dals  di«  nrae  Walirheit  die  abBokte  Walirheit  ad,  dnreb 
stfUenie  and  eiieme  Bude  geridieri  Wm  werden  dasn  die  feinlllUigen  Zeit- 
genoesen  Platotis  gesa^  baben? 

Darüber  liefen  im  Aliertume  allerhand  Anekdoten  nm,  wie  z.  B.  Sokrates 
babo  Platnii  den  Lysis  vorlesen  boren  und  darauf  ausc^erufen:  'Beim  Heraklei^ 
wie  viel  lütj^t  mir  der  Jüngling  an'  (Laert.  Diog.  III  35,  vielleicht  aus  einer 
Sckrift  des  Aiitisthnies).^)  Das  i<?t  tvpi<cli  wahr.  Und  "als  T'laton  etwas  i^vir 
zu  zuversichtlich  voi-tnig,  <?agte  ihm  Aj'istippos  *  unser  Meister  niaehtv  es  nicht 
so*,  womit  er  Sokrates  meinte'  bericbtet  Aristoteles  Khet.  II  23,  offeubai  aus 
einer  Schrift  des  Kjrenaikers}  dieser  Sftts  erbalt  etat  eine  Pointe,  wenn  er 
nicht  gegen  eine  mflndliehe  Anberang  des  Rivalen  sondern  gegen  eines  seiner 
Sokratiflchen  Gesprache^  g^gen  Piatons  Darstelhing  des  Sokrates  geariditet  wir, 
aomal  Aristippos  seine  Gespiidie  dem  Sokrates  nicht  sasehrieb.*)  Die  Zeit 
g(  iiossen  scheinen  also  gesehen  zu  haben,  wie  stark  I^ion  von  der  historisclMii 
Wahrheit  abwich.  Aber  trotzdem  war  der  Sokrates  seiner  Dialoge  80  gesoebl^ 
dafe  Hermodoros  ihren  bnchhändlerischen  Te'trif!)  übernahm. 

Auch  Aristoteles  hat  sich  niclit.  wie  Bniti-.  tausclien  hissen  Er  trennt 
ganz  genau  die  Lehren  des  S(>kv!«t*  '^  und  die  der  ^okratlschL■n  Dialoge,  die  er 
zusammen  mit  den  &YQa<pa  &6yuara  Piaton  lafst.  Und  die  Dialoge  weiht  tr 
in  der  Poetik  der  Poesie  zu,  trotz  ihrer  prosaischen  Form,  irahrend  er  doch 
sogar  das  Lehrgedicht  des  Empedokles  um  seines  trockenen  Inhaltes  willen  nur 
Prosa  rechnet.  Aber  fineilicb  stmd  ihm  die  poetisdie  Wahrheit  höher  als  die 
historisdie,  und  er  konnte  daher  Flaton  nicht  tadeln,  dab  auch  dieser  die 
historisebe  Wahrheit  und  die  einselne  Person  gering  anschli^  gegenftber  dsr 
philosophischen  Wissenschaft  nnd  ihrer  poetischen  Einkleidung 

Usener*)  mag  etwas  zu  weit  gegangen  sein,  als  er  Phiton  jeden  histori- 
schen Sinn  absprach:  »her  man  kann  doch  gcwils  <<ein  Urteil  nicht  ins  Gegen- 
teil verkeliren.  nnd  das  ohne  durchschlagende  Gründe.  Denn  Plat^ins  eng- 
definiertij  Pietät  und  ein  angebliches  Stilgesetz,  das  Norden  nicht  autrkennen 
Würde,  sind  keine  in  Betracht  kommenden  Qegengründe  gegen  die  überzeugenden 
Argumente  der  beatigin  Platonforsdiang. 

')  Xhtdidi  soll  Aich  Gorgias  über  den  nach  ihm  benaDtttea  Dialog  g^dtaberi  babes 

(Hennippon  n  a  bH  .\thr»n.  XI  505  0  f  V 

»)  Preufs.  Jahrb.  LJII  17  if.   Vgl.  Hirzel  I  186. 


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HEßZOG  MORITZ  VON  SACHSEN. 


Von  HuBBBT  EuasoB. 

Kein  Abschnitt  der  Geschichte  Sachsens  hat  die  Forschung  in  den  letzten 
Jahrzehnten  so  lebhaft  beschäftigt  als  das  XYI.  Jahrhundert;  und  es  ist  dies 
wohl  begreiflich;  in  keiner  anderen  Zeit  war  die  Verkettung  der  Landesgeschichte 
mit  der  allgemeinen  Geschichte  Deutschlands  so  eng  wie  in  dieser.  Gleich- 
wohl waren  drei  der  wichtijjsten  Anf'^iihen  auf  diesem  Gebiete  bisher  noch 
ungelöst:  wir  meinen  die  Lt'l)Lnsl)üscLreibungen  der  drei  Albertiner  Georg, 
Moritz  und  August.  Eine  dieser  Aufgaben  hat  iiireu  Bearbeiter  nunmehr  ge- 
funden; wir  bcgrOlsen  in  dem  tine  vorliegenden  ttatttieheii  Bniicto*)  die  erste 
abaeUielsende  Dantellung  der  Qesohichte  des  Herzogs  Moritz  «Slirend  der 
ersten  Periode  seiner  Regienmgy  bis  zur  SeUaeht  bei  MflUberg. 

Zwei  Ziele,  so  sagt  der  Verfasser  im  Yorwortf  habe  er  sich  gesteckt: 
den  Charakter  und  die  einzelnen  Handlungen  des  Ikr/()<rs  Moritz  zu  verstehen 
und  die  Bedeutung  seines  Wirkens  für  Deutschland  und  für  Sachsen  zu  be- 
stimmen. TTntr>'fr>hr  so  wird  wohl  jeder  M*ine  Aufgabe  formulieren,  der  die 
Bio£^phie  L-iner  bedeutenden  geschicln liehen  Persönlichkeit  sclirciben  will. 
Aber  die  Aufgabe  hat  in  unserem  l'iiUe  ihre  besonderen  Scliwierigkeiteu. 
Moritz  gehört  zu  jenen  problematischen  Naturen,  vor  deren  geschichtlichem 
Wirk«i  ein  frflhw  Tod  den  Vorhang  fidlen  lieb,  bevor  seine  letaten  Ziele  er- 
reicht, vidleicht  bevor  sie  klar  erkennbar  waren.  Solche  Persönlichkeiten 
bieten  dem  phantaaiebegabten  Oesduchtsdireiber  einra  willkommenen  Tnmmd- 
pla^  ftir  luftige  Konstruktionen.  So  hat  d«m  audi  Moritz,  der  in  der  kritischsten 
2ieit  des  Beformationsjulirhnnderts,  in  der  Ziat  des  ersten  grofsen  politischen 
Kampfes  zwischen  der  alten  und  der  neuen  Lehre  und  zugleich  zwischen  alt- 
hergebrachter reichsständieeher  Freiheit  und  der  aus  Spanien  eingeführten  kaiser- 
lichen Selbstherrlichkeit  eine  iiussehhiggebendc  h'nHe  gesj)it'lt  liat,  von  jeher 
eine  groisc  Anziehungaki-aft  auf  den  Forscher  ausgeübt.  Ubergehen  wir  die 
ältere  Litieratur|  die  abgesehen  von  einer  bedeutungslosen  Hofhistoriographie 
ansnahmsloi  —  im  protestantischen  wie  im  katholischen  Lager  —  in  Moritz 
lediglich  den  arglistigm  Egoisten  und  treulosen  BetrOger  sah,  so  hat  bekannt- 
lich zuerst  F.A.v.Langenn  den  Versuch  ein^  sktenmaisigen  Lebenabeaehreibung 
des  Fflrstrai  gemacht  Der  vielseitig  gebildete  Erzieher  E5nig  Alberts  hatte 
sich  dabei  freilidi  eine  Angabe  geatellt,  die  sdne  Kräfte  ftberstieg.  Noch 

')  Moritz  von  Sacbseo.  Vod  Erich  Brandenburg.  Erster  Band:  Bi»  zur  Witteu- 
beiger  Kapitnlation  (1647).  Mit  Titelbild.  Leii)2ig,  Teabaer,  1999.  Vm,  M7  8.  8^ 


596 


H.  EnuMch:  Henwg  Morits  von  Badnen. 


weniger  ab  m  aelneni  Bache  Ober  Herzog  Albrecbt  ist  er  im  stände 
das  flberreiehe  Material  m  bewältigen,  mmal  er  bei  desflen  Sammltitig  eich 
auf  die  Hitiiilfe  anderer  angewiesm  sah.  Auch  stand  Sun.  fiHit  nur  das  Dreadner 
Archiv  zu  Gebote,  das  damals  noch  nicht  so  beqnem  zuganglicb  war,  als  es 
heute  ist,  dank  vor  allem  der  verdienstlidien  Thäti^keii  Karls  von  Weber. 
Immerhin  hat  Langcnn  eine  Grundlage  geschaffen,  die  für  Jahrzehnte  der 
weit-fTPii  FnrHclniDif  Ausc2;ant^pnnktp  bot.  Auch  das  geist-  und  gesehmackrolle 
Buch  von  Georg  Voigt,  das  e<'i!au  donsolben  Zeitraum  behandt-lt  wie  das  uns 
vorliegende,  beruht,  wenn  auch  inzwischen  die  Aufsatze  von  Cornelius, 
Wenok  u.a.  und  vor  allem  die  gediegenen  Quellenpublikationen  von  A.  v. Druffel 
das  Material  erweitert  imd  sein  Verständnis  vertieft  hatten,  doch  nun  groJseren 
Teile  auf  Langenns  Wwk;  nur  für  die  DarsteiUnng  des  Sehmalkaldisehen  Kricgea 
konnte  sieh  Vo^  auf  eigene  snihiTalisehe  Forsdnmg  Bttttmi.  Wollte  man 
aber  zu  einer  unbefangenen  Würdigung  des  Charakters  xmd  der  Politik  von 
Morits  gelangen,  so  war  eine  wiederholte  gründliche  Durcharbeitung  der  Quellen 
unumgänglich  notwciulig  und  7war  vU'hi  allein  der  dva  Dresdner  Archivs, 
sondern  eheuso  der  Archive  zu  Weimar,  Wien  und  vor  allem  Marburg,  auf 
dessen  >iis  flahiii  ungehohene  Schätze  Max  Lenz  1879  in  seiner  ansprechenden 
Schrift  über  die  Mühiberger  Schlacht  zuerst  entschieden  hingewiesen  hatte. 
Angeregt  durch  Voigt,  hat  sich  S.  Ifsleib  an  diese  mfihselige  Arbeit  gewagt. 
In  einer  Reihe  von  AuMtaen,  die  in  den  Jahren  1877 — 1894  in  den  Mife- 
tdlongen  des  K.  S.  AltertumsTereins,  in  t.  Webers  ArchiT  und  xumeist  in  des 
Referenten  Neuem  Archiv  f.  Sachs.  Gesdüchte  erschienen  sind,  hat  er  die  Er- 
gebnisse seiner  umfassenden  Forschungen  niedergelegt,  die  zum  grolseren  Teile 
allerdings  die  spatere  Periode  der  Regiernngszeit  des  Herzogs  hetreffen;  gemd*» 
die  hier  in  Betracht  kounueiiden  Aufsätze  ül)er  den  Anteil  Moritzens  an  dem 
braunschweigisehen  Kriege  -/eigen  noch  am  meisten  die  Sehwachen  von  Erstlings- 
arbeiten  und  würden  vielleicht  zu  etwa«  anderen  Ergebnissen  geführt  haben^ 
wenn  der  Ver&sser  damahi  sdum  flba  die  Kamtnisse  Terfttgt  luttle,  die  er 
sich  in  der  Folge  erwarb.  Zu  einer  Zunmmen&ssnng  des  Gesamtbildes  der 
PenSnlicfakdt,  einer  pi^diologischen  ErUimng  der  Politik  von  Morib  ist 
lisloib  nicht  gelangt. 

Diese  Aufgabe  hat  sich  nun  ein  jUngerer  Historiker  —  irren  wir  nieh^ 
aus  der  Lenzschen  Schule  —  gestellt,  und  er  zeigt  sieh^  soweit  der  uns  vor- 
liegende Band  ein  Urteil  gestattet,  ihr  volhuif  gewaclisen.  Brandenburg  hnt  die 
Sache  nicht  leicht  genommen.  Um  sich  gegenüber  den  bisherigen  F'orschungen 
ein  unbefangenes  Urteil  zu  verschaffen,  hat  er  mit  bewundernswerter  Arbeits- 
kraft nochmals  das  ganze  ungeheure  Material,  soweit  es  in  Dresden,  Weimar 
und  ICarburg  lag,  bis  ins  einselne  durdig^ommen;  was  Berlin  und  Wien, 
Paris  und  Simancas  etwa  noch  bieten  soUten,  wird  das  OeaamtbUd  schwerlich 
in  irgend  einem  Punkte  Sndem.  Der  Auftrag  der  Slichs.  Kommission  für  Ge- 
sduchte,  die  bezüglichen  Briefe  und  Akten  in  einer  besonderen  Publikation 
herauszugeben,  gestattete  dem  Verfasser,  die  Quellennachweise  auf  das  aufserst» 
Mals  zu  beschranken,  und  dies  tragt  wesentlich  dazu  bei,  das  Buch  nicht  blolis 


.^  .d  by 


B.  Enniidi:  Henog  Honte  von  BBebfen. 


697 


für  den  Forscher,  sondern  auch  iür  den  gtibüdeteu  Leser  geniefsbar  zu  machen. 
Sein  Umfang  wird  den  letzteren  zunächst  freilich  flberraschen;  TieUndit  vure 
hie  und  da  eme  knappere  FMnung  möglich  gewesen,  wie  Überhaupt  die  fonaale 
Bdumdlntig  der  Aufgabe  noch  ein  gewiaaes  Bingen  mit  dem  Stoffe  Tenrät^  das 
die  LektOre  nicht  eben  an  einer  leichten  macht  Yma  Standpunkte  des  Forsehera 
aas  kann  man  es  jedoch  nur  billigen,  wenn  Brandenburg  seine  in  mancher 
Hinsicht  von  der  bisherigen  abweichende  AufhsBtmg  bis  ins  einaelne  za  be- 
gründen bestrebt  ist. 

Die  kiiappe  Übersicht  über  das  Werden  der  wettinischeu  Staaten,  mit  der 
Br.  das  Buch  einleitet,  iat  nicht  ganz  einwandfrei.*  Einen  so  wichtigen  AhHchniit 
die  Erwerbung  der  Kur  in  dieser  Kntwickelung  bildet,  so  ist  es  doch  zrn  viel 
gessgt,  wenn  Br.  meint^  erst  sie  habe  die  Stellung  der  Wetfciner  im  Reiche 
begründet;,  viefanehr  wurde  »e  umgekehrt  ihnen  fibertrsgim,  weil  sie  Tenn5ge 
ihres  geschlossen«!  Territortslbestties  thateftchlidi  schon  vorher  die  politische 
Erbschaft  des  zerfidlendcn  Tlerzogtums  Sachsen  angetreten  hatten.  Von  ^l  ofaer 
Bedeutung  in  wirtschaftlicher  und  politischer  Beziehung  ist  das  Verhältnis  zu 
den  nordlich  (und  östlieb)  angrenzenden  Gebi»  t"T>.  und  für  dieses  Verhältnis 
war  die  Beherrschung  ih  r  Alitteleibe  und  der  Siuiie  mafsgebend.  So  richteten 
sich  schon  früh  die  Blicke  der  Wettiner  aoi  Magdeburg  und  lliiiie  und  gerieten 
dabei  in  Wettbewerb  mit  den  HoheuzolJem.  Der  Gegensatz  zwischen  den 
beidm  benaidiharteii  Fllrstenhauaem  irare  von  Tornherein  ein  viel  schärferer 
gewesen,  wenn  nicht  die  verUhignisTolle  Wendung,  die  die  wettbische  Haus- 
gesohidite  durdi  die  Teilui^  des  Jahres  1485  nahm,  eine  Ablenkoi^  herbei- 
gefilhrt  hätte;  unfruebtbure  Familienzwistigkeiten ,  verschärft  durch  die  vor 
schiedeneSteUung^die  beide  Linien  in  den  ersten  Jahraehnten  des  XVI.  Jahrhundert« 
der  Heformatlon  po<;enüber  nahmen,  hindort"'i  »  it)  treschlossenes  Auftreten  nach 
aufsen  und  wurden  entscheidend  für  die  Zukunft  dea  Hauses  und  des  Landes. 

Wenn  die  «^roi'se  Zeit  der  Refnnnatiim,  in  die  Moritzens  Kindheit  und  erste 
Jugend  füllt,  keinen  tiefgehenden  fiinÜufs  auf  die  geistige  Entwickclung  des 
Knaben  geübt  hat,  so  waren  daran  vor  allem  die  wenig  erfiredichen  ZniriSnde 
seines  Elternhauses  schuld.  Sein  Vater  Heinrich,  wii  1605  mit  einem  sehr 
beecheidenen  Lsndbesits  ausgestattet,  stand  fortdauwnd  in  AbhSngigkeit  von 
SMnem  Bruder  Georg,  dem  entschiedenen  Gegner  Luthers  und  seiner  Lehre. 
Nur  sehr  allmählich  wurde  dieser  £influfs  verdrängt  durch  den  seiner  mecklen- 
burgischen GemiiliHn  Katharina,  einer  'willensstarken,  aber  hochmütigen,  herrsch- 
süchtigen und  geizigen  Kran*,  die  ihren  erheblich  älteren  Gemahl  geistig  weitaus 
überragte;  wohl  weniger  aus  innerer  Überzeugung,  als  geleitet  von  dem  lit^ 
streben,  durch  Anschlufs  an  die  Ernestiner  die  drückende  Abhängigkeit  von 
Georg  abzaschfltteln,  schloia  sie  sich  alsbald  der  neuen  Lehre  an.  Jahrzehnte- 
lang schwankte  Heinrich  haltlos  awisefaen  diesen  GegensKtsen  hin  und  her,  und 
dieses  Sdiwanken  mufote  notwendig  eine  Bficdcwirlcnng  anf  die  Erziehung  der 


*)  Nicht  da«  Vogtland,  «ondern  du  PMfimerland  fiel  nach  drat  Anwtncfaea  der  Stanfea 
aa  die  Wettin«r  (ß.  1),  Die  Brbdntuig  mit  Brandenburg  und  Heaaen  i«t  von  187S  (ß.  %), 


^8  HL  Eunuch:  Herzog  Morits  tob  Saduen. 

■ 

älteren  Kinder  Oben;  eine  religioee  Gnmdmufihanong,  die  im  Kampfe  der 
materiellen  Interessen  einen  eittlieben  Halt  geboten  hatte,  konnte  aicli  nicht 
bildoL  Herzog  Oeorg,  deeaen  alterer  Sohn  in  kinderloser  Ehe  mit  der  lebena- 
loatigcn  Schwester  des  LandgFBÜBn  Philipp  von  Hessen,  Elisabeth,  lebte,  and 
dessen  jüngerer  schwachsinnig  war,  sah  schon  früh  in  seinem  Neffen  Moritz  den 
Nachfolger  und  war  darauf  berlacht,  ihn  den  Einflüssen  des  Elternhauses  zu 
entziehen;  allein  weder  der  Aufenthult  am  üppigen  Hofe  des  Kardinal-Erzbischofs 
Albrecht  von  Mainz,  noch  die  Jahre,  die  Moritz  in  Dresden  bei  seinem  strengen, 
ernsten  Oheim  verlebte,  vermochten  auf  die  Seele  des  Knaben  eine  tiefere  Ein- 
wirkung anflEufiben,  wenn  aadi  die  Dreadner  Zeit  dadnreb  fllr  ihn  aebr  widitig 
wurde,  dab  aie  ibn  in  nShere  Beadelmng  an  dem  Manne  bradite,  der  dann  in 
den  ersten  Jahren  seiner  Regienmg  den  maßgebenden  Einflnb  besals,  an 
Georg  von  Carlowitz.  Am  Hofe  Heinrichs  waren  inzwischen  KsOiarina  und 
die  lutherisi  he  Partei  zum  Siege  gelangt;  die  Entfremdung  zwischen  den 
Brüdern  lüitte  sich  so  <rfst»'igprt,  rkfi^  Gfnr<i;,  dosscn  älterer  Sohn  Johann  1537 
starb,  mit  allen  MitU-Iu  den  Bruder  von  der  Naclifolge  anszuselilierseii  strebte. 
Für  den  jungen  Moritz  hatte  dies  die  Folge,  dals  er  zuui  drittenmal  in  eine 
ganz  andere  Lebensluft  versetzt  wuide;  er  kam  nach  Wittenberg  an  den  Hof 
des  Enifnrsten  Johann  Friedrich.  Allein  weder  dessen  pedantiadie  PersSnlidi- 
keif^  noeh  die  religiösen  Strömungen,  die  er  hier  Torfend^  Termoehten  anf  den 
bis  an  seinem  16.  Jahre  kaUiolisch  enogenen  Prinaen  tieferan  Sindmck  la 
machen. 

Im  Jahre  1539  starb  Herzog  Georg,  ein  müder  Mann,  der  einen  Lebens» 
plan  nach  dem  anderen  scheitern  gesehen  hatte;  aucli  seine  Bemühungon,  dem 
Bruder  die  Nachfolge  in  seinen  Landen  zu  entzielieii,  waren  umsonst  gewesen. 
'Er  lebte  in  einer  Zeit,  deren  treibende  Kraft  er  nicht  begriff;  so  rang  er 
gegen  sie  mit  der  Ausdauer  der  Verzweiflung,  obwohl  er  die  Mitstreiter  um 
sidi  her  erlahmen  oder  fallen  sah,  obwohl  er  sich  schlieüslich  selbst  kanm 
noch  Tsrhelilen  konnte,  dnfe  aein  Mflhen  vergebens  sei  nnd  dab  nach  sdnem 
Tode  die  Flnt  der  Eeteerei  andi  tlber  sein  sorgsam  umhegtes  Gebiet  herein- 
brechen werde.  Wohl  mag  man  seine  Handlungsweise  Terbisseii  und  hals- 
starrig nennen;  aber  das  Zeugnis  wird  ihm  nionand  Twaagen:  er  war  ein 
ganzer  Mann  und  ein  ganzer  Fürst/ 

Die  Nachfolgt'  Heinrichs  bedeutete  die  Einführung  der  Reformation  in  die 
Lande  der  Aibertiner.  Allem  sehr  bald  machten  sich  Gegenströmungen  geltend: 
mit  Johann  Friedrich,  der  anfangs  einen  grolsen  Einllufs  geübt,  geriet  der 
Dresdner  Uuf  alsbald  in  den  hergebrachten  vetterlichen  Gegensatz;  die  gröfsten- 
teils  der  alten  Lehre  nmdgenden  StSnde  konnte  der  ewig  geldbedfirftige  Herzog 
nicht  entbehren;  die  Forderungen  des  Sehmalkaldisdien  Bundes,  m  dem  Heinridi 
bereiis  von  Freiburg  aus  in  Beaiehung  gekommen  war,  fibersü^^  sone  KiSfte. 
So  geriet  er  in  eine  Stellung  zwischen  den  lleligionsparteien,  die  auf  die  Dnuer 
unhaltbar  gewesen  wäre.  Für  Morita  hatte  das  den  Vorteil,  dafs  er  nach 
keiner  Richtung  gebunden  war,  als  er  nach  dem  Tode  des  Vaters  1541  die 
iiegierung  antrat 


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B.  Bmiach:  Btnog  Monis  von  SachMii. 


599 


Em  Band  hatt«  er  kurz  vorher  allerdings  geknfipft,  das  gi'ofse  ße- 
(kutuiig  fiir  ihn  hiil>eii  sollt<<:  tn  hatte  sich  im  Januar  1541  mit  Agnes,  der 
jugetiUliuhen  Tochter  deti  Landgrafen  Philipp  von  Hessen,  eines  der  Häupter 
des  Sehm>]kiildiadbeii  Bnnde^  ramiSlilt.  Die  Verbindung  wurde  vor  aUem.  be- 
günstigt dureb  de«  Lan«^feii  Schwester  Herzogin  Elinbeih,  die  von  ihrem 
WhnreDeitm  RodhlitE  ans  eifrig  bemQht  war,  poliUschen  Einfluft  auBKufiben, 
eine  Frau  n  ii  männli(  hom  Geiste  und  Mute,  wohl  die  interessanteste  Erscheinung 
unter  den  Frauen  der  Refonnationszeit,  deren  noch  wenig  bekannter  Briefwechsel 
iJfm  Verfasser  eine  rtielic  Quelle  füv  die  Kenntnis  der  Personen  und  der  inneren 
btrömungen  jener  Zeit  bot;  die  Eitern,  denen  Moritz  ziemlich  frtjmd  f^genüber- 
stand,  waren  der  Heirat  entschieden  uh^'enpigt,  seitdem  Philipps  berüchtigte 
Doppelehe  den  Gegensatz,  in  den  Heinrich  aus  manchen  Gründen  mit  Philipp 
geraten  war,  erh^fidi  Tenehirft  hatte.  Wenn  Moriia  sie  trobdem  mit  der 
rttdcaiehtBloeen  EniBcfalossenheit  und  der  Tornehtigen  Geechicklicbkeit,  die  er 
bei  dieser  Gdegenheit  snent  teigte,  dnrdigesetst  ha^  to  war  es  wohl  weniger 
die  unbedeutende  Persönlichkeit  der  Braut,  als  das  innere  Verhältnis,  in  das 
er  SU  ihrem  Yater  ge la  mmen  war,  was  ihn  leitete.  'Philipji  ist  wohl  der  einzige 
Mann  gewesen,  dem  Moritz  sein  Leben  lang  eine  herzliche  Zxmeigung  bewahrt 
hat,  so  wenig  Herrschaft  sonst  das  Gefühl  m  seinem  Seelenleben  ausübte.' 

Es  war  keine  leichte  Aufgabe,  die  der  1jährige  Fürst  bei  seinem  Regienings- 
antritt  im  August  1541  Ubernahm.  In  einem  der  fesselndsten  Abschnitte  des 
Buches  schildert  der  VerfiMser  die  VerhäliaiisBe,  die  Morita  vorfand.  Die  poli- 
tisdien,  kirddiehen,  socialen  Zustande  Dentsdüands,  wie  sie  sieh  auf  Qrnnd 
einer  Jahrimnderte  langen  Botwiekelnng  herausgebildet  hatten,  die  Persdnlich- 
keiten  Karls  V,  seines  Blates  GranTeUa»  des  Königs  Ferdinuid,  der  katholisdien 
und  der  protestantischen  Fürsten  der  Zeit  und  ihre  gegenseitigen  Beziehungen, 
die  besondere  Stellung,  die  die  sächsischen  Lande  einnahmen,  ihre  wirtschaft- 
lichen Zustande  fmit  besonderer  Berücksichtigung  des  MOnzwesens),  ihre  Ver- 
waltung, die  bedeutsame  Stellung  der  Laudstande,  die  noch  in  Gährung  1»" 
griffenen  religiösen  Verhältnisse  werden  treffend  charakterisiert.  Es  widerstreit 
uns,  einzelnes  aus  diesem  Kapitel  herauszugreifen;  bringt  es  sachlich  nicht  eben 
Neues,  so  ist  es  doch  fttr  das  Verständnis  des  ganaen  Werkes  von  grolser  Be- 
deutnng  und  mnls  notwendig  im  Zusammenhange  gelesen  werden. 

Die  Zäi  war  erfUlt  von  tiefgreifenden  Q^mAtaen  religiöser,  reiehs-  und 
landespolitischer  Art,  die  gebieterisch  persönliche  Parteinahme  erheischten. 
Heinrich  hatte  ihnen  schwankend  gegenübergestanden;  ihm  folgte  jetzt  ein 
Jüngling,  'der  personlich  ohne  religiöses  oder  überhaupt  geistiges  Interesse, 
ohne  Neigung  für  die  kleinen  täglichen  Geschäfte  der  Tifindesverwaltung,  ohne 
feste  politische  Anschauungen  und  Ziele,  vorläufig  keinen  weiteren  Gesichts- 
kreis hatte  als  Krieg,  Jagd,  Wein  und  VVeib',  So  bedeutend  seine  Fähigkeiten 
waren,  so  hochgespannt  sein  fürstliches  Selbstbewurstsein,  zunächst  war  er  doch 
völlig  abhängig  von  fremdem  Binflulk.  Wem  wflrde  dieser  sufidlen?  Die 
Mutter  Katharina,  schon  lange  in  keinem  guten  Verhältnis  zum  Sohne,  nud 
die  B&te,  die  unter  ihrem  schwachen  Qemahl  in  wenig  lauterer  Weise  regiert 


600 


Emoitdi:  H«r>og  Hotiis  tob  SMiiaan. 


bftttoiy  Tendiwmdmi  alabald  völlig  von  der  politiwsheii  Bflline.  Statt  ibrer 
nimmt  der  alte  Georg  von  CariowitSy  dar  nach  dem  Tode  Heraog  George  eidi 
ganz  von  den  Oeeehaften  zurückgezogen  hatte,  die  erste  Stelle  unter  den  Riten 

des  jungen  Fürsten  ein.  Ein  HwluiBClier  Edelmann  von  beBcfaxinkt  partikular 
rietiachem  Gesichtskreise,  hatte  er  aus  der  Schule  des  Herzogs  Georg  dessen 
Sinn  für  Ordnnng  und  Autnntlit  mitgebracht  und  war  sclion  doj<wegen,  obwohl 
er  den  religiösen  i«"ragen  mit  derselben  Gleichgültigkeit  gegenüberstand  wie 
sein  junger  Herr,  nicht  eben  ein  Freund  der  Reformation;  dazu  war  er  ein 
Anhänger  des  Hauses  Habsburg  und  entschiedener  Gegner  der  Erueuimer. 
Das  alles  mulate  ihn  in  Q^;enaatB  bringen  an  dem  zweiten  Ihnne^  der  Einflnls 
auf  Horita  fibte,  zu  Landgraf  Philipp  von  Hessen.  Strebte  dieser  danach,  seinen 
Sehwiegwsolin  inm  vollen  ÄnscblttTs  an  den  SchmalkaMisch«!  Bond  an  bringen, 
so  war  dag  Ziel  des  alten  Carlowitz  eine  neutrale  Stellung  zwischen  dem 
Bunde  der  protestantiaehen  und  dem  Nürnberger  Gegenbunde  der  katholischen 
Fürsten.  Eine  Zusammenkunft  der  Häupter  des  Sehmalkaldischen  Bundes  mit 
Moritz  nnd  dem  ebenfalls  seh  wankenden  Kurfürsten  Joachim  von  Branden  hu  r-jj. 
die  Mitte  Oktober  1541  in  Naumburg  stattfand,  führte  zwar  nicht  zum  AnHtiilui!» 
der  letzteren  an  den  Bund,  wohl  aber  zu  dem  V  ersprechen,  an  dem  vcjm  Bunde 
geplanten  AngriiGfe  gegen  den  mit  seineu  Städten  zerfallenen  Herzog  Heinrieb 
von  Brannsohweig  teihoneihmen;  indes  Garlowita,  der  mit  diesem  Ymprechen 
dorehans  nieht  sofrieden  war,  wa&te  dieeen  Angriff  fortwShrend  an  veraSgem. 
Der  von  Philipp  in  Anregni^  gebrachte  Plan  eines  gegen  des  Kaisers  absolu- 
tistische Absichten  gerichteten  DeÜBnsivbundes  zwischen  Hessen,  den  beiden 
sächsischen  Fürsten  und  Bayern,  gegen  den  Carlowitz  keine  Bedenken  hatte, 
scheiterte  am  Mifstrauen  des  KurfHrsten  Johann  Friedrieli.  Als  dann  der  orste 
Landtag,  den  Moritz  im  Dezember  1541  zu  Leipzig  versammeito,  klar  erkeJinen 
liefö,  diiiä  die  mit  Carlowitz  in  enger  Verbindung  stehende  sächsische  Adela- 
partei,  die  hier  den  mafsgebendcn  EinfluCs  ausübte,  dem  Sehmalkaldischen 
Bunde  «itsebieden  abgeneigt  war,  lehnte  Morita  endgültig  den  Beitritt  ab; 
seine  Haltung  auf  dem  Speierer  Bmchstage  im  Februar  1542  bedeutet  eine 
Ann&herung  aa  die  Hsbsburger.  So  war  FbÜippa  Einfluls  annachst  glficklicb 
beseitigt.  Mit  Johann  Friedrich  vollends,  zu  dem  Moritz  schon  dnrch  die 
Kassation  der  Wahl  des  Julius  Ptlug  zum  Bischof  von  Naumburg  und  seine 
Ersetzung  durch  den  Protestjinti'n  Nicol.  v.  Amsdorf  in  ein  gespannte?  Ver- 
hältnis geraten  war,  drohte  es  damals  bereits  zum  offenen  Kampfe  zu 
kommen;  sein  Eingreifen  in  die  gemeinsamen  Rechte  beider  Linien  am  Bis^tum 
Meilsen  führte  im  Frühjaln-  1542  zu  der  bekannten  Wurzener  Fehde,  die  zwar, 
dank  der  Besonnenlieit  des  Landgrafen  Philipp,  gütlich  ausgeglichen  wurd^ 
ohne  dafii  es  jedoch  au  einer  wirklichen  Versöhnung  gekommen  wäre. 

Mehr  aus  jugendlichem  Thatendrange  als  ans  politisdiisn  Ortinden  nahm 
Moritz  im  Sommer  1542  an  dem  TürkcnSddzuge  des  Kdnigs  Ferdinand  tdl, 
während  die  Schmalkaldener  ihre  Abrechnung  mit  Herzog  Heinrich  von  Braun- 
schweig hielten.  Wohl  konnte  Carlowitz,  der,  auf  der  Höhe  seines  Einflüsse«, 
während  der  Abwesenheit  des  jungen  J^'ürstcn  die  Verwaltung  seiueä  Lande« 


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H.  EmiMh:  Heneg  MtnitB  vmi  SmIismi. 


601 


leitete,  der  Leistung  der  u  i^pitieheneii  Hilfsgelder  »ich  nie-bt  entziehen;  indes 
benutzte  er  die  Suche  ^owundfc,  um  die  Kluft  zwischen  Moritz  und  FhiUpp 
ZQ  erwMt^.  Die  geringe  polititcihe  OeaehidcUeUceit  der  Pflhrer  dn  Sdfamfll' 
haldiwihen  Bund«,  die  ihr  angoibliekliciliM  Übergewicht  nieht  ni  bemtieeii 
verslandeii,  erletehterte  seine  Beetrebniigeii.  Nodi  eefairerer  fiel  ine  Gewidii^ 
dab  ebm  damals,  nachdem  Kardinal  Albrecht  sich  1541  nach  AscliiifFeiiburf; 
nurQckgesogen  und  die  Yerwaltuii^;  der  Stifter  Magdeburg  und  Halberstadt 
Deinem  tin bedeutenden  Vetter  Jolmiin  Albrecht  überlassen  hutte,  der  Wett- 
bewerb mn  diese  Stifter  zwi«'rhen  den  Hoheiizollern ,  den  Ernestinem  und  den 
Albertinern  ernater  zu  werden  begsinn.  Jobann  Friedrieh  hätte  damals  Gelegen- 
heit gehabt,  die  Kechte,  die  er  aia  Inhaber  der  Burggrafschaft  Magdeburg 
namentlich  in  HaUe  faeiafs,  gegen  reichUclie  Land-  nnd  Geldenteehadigung  an 
Johann  Albredit  absntreten;  aUein  das  (Drängen  der  nm  ihr  protestantiflehee 
Bekenntnis  hesorgten  Hallenser,  die  in  Luther  «iaea  warmen  Ffiisprecher  fluiden, 
nnd  die  unbestimmte  Hofihnng,  jene  Rechte  einst  besser  verwerten  zu  können, 
bestimmten  ihn,  am  6.  November  1542  mit  Halle  einen  Vertrag  zu  sdüieläen, 
in  dem  er  p^egcn  Zusiclierntii;  eines  Schutzgeldes  versprach,  die  Burggrafen- 
rechte  nieht  zu  veräufHern.  Vm  dieselbe  Zeit  knüpfte  der  riinkevoUe  Kanzler 
deö  Kardinal  Aibrecht,  Dr.  Türk,  Verbiindlunfien  mit  Moritz  wegen  Abtretung 
der  erzbischöflichen  liegierungäreebt^  in  Magdeburg  und  Halle  au^  fürs  erste 
erfolglos,  führten  sie  im  Frühjahr  1544  zu  einer  Ytt^tnbarung  swiachen  dem 
arg  Terschuldeten  Kardinal  nnd  dem  Heno^  nadi  dem  Moritiens  Bruder  August 
raun  Koacyator  gewShlt  nnd  der  Erbschnta  der  Stifter  an  Horits  fibcrtragen 
werden,  Albreoht  aber  eine  bedeutende  Abfindungssumme  erhalten  sollte^  alkr- 
dings  erst  nach  Qenehmigimg  des  Vertrages  durch  Kaiser,  Papst  und  Kapitel, 
deren  Erteilunp  mehr  als  zweifelhaft  war.  Dafs  sich  Moritz  bewegen  liefs, 
schon  jetzt  1U(J<X)  Gulden  nn  Aibrecht  zu  zahlen,  entsprach  dorchans  nicht  der 
Ansieht  seines  vorsieht ij^en  Beratern  Carlowitz. 

Diese  Bestrebungen  vertieften  den  Zwiespalt  zwischen  Johann  Friedrich 
und  Moritz,  erweiterten  die  Kluft  swiichen  diesem  und  dem  Schmalkaldischen 
Bunde.  Oianvells  benutste  dies  mit  Eiünr,  um  den  jungen  Forsten  mehr  und 
melir  in  das  Flüirwasser  der  kaiserliehen  Politik  hinfibennuehen.  Schon  auf 
dem  NQmberger  Reichstage  (Januar  1543),  in  dem  6e<Hrgs  Keffi»  Christoph 
von  Carlowitz  zuerst  politisch  hervortrat,  ein  weltgewandter,  feingebildeter 
Edelmann,  der  dem  Luthertum  weit  feindlicher  gegenüberstand  als  sein  Oheim, 
schlug  Granvella  dem  Herzoj»  vor,  in  des  Kaiserf  Dienst  einzntretfn;  aber  die 
Gegenforderungen,  dif  Moritz  stellte  und  die  namentlich  auf  den  Erwerb  der 
Stifter  Meifsen,  Merseburg,  Magdeburg  und  üaiberstadt  hinzielten,  erschienen 
den  kaiserliehen  lüiten  zu  hoch,  als  dafs  sie  darauf  eingehen  konnten.  An  dem 
Tfirkmkriege  des  Jahres  1543  beteiligte  sieh  tforits  nur  mit  einer  geringen 
Troppensendnng.  Als  aber  Karl  V.  im  August  1543  persönlich  im  Reiche  er- 
schienen war  und  nadi  Niederwerfung  des  Hwsogs  von  Kleve  gegen  dessen 
Bundesgeno^fscn,  König  Franz  I.  von  Frankreich,  zu  Felde  zog,  begab  sieh  Moriti 
anr  greisen  Besorgnis  seines  Schwiegerraters  und  Vetters  selbst  ins  kaiserliche 

Hnw  JahtMeiMr.  1«8S   I.  iO 


602 


H.  Ermisch:  Horzog  Moritz  von  Sachsen. 


Feldlager  und  verweilte  dort  Cut  vier  Wodhon.  Eari  V.  erlEHUite  abbdd,  von 
wie  grolBem  Nutzen  ihm  der  junge  Ffliet  sein  konnte;  wir  wiHsen  sw»r  nidrt^ 

ob  Uber  die  grofsen  politischen  Fragen  der  Zeit  zwischen  ihnen  verhande^ 
worden  ist,  aber  der  Auftrag  einer  Vermittelung  zwischen  dem  vertriebenen 
Brauns(  liwt  iger  und  den  schmalkaldischen  Fürsten,  den  Moritz  aus  dem  Feld- 
lager mit  nach  Hanse  nahm,  war  ein  geschickter  Scliachzug,  der  die  TrennTino: 
zwischen  dem  jungen  Herzog  und  dem  Bunde  unheilbar  machen  sollte.  Dem 
Einflüsse  l'kilipps,  bei  dem  sich  Murit/  auf  der  Rückreise  aufhielt^  g^^og  ^ 
nocAi  einn^y  diese  Oefidir  abmwenden;  er  und  Joh&nn  Friedrich  lehnten  in 
gUmpf lieher  Weise  die  «ngebotene  Ymmttetang  ab,  und  dnr  Kuser  Tendiob 
die  Sache. 

ErhebUdi  näher  kamen  sich  Morits  und  der  Kaiser  auf  dem  Spmerer 

Reichstage  TFrühjahr  1544),  den  Moritz  persönlich  besuchte.  Ziemlich  onter 
denselben  Bedingungen,  die  Moritz  das  Jahr  vorher  abgelehnt  hatte,  kam  es 
zu  einem  Dienstvertrage  gegen  Frankreich.  Wichtiger  noch  war,  dafs  Morits 
dem  Kui.ser  das  mündliche  Verspreclun  (r^l)^  sieh  in  Ic»  ine  ihm  widerwärtigen 
BQndnisne  einzulassen,  und  sich  dadurch  dorn  Schmalkaldischen  Bunde  gegen- 
über die  Hände  band;  eine  irgendwie  erhebliche  Gegenleistung,  namentlich  hin- 
sichtlidi  der  Stifter,  hatte  der  Kaiser  nicht  versprochen.  *£s  war  das  erste, 
aber  nicht  das  lefad»  Mal,  dab  Morita  Ton  der  flbwlegNien  hahidKi^iscfaeo 
Staatsknnst  fiberrorfceilt  wmrde/  Moriia  b^itete  den  Kaiser  dann  anf  dem 
franaSsisehen  Feldinge,  der  nicbt  eben  i^inaend  verlief  nnd  am  18.  September 
mit  dem  Frieden  von  CrÄpy  schlofs.  Auch  diesmal  wurden  politische  Fragen 
kaum  berührt;  in  der  brannschweigisehen  Angelegenheit,  die  Morik  wohl  auf 
Ycranlaasung  seines  Schwiegervaters  zor  Spradie  gebracht,  scheint  nichts  von 
Belang  erreicht  worden  zu  sein. 

Im  ganzen  war.  wenn  die  Selbständigkeitsgelüste  des  jungen  Fürsten  <«ich 
auch  nicht  immer  leicht  zügeln  liefsen,  doch  bis  Knde  1544  der  Einfluis  Ucorgs 
von  Carlo  witz,  der  dem  Herzog  für  den  Fall  des  grofsen  Rcligionskrieges  die 
Vorteile  der  NentrditSt  an  sichern  suchte,  in  der  äufseren  Politik  der  malis- 
gebende geblieben.  Dasselbe  gilt  für  die  inneren  VerhUtnissej  ohne  deren 
Kenntnis  ein  Yerstandnis  der  folgenden  Jahre  nicht  mSglich  ist.  Bs  handelt 
sich  dabei  hanptaidilich  um  7.wi  1  in  engem  Zusammenhang  stehende  Dinge: 
einmal  die  religiileen  nnd  kirchlichen,  dann  die  finmziellen  Fragen.  Erst  vor 
wenigen  Jahren  war  auf  landesherrlichen  Befehl  die  Angshurgische  Konfession 
in  den  albertinischen  Landen  zur  Herrf»chaft  gelangt;  noch  fehlte  es  der  jungen 
Kirche  an  den  nötigsten  organisatorischen  Formen  und  den  Mitteln  m  ihrer 
Durchführung.  Dank  dem  Einflüsse  seines  Schwiegervaters  hatte  Moritz,  alf 
er  die  Regierung  antrat,  die  erust«  Absicht^  die  Reformation  voll  durch  zu  fuhreuj 
es  entging  ihm  wohl  nidit,  welche  Vorteile  diese  ftr  die  selbstindige  Aus- 
gestaltung der  landesherrlidien  Gewalt  bot.  Gerade  hier  nun  stielb  er  anf 
den  vorsiditigen  aber  sahen  Widwstand  eines  groÜwn  Teiles  seines  Adels  und 
seiner  Bätei,  vor  allem  Georgs  von  Oarlowitz^  der  der  religiösen  Bedeutung  der 
Refonnation  nnr  geringes  Verstilndnu»  entgegmbracfate,  eine  Vergleichung  der 


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H.  Enniaeh:  H«nofir  Morite  von  Sttduea. 


608 


Gei^nsatze  noch  immer  für  möglich  hielt  und  daher  manche  kirchliche  Ein- 
richtung, vor  ailom  die  Bistfliner,  als  Bifirke  zu  einer  solchen  erhalten  wissen 
wollte.    Ein  Glück,  dals  wunigsteu»  über  einen  wichtigen  Tunkt  in  der  Haupt- 
iadi0  EinTunündniB  swiBehen  Moribt  und  CSsriowili  bMfand:  fiber  die  Ein- 
aehnng  und  Yerwendimg  der  geieflichen  Gfiter.   Henog  HeinriolL  batte  es 
■ich  gelaUen  laaaeti,  dab  üue  Yerwaltang  der  Lmdsehail  TOrbebalien  blieb; 
die  Folge  war,  dafs  der  gewaltige  Güterkomplex  nichl  dem  Lande,  sondern 
lediglich  dem  Adel  Vorteil  brachte.   Dais  Moritz  schon  vor  seinem  Begierungs- 
antritt entschlossen  war,  mit  diesem  System  zu  brechen,  bewies  er  durch  die 
Wcif:^runL',  den  von  seinem  Vater  unsgeHtel!t<'ii  Revers  zu  unterzeichnen  !ii 
der  That  ,>*Lrt'bte  er  dann  öofurt  danach,  das  \  ci  lü*;uiigsrecht  der  Land-  li  ift 
aufzuheben,  und  erreichte  nach  mehrjährigen  hartnäckigen  Bemühungen  aciu 
Ziel:  die  Güter  wurden  fortan  nickt  nulir  veipaebtet,  aondern  tdib  dinrdi  landee- 
beirlicbe  AmÜente  verwaltet,  teils  verkauft.  Die  reißhisa  Mittd,  die  auf  diese 
Weise  flOssig  gonaeht  wurden,  vwwandte  man  in  erster  Linie  für  die  Be- 
soldung der  Ffiurer,  für  Dotation  der  Universität  Leipzig,  für  die  Begründung 
nnd  Unterhaltung  von  Fürsten-  und  anderen  Schulen,  für  Zwecke  der  Armen- 
und  Krankenpflege;  so  nahm  der  Stant  der  Kirche  eine  Aufgabe  nach  der 
anderen  aus  den  Händen.    Es  gelang  dies,  ohne  dafs  dadurch  eiii  feindlicher 
Gegensatz   zwischen   der  Re<jieninfj  nnd  den  Ständen  herbeigeführt  worden 
wäre;  'kluge  Schonung  der  hergebrachten  Rechte  des  Adels  hatte  man  mit 
strenger  Aufrechthaltung  der  landesherrlichen  Aufiucbt  fiber  das  gesamte  Kircheu- 
und  Schulwesen  au  vereinigen  gewu&t*.  Die  äulseren  kirchlidien  Verbalbiisse 
wurden  auf  diese  Weise  schnell  geregelt.  Was  freilieh  die  inneren,  die  IVsgen 
der  Lehre  und  ^  Ceremonien,  anlangt,  so  war  man  in  dieser  Hinsieht  noch 
überaus  lau;  gerade  damals  erinnerte  die  WieJereinfulinui^  des  Bannes  bedenk- 
lich an  die  eb«n  beseitigte  katholische  Kirche.   In  den  Wittenberger  Kreisen, 
die  gewöhnt  waren,  in  jeder  kirchlichen  Frage  um  Rat  anp;ep;«Tip;en  zu  werden, 
he^e  man  gegen  das  selbständige  Vorgehen  des  jungen  Fürsten  entachiedeneH 
Milstrauen,  konnte  sich  aber  doch  nicht  der  Uberzeugung  verschliefsen ,  dalV» 
Zweckmälsiges  ge»chaÖeu  war.  —  Neben  all  diesen  Ausgaben  für  kirchliche 
Zwecke  ei^ben  die  Säkularisationen  noch  einen  beMchtlichea  Überschuiii  fttr 
den  Benog  selbst,  der  bei  seinem  Regierungsantritt  leere  Kassen  vorgefunden 
hatte  und  mehr  Geld  brauchte  als  sein  Vater.   Fflr  ihn  war  die  wichtigste 
Folge,  dafs  er  seinen  Ständen  gegenüber  in  eine  unabhängigere  Stellung  ge- 
langte.   Führte  dies  einerseits  zu  einer  Maehtsteigerung,  die  Moritz  rüeksichtu- 
los  ausnützte,  so  verschärfte  ea  doch  anderseits  den  Gegensatz  zwischen  Fürst 
und  Adel,  nnd  dies  sollte  in  der  Folge  auf  die  Politik  das  Uerzogs  bedeutende 
Ilüe k  w 1 1  klingen  ausUben, 

Ais  eine  Wirkung  dieses  Gegensatzes  ist  es  wohl  auch  anzusehen,  wenn 
der  alte  Georg  von  Oarlowita  seit  dem  Frlihjahr  1545  nicht  mehr  ab  der 
Leiter  der  Regierung  erscheini  Als  Rat  von  Haus  ans  fuhr  er  awar  fort^  von 
seinem  Gute  Kriebstein  ans  einen  gewissen  Einflufs  aussuttben;  in  der  ^upt- 
Sache  aber  schaltete  der  junge  Herzog  jetat  selbstindig;  weder  der  milde 

40* 


60  t 


H.  Ermisch:  Herzog  Moritz  von  SachRen. 


Komerstadt,  dem  jetzt  die  erste  Stellung  unter  seinen  Raten  zufiel,  noch  der 
Kunzlcr  Pistoris  und  Fachs,  noch  auch  Christoph  von  Carlowitz  hatten  auch 
nur  annähernd  die  Stellung  Georgs.  Mit  seinem  Rücktritt  fiel  der  Plan,  die 
bischöfliche  Verwaltung  für  die  Kirche  der  albcrtinischen  Lande  festzuhalten; 
schon  das  Jahr  1Ö4.Ö  brachte  die  Einrichtung  der  Konsistorien  für  Merseburg 
und  Meilsen  und  damit  den  Abachlufs  der  äuTseren  Kirchenverfassung.  Auch 
die  Fragen  der  Lehre,  des  Ceremoniells,  der  Seelsorge  wurden  entschiedener  im 
Sinne  der  Reformation  gelöst.  Vor  allem  aber  zeigte  Moritz  immer  gröfseres 
Selbstbewufstsein  seinen  Ständen  gegenüber;  die  Steuerforderungen  des  Jahres  lö4ö 
und  die  Selbständigkeit  bei  Verwendung  der  bewilligten  Steuern  machten  viel 
böses  Blut. 

Folgereicher  noch  war  die  Wirkung  von  Carlowitzens  Rücktritt  auf  die 
deutsche  Politik  des  Herzogs.  Eben  damals  schickte  sich  Karl  V.,  der  durch 
seinen  Friedensschiufa  mit  Frankreich  nach  Westen  freie  Hand  bekommen 
hatte  und  mit  den  Türken  um  jeden  Preis  zu  einem  Waffenstillstand  zu  ge- 
langen entschlossen  war,  zum  Entscheidungskampfc  mit  dem  deutschen  Pro- 
testantismus an;  die  Berufung  eines  Konzils  nach  Trient,  zu  dem  die  lutheri- 
schen Fürsten  keine  Einladung  erhalten  hatten,  war  der  erste  Schritt  auf  dieser 
Bahn.  In  klarer  Erkenntnis  der  Lage  erneuerte  Landgraf  Philipp  seine  Ver- 
suche, den  Schwiegersohn  in  das  protestantische  Lager  zu  ziehen.  Von  seiner 
Tochter  durfte  er  dabei  keine  Unterstützung  erwarten.  Die  junge,  unbedeutende 
Frau  stand  völlig  unter  dem  Einflufs  ihrer  Schwägerin  Sidonie,  die  eben  damals 
durch  ihre  Verlobung  mit  Herzog  Erich  von  Kalenberg  den  Landgrafen  schwer 
verletzt  hatte,  und  in  feindlichem  Gegensatz  gegen  ihre  Tante  Elisabeth  von 
Rochlitz,  der  entschiedensten  Vertreterin  der  Politik  Philipps.  Lnmerhin  gelang 
es  letzterem,  ein  leidliches  Verhältnis  zwischen  Moritz  und  dem  Kurfürsten 
Johann  Friedrich  herzustellen,  wenn  auch  der  mertwürdige  Brief,  den  Moritz 
am  10.  März  1545  an  Philipp  richtete  und  der  als  *die  erste  Aufserung  seiner 
persönlichen  Meinung'  in  dieser  Angelegenheit  Beachtimg  verdient,  zeigt,  wie 
weit  sein  Standpunkt  von  dem  seines  Schwiegervaters  abwich;  es  ist  doch 
schliefslich  nicht  die  religiöse  Frage,  sondern  die  der  geistlichen  Güter,  die  f^r 
Moritz  im  Vordergrunde  steht.  Der  Plan  eines  Dreibundes  zwischen  Hessen 
und  den  beiden  sächsischen  Linien,  den  Philipp,  selbst  unzufrieden  mit  dem 
Schmalkaldischen  Bunde,  wieder  aufnahm,  scheiterte  von  neuem  an  den  Be- 
denken Johann  Friedrichs.  Aber  die  Zusammenkunft,  die  Philipp  und  Moritz 
im  Mai  1545  zu  Kassel  hatten,  bedeutet  ohne  Frage  eine  Annäherung  des 
letzteren  an  seine  Glaubensgenossen,  eine  Abweichung  von  den  Bahnen  Georg« 
von  Carlowitz;  Moritz  erneuert  sein  Versprechen,  Leib  und  Gut  an  die  Ver- 
teidigung der  gemeinsamen  Religion  zu  setzen.  In  ganz  anderem  Sinne  freilich 
vertrat  Christoph  von  Carlowitz  seinen  Herrn  auf  dem  Reichstage,  der  Ende 
März  zu  Worms  zusammengetreten  war;  sein  Ziel  war  das  des  Oheims:  strenge, 
dem  Kaiser  wohlwollende  Neutralität,  und  an  diesem  Ziele  hielt  er  trotz  der 
Annäherung  seines  Fürsten  an  Philipp  und  Johann  Frietlrich  fest;  es  gelang 
ihm,  ein  Zusammengehen  der  Albertiner  mit  den  protestantischen  Fürsten  auf 


DigitizGL.  _ , 


oogle 


H.  Emiiaeh:  Henog  Moritat  von  flachiini. 


605 


dem  Eeichütage  zu  vereiteln,  Morit«  steht  zwischen  den  beiden  ötröunm,;»  ii, 
die  sich  an  seinem  Hofe  bekämpfen,  zwischen  der  habsbnrgischpn  Piutei 
(Chrititoph  von  Carlowitz,  Facha)  und  der  einem  Auschlul»  an  düu  Schniul- 
kaldiBcben  Bond  geneigten  (Konunatadt),  uneddUmig  in  dat  Wü^f  in  Oefidiri 
jeden  Halt  ond  jede  Stttie  m  verlieren.  Sehlen  im  grasen  wahrend  des 
Sonmieni  1545  die  leidere  im  Vorteil  —  weilte  doch  Horilz  im  August  jwgar 
ah  Gast  Jdtann  Friedrichs  in  Torgau  — ,  ao  war  der  juntrc  Fürst  trotz  der 
drohenden  Zeitlage  doch  weit  entfernt  daTfm,  ndi  zu  einon  £intritt  in  den 
Sehmalkaldischen  Bund  zu  entschliefsen. 

Inzwischen  hatte  im  Norden  Deutschlands  ein  Vorspiel  zu  dem  grnfspn 
Kampfe  begonnen.  Der  vertriebene  Herzog  lleiurich  von  Braun«<  hwtig  i,'l;iubte 
den  Zeitpunkt  gekommen,  sich  wieder  in  den  Besitz  seines  Landes  t^etzeu 
und  rOdcte  Ende  September  an  der  Spitse  einer  im  Srahiatom  Bfemm  mflaramen- 
gezogenen  Tmppenmacht  ror.  Philipp  wnJste  diesen  Zug  als  eine  unmittel- 
bare Bedrohung  Heesens  darzustellen  und  dadurch  Morita  xur  Unterstataung 
seiner  Erbeinungsverwandten  zu  bewegen;  erst  als  seine  Truppen  bereits  beim 
Bundesheer  waren,  erkannte  der  Herzog,  dafs  er  t<:etäuscht  worden  war  und 
dafs  seine  Beteiligung  am  Feldzuge  ihn  leicht  zur  Parteinahme  auch  in  grofseren 
Dingen  drangen  konnte.  Es  war  jedoch  7.11  spät,  zurückzutreten:  nach  einem 
•nicht  ernst  gemeinten  Vermittelungsversuch,  der  ihm  nur  den  Aulals  zu  einer 
Fehdeansago  au  Heinrich  geben  sollte,  beteiligte  er  sich  an  der  für  Heinrieh 
unglücklich  verlaufenden  Schlacht  bei  Kalefeld  (21.  Oktober  1545)  und  gab 
Hmnrieh  den  folgenreichen  Bat^  sich  seinem  Schwiegervater  su  ergeben.  Sein 
Yerhatten  war  't61%  planlos  und  unpolitisch';  bei  keiner  der  P^urteien  erntete 
er  Dank  daför:  die  Zusicherung,  einen  leidlichen  Vertrag  awischen  Henrich 
vnd  dem  Bunde  zu  stände  zu  bringen,  durch  die  er  Heinrich  zur  Ergebung 
Tcranlafst  hatte,  konnte  er  nicht  halten  und  galt  daher  bei  den  Katholiken 
als  Verräter,  wahrend  er  den  prote8tantis<lien  Fürsten  durch  seine  Yermittelungs- 
versuche  hinderlich  war.  Dazu  kam,  dals  die  den  katlioliselien  Anseh;iuungcn 
weit  entgegenkommenden  Vergleiehsvorschlüge  in  der  religiösen  Frage,  die 
Moritz  ebeu  damals  seinem  Schwiegervater  vorlegte,  diesen  und  seinen  Genossen 
durchaus  unannehmbar  erschienen.  So  lockwten  sieh  wieder  die  persönlichen 
Beziehungen  awischen  Horits  und  Philipp.  Zu  gleicher  Zeit  aber  TerschSrfte 
sieh  der  Gegensata  su  Johann  Friedrich;  denn  eben  damals  kam  die  mt^de- 
burgische  Frage  durch  den  Tod  des  Erzbischofs  Albrecht  von  neuem  in  Flufs: 
Albrechte  Nachfolger  JoliaTiii  Albrecht  und  die  Städte  Magdeburg  \ind  Halle 
nahmen  entschieden  Partvi  für  den  Ementiner,  das  Kapitel  und  di  "-  Stiftsadel 
dagegen  für  Moritz.  Melir  und  mehr  schwand  in  Dresden  der  Einüula  Konier- 
stadts,  traten  Christoph  v.  Carlowitz,  Fachs  uiul  der  intrigante  Türk,  der  für 
seine  Bemühungen  in  der  magdeburgischen  Angelegenheit  mit  dem  Auit  l'eters- 
berg  belohnt  worden  war,  in  den  Vordergrund.  Christoph  t.  Garlowita  war 
es  denn  auch,  den  Horits  im  Januar  1546  nach  Frankfurt  schickte,  um  dem 
dort  Busammentretenden  Bundestage  der  sehmalkaldischen  Fürsten  seine  Ver- 
mittelung  in  d«r  brannachweigischen  Sache  aninbieten.   Die  Verhandlungen 


606 


des  Tages,  auf  dem  sieh  Kurpfalz  und  Kiubraiideubuig  bereit  erklärieu,  in 
Beligiolunaclbeii  mit  dem  Bunde  gemefamm  TOnugehen,  und  ein  F^oleet  wegen 
dee  Yorgehene  gegen  den  proteetantieeh  gesinnten  Enbiadiof  Heimenn  tod  KStn 
beediloBaeD  wnrde^  maditen  auf  Garlowite  doch  grofeen  Eindrnek.  Allem  dieoer 
Eindnidc  wurde  erheblidi  beeintiiehtigi  durcb  den  überaue  gnädigen  Emp&ng^ 
den  C'&i'lo^i^  unmittelbar  darauf  bei  Karl  Y.  fand.  An  einen  Anschlufs  des 
HerzogH  Moriiz  an  den  Bund  war  niclit  mehr  zu  denken;  die  Yennittelang 
vwischen  1*  tzf.'vom  nnd  Herzorr  Heinrich  aber  gah  Moritz  auf,  als  er  erfuhr, 
dafH  Hetrtricii  über  den  Anteil  von  Moritz  an  seiner  Qe£ängennahme  fn-laf-b^ 
Angaben  verbreitet  hatte. 

Immerhin  hatte  Moritz  bis  £ude  April  löiü  seine  Neutralitat  völlig  ge- 
wahrt.   Je  naber  freilich  der  Zusanuneustofa  zwischen  dem  Kaiser  nnd  den 
protestantiBcheii  Fürsten  hennrfiidie^  um  so  mehr  Eindruck  machten  auf  Moriti 
die  YoreteUangen  seiner  Bäte,  dab  vor  dieeem  Xampf%  eine  YerstSndigung 
mit  dm  Habsburgem  geeneht  werden  mttese^  damit  nicht  ein  Si^  dee  Kaieefs 
den  Beeita  der  geistlichen  Guter,  ja  den  Verbleib  der  Kur  beim  Hanae  Sachsa 
aufs  aufserste  gefährden  könnte.    VerhängnisToll  war  es  vor  allem,  dala  ee 
Christoph  V.  rarlowitz  gelang;,  den  Herzog  zur  personlichen  Teilnahmp  an  dem 
eben  damals  in  Regensburg  zusammentretenden  Hi'ichshi<^L'  zu  bewejjren.  Vom 
24.  Mai  bis  zum  20.  Jnni  weilte  Morit?.  in  Regensburg,  und  diese  Zeit,  während 
der  es  zum  offenen  Bruche  zwischen  dem  Kaiser  und  den  Protestanten  kam, 
wurde  entscheidend.   Nach  langen  Verhandlungen,  deren  Einzelheiten  wir  Über- 
gehen, errang  die  flberlegene  und  ekrapelloec  Staatekunet  eines  GranveUa,  die 
auch  andere  protestantische  Fttrsten,  wie  Albredit  von  Kuhnbach  und  Erich 
▼on  Ealenbeig,  ins  haiserliche  Lager  log,  einen  vollen  Sieg.    Am  19.  Jnni 
unterzeichnete  Moritz  einen  Vertrag  mit  dem  Kaiser,  in  dem  er  ünterweHfni^ 
unter  das  Trienier  Konzil  und  Neutralität  im  Kampfe  mit  den  protestantischen 
Fürsten  versprncli.     Dagegen  wurde  ihm  Aussicht  auf  die  Schutzherrschaft 
über  Magdeburg  nnd   Halberstadt  gemacht,   nber  weder  Indemnität  für  die 
Säkularisationen  noch  die  Übertragung  der  Kur  versproelicn;  Gnmvella  ver- 
tröstete auf  mündhche  Zusagen  des  Kaisers  über  dicae  l'uiikt«'    -  allein  zur 
grofsen  Überraschung  von  Moritz  waren  die  Erklärungen,  die  Karl  iiim  am 
folgenden  Tage  gab,  so  unbestimmt,  daib  nidit  yiü  damit  gewonnen  wwr.  *Di« 
Habsburger  hatten  den  jungen  Herzog  flberlistel^  nicht  ohne  Mitwirkung  swier 
katholisch  gesinnten  Bäte  ...   Er  hatte  so  gat  wie  nichts  erreidit  und  viel 
darangegeben:  seine  Selbständigkeit  gegenüber  den  Konzilsbeschlfissen  und 
seine  politisdie  Bewegungsfreiheit  während  des  bevorstehenden  Krieges;  eis 
Zusammengehen  mit  den  Schmalkaldenern  war  für  ihn  jetzt  nur  noch  unter 
offenem  Bruch  des  Rejrpnsbnrger  Vei-frages  mögli<'li  '  —  Unter  diesen  Um- 
standen konnten  die  fortwiilirtnd  t  rneutea  Bemühungen  I*hilipps,  Moritz  endlich 
7.U  einer  entschiedenen  Sfellungnalnne  zu  veranlassen,  erst  recht  keinen  Erfolg 
haben.    Während  desi  Kaicturs  iiuitung  immer  drohender  wird,  denkt  der  junge 
Fürst  noch  immer  an  eine  Yennittelung  zwisdioi  den  Parteien  und  begegnet 
sidi  in  diesem  Streben  mit  dem  ebcmso  unentschloBsenen  Knrilirsten  tou  Branden- 


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H.  Ermiacb:  Herzog  Moritz  von  Sachsen. 


607 


bürg;  leider  war  man  aber  völlig  unklar  über  die  Bedingungen,  die  man  vor- 
schlagen sollte. 

Die  Lage  war  so  ernst  geworden,  dafs  das  Land  sich  in  Kriegsbereitscbaft 
setzen  mufste,  und  hierbei  war  der  Landtag  nicht  zu  umgehen.  Seit  1541 
hatte  ihn  Moritz  nicht  mehr  versammelt,  sondern  mit  leichter  zu  beeinflussenden 
Ausschüssen  verhandelt.  Jetzt  erfolgte  eine  Berufung  nach  Chemnitz  »uf  den 
11.  Juli.  Unter  den  Ständen  hatte  die  kaiserliche  Adelspartei  das  entschiedene 
Übergewicht,  während  die  niederen  Klassen  der  Bevölkerung  gut  evangelisch 
waren.  Das  Gutachten  des  von  der  Landschaft  eingesetzten  grolsen  AuHschusses 
fiel  ganz  im  Sinne  der  herzoglichen  Räte  aus.  Scheute  man  sich  noch  vor 
offenem  Bruche  mit  den  Emestinem,  mit  denen  viele  Mitglieder  der  Landschaft 
durch  Lehnsverhältnisse  imd  Familienbeziehungen  in  Verbindung  standen,  so 
war  man  doch  noch  entschiedener  einem  Zusammengehen  mit  den  schmal- 
kaldischen  Fürsten  abgeneigt.  So  fand  die  neutrale  Haltung  des  Herzogs  die 
Billigung  der  Stünde;  man  bcschlofs,  nur  zur  Verteidigung  des  Landes  zu  rüsten. 

Noch  war  der  Landtag  versammelt,  als  der  Kaiser  die  Konsequenzen  aus 
dem  Regensburger  Vertrage  zog:  er  verlangte  von  Moritz  die  Abberufung  seiner 
TInterthanen  aus  dem  Dienste  der  Reichsfeindc,  das  Verbot  von  Werbungen 
der  letzteren  in  seinem  Lande;  endlich  sollte  er  den  Erzbischof  von  Magdeburg 
zur  Berufung  eines  Landtages  veranlassen,  auf  dem  die  Übertragung  der  Schutz- 
herrschaft über  Magdeburg  und  Halberstadt  an  Moritz  bekannt  gemacht  werden 
sollte.  Moritz  entzog  sich  der  Ausführung  dieser  Befehle,  die  seinen  Bruch 
mit  dem  Schmalkaldischen  Bunde  offenkundig,  die  Neutralität  unhaltbar  machen 
mufste;  er  versuchte  zunächst  den  Kaiser  zu  einer  Erklärung  darüber  zvi  be- 
stimmen, dafs  sein  Angriff  nicht  der  Religion  gelte  und  erbot  sich  den  Schmal- 
kaldenem  gegenüber  gemeinsam  mit  Kurfürst  Joachim  zur  Vermittelung.  Dazu 
war  es  freilich  zu  spät;  schon  hatte  sich  das  Bundesheer  in  Thüringen  ver- 
sammelt und  war  eben  im  Begriff,  nach  Oberdeutschland  gegen  den  Kaiser  vor- 
zugehen. Doch  erreichte  Moritz  wenigstens  die  Zusage,  dafs  die  verbündeten 
Fürsten  ihm  im  Falle  des  Sieges  seine  neutrale  Haltung  nicht  entgelten  lassen 
wollten;  das  Begehren  freilich,  dafs  sie  ihm  für  den  Fall  eines  ungünstigen  Aus- 
gangs Vollmacht  zur  Besetzung  ihrer  Gebiete  geben  mochten,  wurde  mit  Still- 
schweigen übergangen.  Der  Kaiser,  an  den  Moritz  den  durchaus  katholisch 
gesinnten  Türk  geschickt  hatte,  gab  unbedenklich  die  verlangte  Erklärung  ab: 
sein  Angriff  gelte  nur  einigen  ungehorsamen  Fürsten,  der  Ausgleich  der  reli- 
giösen Streitigkeiten  bleibe  dem  Konzil  überlassen.  Wichtiger  war,  dafs  Türk, 
als  er  Mitte  August  nach  Dresden  zurückkehrte,  die  Achtserklärungen  gegen 
Johann  Friedrich  und  Philipp  mitbrachte  und  zugleich  die  Aufforderung, 
Moritz  solle  diejenigen  Gebiete  des  ersteren,  auf  die  er  als  Mitbelehntor  An- 
spruch habe,  besetzen,  falls  er  nicht  wolle,  dals  sie  ein  anderer  erwerben  und 
behalten,  er  selbst  aber  der  Acht  verfallen  sollte. 

Immer  schwerer  wird  die  Aufrechterhaltung  der  Neutralität.  Von  Bcihmen 
aus  bereitet  Konig  Ferdinand  einen  Einfall  in  die  Lande  des  geächteten  Kur- 
fürsten vor,  sieht  sich  aber,  behindert  durch  die  feindselige  Haltung  der  grölsten- 


r 

608  U.  Ermiacb:  Ilersog  Moritz  von  Sachsen. 

teils  protesluitisek  gemimten  SUndey  dabei  auf  die  Hitwiikung 
gewieHen,  der  eben  damals  mit  Kurfürst  Joachim  t  rnstlicb  über  den  Plan  eines 
grolsen  Bflndnisses  der  neutralen  Mächte  Ostdeutschlands  verhandelt;  in  der 
That  kam  am  20.  Sept.  ein  Dcfensivbimd  zwischen  Moritz  und  Joachim  zu 
stände,  der  erstorcm  ftlr  den  tint.s  kuiserlicben  Sieges  Deckung  bot.  \)w 
nächsten  Wochen  brachten  indes  eine  vollständige  Schwenkung.  Vom  30.  Sept. 
bis  5.  Okt.  weilte  Morits  seibat  in  Prag;  Ferdinand  wuiste  ihm  hier  die  Oe&hren, 
die  eine  VoUstreekung  der  Acht  nnd  Beaatenng  der  Kurlande  du»  seine  Hit- 
wirkoDg  nadi  sieh  aehan  mn&te,  eo  nachdrttcklielk  Idar  au  machen,  dab  ea 
nadi  langen  und  aehwierigen  Verhandlongan  am  19.  Okt  snm  AbschluTs  dea 
ersehnten  OflfonaiTrertrages  kam,  durdi  den  Moritz  endlich  die  K\ir  des  Ge- 
ächteten zugesagt  wurde.  Der  Kaiser  genehmigte  den  Vertrag  nnd  übersandte 
seinem  "Bruder  sogar  die  Urkunde  Über  die  tn)ertragnng  der  Kur  an  Moritz; 
jedoch  sollte  diese  letzterem  nieht  eher  übergeben  werden,  bevor  er  nicht  wirk- 
lick angegrifieu  und  jede  Verbindung  mit  den  Schmalkaldenem  abgebrochen  habe. 
In  der  That  zögerte  Horih  nocb  immer.  Sein  Absagebrief  an  Johann  Ffrädrich 
und  die  Erkttrung,  durch  die  er  den  StSndeti  dea  Schmaifcaldiaehen  Bundea 
gegenüber  die  Beaefarong  der  «nesttnisehen  Lande  entachiddigt,  leigen,  wie 
schwer  ea  ihm  geworden  ist,  die  neutrale  Stellung  die  er  so  lange  festgehalten, 
an  vwtass«!.  *Aber  jetrt  gab  ea  kein  Halten  mehr  fttr  ihn;  die  Sreigntaae 
rissen  ibn  nun  fort.' 

Der  Abschnittj  der  'die  Zeit  des  Schwankens'  vom  Frühjahr  1545  bis  zum 
Vertrage  vom  19.  Okt.  154G  .•»childert,  ist  ohne  Frage  der  wichtigst^'  unseres 
Werkes;  er  begründet  eine  von  der  bisherigen  weseutlieh  abweichende  Auf- 
fiMMrang  des  Oiaraktera  and  der  Politik  des  Hm»^  Morita.  Bradieiiit 
Morits  nach  der  Daratellm^  Ton  Voigt^  dessen  Urteil  in  der  Hauptsache  Aber- 
einstimmt  mit  dem  von  Maarenbrecher  nnd  Ranke,  als  der  gewiegte,  skrapedr 
lose  Staatsmann,  der  von  vornherein  den  Erwerb  nicht  UoIb  der  Stifter  Magde- 
burg und  Halberstadt,  sondern  auch  der  Kur  Sachsen  anstrebte,  und  dessen 
wechselnde  Verhandlungen  mit  dem  Schmalkaldischen  Bunde  und  mit  den 
Habsburgern  mit  kühler  Berechnung  auf  dieses  Ziel  lossteuerten,  so  gelaugt 
Brandenburg  auf  Grund  einer  kritischen  Prüfung  der  Akten  zu  der  Über- 
zeug uug,  dals  der  jugendliche  Fürst  in  dem  ersten  Jahre  seiner  Regierung 
keineswegs  der  fertige  Diplomat  war,  den  man  in  ihm  Termntet  ha^  dab  seine 
Politik  awischm  Tnrschiedeneii  Einflüssen  hin  und  her  schwankte,  dafii  er  die 
Neutraliiat  zwischen  den  streitenden  Fartnen,  an  der  er  lange  hartoackig  fest- 
anhalten  suchte,  nur  gezwungen  aufgab,  als  er  erkannte,  dafs  ihm  keine  andere 
Wahl  blieb:  wollte  er  das  Erworbene  nicht  verlieren,  sollte  das  Haus  Sachsen 
nicht  einen  grofsen  T^-il  seiner  Lande,  seine  Stellung  im  Roiehe  einbüfsen,  so 
inulste  er  wohl  oder  üljel  an  der  Seite  der  Habsburger  gegeu  den  eniestinischen 
Vetter  vorgehen,  seine  Laude  und  die  Kur  in  Besitz  nehmen.  'Die  Wahrheit 
ist,  dab  Moritz  nicht  seine  Hilfe  in  diesem  Kriege  dem  Meistbietenden  ver- 
kauft ha<^  dafs  er  vielmehr  unpolitisch  genug  dachte,  neutral  der  Entaeheidaiig 
zusehen  und,  wer  auch  siegte,  unangegrüFen  bleiben  au  kSnnen,  data  ab«r  der 


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H.  Brailscb:  Henwg  Hofite  von  SocbBcn. 


609 


Zwaug  der  Umstände  und  die  überlegene  politisclif  Kunst  der  lluhsbiirsjjcr  ihn 
»chliefslich  auH  dieser  unklug  gcwahlteu  Stellung  hinausmauövrierte  und  zum 
Eingreifen  in  den  Kampf  zwang.' 

Über  dieaeiL  Eunpf  selbst,  aber  den  BrendMiburg  bemts  enchBpfeikde 
Yorerbeiten  Tor&nd,  kOnnen  irir  kan  hinwei^^en.  'Oberraadieiid  aehnell 
mabm  HorilB  die  etneetiiuBcbeii  Lende  in  Beeile.  Aber  nieht  dieee  Eifiilge  imen 
CH,  wie  man  meist  annimmt,  die  den  Donaufeldzug  der  Schmalkaldener  seheitem 
liei'sen,  sondern  die  Überlegenheit  des  Kaisers  und  vor  allem  der  Geldmangel 
im  Bnndesheer.  Noch  einen  letzten  Versuch  macht  der  unermüdliche  Land- 
graf Philipp,  den  Ausbruch  des  offenen  Kampfe»  Tiwischen  Johann  Friedrich 
und  Moritz  zu  verhindern;  dann  erwirbt  ersterer  fast  ohne  Schwertstreich  die 
Ton  Moritz  besetzten  Lande  zurück  und  dringt  in  die  albertinischen  Lande 
siegnidi  vor.  Hente,  ungenügend  gerfisfcefe  und  Ton  E&üg  Ferdinand  obne 
UnfcerBttthrong  gelesen,  gei&l  in  doa  ereteo  Monaten  dee  Jabies  1547  in  eine 
immer  fiblere  Lage;  schwer  entschlielst  er  eieh  desn,  die  Hilfe  dee  Enrfttrsten 
Joachim  v.  Brandenburg  durch  die  Zoetinunung  zur  Wahl  seines  Sohnes 
Friedrich  zum  Koadjutor  von  Magdeburg  zu  erkaufen,  ohne  dafs  er  schliefslich 
Nutzen  davon  gehabt  hat.  Von  neuem  kommt  es  2U  Vermittelungsvcrsuchen; 
aber  weder  Landgrfif  Philipp  uiul  seiner  rührigen  Schwester  Elisabeth,  noch 
Kurfürst  Joachim,  noch  auch  dein  Adel  der  beiden  sächsischen  Fürstentümer, 
der  eieh  eigenmächtig  einmischte,  gelaug  es,  eine  Veradbnung  zwischen  den 
beiden  Yettem  za  elende  sn  bringen. 

Da  entscheidet  sich  sohlielsUeh  der  Kaiser  selbst  snm  Bbgreifen.  Am 
29.  Marz  bricht  er  von  NOmberg  auf;  in  Tirschenreuth  stofsen  König  Ferdinand 
und  Moritz  mit  ihren  Truppen  zu  seinem  Heer.  Am  24.  April  macht  die  Schlacht 
bei  Mahlberg  und  die  Gefongennahme  dee  KorfOrsten  Johann  Friedrich  dem 

Kriege  ein  jähes  Ende. 

In  den  Verhandlungen,  die  auf  die  Katastrophe  folgten,  zeigte  es  sieh  als- 
bald, <iafs  der  Kaiser  keineswegs  geneigt  war,  die  weitgehendeu  Forderungen 
seines  ge;^wungenen  Bundesgenossen  Morits  sn  eriltUen;  er  wollte  ihn  nicht 
allea  mSchtig  werden  lassen.  Diesem  ümstsnde  verdankten  ea  die  SShne  des 
wnglflekliehen  Knrfttrsten,  der  dnrch  das  Dantokleaadiwert  des  fiber  ihn  ge- 
fällten Todesurteils  sich  zu  wcitgehtttder  Nachgiebigkeit  genötigt  ssh,  dals 
ihnen  die  Wittenberger  Kapitulation  vom  19.  Mai  \M1  einen  nicht  unbeträcht- 
lichen Teil  der  väterlichen  CJebiete  beliefs.  Moritz  erhielt  am  4.  Jtjni  die 
Urkunden  über  Verleihung  der  Kur  und  des  gröleteu  Teiles  des  emestioischen 
Gebietes. 

Moritz  hatte  nicht  so  viel  erwirkt,  wie  er  geho£Ft;  aber  mehr  als  diese 
Enttansohnng  wnrde  das  Yerfahren  Karls  V.  gegen  seinen  Schwiegerraiar  Land- 
graf Philipp  die  Ursache  «ner  Entfremdung  awischen  Hersog  und  Kaiser.  Seit 
Ausbruch  des  Krieges  hatte  Moritz  erfolglos  nach  einem  Separatabkonunen 
xwischen  Philip))  und  dem  Kaiser  gestrebt;  jetzt,  nadi  TÖlliger  Niederwerfang 
des  Bundes,  verlangte  Kar!  bedingungslose  Unterwerfung.  Die  Verhandlungen, 
die  dieser  Unterwerfung  vorhergingen,  haben  die  Forschung  lebhaft  beschäftigt; 


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610 


H.  Bnnisdb:  "Btmog  Moritz  von  Sachaen. 


ganz  wird  der  Schloior,  tlor  über  ihnen  lu^gi ,  wohl  nie  fjelüft^t  werden.  Fest 
steht  mir,  dals  die  Unterhändler,  Moritz  und  Joachim  v.  Brandenburg,  HchlieCa- 
lich  ihre  Zustimmung  zur  Formulierung  eines  Vertrages  gaben,  nach  welchem 
der  Landgraf  vor  *ewigem'  Gefän^is  gesichert  bleiben  sollte,  wählend  sie, 
neileicht  auf  mflndliche  Zusagen  guiitotzt,  ihm  persSnlich  wapradwiiy  dab 
Philipp  aberhanpt  mit  GfefSognia  und  6estri<^iiiig  nidit  heimgeeadht  werden 
wflrde;  ein  yerq»reeli0ii,  dM  sie  dann  nioht  Italien  konnten  nnd  das  ihnen 
schwere  Verlegenheiten  b^iiete.  *Aiif  die  l^uschung  ein  paar  miTorsichtiger 
und  auf  die  Ehrlichkeit  ihrer  kaiaerlichen  0])rigkeit  vertrauender  deutschen 
Fürsten  konnte  es  der  bewährten  habsburgischen  Praxis  gemäTs  dabei  nicht 
ankommen.'  Am  19.  Juni  wurde  Philipp  belcannlUch  in  Halle  festgenommen; 
wie  unerwartet  dieser  Streich  die  beiden  Fürsten  traf,  die  ihn  veranlafst  hatten, 
sich  dem  Kaiser  in  die  Hände  zu  geben,  ergiebt  ihr  Verhalten  in  den  nächsten 
Tagen. 

Vieles  hat  der  jonge  Ffirst  in  den  ersten  Jahren  seiner  Regierang  so 
lernen  Gelegenheit  gehabt;  vor  aUem  aber  waren  ihm  die  Augen  geSffiiet 
worden  f&r  eines:  filr  die  skrapdlose  Staatsknnst  des  Hanees  Habsborg:  *Aaf« 
gewaehsen  unter  den  Ideinstaatlicheii  Diplomaten  mit  ihrot  plnmpen  Ljateii, 
ihrer  gutmQtig  beschi^nkten  Zaghaftigkeit  im  Denken  und  Handeln  und  auch 
im  Betrflgen,  war  er  der  habshurj^isehen  Staatskunst  nicht  ini  geringsten  ge- 
wachsen,  die  ihre  Pläne  geschickt  auf  Beobachtung  der  Schwächen  des  Gegners 
gründete  lind  den  (irundsatz,  daüö  der  Zweck  die  Mittel  heilige,  mit  vollendeter 
Skrupeliosigkeit  ausführte.* 

Dafs  einer  solchen  Staatskunst  gegenüber  eine  Politik  der  Neutralität,  wie 
sie  Moritz  so  lange  festzuhalten  versucht  hatte,  nicht  durchführbar  war,  hatte 
sidi  Idar  gezeigt,  'Jetit  stand  man  mitten  drin  in  den  groben,  ganz  Deatseh- 
land  erfUlendsn  KKmpfen;  ängstlieh  mnlbte  sich  jeder  fragen,  ob  d«r  katho- 
ÜMshe  Kaiser  nidit  seinen  Sieg  anssunat&en  Tersnchen  werde  gegen  die  Selb* 
sttndigkeit  der  Temtorien,  gegm  die  B^^mer  des  Protestaniis^mus,  und  was 
man  thun  konn^  nm  sich  dagegen  zu  wehren.  Die  nichste  Zeit  mufste  sej^^en, 
ob  der  junge  EurfQrst  in  diesem  harten  Jahre  genug  gelernt  habe,  nm  auf 
diese  Fragen  die  Antwort  au  finden.' 


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MEPHlbTUi'HELEiS  UND  EKDüElST. 


Eine  meÜiodologisehe  Studie  za  Ooefb«8  Ftastdichiimg. 

Ton  VsiT  VAiiBimir. 

Es  ist  eine  cigontümiiche  Erscheinung,  dals  bei  der  Erklärung  von  Goethes 
Faust  der  Inhalt  noch  immer  vielfach  ohne  Hücksicht  auf  die  Form  untersucht 
wird,  ynkre  Goethes  Dichtimg  niditB  weiter  ab  die  SuCwrlidiA  Yemernng  eines 
grolimk  Baues,  deeaen  Weeeü  ?on  dem  Omsmente  nieht  weiter  erfiJflt  wflrdi^ 
so  wSre  das  YeifiilirMi  mancher  Fanstforscher  bereehtigt  Ist  aber  die  vein 
Dichter  gewählte  kflnstlerische  Form  ein  Wesensbcstandteil  des  Ganzen  ge- 
worden, so  daCs  aie  es  durchdringt,  und  beides,  Inhalt  and  Form,  die  ästhetische 
Wirkung  gemeinscbaftlich  hervorbringt,  so  darf  sie  ancb  hei  dem  Sir*>"l»en  nach 
Erkenntnis  der  Dichtung,  weder  des  (iimzi'n  noch  seiner  Bestandteile,  aurser 
acht  gelassen  werden,  Ks  ist  nun  eines  der  wichtigsten  Mittel  de»  Erzählers, 
daß)  er  seinen  Hörer  zum  Mitwisser  der  Sondererlebnisse  der  einzelnen  Peraön- 
liehkeiten  seiner  EnIUnng  macht:  das  Tonrecfat  des  Enahlers,  des  Dichters, 
ist  es,  dab  er  *aUes  gesehn'  hat,  Sros  anf  Erden  gesdiiehf,  nnd  wie  er 
adbst  *der  Dinge  geheimste  Saat  behorcht',  so  iUurt  er  auch  seine  Hörer  in 
die  Geheimnisse  nicht  nur  der  nufseren,  sondern  auch  der  inneren  Erlebnisse 
seiner  Helden  ein,  um  durch  dies  Mittel  seine  besondre  Wirkung  zu  erreichen. 
Diese  wird  dadurch  erzielt,  dafs  im  Gegensatz  zu  dieser  Mitwissenscbaft  des 
Erzählers  und  seiner  Hörer  die  Objekte  der  Erzählung,  die  handelnden  Persönlieli 
keiten  selbst,  von  dem  durch  solche  Einsicht  gewonnenen  Zusammenhange 
nichts  wissen,  sondern  jeder  Einzelne  nur  nach  Mafsgabe  der  ihm  durch  swie 
Lage  gestatteten  Möglichkeiten  der  Kenntnis  der  Ereignisse  und  ihres  Znsammen- 
hangea  handdi  Gerade  dnrdi  diesen  G^ensati  des  nm&ssenden  Wissens  des 
EndUüers  und  seiner  Hörer  einerseits  nnd  des  begrenzten  Wissens  der  Handelnden 
andrerseits  entstdtt  eine  Spannung  in  der  Beobachtung  des  Verlaufes  der  Er- 
eignisse, die  unser  MitfQhlen  für  eine  uns  allmählich  ans  Herr  gewachsene 
Gestalt,  unsere  Sorge  für  sie  und  ihr  Geschick,  ulso  Mitleid  und  Furcht,  in 
hohem  Grade  weckt,  so  dafs  die  Erwartung,  wie  das  Geschick  der  Persönlich- 
keit sich  in  ihrem  äufseren  und  inneren  Leben  gestalten  wird,  aufs  lebhafteste 
gusicigerfc  wird.  Mit  besonderer  S&rke  tritt  dieses  HititOden  und  Miflewlen 
dann  herror,  wenn  die  Mitwisser  des  Gesaxntereignisses  drohende  Wdken  anf- 
iteigen  sehen  nnd  nnn  die  bange  Erwartung  entsteht,  nicht  nur  ob  flberhanpt 
das  Gewitter  sich  Uber  dem  Bedrohten  entlädt,  sondern  wann  nnd  wie  der 
nnTermeidlich  drohende  Blita  den  Unselige  treffen  nnd  aerschniettem  wird. 


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612 


y.  Valeniiii:  MephutophelM  vnd  EHgeM. 


Wenn  Hektor  den  Achill  mm  Kampf  onvartct  und  wir  Mitwisser  davon  werden, 
wie  Zeus  durch  das  Los  das  Sclnckhui  erfra<^t,  und  wir  mit  aller  Bestimmt- 
heit deii  Tod  de8  uut>  iu  huhem  Grade  ü^mpatiiiäciien  Helden  vurauüHeheUj 
wahrend  er  die  HoAiung  sich  erhSlt,  dafe  «r  der  Sieger  mn  k&ine,  mü 
wttlclier  Spannung  Tttfolgen  wir  die  Entwickelimg,  und  wie  ergreift  ee  uds, 
wenn  die  OStün  eelbst  üt  erboigter  Gestaltiuig  m  dem  üntergeng  beitragen 
nillfil,  indem  tt»  dem  Bedrängten  neue  Hoflinung  und  verderbliche  Sicher- 
heit bringt,  bis  endlich  der  Blitz  trifft  und  der  Sterbende  selbst  yon  dem 
letzten  Tröste  scheiden  mufs!  Mit  noch  groffercr  Bangigkeit  verfolgen  wir, 
wie  Agamemnon  seinen  Palast  betritt  und  trotz  alier  vorsichtigen  Bescheiden- 
heit doch  dem  sicheren  Tod  entgegengeht,  der  ihm,  wie  wir  bereits  wissen,  ira 
Hanse  bereitet  ist;  und  mit  atcmbeklcmmender  Bangigkeit  hören  wir  den  König 
ddipne  in  seinem  Stoke  redm,  da  wir  ja  wiBBen,  wie  es  mii  ilun  at^t  «ad 
wie  das  ünentrinnbare  nSher  and  inimer  lüiher  an  ihn  heranschleicht  nnd  ihn 
endlich  trifft  Ja  selbst  dsm.  Ünaympattusciheo  gegenfiber  wird  dies  nadi  anMrem 
Mitwisson  sicher  gegen  ihn  hereindrängende  Yerhiingnis  dem  Eznhler  ein 
Mittel,  für  den  Bedrohten  ein  Mitfühlen  zu  gewinnen,  wenn  auch  onaere  gröfete 
Teilnahme  dem  Gelnankten  selbst  gewidmet  bleibt:  wenn  Odysseus  unerkannt 
zu  den  Freiern  tritt,  wir  ihn  aber  kennen,  wenn  wir  verfolgen,  wie  der  wachsende 
Übermut  der  Freier  die  drohende  Strafe  immer  unausbleiblicher  macht  uud  sie 
uns  immer  berechtigter  erscheinen  laCst,  so  verfolgen  wir  Schritt  für  Schritt 
den  Vorgang  in  seiner  Bntwickelniig  mit  höchster  Spanntmg,  nnr  weü  wir 
UitwiBser  davon  sind,  dab  der  fremde  Bettler  niemand  anders  als  der  heim- 
kehrende Odyssens  seihet  ist,  irahrend  die  Freier  keine  Ahnung  davon  haben. 
Aber  auch  zu  heiterer  Wirkung  benutzt  der  Brsahler  dies  nach  allen  Seiten 
hin  sich  bewährende  Mittel.  Wie  köstlich  ist  es,  wenn  wir  dem  heimgekehrten 
Odysseus  lauschen,  der  sich  dem  ihm  in  unbekanntem  Land  entgegentretenden 
Jüngling  nicht  verraten  will  und  eine  rasch  erfundene  Geschichte  enüihlt,  wie 
es  gekommen,  dafs  er  in  solcher  Lage  sich  befindet:  wir  aber  wissen,  dafs  der 
Jflngling  niemand  anders  ist  als  Pallas  Athene,  und  wir  freuen  uns  mit  ihr 
im  stillen  fiber  die  Einheit  ihres  Lieblings,  bis  sie  sich  UUshelnd  ihm  enthflllt: 
sind  sie  doch  beide  Kenner  der  Kunst,  durdi  kluge  Erfindung  an  tiusidien  — 
sie})  selbst  aber  wollen  sie  nicht  weiter  Wuschen.  Oder  wenn  Minna  ihrem 
Tellhetm  Mnen  Streich  spielen  will,  so  können  wir  die  List  und  ihr  fast  der 
Urheberin  verhängniFVolI  werdendes  Scheitern  mit  im  Grunde  doch  unbesorgtem 
Gemüte  miterleben,  weil  wir  ja  den  Such  verhalt  kennen  und  wissen,  dafs  ef? 
mir  eines  erlösenden  Wortes  bedarf,  um  alle  Schatten  zu  vertreil)en.  Und  wie 
ganz  unbesorgt  sehen  wir  die  kühnsten  und  gewaltigsten  Ritter  gegen  die 
Bitterin  Bratfamante  reiten:  wissen  wir  doch,  daJh  Bradamantes  Lanze  jeden 
Bitter  m  Falle  bringt^  während  die  kühne  K&mpferin  selbst  von  dieser  Zauber^ 
kraft  ihrer  Wa£fo  keine  Kenntnis  hat! 

So  bildet  in  diesen  Erzählungen  —  und  in  welchen  nicht?  —  unser  Mit- 
wissen von  Dingen,  die  dein  Handelnden  unbekannt  sind,  ein  besonders  wirk- 
sames Mittel  in  der  Haud  des  Dichters,  unsere  Spannung  sei  es  nach  der 


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Y.  Valentin:  MephistophelM  nnd  Erdgeist 


613 


frtiumilichpn  sei  ph  nach  der  scKmerz vollen  Seite  hinzulenken  und  uns  durch  ihre 
Erregung  zu  dem  uri8  höchst  wiUkommeueu  kräftigeren  Fühlen,  zu  lebhaftester 
BeÜiätigung  unawea  aeeluelieii  Lebens  m  bringen.  Dieses  MitM  ist  ibw 
nicht  nur  eine  ftnfsere  Znühai:  es  bildet  viebneihr  einen  Wesensbestandteil  der 
Handlung^  die  in  ihrem  YeilMfe  sieh  dnrohans  uiders  gestalten  mfifste,  wan 
es  nicht  verwendet  wQide,  wenn  also  ganz  besonders  der  Handelnde  Kenntnis 
von  all  den  Verhaltnissen  bitte,  die  wir  allein  wissen  dürfen,  dnren  Unkenntnis 
ihn  einzig  und  allein  zu  »einem  TTüTult^lTi  hiinj^t,  Wir  müssen  es  wissen,  dafs 
Wallensteins  Vertrauen  auf  Octavio  falsch  ist:  tltr  Dichter  zieht  uns  dalier 
sehr  zeitig  in  diese  Mitwissenschafl  —  für  WallLiiskiii  bleibt  sie  ausgescblusHcn, 
bis  er  sie  endlich  trotz  allem  \V iderätreben  anerkeuuen  mufs.  Wir  mÜHHen 
es  wisssn,  dnls,  wenn  BntUer  trots  dem  aUgomeineD  Ab&U  doch  bei  dem 
Feldherm  anshSlt,  bei  Wallenstmn  nicht  sein  gater  Engel  bleibt:  in  beiden 
Flllen  wird  die  hSchste  Spannnng  in  ims  erweckt,  wenn  wir  kraft  dieser 
Kenntnis  benbar!  t  i  und  verfolgen,  wie  das  Netz  des  Verderbens  sich  immer 
enger  um  Wallenstein  schliefst,  bis  es  endlich  ihn  packt  und  erbarmungslos 
vernichtet.  Auch  nur  die  leiaf>ste  Ahnung  auf  seiteii  WullpTistptns,  und  sein 
ganzes  Handeln  wäre  anders  geworden.  Wie  erschütternd,  wenn  tr,  di  r  stets 
vor  Buttler  ein  geheimes  Grauen  gehabt  hat,  sich  auf  ihn  als  den  treuesten 
Freund  stQ^t,  der  schon  die  Waffe  gegen  ihn  bereit  halt! 

Dieses  Mittel  wirkt  schon  bei  der  rein  epischen  EncBhlung  ergreifend. 
Wenn  aber  der  Dichter  au  einer  anderen  Form  greift  und,  statt  von  den 
Personen  zu  sprechen,  sie  selbst  Tor  uns  hintreten  laist^  wenn  so  der  lyrische 
Qehalt  des  Seelenlebens  mit  der  unmittelbaren  Wucht  der  gegenwärtigen 
Wirkung  lebendig  wird,  wenn  wir  die  erschütterte  Seele  in  lauten  Tönen  er- 
zittern hören,  so  prscheint  erst  sein*»  Wirkung  in  voUst-tr,  siogreiohster  Kraft. 
Darum  wird  vh  zu  einem  der  wichtigsten  «Irani.iturgischen  Hilfsmittel,  das  der 
dramatische  Dichter  kaum  entbehren  kann.  Darin  liegt  der  Grund  für  die 
AUgewall^  mit  der  die  enüifillenden  Dramen,  wie  König  Ödipus,  die  Braut  Ton 
Hessioa,  die  Ahnfrau,  auf  den  Miterleber  der  Handlung  einstOrmen  und  sich 
seine  lebhafteste  Teilnahme  enswingen.  Daha:  hat  auch  Aristoteles  die  Er- 
kennung der  Personen  untereinander,  wShrend  der  Miterleber  über  den  Zusammen- 
hang langst  unterrichtet  ist,  als  eines  der  wichtigsten  Mittel  des  Dramas  be- 
aeichnet. 

Wenn  nun  aber  jemand  kommen  und  das  Mals  der  Kenntnisse,  das  die 
handelnden  l'ersonen  von  dem  Zusammenhange  ))esitzen,  mit  der  Kenntnis 
identitizieren  wollte,  die  der  Dichter  von  dem  Zusammenhange  hat,  st»  würde 
er  rieherUbh  ab  ein  die  elementarste  YcMraussetsung  einer  diehterisdien  Enih- 
Inng  yerkennender  sofort  snrQc^ewiesen.  Wer  behaupten  woUte:  weil  Wallen- 
stein von  Octavio  sagt:  'Yersiegelt  hab'  iidi's  und  -verbrieft,  dab  Er  Hein 
guter  Engel  ist',  ^^o  müsse  es  auch  Schillers  Meinui^f  gewesen  sein,  dals  in 
der  That  Octavio  Wailensteins  giiter  Engel  war,  der  würde  doch  nur  ein 
höchst  bedenklielios  Arhsflzuckrn  über  snlchpn  wundrrlirhPTi  Einfall  hervor- 
rufen. Aber  es  ruft  durchaus  kein  Bedenken  hervor,  wenn  gcächiossen  wird, 


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614 


y.  YaloDtin:  H«plitifcofili«les  und  ISrdg«iiL 


da  Faast  den  Erdgeist  als  den  Absender  des  Mephistopheles  bezeichne, 
so  mfisse  nach  des  Dichters  Auffiusnng  Mephistopheles  wirUidi  vom  Erd- 
geist abgesendet  worden  sein.    Es   wird  vielmehr  grOndlidi  die  Frage 
dielcntiert:  Ist  der  'erhabene  Geist'  Gott  oder  der  Erdgeist?    Kann  Mephi- 
stopheles vom  Erdgeist  geschickt  worddi  sein,  und  stimmt  dies  zam  Wesen 
des  Erdgeistes?    Aber  die  Frage  ist  überhaupt  fnlscL.    Sie  wird  gostellt  und 
heantwnrtet,  als  ob  man  es  mit  einer  wissenscluiftlichen  Abhandlung,  nicht 
mit  eiiv  r  Dichtung  zu  thun  h8tt<>.    Die  Frage  kann  einzig  uncJ  all*  in  lauten: 
Wen  iiuit  Faust  für  den  AbHender  des  Mephistopheles?    Wen  kaun  Faust 
nadi  Mafisgabe  der  ihm  infolge  snner  Lage  nur  Verfügung  stsliMidai  sehr  be- 
grensten  Eenntanee  des  Zusammenhanges  der  Dinge  für  dm  Absender  des 
MephistopheleB  halten?  ünd  wenn  darauf  die  Antwort  lauten  mub;  Fauet  kaon 
TOn  seinem  Standpunkt  aus  niemand  anderen  als  den  Erdgeist  für  den  Ab- 
sender des  Mephistopheles  halten  — ,  folgt  nun  daraus,  dafs  auch  der  Dichter 
selbst  diese  Ansicht  gehabt  hat,  oder  dafs  wir  von  ihm  in  dori  wfihron  Znsammpn- 
hang  eingeweihten  Mitwisser  des  Gesamtereignisnes  iinnt-hiupn  sollten,  der  Erd- 
geist sei  nun  auch  tbatsiif'hlich  der  Absender  des  Mepkistophelos.  weil  Faust 
iimerliulb  seiner  begrtuzten  Einsicht  in  den  Zusammenhang  dieser  Ansicht  ist? 
Die  erste  Fragestellung  ist  methodisd^  &l8ich,  weil  sie  den  Grondcharakter  der 
Dichtung  als  Dichtung  nidit  bertteksichtigt  und  yorgeht^  als  habe  man  es  mit 
den  Darlegungen  der  Ansidit  des  Dichters  statt  mit  den  Folgen  der  von  ihm. 
gegebenen  Voraussettangen  zu  thun,  die  sieb  so  abwickeln  müssen,  wie  sie 
nach  dem  jedesmaligen  Wissen  der  handelnden  Personen  sich  einzig  und  allein 
abwickeln  können.    Faust  bat  keine  Abmmg  von  dem  Gcspräcbe  Gottes  mit 
Mephistopheles:  der  einzige  Geist,  der  ihm  erschienen  ist.  der  zudem  ihn  als« 
anders  p;eartet,  we8ensun>:;Iei(h  7Airückgewiesen  hat,  ist  der  Erdgeist.    Nun  tritt 
Faust  ein  Geist  gegenüber,  der  zudem  nach  seiner  eigenen  Aussage  keiner  roa 
den  Oro&en  ist  —  liegt  es  da  ftr  Faust  so  ferne,  dafs  dieser  Geist  ein  Send- 
lii^  dessen  ist,  der  selbst  mit  Faust  nicht  verkehren  will,  nicht  verkehren 
kann,  weil  er  sn  hoch  aber  Faust  steht?   Für  Faust,  der  nichts  von  dem 
persönlichen  Plane  des  M^histopheles  weifs,  bleibt  allerdings  nichts  übrige 
als  diesen  als  Sendling  einer  höheren  Macht  anzusehen,  und  da  ihm  keine 
andere  höhere  Macht  pt-rsünlicli  entj^j^en betreten  ist  als  der  Erdgeist,  so  kann 
Faust  nur  diisen  für  den  Absender  halten.    Es  ist  daher  methodiseh  falsch, 
zu  fragen:  Ist  der  'erhabene  Geist'  Gott  oder  der  Erdtjeist?    Die  Frage  muls 
methodisch  richtig  heü'sen:  Wen  bezeichnet  Faust  mit  dem  'erhabenen  Geist'? 
Wer  das  Wesen  der  enShlenden  Dichtung  und  besondns  der  dramatisch  ge- 
stslteten  Darstellmig  eines  epischen  Ereignisses  nicht  aas  dem  Auge  verlier^ 
darf  nicht  von  der  Voraussetsung  ausgehen,  dalä  alles,  was  der  Dichter 
eine  Person  seines  Dramas  auf  Grund  ihrer  Sonderkenntnis  der  Verhältnisse 
sagen  und  thun  lafst,  so  au  betrachten  sei,  als  ob  der  Dichter  mit  seiner 
Allkenntnis   der  Verh:Utnis«e  es   selbst  t^esagt  oder  gethan  habe.     Und  doch 
wird   diis   methodisch   nicht   richtige  Verfahren   der  Faustdichtuni»  Goethes 
gegenüber  als  berechtigt,  als  etwas  ganz  Selbstverständliches  betrachtet  und 


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T.  Yal«Btia:  ICepItiiteiihdM  und  Brdgdii. 


616 


tlemgemäi»  aiicli  oingehalt^^T.  Von  dfn  hoiden  ünterredneru,  die  Witkowski 
in  seiner  Abhandlung:  'Dar  Krdgei«t  im  Faust,  Gespräch  zweier  üoethe- 
freonde*  (Ooe&eJalirbiidi  XVII  Bd.  1896).ei]ift]ir^  vttiiriik  keiner  den  dranur 
tnrgiadien  Staadpnnkfc:  beide  Qoethefremide  atehen  in  ihren  geiatvollen  nnd 
intereBsanton  AiufBlinmgen  gemeinschaftlidi  anf  dem  StaadpunlEte  der  Ftage: 
Wer  ist  der  erhabene  GMet?  ala  ob  ee  sich  um  die  philosophische  Frage 
handelt«:  Wer  ist  der  erhabene  Geist  an  sich?  wahrend  es  sieh  einzig  und 
alieiii  am  die  Frage  bandelt:  Wer  ist  nach  Fausts  Auffassung  der  erhabene 
Geist,  der  ihm  nach  seiner,  Fausts,  Annahme  den  Mephistopheles  geschickt 
hat?  Das  schliefsliche  Aiiskunftflraittel,  auf  das  sich  die  beiden  GoethefVennde 
vereinigen,  muTü  infolge  der  unrichtigen  Fragestellung  ein  unrichtiges  Ergebuis 
aein.  Im  ür&ust  und  im  Fragment  Ton  1789  aoUen  die  Worte  Fanaia  dem 
Er^{«at  galten,  in  dn*  anagefUirten  IMditong  seien  sie  aber  nach  dem  WUl«i 
des  Diehtera  ala  an  Gott  geiiditet  anfitn&aaeD.  Geht  man  Ton  der  richtigen 
Frageatellang  aua:  Wen  meint  Faust  auf  Grund  seiner  Kenntnisse  des  Zusammen- 
hanges mit  dem  erhabenen  Geist?  so  ergiebt  sich  die  Antwort,  dafs  stets  und 
in  allen  Phasen  der  Entwickelung  der  Faustdichtung  Faust  den  Erdgeist  als 
den  grofsen,  herrlichen  Geist  nnd  später  auch  als  erhabenen  Geist  bezeichnet. 
Steht  dies  Ergebnis  fest,  so  kann  sich  die  weitere  Frage  erheben,  ob,  während 
Faust  mit  seiner  Annahme  von  der  Entsendung  des  Mephistopheles  durch  den 
EidgeiBt  aeit  der  Ümgeataltong  der  Dichtmig  1797  unter  allen  ümatanden 
nicht  daa  Richtige  trifft,  nidit  viellmdit  im  ürfimat  mit  Fanata  Annahme  die 
von  dem  Dichter  gemachte  YoranaaetBung  Übereinstimmt?  "Bs  iat  aaddidi 
nicht  ausgeschlossen,  daia  der  Dichter  die  begrrazte  Kenntnis  einer  bestimmten 
Geshilt  seiner  Dichtung  mit  der  von  ihm  gemachten  Voraussetzung  überein- 
stimmen iHfst.  Es  ist  daher  möglich,  dafs  der  Dichter  von  dem  so  höchst 
wirksamen  Mittel  des  Gegensatzes  der  Einzelkeiiiitnis  einer  handelnden  Persönlich- 
keit zu  dem  den  Mitwissern  der  Gesamthandlung  bewuTsten  Zusammenhang  in 
einem  bestimmten  Falle  innerhalb  einer  Dichtimg  überhaupt  keinen  Gebrauch 
gemacht  hat;  nnd  ea  iat  ferner  möglich,  dafr  er  swar  in  der  ursprünglichen, 
ein&cheren  Gestalt  einer  Diditung,  die  una  im  Zuatande  des  eraten  kttnatlnri- 
sehen  Wurfes,  nicht  in  dem  der  kunatrollen,  daa  Ganze  im  Auge  bduJtenden 
Dureharbeitnng  erhalten  ist,  bei  einer  beetimmten  PeraonUchkoit  die  Über- 
einstimmung ihrer  subjektiven  Auffassung  mit  den  von  dem  Dichter  voraus- 
gesetzten objektiven  Verhältnissen  angenommen  hat,  dal's  er  aber  in  einer 
späteren,  kunstvolleren,  anf  die  Gesamt  Wirkung  eines  künstlerischen  Ganzen 
hinzieleudeu  Umgestaltung  das  Verhältnis  für  einen  bestimmten  Fall  auf- 
gegeben hat 

Ea  fragt  aidi  nur,  wo  dar  Beweis  fllr  dieae  Übereinstimmung  der  aub- 
jektiTen  Annahme  der  handelnden  Feraönlidikeit  mit  den  Vorauaaetaungen  dea 

Dichters  von  den  objektiven  Verhältnissen  gefiinden  wird.  Da  in  unserem 
Falle  keine  sonstigen  Mittel  vorhanden  sind,  so  sind  wir  ausachlielslich  auf 
die  Dichtung  selbst  anpfewiesen,  anf  den  Urfnnst.  Gälie  dieser  eine  volls^ndige 
Dichtung^  so  läge  die  Sache  sehr  einfach.  £r  ist  aber  Frf^pieu^  und  swar,  gerade 


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616 


T.  Vftlmtuit  MephittoplialsB  and  firdgdit 


was  den  Zuöaimueuliang  der  Entwickelung  betriflFt,  ein  sehr  ungenügendes: 
Tielleieht  Ut  er  es  nicht  immer  in  BolcliMn  Gnde  gewesen.  Die  Frage  jcdodi, 
ob  in  der  Qgchhaneenachen  Abeelurift  nns  «lies  erhalten  ist,  was  zur  Zeit  der 
Abschrift  vorhanden  war,  kommt  hier  nicht  weiter  in  Betracht:  auch  wenn 
Goethe  noch  mandtes  fertig  hatte,  so  war  es  doch  wohl  nicht  so  weit  gediehen^ 
dafs  er  es  zam  Lesen  hergeben  mochte,  und  für  uns  ist  es  jedenfialls  verloren. 
Unter  allen  Umstünden  aber  müssen  wir  annehmen,  dafs  der  Dichter  sich  eine 
Ansicht  über  den  Zusammenhani:!;  der  Personen  seines  Dramas  gemacht  hatte; 
vielleicht  dürfen  wir  es  auch  über  die  Art,  wie  er  sie  zusammenführen  wollte, 
obgleich  dieser  letzte  Punkt  nicht  so  ohne  weiteres  als  sicher  oder  auch  nur 
als  wahrsdieinlidi  TOraosinsetaen  \si  Aber  aus  den  Anlswuigen  Fansts: 
*WandlB  ihn,  dn  nnendlidier  Qeistt  wandle  den  Wnrm  wieder  in  seine  Hnnds- 
gestalt . .  *  und  ^Orober,  herrli<^er  Gfeis^  der  dn  mir  au  erseheinen  würdigtost, 
der  dn  mein  Herz  kennst  und  meine  Seele,  warum  mufstest  du  mich  an  den 
Schandgesellen  schmieden?  .  . liifst  sich  jedenfalls  dies  Eine  mit  Sicherheit 
schliefsen,  dafs  nach  der  Absicht  rb  f^  Dichters  Faust  den  Mephistophelea  für 
den  Abgesandten  des  Erdgeistes  halten  sollte  und  ancli  wirklieh  hielt.  Wenn 
Bruinier  in  seiner  Abhandlung:  *Der  ursprüngliche  J'lan  von  Goethes  Faust 
nnd  seine  Geechichte'  (Sonderabdruck  aus  der  Beilage  sur  *Aligemeinen  Zeitung* 
1898  Nr.  136/7,  Mflnehen,  Buehdrucherei  der  'Allgemeinen  Zeitung')  aus  dieser 
Stelle  im  Zusammenhang  mit  dem  spftter  gedichteten  Monolog  *Erhabenar 
Geist'  den  Schlufs  zieht:  *Wir  mQssen  darnach  Mephistopheles ')  für  den  Ab 
gesandten  des  Erdgeistee  halten',  so  macht  er  denselben  methodischen  Fehler, 
der  auch  sonst  begegnet;  der  Sclilufs  darf  nur  heifsen:  'Wir  müssen  an- 
nehmen, dafs  nach  dt  s  Dichters  Absieht  Faust  den  Mephistopheles  für  den 
Abgesandten  des  Erdgeistes  halt*.  Für  das  von  der  Annahme  Fausts  un- 
abhängige Verhältnis,  für  die  Voraussetzung,  die  der  Dichter  selbst  über  das 
wirkliche  Veibaltnis  gemacht  hat,  ist  ans  dieser  Aulserung  Fansts  nichts 
au  entnehmt!.  Zu  diesem  metbodisehen  Milsgrtff  kommt  noch  hinan,  dab 
Bmininr  seine  ganaen  AnsftQumngen  auf  einen  Gmndsata  stfitat,  der  «nen 
aweiten  methodischen  HifsgrÜT  enthalt,  der  freilich  nicht  bei  ihm  allein  vor- 
kommt, sondern  der  sich  in  der  ganzen  Faustfoiachung,  ja  in  der  Goeth<^ 
foraohnng  überhaupt  vielfach  wiederlndt,  und  der  seiner»  Wirkungsbereich  noch 
weit  \\hpv  Goetbe  hinaus  erstreckt:  es  ist  die  Identitizierung  des  Dichters  mit 
den  (iestalteii  seiner  Dichtung.  Bruinier  drückt  dies  hier  so  aus:  'Kaust  ist 
Goethe,  wie  keine  andere  Erfindung  dieses  Selbstdarätellers'.  Gewilä,  man  kann 
Goethe  in  mandier  Besiehu^  ein^  SichselbstdarsteUer  nennen  und  wohl  in 
hdherem  Grade  als  manchen  anderen  Dichter;  ab«  man  darf  doch  nicht  flber^ 
sehen,  dab  Goethe  niemals  ein  Natoialist  war,  der  sich  damit  begnttgt  und 
in  diesem  Genfigen  sein  kflnstlertsches  Ziel  gefimden  halte,  von  sidi,  seinem 


*)  Bruinier  sclireibt  gleich  andern  Forschem  oft  'Mephitto':  ich  «ehe  keinen  Grund,  daf* 

die  WiHsi  uscliiiri  «lii'scii  liö-i  II  (leint  mit  >li  iii  KoHenamon  1i»>chrfn  soll,  (Kt  in  Faust-  Mnuda 
gelegcntUch  wohl  zu  begreifen  ist,  tüt  den  aber  sonst  keine  Veranlasdung  sein  möchte. 


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V.  Valentin:  Mophistophelea  and  Erdgeiat 


617 


Wesen,  seinen  Gefühlen  einen  cinfadbBn  Abklatsch  zu  machen  und  dieses  nackie 
Spiegelbild  für  eine  künstlerische  ScshSpfbng  so  haltoa.  Es  wird  dabei  doch 
übersehen,  dak  der  Künstler  die  unmittelbar  seinem  oigen<»Ti  Herren ,  seinem 
eigenen  Ko]if  cntfinellenden  Motiro.  also  die  ersten  Keimt'  einer  künstleriBchen 
Schöpfung,  nicht  anders  behandelt  als  die  ihm  von  uuluen  entgegentretenden: 
sie  werden  ihm  Ausgangspunkte  zu  einer  Neuschöpfung,  die  uns  dann  als 
wsbrlieitseirfiUlt  berfihrt,  wenn  wir  den  Eindruck  gewinnen,  der  Keim  sei  mit 
einer  ihm  selbst  innewohnenden  Nahumotwendi^^eit  gewachsen:  so  tiSgt  er 
lllr  nns  den  Charakter  der  Selbstverständlichkeit  in  sich^  wie  er  dem.  natur- 
gewordenen Organismus  eij^iiet.  Gerade  das  erhebt  den  Künstler  über  den 
blofsen  fvuiiiittechiuker,  dals  der  Kiiiistlor  die  Niitur  hat,  die  dem  Keim  einen 
BodfTi  irfwährt,  auf  dem  er,  unbewul'st  wie  die  natürliche  Pflanze,  7,n  seiner 
Ausbildung  gelangt,  als  ob  er  unabhängig  von  dem  Individuum  würe,  das  ihm 
den  Boden  geliehen  hat.  Gar  vielen  bietet  sich  dasselbe  Motiv,  und  viele 
Tersochen  es  2u  gestalten;  aneh  dw  Stimmung  Zsit  wirkt  anf  viele  gleich- 
mäbig  ein:  aber  nnr  bei  dem  EQnstlw  gswinnt  ein  sa  sdbstSndigcr  Schöpfung 
anfkeimendes  Hotiv  in  seinem  Werden  die  Folgerichtigkeit  des  natOrÜehen 
Waebstnms.  Was  bei  der  natürlichen  Pflanze  seinen  Grund  in  der  organischen 
Anlage  der  Pflanze  selbst  hat,  bringt  in  die  Kunstschöpfung  die  zu  folge- 
richtigem Wachstum  hindnliigeiide  künstlerische  Anlage  des  sthaffendeu  Indi- 
viduums: f<ie  vertritt  die  Stelle  des  orgnnisierenden  Elements  und  verfährt  bei 
ihrer  sciiopleriachun  Konzeption  ebenso  unbewulst  wie  die  Natur  selbst.  Je 
erfolgreicher  eben  dieses  unbewulste  Uuigeätaltcn  des  au  sich  unbelebten  Keimes 
an  einem  die  Natomotwend^keit  in  sieh  tragenden  Organismus  ist,  nm  so 
grSber  ist  das  kfinstterische  Genie  des  SoihSpfers,  dem  reflektierendes  Sdiaften 
awar  nahe,  niemsls  aber  gleich  kommen  kann.  Dab  ein  Jflngling  sich  in  die 
Biant  eines  anderen  vorliebt,  ist  hundertmal  d^ewesen,  auch  daJs  es  geschieht^ 
80  lange  er  von  ihrer  Gebundenheit  noch  nichts  weifs,  und  nun,  nachdem  er 
es  erfahren,  ein  Seelenkampf  in  ihm  entstfltt.  ist  nichts  Besonderes;  dafs  ein 
8  il<  Ij*-  Verhältnis  durcli  den  Grundton  tuer  bestimmten  Zeit  den  Charakter 
kraniwhafter  Sentimentalität  erhalt^  lat  natürlich.  Und  doch  bleibt  häutig  genug 
und  wohl  in  den  meisten  FUIen  ein  soldies  Motiv  fitr  die  Kunst  tot  nnd  <dme 
Folgen.  Wenn  nun  ein  dicht«riseb  beanlsgter  Jflngling  einen  AbUatsch  der 
in  solcher  Lage  von  ihm  erlebttti  Empfindnngsn  ÜBsthalten  und  recht  httbseh 
darstellen  könnte,  so  ^re  dies  das  Zeichen  eines  gana  tllditigsn  Talents:  aber 
ein  Kunstwerk,  das  tiefgehende  Wirkungen  hervormfim  könnte,  entstände  nicht. 
Wenn  aber  der  Jüngling  im  stände  ist,  diesen  Keim  einer  Knnstschöpfting  von 
der  Zufälligkeit  seinet^  Lebens  abzulösen,  ihn  wie  etwas  Fremdes  in  sich  waoliseii 
und  nach  der  in  dem  Keime  liegenden  unausweichlichen  Folgerichtigkeit  sich 
ausgestalten  und  reifen  zu  lassen,  die  Entwickelung  in  vollster  Unabhängigkeit 
von  sein«:  Pttson  bis  xn  ihrer  ialserst«n  Konsequeni  dnrehsttfiOhren,  so  daA 
das  aelbstuidig  gewordene  neue  Wesen  wie  ein  auf  eigenem  Orgaaismos 
steksndes  Wesen  erseheint,  so  ist  dies  in  seiner  Erfassung  das  Werk  des 
Genies,  in  seiner  Ausführung  aber  das  Werk  des  unter  dem  genialen  SchSpfer; 


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618 


V.  Valentin:  Mephiitapliel««  and  BrdgviiL 


trieb  gestaltenden,  das  Eüuseliie  init  klarater  BeBonneiiheit  prfifenden  und  wr 
jedMD  AvawneliB  bewalirendeii  Ettnetlera.  So  aebafft,  dnrdi  ftat  swei  Jahre 
Ton  dem  peraonlicheii  Erlebnie  getrennt,  Goethe  daa  in  ihm  aelbetandig  ge- 

vordoiK',  von  seiner  Person  getrennte  Motiv  mit  änAerster  Folgeriehti^Eeit 
nach  dem  in  dem  Motive  selbst  liegenden  Keime  und  ans  der  organismua- 
geetaltendcn ,  schöpferischen  eigenen  Kraft  heraus,  die  das  Kunstwerk  als  ein 
natürUchea  Weiterwachfien  eines  Gliedes  seines  Wesens  erscheinen  läfst.  Ist 
Goethe  deshalb  Werther V  Er  ist  es  so  viel  und  so  wenig,  wie  Goethe  Faust 
iat  In  beiden  dii^tariadian  G«alalten  ateekt  ywSoB,  «aa  Qoo&a  ab  Godihe  ge- 
ftblt  und  gedacht  bat}  aber  beide  diditeriaehe  Oeatalten  haben  Tielea,  waa  aie 
nur  als  Fana^  ala  Werther  haben  fühlen  and  denken  kSnnen:  Fanat  nnd  Wettiimr 
«ind  aie  Tielmehr  erat  gerade  dadurch  geworden,  daSn  der  Dichter  das  Eigene 
dem  neuen  Keime,  dem  künstlerischen  Motive  untergeordnet  nnd  dieaea  daa 
hat  werden  lassen,  was  es  ala  selbständiges  Gewaclis  seiner  eigenen  eingeborenen 
Natur  nm-h  wt'rden  mufste:  diese  dem  Keim  eingeborene  Natur  aber  unabhängig 
von  des  Üu  Itters  eigener  Natur  sich  auswaehsen  lassen  zu  können ,  das  ist 
eben  Sache  des  Genies.  Mau  erklärt  also  nichts,  wenn  luau  sagt,  Faust  oder 
Werther  oder  Taaao  iat  Ooetbe,  ao  wenig,  wie  wenn  man  bebanptet:  Qoethe 
iat  Werther,  iat  Fanat,  iat  Taaao.  Qoeliie  iat  nelea  davon,  aber  er  iat  eiiMr^ 
aeita  nicht  allea  und  iat  andieraeita  weit  mebr;  Wertiier,  Flanai^  Taaao  aind  nicht 
Goethe,  aber  aie  sind  vieles  von  ihm  und  sind  auch  wieder  viel  mehr.  Es  bat 
einen  Sinn  zu  erforschen,  wie  weit  die  sich  teilweise  deckenden  Kreise  zu- 
sammenfallen —  ob  es  grofsj  Ti  Wert  hat,  ist  eine  andere  Frage;  sicherlich  aber 
ist  es  methodisch  nicht  richtig,  von  einer  solchen  Behauptung  auszugehen,  ohne 
erst  die  Grenze,  wo  das  Zusammenfallen  der  Flachen  aulhört,  ganz  gt^uau  su 
bestimmen. 

Aber  aelbat  wenn  der  Fanat  dea  Ur&natea  Qoeth«  wire,  ao  wftrde  daa 
noch  nicht  gmng  sagen,  nm  darana  Folgerungen  auf  die  Anageataltang  dea 
Planee  oder  anf  deeaen  spätere  Änderung  an  aiehfin.   Der  Fanat  de«  ür&natea 

ist  doch  nicht  nur  der  Faust  des  Monologes:  er  ist  doch  auch  der  Faust  im 
Verkehr  mit  Wagner,  der  Faust  in  Auerbachs  Keller,  der  Faust,  der  Gretchen 
zn  Grunde  richtet  —  ist  das  auch  allea  Goethe?  Und  ist  er  es  nicht,  was  hat 
diü  Gleiclisctzung  von  Faust  nnd  Goethe  für  Wert  für  das  Verständnis  des 
dramatischen  Ausbaues?  War  aber  der  Dichter  des  Ur&astes,  selbst  wenn 
wir  annehmen  woIlteD,  aein  Famt  dea  Uonologea  aei  identiach  mit  Goetke^  im 
atande,  aeine  diehteriache  Geetaltnng  Fanat  eo  Ton  aioh  absnlBaen,  dieaen  ao 
nach  der  ihm,  dem  Fanat,  der  dichteriaehen  Peraon,  innewohnmden  Nator 
objektiv  weiterangestalten,  ist  es  dann  möglich,  dafs  Goethe  durch  seine  all> 
niählit  h  eingetretene  innerliche  Umgestaltung,  dnrch  die  er  dem  Faust  im  Urfanat 
rieht  mehr  gleich  war,  an  der  Weiterftihning  seines  ursprünglichen  Plan» 
gehindert  worden  sein  soll,  er,  der  schon  in  den  vorhandenen  Teilen  dieses 
Ürplanes  sich  so  gründlich  von  der  Gleichung  Fangt  •=  Goc^the  entfei-nt  hatte? 
Und  diese  innerliche  Umgestaltung  Goethes  tritt  obendrein  erst  im  Laufe  der 
Jahre  ein  —  waa  bat  dam  Qoethe  in  Frankfurt,  in  den  eraten  Weimarer 


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V.  Yalentiit:  Mephiatopheies  und  Erdgeist  619 

Jahren  abgehalten,  adne  Di^iung  an  vollenden?   Der  Gnuid  mti6  also  auf 

einem  anderen  Oebiete  Hegen. 

Aber  welcher  war  denn  nun  dieser  'ursprüngliche  Plan"?  Zunächst  hätte 
man  wohl  zu  fiagcn,  ob  Gf)C'th('  wirklich  'von  vorneherein'  einen  'Plan'  gehabt 
hat,  in  dem  er  sich  in  dcntlichpii  Zügen  den  ganzen  Verlauf  der  Handlung 
klar  gemacht  hätte,  oder  ob  es  nicht  vielmehr  eine  sehr  allgemein  gehaltene 
Ansicht  über  eine  Reihe  von  Abenteuern  war,  wie  sie  sich  ihm  zunächst  aus 
der  Überlieferung  ergeben  mnfirte:  w  Urfc  es  nur  natürlich,  daTe  anoih  Helena 
bereite  der  frfiheeten  Zeit  angehSrt,  selbetveratbidlicii  nur  in  der  Ahaicht,  eie 
auftreten  an  lassen,  nicht  in  der  Art,  wie  er  sie  später  wirklieh  auftreten  liers. 
Dieser  letzteren  Anschauung,  die  mir  die  wahrscheinlichste  nicht  nur,  sondern 
auch  die  natürlichste,  die  mit  dem  stümii.schen  Wesen  des  jungen  Goethe  am 
uieisteii  filx  rrirntinimende  erscheint,  wird  durch  den  Urfuust  nicht  etwa  wider- 
sprochen; .vie  «tinunt  vielmehr  allein  zn  der  GeHtaltung  dieses  Fragmentes. 
Ohne  sich  viel  um  den  Zusammenhang  der  einzelnen  Glieder  der  Hundlung  zu 
k&mnem,  «chalft  der  Dichter  das,  waa  ihn  gerade  am  mmaten  paekt:  wenn  der 
Anadnch  'die  Teile,  an  denen  er  innerlieh  beteiligt  war'  eben  dies  beaeichnen 
soll,  80  kann  ich  ihn  gelten  laaaen;  meint  aber  Bminier  damit,  da&  diesea 
'innerlich  beteiligt  Bein'  der  Gleichung  Faust  =  Goethe  entspringe,  dafil  also  damit 
die  Teile  gemeint  seien,  in  denen  Faust  und  Goethe  identisch  wären,  so  halten 
mich  Faust  in  AncrhiichH  Keller.  Faust  der  Yernichter  Gretchens  sehr  ent- 
schieden von  dieser  Gleichstellung  ah.  Sagen  wir  also:  die  Teile,  die  den 
stürmischen  Dichter  teils  dnrcli  ihre  Derbheit,  teils  durch  ihre  tiefergjeifende 
Zartheit  und  LeidenschaftlichiieiL  um  ert>teu  zu  küustlecischer  Darätelluug  reizten. 
£8  läfbt  sieh  damit  sehr  gnt  Terbinden,  dafii  der  Dkhter  Aber  die  Heratellung 
dee  Znaammenhanges,  also  vor  allem  die  Art,  wie  Mephistc^helea  sich  mit 
Faust  Tereuugeo  sollte,  eich  noch  keineswegs  Uar  war,  und  dafii  er  das  ruhig 
der  Zukunft  Uberliefs.  Es  läfst  sich  aber  aneh  yeratehen,  wie  Goethe  den  ao 
gemachten  Anfang  nicht  fortführen  mochte  —  was  konnten  die  Abenteuer 
nach  der  Gretchentragödie  noch  Reizvolles  haben,  nachdem  er  «len  Zauhcr- 
schabemack  so  charakteristisch  und  die  Liebesleidenschaft  so  ci  ^i  '  liV'nd  ge- 
schildert hatte?  8o  muTöte  ein  Fortfuhren,  das  auf  dem  einfachen  Anumander- 
reihen  im  Weaen  gleichartiger,  nur  in  der  Erscheinung  verschiedener  Abenteuer 
beruht  bitte,  ttttterbleiben:  es  ist  auch  filr  alle  Zeiten  unterblieben,  denn  als 
sieh  Goethe  emstlieh  an  eine  Fortführung  machte,  geschah  dies  auf  Grund 
einer  gänzlichen  Umgestaltung,  durch  die  die  einaelnen  Abenteuer  zu  organi- 
aehMi  Gliedern  einea  kfinstlorlschen  Ganzen  wurden:  erat  seit  diee«r  Zeit  kann 
man  wirklich  von  einem  Tlane'  Hpreclien. 

Bruinier  geht  aber  von  der  ihm  als  selbstverständlich  erscheinenden  An- 
nahme aus,  dal's  S-on  vorneherein'  ein  Plan  viirbanden  gewesen  sei,  dessen  Be- 
folguug  die  Abrunduiig  eiues  künstlerischen  Gau/xu  ermöglicht  hätte.  Nimmt 
man  daa  an,  ao  iat  es  ganz  folgerichtig,  diesen  ursprünglichen  Plan  ergründen 
an  wollen.  Bruinier  erkennt  sehr  richtig,  dals  dieaer  Plan  seinen  Angelpunkt 
in  dem  Yerluatnia  des  Mephiatqphelea  au  Faust  haben  mxikx  dieses  an  er- 


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I 


()20  V.  Valentin:  Mepkisto^ele«  and  Erdgeist. 

gründen  ist  daher  Min  eifrigstes  Bemflhon.  Er  geht  von  der  gleichfälls  rich- 
tigen Voraussetzung  aus,  dafs  Faust  den  Mephistopheles  für  den  Sen«lling  des 
Erdgeistes  halt,  freilich  zunächst  in  der  falschen  Annahmo,  dafa  damit  die 
Auffassung  des  Dicht4?n?i  über  dieses  Verhältnis  identisch  sein  miisso  Will 
niun  iliiii  das  zugeäteheu  —  ich  kann  es  aus  den  dargelegten  iTrüuden 
nicht  zugestehen  — ,  so  ergiebt  sich  ihm  ein  sehr  klarer  Widerspruch:  'Der 
Erdgeist  ist  das  Leben;  wenn  er  sersiört,  »tstdrt  er  um  des  Lebens  wüleo. 
Der  TeuM  aber  ist  der  Tod;  wenn  er  serstSri,  snrstiSrt  er,  am  sa  serstören.' 
Brainier  sieht  nur  LSsnng  dieses  Widerspruches  nur  zwei  Moglidikeiten:  *£nt- 
weder  rnnfs  der  Brdgeisfc  wniedrigt  oder  Mcphistopheles  erhöht  werden.  Aber 
keines  von  beiden  ^ht  an.'  Er  will  nun  die  Schwierigkeit  damit  losen,  dafs 
Mephiatophelos,  wohl  wissend,  djil's  FiiiiHt  siib  auch  nach  seiner  ZurQckAvoisung 
durch  den  Erdgeist  doch  immer  noch  nach  diesem  sehnt,  Faust  unter  der 
Maske  sich  nähert,  ein  Sendling  des  Erdgeistes  zu  sein:  er  schleicht  sich  also 
durch  eine  LCIge  in  Fausts  VerbBnsD  ein:  damit  giebt  Bruinier  die  bis  dahin 
als  selbstrersündlich  gcmadite  Annahme  auf,  die  Meinung  Fansts  und  die 
YorauBsetsnng  des  Diditers  mOftte  identiBch  sein  ob  mit  voUem  Bewnlkt- 
sein  von  der  Sache,  wird  nieht  deutlich.  Jeden&lls  aber  gewinnt  er  dudurch 
freie  BewegWOig,  die  er  eifrigst  auszunutzen  bestrebt  ist.  Auf  Grund  dieser 
Annahme  versucht  er  nmadist  die  später  ausgeschiedone  kleine  Szene  des 
Urfaust:  'Liindstrai'se.  Ein  Kreuz  am  Wege'  und  die  Paralipomenu  G  und  7 
(W.  A.)  in  inneren  Zusammenhang  zn  bringen:  Faust  soll  erschi-eckt  akueu, 
Mephistopheies  aei  gar  uicht  der  iSendliug  des  Erdgeistes,  sondern  der  Teufel, 
und  dieser  bemh^  ihn  darttber;  gclegontUclL  Iflfle  M^histopheles  die  Maske. 
Als  Beweis  dafür,  daft  Faust  nieht  von  Tomeherein  weüs,  wer  sein  Geselle  ist, 
sollen  wir  die  Stelle  ans  Auerbachs  Keller  annehmen:  *Meita!  den  Teufel  rer- 
muten  die  Kerls  nie,  so  nah  er  ihnen  immer  ist':  hier  sei  Mephistoplieles  un- 
vorsichtig: *er  verrät  sich  zwar,  aber  durch  einen  Ausspruch,  den  er  absichtlich 
auf  Faust  selbst  exenij)lifizieren  will,  der  ja  auch  den  Teufel  nicht  sn  nah  ver- 
mutet'. Versteht  Faust  die  Exemplifikation,  Bi»  niufs  er  wissen,  dafs  er  den 
Teufel  neben  sich  hat;  weifs  er  dies  nicht,  ho  kann  er  die  Exemplifikation 
nicht  verstehen  —  wie  stimmt  das  zusammen?  Mir  scheint  die  Stelle  sehr 
Uar  sn  sagen,  dab  Faust  ganz  genau  weifs,  wer  sein  QeeeUe  ist,  und  dals 
darauf  fobend  sich  Mephistoph^  mit  Faust  Aber  die  Stadentem  Inatig  madii 
Brainiw  entwirft  nun  recht  interessant,  wie  Wielleidit'  Gtoethe  sich  'die  grofse 
Lücke  nach  der  Wagnerszene  zurechi^legt'  hat  und  kommt  zu  dem  Ergebnis: 
*Nach  dieser  Fassunf^  des  Problems  ist  Faust  zwar  der  TTeld  des  Drama«, 
Mcphistopheles  aber  der  Iliitidelnde  [was  freilich  schon  zu  dem  Auftreten  Fau^t« 
in  Auerl)!iehs  Keller  gerade  im  Urfauyt  nicht  stimmt!].  Dadurch  geht  die  Ein- 
heit der  iliindluug  in  die  Brüche.  In  diesem  künstkriachen  Fehler  des  Urfaust 
liegt  der  eigentliche  Grund  fOr  die  addiebliche  Aufgabe  des  ursprUngliehen 
Phmes:  im  neuen  der  dritten  Arbeitsseit  steht  Faust  im  Mittelpunkt  aodi  ßat 
Bandlnni^  und  die  Umgestaltungen  des  alten  F^oblnns  sdueiben  «ch  deutlich 
Ton  dieser  Änderung  her.'   Diese  Behauptungen,  ebenso  wie  die  nun  weiter 


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T.  TalAotin:  MttpbiBiophfllM  und  Erdgeist 


621 


dem  'eigpntlirh  Handelnden',  dem  Mephistoplielcs  zugeschriebenen  Aufgaben 
»teilen  uud  fallen  mit  der  Hypothese,  dals  Mephistopheles  die  Ma»kc  eines 
ScotOingB  dca  ürdgeutaa  annimmt  and  trob  einsdner  Lflftnngen  auch  bei- 
behilt,  nnd  ebenso  geht  ee  natllrUdi  auch  mit  der  Entwictelung^peflohidite 
des  zweiten  Flanee  «u  dem  enten.  leb  eebe  nun  nidit  den  geringsten  AnbaU»- 
punbi  ftr  die  Annahme,  dafs  Mephistopheles  im  ürfaust  sieb  für  etwas  anderes 
giebt  ab  er  ist:  Bruinier  selbst  drückt  dies  sehr  kräftig  und  entschieden  aus: 
T)er  Mephistopheles  des  ürfaust  ist  der  Teufel  ohne  Feij^enblatt.  Nur  das  ist 
der  Mephistopheles  der  Szene  ^Trüber  Tag.  Feld»,  nur  das  i^t  der  Mephisto- 
pheles, vor  dem  Gretchen,  der  ahnungsvolle  Engel,  erschauert,  den  sie  auch  in 
der  Nacht  des  Wahnsinns  nicht  mlTskennen  kann.'  Und  nur  Faust  soll  darüber 
im  ÜnUArrai  bleiben,  soll  in  eben  der  Snne  *Trüber  Teg.  Feld*  Mephistopheles 
nodi  all  den  seine  Ifaske  mit  voller  Wirkong  iaragenden  scheinbaren  Sendling 
des  Erdgeistes  bebandeLn  und  nicht  merken,  mit  wem  er  es  sn  thun  hat? 

Wenn  Bruinier  es  für  möglich  hält,  diif>  M*  pbistopheles  zu  Faust  in  der 
Maske  eines  Sendlings  des  Erdgeistes  tritt  uiul  somit  nach  des  Dichters  Yornns 
Retznnj;  vom  Erdgeist  nicht  geschickt  worden  ist,  so  stellt  er  sieb  damit  tbat- 
sächlich  auf  den  Standpunkt,  dals  Fausts  Meinung  und  des  Dichters  Voraus- 
setzung nicht  identisch  zu  sein  brauchen,  ohne  sich  freilich  klar  über  dienen 
wichtigsten  Punkt  ansaiupredien.  Ist  er  aber  dieser  Ansieht^  wäre  es  da  nieht  • 
das  Einfachste,  auf  diesem  Wege  weitravagehen  ond  die  richtige  Konsequenz 
an  siehen?  Kommt  Mephistopheles  nur  in  der  Maske  eines  Sendlings  des 
Erdgeistes,  so  mufs  der  Grund,  sich  Faust  zu  nähern,  in  Mephistophelee  selbst 
liegen:  der  Teufel  geht  ja  seiner  Natur  nach  darauf  aus,  Seelen  zu  fangen; 
zudem  aber  stehen  wir  damit  ganz  auf  dem  Boden  der  niittolaltcrlichen  Uber- 
lieferung, von  der  sicli  Goethe  im  ürfaust  in  den  Grundvoraussetzungen  noch 
nicht  entfernt:  der  Teufel  kommt  atis  eigenem  Interense,  nähert  siih  voisicbtig, 
zuerst  in  liundsgestalt,  giebt  aicli  daim  aber  als  das  zu  erkennen,  was  er  ist. 
Faust  nimmt  dabei  irrtOmlidi  au,  Mephistopheles  sei  Tom  Erdgeist  abgesandt, 
und  Mephistopheles  tbut  nichts,  ihm  diesen  Olaubeo  m  aerstdren,  aber  auch 
nichts,  um  sls  solch«  Al^jesandter  zu  gelten:  er  macht  in  keiner  Weise  Hehl 
aus  seiner  Nut  ;r  Goethe  benutzt  also  auc])  hier  schon  das  dem  Dramatiker 
80  günstige  Mittel,  eine  Persönlichkeit  des  Dramas  nach  ihrer  eigenen  An- 
nahme handeln  zu  lassen,  während  diese  Annahme  mit  der  Voraussetzung  des 
Dichters  über  das  thatsächlirhe  Verhältnis  der  Dinge  nicht  zuRaminenftiuimt. 
Für  die  Entwickelujig  der  Persönlichkeit  tles  Dramas  ist  es  von  gröfster  Be- 
deutung, dafs  sie  selbständig  und  auf  eigene  Verantwortlichkeit  hin  handelt. 
Diese  Selbsiftndigkeit  spricht  sidi  dem  eingeweihten  Miterleber  der  Handlung, 
der,  selbst  außerhalb  stehend,  sie  beobaditet  nnd  auf  sich  wirken  UUst,  gerade 
durch  ein  solches  VerbSltnis  Ton  Tomberein  sehr  gut  aus:  die  dramatisdie 
Persönlichkeit  geht  einen  mit  den  Thatsachen  nicht  übereinstimmenden,  also 
(>!)iektiv  falschen  Weg  —  es  ist  aber  ein  eigener  Weg,  den  sie  kraft  Huer 
Selbständigkeit,  kraft  der  Bethätigung  ihrer  figenon  Meinung,  ihres  eigenen 
Willens  einschlägt.    Es  wird  dies  zugleich  ein  vortrettliches  Mittel,  unsere 


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Y.  yalflBtu:  MaphirtophelM  and  £rdg«ist. 


Sorge  illr  iie  m  ermken  veeA  UMh  sn  halten.  Famt  giebi  nch  nun  um  m 
leichter  der  Fitbraiig  des  HephittophdiM  bin  ghiiibt  er  doch  sn  «iieeii, 
dafii  er  dab^  noch  tmter  der  Obhut  des  ihm  ^mpaihiflGhea  Geiotee  etehtf  der 

ihn  wQrdigte,  ihm  zu  erscheinen  und  der,  wenn  er  ihn  üuch  persönlich  von 
•ich  zurückstieffl,  nach  Fausts  Annahme  doch  noch  hilfebereit  über  ihm 
wanlit.  Mt  phistopheles  widerffpricht  dem  nicht,  da  Faust  ihm  so  nur  nm  so 
williger  folgt:  er  hat  aber  keinen  Grund,  selbst  diese  Lflgenrolle  zu  s])ielt^r.. 
weil  Fauste  Annahme  schon  ohne  sein  Zuthun  erfolgt.  Damit  fällt  aber  auch 
der  ganze  kOnstliche  Plan,  den  Bruinier  auf  Grand  des  tob  Sun  angenommenen 
YerhaltenB  der  Haekerade  dei  Mephistophfdea  eieh  anfbanen  lilat  Er  geht 
dabei  too  dar  VonuueefaEang  ans,  dab  Fauat  mn  ^erroUkonumiiingpddl* 
eratrebt:  Mephietopheles  sucht  ihn  von  diesem  abzuziehen:  'so  hutge  Fanet  ndi 
sn  vwTollkommnen  bestrebt,  kann  ihm  der  Teufel  nichts  anhaben,  m^  er  auch 
noch  so  tief  in  Schuld  verfallen;  erst  wenn  er  nuf  sein  Streben  verzichtet,  i-^t 
er  die  3iehere  Beute  des  Bosen'.  Hier  wird  iinge}>li(.he  Plan  des  Mephisto 
pheles  im  Ürfaust  doch  wohl  sehr  gründlich  von  dem  (iesang  der  Engel  jun 
Schlüsse  der  Faustdichtung  *Wer  immer  strebend  sich  bemüht'  beeinflul'st:  im 
Ur&ost  findet  aieh  Ton  dieawn  YerroUkommnnngsziel  noch  nichts.  Brninier 
nimmt  daher,  um  dieeee  Streben  Fbnsts  SQ  erweisen,  die  Verse  des  'Frsomentes' 
•  an  BüU^  'die  ihrem  gMucen  Ton  nach  alten  Ursprungs  sein  mOss«!*,  was  frei- 
lich nicht  zu  der  früheren  Behauptung  Bmisiers  stimmt^  'dafs  der  sogenannte 
«Urfaust»  enthalt,  was  in  ihm  [dem  ersten  Zeitabschnitt  der  Abfassung,  der 
'mit  der  Wende  der  Jahre  177ryTj  besclillefst']  erreicht  worden'.  Aber  es  ist 
sachlich  nicht  unmöglich:  die  Wahrscheinlichkeit,  dafs  der  Urfaust  v.nr  die 
einen  gewissen  Ab.'^chlnrs  in  sich  biet<'nden  und  daher  zum  Vorlesen  oder 
Vorzeigen  geeigneten  Szenen  enthält,  habe  ich  schon  zugegeben  —  in  diesem 
besonderen  Falle  halte  ich  es  nieht  filr  richtig;  aber  mSgen  aoi^ehst  die  frag- 
lichen Worte,  die  erst  im  Fragmente  von  1789  stehen,  ftr  alten  Ursprunges 
gdten,  und  sehen  wir,  wss  darans  folgt  (jeiat  Vers  1770  ff.).  Brninier  fthrt 
sie  an,  um  zu  ze^sn:  Der  theoretische  Wissensdrang  hat  Fanst  an  der  Er^ 
lemnng  des  Lebens  und  so  an  seiner  Vervollkommnung  gdiindert;  um  voll« 
hommener  werden  zu  können,  muf;^  er  daher  zu  leben  lernen: 

1770  Und  wa.s  der  pnnzcn  Menschheit  '/.upetellt  ist, 
Will  ich  in  iiieinciii  inneru  Sell)Ht  genielsen, 
Mit  meinem  Geist  das  Höchst'  und  Tiefbte  greifen,. 
Ihr  Wobl  und  Web  auf  meinen  Busen  hftufen, 

1774  Und  80  nwm  mgen  Selbst  sn  ihrem  Selbst  erweitem.' 

Sehr  sohOn  —  wenn  es  nur  so  im  Frsgment  von  1789  hiebe!  IWese  Worte 

sieben  allerdings  da,  aber  mit  'erweitern*  schlie&t  der  Satz  nicht.  Ist  es  nun 
methodisch  richtig,  innerhalb  eines  Ausspruches  willkürlich  Halt  zu  machen 
und  durch  Weglassung  des  Schlulsgedankens,  nuf  den  der  Gedankeufortschritt 
überhaupt  abzielt,  nur  die  Einleitung  von  dem  z,u  geben,  was  der  Dichter  seine 
dramatische  Person  sagen  IhIhI,  und  darauf  Folgerungen  aufzubauen?  That- 
BachUch  heifot  der  Schlols  bekanntlich: 


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T.  VUentiii:  H^bittoplMlM  und  Erdgdat. 


623 


1773  Ihr  Wohl  und  Web  auf  meinen  Busen  häufen, 

Und  M  mein  eigen  Sellffit  m  ihnm  BellMt  erweiten 
I77ft  ünd,  wi«  ta»  selbat,  am  End'  ftuch  idi  mnehMteml 

AuB  diMem  Auibradi  liScliater  Ymwdflimg  ISIkt  lidi  das  Streben  nach 
BelbfltvwfvdllHHnmnni^  dnroh  Eilariiung  dea  Lebena  in  keiner  Weise  beraiia^ 

leeen.  Bruinier  erMlt  aber  dadurch,  dafs  er  mitten  im  Satze  vor  der  letsten 
Zeile  Halt  macht  und  durch  ein  Punktum  den  Gedanken  als  abgeschlossen 
hinstellt,  den  Hinweis  auf  ein  VerToUkommnungsziel  unter  Beiseitesetzung  der 
Verzweiflung:  daraus  ercriebt  sich  nun  gerade  das  Gegenteil  von  dem,  was  ge- 
sagt wird,  wenn  man  i^aust  ruhig  aussprechen  läfst.  Bruinier  folgert  nämlich 
im  Anwchlnf«  an  die  Torletete  Zeile  (1774)  'Und  so  mein  eigen  SelbBt  zu 
ihrem  Selbat  erwatem*:  'Dm  iat  der  ftete  Entachlnb,  die  Yenweiflung  ab- 
macbftttehi  ond  mit  der  Tha^  mitten  im  Leben  atehendy  an  erproben,  was  mit 
Oedanken,  im  dumpfen  Studierzimmer,  nicht  ging:  die  Srkuignng  der  Gleich^ 
heit  der  Ziele  mit  dem  Erdgeist  in  der  Schule  des  Lebens/  Das  lielae  aidi 
hören,  wenn  Fanst  damit  schlösse:  kommt  aber  Vers  1775  dazn,  so  wird 
es  unmöglich,  in  der  Verzweiflung  zerscheiteru  zu  wollen  und  dabei  doch 
mitten  im  Leben  stehen  zw  bleiben  und  bolie  Ziele  im  Leben  zu  erreichen! 
Das  ist  also  verfehl^  und  wir  müssen  bei  der  ihutsache  bleiben:  im  Urfaust  ist 
Tvm  dnem  aolchen  VerrollkommimngaBele  Fauata  nieht  die  Bede,  ond  wSre 
es  aaeh  nidht,  wenn  man  die  Yerae  1770 — 75  noch  ihm  xmitredien  wollte, 
nnd  aomit  Icann  aaeh  Ifephiatophelea  nicht  darauf  anagehen,  Fanst  durch  Ab- 
lenbing  von  diesem  Ziele  sn  gewinnen. 

Worauf  aber  geht  er  denn  nun  aus?  Ganz  offenbar  tmd  ganz  einfiich  auf 
das,  was  in  der  Faustsage  der  Teufel  will:  die  Seele  Fausts  gewinnen,  imd 
wie  dort,  dadurch,  dafa  er  dem  Faust  dtirch  die  auf  ihn  Übertragene  Zaub«'r- 
kraft  seine  Wünsclie  l)efriedigt  werden  läXst.  Und  liier  tritt  nnn  der  gewaltige 
Unterschied  mit  der  zweiten  Diditung  seit  1797  ein.  Im  Urfaust  mufs  wie  in 
der  Sago  <lw  Teufel  die  einzelnen  Wfimiohe  befriedigen  und  erfDUt  dieae  Auf- 
gabe auch:  aeiD  Ziel  enrdcht  er  dadurch,  dafs  dieae  Aufgabe  eine  im  voraua 
beatimmt  ÜMtgeaetate  Zeit  hindnieh  erfBUt  wird  —  iat  die  Zeit  um  und  iat 
die  Bedingung  atets  erfüllt  worden^  so  veifällt  Fausts  Seele  dem  Teufel.  Kann 
dieser  einen  Wunsch  Fausts  nicht  erfttUon,  so  ist  auch  Faust  seinerseits  seiner 
Verpflichtung  enthoben,  so  kann  er  mit  vollem  Kechte  zu  Mephistopheles 
sagen:  'Und  das  sag  ich  ihm  kurz  und  gut:  Wenn  nicht  das  süfae,  junge 
Blut  Heut'  Nacht  in  meinen  Armen  ruht,  So  sind  wir  um  Mitternacht  ge- 
schieden.' Gerade  diese  Anlage  mit  dem  entscheidenden  Gesichtspimkte  der  im 
Toraua  feaigeaetzten  Zeit  awang  den  Dichter  dum,  eine  Fülle  tou  Abenteuern 
SU  geb«i,  die  alle  ^dmüUaig  zu  einer  Befriedigung  Fanata  geführt  hStten: 
die  Grause  wäre  nicht  durch  einen  inneren  Prozeia  in  Fauat,  aondem  rein 
aulserlich  durch  den  Ablauf  der  festgesetzten  Zeit  gegeben  gewesen  —  daa 
mulste  Goethe  widerstehen,  zumal  nach  der  weit  über  die  Grenze  eines  Aben- 
teuers hinans(gewachsenen  Grof'  heniragödio,  nach  der  jedes  Ereignis,  das  zum 
Charakter  eines  flüchtigen  Abenteuers  zurückgekehrt  wäre,  klaglich  hätte  ab- 


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624 


T.  Valcotin:  IlephittoplMilea  and  Erdgeiai 


fidko  mflneiii  und  so  l&bt  er  die  Feneldiehtung  liegen,  uns  et  dun  'ewigen 
Juden'  liegen  liefii)  dnr  eben  eodi  im  weeentliefaen  nur  eine  Eeibe  von  Badern 
gegeben  Ütle:  denn  die  Wiederkehr  Chrieti  vire  gleiclifidli  von  eoben  her 
eingetreten,  nidlt  aber  Jurcli  einen  inneren  Prozefs  Ahasvers  erreicht  worden. 

Gans  anders  in  der  Dichtung  von  1797.  Hier  handelt  es  sich  oxn  eine 
einmali<^,  aber  endgiltige  Befriedigung  des  an  der  Möglichkeit,  t  ino  aoli  h» 
Befriedigung  erlangen  zu  können,  verzweifelnden  Faust:  ist  diese  flennoeli  iiml 
wider  Hoia  Erwarten  eijigetreten,  so  ist  er  bereit,  dem  Teufil  drüben  zu  Dieuste 
zu  »ein,  so  wie  dieser  ihm  hüben  gedient  hat.  Damit  erhält  die  Handlung  ein 
gans  neues  Sei:  Heplustophelee  muüi  eioli  nun  Vemfihoi,  Eeuet  diee«i  Augen- 
blick hdchster  B^edigung  su  bereiten:  ist  er  geeeheitwt,  so  nrals  er  tou 
neu«n  beginnen:  die  Notwendigkeit  einer  Folge  von  Eriebnuseii  Frasls  UeiMy 
der  zeitliche  Zwang  eines  yorausbesiinunten  Abi^cblusses  fallt  jedoch  fort.  Da 
nun  aber  Mephistopheles  nur  Werkzeug  in  der  Hand  Gottes  ist,  der  ihn  selbst 
auf  Faust  hingewiesen  hat,  um  diesen  ins  thiltige  Leben  und  damit  zu  einer 
inneren  Entwickelung  zu  bringen,  so  kann  dem  Biniühen  von  Seiten  des 
Mephistopheles  ein  innerer  Prozefs  bei  Faust  parallel  gehen.  Mephistopheles 
reilst  Faust  fast  mit  Gewalt  ins  thiltige  Leben:  aber  der  an  der  Möglichkeit 
der  Befriedigung  venweifelnde  Faust  kann  vor  allen  Dingen  an  dem  Sdiaber- 
nack  keine  Befriedigung  finden,  in  dem  sich  Hephistoplidee  so  wohl  Ittlilt:  so 
foppt  nun  nicht  mehr  er  selbst,  wie  im  Ur&ust,  die  Studenten  in  Auerbacha 
Keller,  sondern  Mephistophelee  thut  es,  in  der  Ho£fhung,  Faust  werde  an  solchen 
Späfsen  Befriedigung  gewinnen.  Sein  zweites  Mittel,  die  Geschlechtslust,  weckt 
in  Ffii:st ,  der  durch  sein  Herz  weit  üh>'r  das  Zie!  des  herzlosen  Abenteuers 
hinausgezogen  wird  --  so  gewinnt  (ijes  Motiv  hier  seine  Berechtigung,  die  im 
Urfaust  fehlt  — ,  wider  den  Willen  des  Mephistopheles  einen  Keim,  der  nicht 
mehr  au  Chnmde  geht  Die  Einführung  am  Kaiserhofe,  die  Faust  nach  dem 
Sinne  des  UephistophelM  nur  Freude  an  der  Yerwendung  der  &uberkraft  und 
dadurch  Befriedigung  TersehafflBn  soll,  dient  in  WirUidikeit  daau,  in  Paust  das 
Bewubtsein  zu  erwecken,  dafs  er  selbst  handeln  und  seinen  eigenen  Weg  gehen 
kann:  da  erfolgt  der  Umschlag,  und  Mephistopheles,  der  bisher  die  Führung 
hatte,  sinkt  mehr  und  mehr  zum  Ausftthrer  des  Willen?;  Fausts  henib,  während 
Faust  sich  zu  immer  höherem  Handeln  aufrafft:  es  fülirt  ihn  auf  das  ästlieti.sche 
und  endlich  auf  das  ethische  Gebiet,  wo  er  durch  sein  Streben,  nicht  durch 
Mephistopheles,  uud  mit  HiKe  der  Phaataäic  vveuigstuns  da»  Vorgefühl  des 

hödisten  Ziels,  der  ToUen  Befriedigung  gewinnt,  und  schon  in  dksem  Yor- 
gef&hle  erlebt  er  jetat  den  höchsten  Augenblick:  da  stirbt  er,  und  die  Engel 
kSnnen  ihn  Ton  der  Verdammnis  retten  und  in  den  Bimmd  führen,  ihn,  der 

immer  strebend  sich  bemüht  hat:  so  kann  seine  Seele  die  Läuterung  durch- 
machen und  zur  höchsten  Seli^roit  durch  die  Yermittclung  der  Gnade  zu- 
gelassen werden.  Die  Handlung,  in  deren  Mittelpunkt  ausschliefslich  Faust 
steht,  gliedert  »ich  so  natiirgeniafs  in  zwei  grofse  Teile:  den  einen,  indem  der 
Genul's,  der  zur  Befriedigung  führen  soll,  von  auisen  an  Faust  herantritt  und 
den  Menschen  mit  Leidenschaft  im  Zustande  seiner  Dumpfheit  erfalst:  noch  ist 


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Y.  YalcBtin:  UephiiiopbdM  uad  Krdgeifi. 


seixx  Zustand  so,  dais  er  zwar  den  dtnikuln  Druug  in  sieh  illhlt,  uIm  i  mm 
rechten  Wege  noch  nicht  dui\hg<  lirungou  ist.  Im  aweiteti  Tuilu  joduch  boKiitut 
das  MllMtSiuüge  Handeln  und  «irkt  daher  T<m  innen  nach  aulian:  dar  Uenula, 
der  jetrt  erstrebt  wird,  iat  der  ana  eigenem  Tbnn  entapringende,  der  Thaten- 
genuTs,  der  sich  mit  immer  klarerem  Bewulataein  seine  Ziele  aidbat  tuoht 
Eines  dieser  Ziele,  das  charakteristischeste,  vou  Anfang  un  am  meiNltMi  tind 
sichrrsten   fcststf-hendo,   weil  es  sich  an  den  Hchun  dtM*  ullnrorHlcn  Zrit  riit 
stammenden  EntschluiB  ansciilit^fst,  Helena  nuftntcn  zu  liiaHcn,  int  die  Hrh?5»i 
heit,  das  Erleben  des  ästhetisehea  Ideales;  duh  letütu  und  h'leliHti-  Ziel  ulx  i  iil 
der  Genuls,  der  durch  die  Thütigkeit  des  Schaffeus  erlangt  wird,  wiu  ihn  I'huhL 
dordi  ScfaaSmig  einer  neuen  Welt  thaiaiebliob  erreiebt:  der  fon  Innen  aua> 
gdiende  SdiafiensgenuTs,  das  Erleben  des  ethiichen  Idoalea.  Das  sind  die  swel 
Teile,  die  Qoetilie  sich  beim  Übergang  von  der  ersten  Dichtung  aur  aweiton 
in  grofscn  Zügen  skizzierte:  sie  stehen  in  dem  Paralipomonon  1     Kin  MifM 
yerstandnis  ist  die  Annahme,  dafs  die  hier  angegebenen  'IVü  1  und  Teil  2  mit 
den  zafallig  durch  die  besondere  Art  der  allmäJilieh" n  N'eröfl''  iitli<  Ijüripf  i'nl- 
standenen  Teilen  1  und  2  identisch  wären:  in  dem  l'ai!ili|)<»mi  ni»ji  1  han'li'lt  *.h 
sieh  um  eine  rein  astbetiHfhp,  dramaturgische  Teilung,  »">  'lal«       tunUi  <iru|»)»i^ 
bis  zu  deiu  Umschwung,  die  zweite  Uruppe  von  diesem  uti  geht.    lier  Um 
aebwung  hat  aber  mit  d«r  snfaliigcn,  dordi  da«  aUnibliebe  Bekanntmaeben 
notwendig  gewordenen  DmckteQung  gar  niebts  an  tbnn:  er  beginnt  da,  wo 
EVraat  snm  erstenmale  aelbaüadig  handelnd  auftritt,  wo  MepbiatopheU«  ge- 
stehen  muJb,  dala  er  aelbst  nicht  helfen  kann,  und  ho  Faur-t,  iM>hr  g'-g<'n  den 
Willen  seines  Gesellen,  selbit  bandeln  muf«:  e»  i^l  in  der  HvAtiHi  'l'mijt<?re 
Galerie',  wie  Faust  die  Erscheinungen  von  pHri«  »irtd  Helena  von  M'jJ.iäi*/ 
phele?  rerlangt  und  dieser  bekennen  muf«,  thtU  er  «le  nicht  bewulse«  itiinn, 
und  »ie  Faust  sie  dann  JM-Ibht  von  den  Mött'rm  holen  uinh.    AI«  Oo'-the  fUtii 
ersten  Druckteil  Ih^jH  erhcheineu  lieffe,  war  er  ekh  ^.Ur  wohl  Uswufct,  4ai» 
diea  nidii  der  iethetiaeh  'erste*  Teil  ael  I»  dm.  erst«»  Awrhif^u,  daa  «r 
Cotta  wegen  der  Xenberauagabe  der  Werke  ma«hl^  b«f  M  ea  in  d«m  Bridü;  w*m 
1.  Mai  1805  fftr  Band  X:  Yaost-KraipDent,  um  di«  Hilfte  r«r«i«brt':  da« 
l;nter?tri'-L^rje  gicrbt  da.*-  N»r„'r  dj»-i>er  Aufgabe  «n    G'Mije  gab  aleo  d«l  ißnwJk 
teil  1  dur<:hau«  ij'jr  al«  Fr<i'^jij*-j.t.  ur:»!  zwar  i/irhi  ai»-  ^-m  vAii:'-»:,  'K«  »-if.e  m 
sich  ar.>;^e?"-}-l'.'-^T.«r.  r'ri^tjv»:  E:.'.L':ii  }.t  inW-:  <Tt  j*t  v  Li<-' Lt/. Frag 

ment,  p.o  dbi*  mz::  r-i:A.^  zu  ij.-.t^r»^.}.»  .'i'.fj  \y*\:  f  .»u»-t  IT--'*  kl*  y'rit^^'ij*  '  *  I  , 
Faust  1  il^  Vr-A^'^-^^j'  X  2,  i*-5:.r^"-d  C'-r  A  vr.dr'-'.k  3^'/^  'i*-;!  1  ^tA  f  U 
nnd  Teil  t  imiuirr  wiit?d«r  ziu  4eiu  UtLirtmütAttiMttm  fübrt^  sj»  «ei  «• 

bei  Fanst  wk  U^i  WiIL<;jm  Mthtt^i  hJtr  ist  d«r         T^iJ  wiHsJ^ii  «tut  in 
aieb  nltxir  a*>g«kieLIoM«sift  DÄitvr,^,  die  avii  tbaf«Ä»i<JJ«ii  voo  Ai;iEwLg  a«  «ife 
i^^v»  eo'Jl«.        ii^Ä  »«*-;t*ti  T«J  **•  wtiuuM.'i**-ju«fir4art  er- 

für  ^j'.i  *      T'.ltA  -t  ^*  Gi-Z/»?*.    FaV'^  J>'-v<  tl*  '  3    v.'/  J>'-.v*.V-.j       »■.•-.d  .•  r.-l 


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626 


V.  ValeoUn:  Mephiiiopheles  und  ErdgetBfc. 


Gfrappen,  deren  relativer  AbschluTs  eine  ästhetische  Begründung  neben  der 
praktischen  hat:  die  Handlang  ist  bis  zu  dem  Umschwung  gelangt,  mii  dem 
Teil  2  beginnt.  So  ist  es  Lei  Faust  nicht  und  kann  auch  «mr  iiicht  so  sein, 
da  hier  der  Umschwung  mitten  in  der  Handlung  l)eim  Übei  l'uhj;  l  ineä  Ereig- 
nisses in  ilus  andere  liegt:  er  tritt  ein,  wie  die  Cäsur  im  antik«  u  Verse,  die 
einen  Yersfuls  selbst  zerschueidtit,  um  dadurch  den  Zusammenhalt  des  Vera- 
gaiiMii  nur  um  90  denflidMr  ffStiBMat  sa  machen,  wUumid  die  Dähwae  «im 
wirklidie  Treimimg  bmgi  Das  miiJlito  Sdiiller  bei  WaUenstein  amrendM, 
weil  bei  ihm  der  prakÜBche  GesLchispiiDkt  hinnikamy  dnieh  dieae  Treonoiig 
die  Allfitthmng  auf  zwei  Abende  yerteilen  zu  können:  für  die  TngodiA  'Fanale 
^ielt  dieser  Gesichtspunkt  in  keiner  Weise  mit. 

Dn8  Paralipomenon  1  deutet  die  Hamllnnrr  an  bis  m  HptfimjT  Fausts: 
McphiatopbolcK  muls  sich  besiegt  und  in  semer  Hoffnung  getauscht  in  die 
Hölle  zurückziehen  und  spricht  seine  Gedanken  über  sein  MiTsgeschick  in 
einem  ^Epilog  im  Chaos  auf  dem  Weg  zur  Hölle'  aus:  in  der  auBgefUhrten 
Diditnng  entspricht  dieeer  Abeicht  die  Stelle  V.  13:  es  aind  die  SohlnCi- 

Worte  des  Mephiatopheles,  ehe  er  eich  in  den  'greulichen  HSUenrachen'',  dar 
sich  *links*  aufgeihan  hat,  flflchtet,  nachdem  er  aein  Spiel  yerloren  hal  Das 
MotiT,  dala  M^hiatopheles  epilogisieren  soUte,  ist  indessen  nicht  ganz  verloren 
gegangen:  am  Schlüsse  des  Helenadramas  legt  Mephistopheles  seine  Maske  als 
Phorkyas  ab  und  'zeigt  sich  als  Mepkistopheles,  um,  insofern  es  nötig  wäre, 
im  Epilog  das  Stück  zu  kommentieren'.  Auch  dieser  Schlufs  des  Parali- 
pomenon 1  laist  deutlich  erkennen,  dals  Mephistopheles  nach  den  Voraussetzungen 
dea  IMiditera  thalaadilidh  ni^ta  mit  dem  Erdgeiat  an  thnn  hat:  geht  er  doch 
wieder  in  die  HdUe  snrttc^  aus  der  er  cum  Seelenftng  ausgezogen  war.  Und 
dennoch  iat  eine  aachliche  Beaiehung  awiaehen  Mephiatophdes  und  dem  Erd- 
geist  vorhanden:  aie  ergiebt  aich  aua  dem  Verlaufe  dea  Dramas  selbst.  Hb|^ 
Mephiatophelsa  nun,  wie  im  ür&uat,  auf  eigene  Veranlassung  und  Rechnung 
kommen,  oder,  wie  in  der  Dichtung  von  1707,  ausdrücklich  von  Gott  auf  Faust 
hingewiesen  und  zu  der  Versnchung  ermächtigt,  um  dadurch  nur  um  so  besser 
den  Plan  Gottes  mit  Faust  zur  Ausführung  zu  bringen  —  in  beiden  fallen 
mui's  er  zu  Faust  in  eiuem  Zeitpunkte  breten,  in  dem  Faust  seinen  Ver- 
lockungen zu^nglich  iai  80  lange  Faust  noch  hofien  kann,  dala  er  ?od 
hMieren  Gelstorn  ünteratQteung  aemes  Wisaeoadrangea  erlangen  lcBa%  ao  lange 
iat  ea  ganz  oaml^lich,  dala  eine  Teirloekong  ina  Leben  hinaus  irgendwie  Er- 
folg hatte.  Erst  wenn  er  von  den  höheren  Geistem  lurilf^estofsen  ist,  erst 
wenn  der  Weg  eines  Erkennens  des  inneren  Zusammenhanges  der  Welt  imd 
die  Hoffnung  auf  Befriedigung  dieses  höchsten  Strebens  aussichtslos  gescheitert 
ist,  erst  dann  hat  Mephistopheles  Aussicht,  mit  seinen  Vorschlägen  Gehör  zu 
finden.  Die  Erscheinung  des  Erdgeistes  veranlafst  somit  den  Übergang  des 
Erkenntnisstrebens  zu  der  Thätigkeit  in  der  Welt,  für  den  sonst  kein  hin- 
reichender Gh*nnd  Toxhanden  wSre:  gerade  dadnrdi  bildet  er  ein  gar  nicht  sn 
misaradea  Orhaä.  in  der  Entwi<^ung  der  Handlang.  Der  Erdgeiat  könnte  nur 
dann  fehlen^  wenn  der  Dichter  nicht  von  dnn  Erkenntniaatrebw  Fanata  aua- 


V 


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y.  ysIenUn:  Mephistopbelea  und  Erdgeist. 


627 


|!:ef?aTip;eTi  waro:  das  ist  aber  gerade  das  Eigenartigst«'  der  Goethischen  Diehtutif^ 
im  UrfaiL^t  sowohl  wie  in  der  Ncudiclitung  von  1797:  waa  dort  noch  als  Keim 
schluinmert,  dessen  Eutwickelung  dem  Dichter  noch  unerrpichbar  blieb,  blüht 
hier  zur  herrlichsten  Blume  auf:  die  höchste  Befriedigung  kann  nicht  durch 
JbkaiiMiL  der  Dinge  mfiexliAlb  dev  llMiiMihffii,  Kmdini  nur  durdi  die  Am- 
gwtalftung  des  innerhalb  dee  Mensehen  liegenden  BefldttigungsstrebenB  sa  einor 
naeh  anfsen  wirkenden,  aelbeUosen  TUitigkeit  an  Onneten  anderer  und  der 
Menschen  überhaupt  erreicht  werden.  Diesen  Übergang  von  dem  Streben  nach 
dem  intellektmilen  Ideal  zu  dem  Streben  nach  dem  etiiisehen  Ideale  bildet  aber 
die  Erscheinung  des  Erdgeiste?,  der  j^erade  durch  sein  Auftreten  und  sein 
Wirken  auf  Faust  ein  Beispiel  dafür  giebt,  wie  er  am  sausenden  Webstuhl  der 
Zeit  schaffend  in  dvr  Tlnit  der  Gottheit  lebendiges  Kleid  zu  wirken  verstt?bt. 
Und  wenn  auch  Fau^t  mit  »einer  Annahme,  Mephiätopheles  sei  ihm  vom  Erd- 
geiste  gesehiekt  worden,  im  Irrtom  ist  und  der  Votanssefanng  des  Dicbters 
enieprecbend  awischeo  beiden  Oeistem  kein  sadilidier  Znsaimnenbang  ist,  so 
steht  doch  das  Auftreten  dss  ICephtttof^eB  mit  der  Ersdieinnng  das  Erd- 
geistes TOm  dramaturgischen  Standjmnkt  au»  in  einem  SO  engen  ursächlichen 
Zusammenhange,  dafs  man  berechtigt  ist,  von  der  Entwickelong  des  dramatisehen 
Ganges  sn  sagen:  ohne  Brdgeist  kein  Mephiatophelea. 


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ANZEIGEN  UND  MITTEIL1INGEN. 


DIE  LEX  UANCIAKA. 

Gegen  Ende  dee  Jahr«i  1896  wurde  bei 

Hensrhir-Mpttisrh  im  Ragradaethale,  10  km 
von  Testur,  dem  antiken  Ticbilla,  eine  In- 
schrift gefunden  von  einem  Umfug  and  einer 
VoUstiLndigkeit  der  Erhaltung,  wie  ihrer  nicht 
viele  vorhanden  sind.  Lieutenant  PooUain, 
der  sie  bei  einer  topographischen  Streife  ent- 
deckte, liefs  sie  in  da«  Bardomufieum  von 
Tunis  schaffen,  wo  sie  von  Cagnat,  Gauckler 
und  Toutain  gelesen  wurde.  Waa  aie  ent- 
liftV-rn  1<onntcn,  veröffentlichten  yie  zuerst  mit 
einer  irani^üäiächeu  ÜLertietzuug,  dami  auch 
mit  einem  Kommentar  von  Toutain  in  den 
Crmpffs  rendua  de  VAcadhnie  des  in.^crijtiinm 
et  bdlcs  lettres.  «#r,  IV  t.  XXV  p.  UÖ  und 
io  den  M^moires  pr<!sente8  par  divers  sa- 
tmitn  n  TAcademie,  ser.  It.  XI  p.  1.  Doch 
ist  die  Kursive,  in  welcher  die  Inschrift 
■bgefiaTat  ist,  so  iflchtig  luil  der  Steitt 
an  vielen  Stellen  so  sehr  von  dem  an- 
gewehten Wflstensande  benagt,  daXs  «lie 
Leflung  der  französischen  Gelehrten  höchf^t 
UJlvolIstrmdig  h\'u'\>.  Auch  A  SVhii]t4'n,  der 
sich  mit  Hilfe  einer  rhoto^uphie  und  eiues 
Abklatsches  zum  zweitenmal  an  die  Ent- 
zifferung des  Textos  watrte,  l^onnte  ihm  niclif 
viel  Neues  hiuzufügcu  \I)ie  Lex  Miuiciaua, 
eine  afrikanische  Dom&nenordnung.  Abh.  d. 
Kgl.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  zu  Göttingen 
Neoe  Folge.  Bd.  II  Nr.  »);  erst  meinen 
schärferen  Aup-en,  die  sich  an  den  Palimp- 
seaten  der  Ambrosiana  geübt  hatten,  gelang 
es.  den  Inhalt  der  wichtigen  Urkunde  von 
Anfang  bis  za  Ende  festzustellen.  Ich  be- 
diente mich  dazu  zweier  Photographien,  die, 
bei  ▼ersehiedener  Beleuchtung  aufgenommen, 
eich  trefflich  ergänzten.  Die  eine  liavon 
hatte  Dessau  von  Gauckler  durch  Vcrmitte- 
Inog  de«  Archäologischen  Instituts  erhalten 
und  mir  gütigst  zur  VerfOgong  gestellt;  die 
andere  ist  von  Tontain  in  der  oben  an- 
gefOhrten  Schrift  nie  Liehtdmelc  verOffent- 
licht.  Mit  einem  ausführlichen  Kommentar 
werde  ich  die  Inaclmft  in  der  Zeitschrift  fOr 
Sozial-  nad  WirtTChafUgeschichte  Vt  4  ver- 
öffentlichen; aber  da  das  Denkmal  nicht 
nur  inhaltlich,  aondera  auch  lexikalisch  und 
gnugamatiseh  manches  Interessante  bi^»i, 
glaube  ich  der  Sache  jm  dienen,  wenn  ich 
wenigstens  den  schlichten  Text  auch  in 
dieaan  Jahrhfiehetn  nun  Abdruck  bringe. 


Die  Lex  Manciana  entworfen,  als  'las 
afrikanische  Latifundium  Villa  Magna  Vahani 
teilweise  in  kleine  PachttttftD  serlegi  wurde. 
Sie  enthalt  die  Bedingungen,  auf  welche 
jener  unbekannte  Maucia,  micb  dem  sie 
ihren  Namen  trägt,  seine  zukünftigen 
Pächter  zw  vprpflichten  gedachte  Ihre  Zeit 
bestimmt  sich  dadurch,  dal's  sie  die  An- 
pflansnng  von  Beben  durch  die  Eolonen 
nur  loco  vetenim  f^estattet  (II  26);  d.  h. 
schlechte  Weinstöcke  dürfen  durch  bessere 
ersetzt  wenden,  aber  jede  Vermehrung  der 
Ref. Anpflanzungen  ist  untersa<»t  Da  gowifs 
kein  Grundherr  eine  Verlje-iHeruüg  seines 
Gutes,  die  dessen  Wert  tief  riiclitlich  steigern 
konnte,  aus  freiem  Willen  verbot,  so  kann 
jene  eigentümliche  Bestimmung  nur  durrh 
das  Edikt  Domitians  veranlafst  sein,  das  im 
ganzen  Ileiche  jede  Ausdehnunp  des  Wein- 
baus untersagte.  Dasselbe  ist  im  Jahre  92 
erhiHsen  Vad  wahrscheinlich  mit  dem  Tode 
des  TjTSnnen  dG)  biunillig  g^eworden,  womit 
eine  reiht  genaue  Zeitgrenzc  geyeben  ist. 

S]>äter  tat  daa  Gut  durch  Erbschaft  oder 
K'untiBkalion  an  den  Kaiser  gefallen,  nnd 
Trajau  beauftragte  zu  einer  Zeit,  wu  er 
schon  den  Titel  rarthicus  führte,  d.  ta. 
zwischen  114  und  117,  zwei  seiner  Prokura- 
toren, die  Lex  Manciana  den  neuen  Verhält- 
nissen gemäfs  umzuarbeiten.  Die  braTen 
T.eute  haben  sich  die  Sache  recht  leicht  ge- 
niaciit.  Hinzugefügt  haben  sie,  wie  es  scheint, 
gar  nichts,  aufser  dafs  sie,  wo  ex  heu:  lege 
stand,  dafür  e  lege  ManciafM  setzten,  und 
auch  dies  nicht  ganz  konsequent  (I  17i. 
Etwas  flcifsiger  sind  sie  leider  im  Streichen 
des  Veralteten  gewesen.  Wo  sie  »uf  die 
häutigen  Formeln  stiefsen  auf  domanis  aut 
conductüribv»  vSUcisve  domifumtm  eius  fundi 
oder  aut  domims  eins  fundi  aut  conductoribtt» 
da  haben  sie  regelniäfsig  die 
domini  getilgt,  weil  es  ja  auf  der  Domäae 
keine  Privateigentümer  mehr  geben  konnte; 
aber  in  der  ersten  formel,  wo  das  Wort 
zweimal  vorkommt,  haben  sie  mitunter  die 
Wiederholung  ttbersehcu,  so  dafs  an  ner 
Stellen  das  dommis  (T  9;  II  4;  9;  IV  21,  an 
einer  das  domittorum  (III  19)  stehen  ge- 
blieben ist.  Aach  umfangreichere  Tilgungen 
haben  sie  voigenonnoen,  s.  B.  gleich  am 
Anfange,  wodurch  das  Statut  in  seiner 
gegenwärtigen  Gestalt  mit  einem  höchst  uo- 
mottvierlen  fu»  «oriMn  beginnt.   Im  ganzen 


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Anaaig«!!  and  Ifittoiümifi^. 


6S9 


aber  dürften  sie  den  Text  der  alten  Lex 
Ifmci«»  woU  Uer  «ad  d»  vurtOiiiindit, 

aber  kaum  verändert  haben. 

Dürfen  wir  somit  den  geaamten  Wort- 
schatz der  Inschrift  noch  fSr  da«  ante  Jahiv 

hundert  in  Ansprach  richmpn,  so  pehBrcn 
dafür  Orthographie  und  Urauituatik  nicht 
einmal  der  Zeit  dea  Trajan  an,  sondern  ent 
der  lies  St'ijtimius  Severus;  denn  fnlher  kann 
da»  Deukmal  nicht  guüetxt  sein.  Dies  er- 
giebt  sich  zunächst  aus  der  Untenchrift, 
welch«?  die  BaniH  der  Vorderseite  träfet; 
Hee  Ux  gcripia  a  Luro  Victore  üditonis 
magistro  et  FUtvio  OmiiUo  tkfemoref  FeUee 
Annobalis  Birxüis. 

Der  Vorsteher  der  Kolonengemeinde 
(WiagiMa-),  der  sich  hier  an  erster  Stelle 
nennt,  ist  ein  Sohn  des  Odilo,  d.  h.  sein 
Vater  führte  einen  urdeutschen  Namen. 
DuMu  fol^f  dab  schon  eine  Generation 

vor  Setzung  UDSPres  Denlvmals  riprmanPn 
auf  den  Landgüturu  Alrikus  angesiedelt 
waren.  Dies  ist  aber  kaum  denkbar,  ehe 
Kaiser  Marcus  die  Acker  des  Römerreiches, 
die  eben  vorher  durch  eine  iaugdauerude 
Pest  verödet  WttMi,  ait  den  Gefangenen 
de«  grofsen  MarconaiuMiiikriegeB  wieder  be- 
völkert hatte. 

BSenn  kommt  noch  ein  Zweites.  Zwischen 
der  zweiten  und  dritten  Zeile  finden  sich 
mit  kleineren  Buchstaben  nachgetragen  die 
^Vorte:  totiu8qu[e]  domw$  dmmi.  Diese 
Formel  ist  zur  Zeit  des  Tnyan  ganz  nn- 
möglich;  so  häufig  sie  auf  Inschriften  vor- 
kommt, erscheint  sie  doch  niemals  vor 
Septimiiu  äeverua.  Gleichwohl  sind  die  Buch- 
stabenformen  dieser  Interpolation  denen  der 
übrigen  Inschrift  so  ähnlich,  dafs  sie  viel- 
leicht Tsge  oder  Wochen,  aber  aicher  nicht 
ein  ToQes  Jahrhundert  nach  ihrer  Setzung 
eingeschoben  sein  kann. 

Im  äbrigen  kommen  Interpolationen  nicht 
vor;  denn  diejenigen,  welche  die  Inschrift  in 
den  Stein  gegraben  haben,  waren  zu  un- 
gebildet, um  selbst  den  Versuch  einer  Besse- 
Tung  m  wagen.  Dm  so  h&nfiger  sind  reine 
Kurruiiteleu  aller  Art,  namentlich  Um- 
Mteilungeu  von  Worten  and  kleinere  oder 
gröfsere  Lüchen.  Da  avf  der  vierten  Seite 

den  Stoinc-H  der  Raum  kiiajtp  wurde,  }iat  der 
Steinmetz  sich  geholfen,  indem  er  eine  Eeihc 
von  Zeilen  hindnreh  systematisch  immer 

wieder  eini^'e  Worte  we^IIi'fs.   Da-s  Fehlende 

haben  wir  nach  Koi^ektur  ergänzt,  wobei 
wir  den  Sinn  leidlieh  geboffen  au  haben 
meijieij,  aller  rfir  den  Woitilani  natOrlich 
nicht  einstehen  kOunen. 

Diese  kone  Eiiileitang  vnranstnsehielnm 
schien  «n«  filr  das  Yentftndnis  der  Inschrift 


nötig;  die  nähere  Begründung  des  Gesagten 
wird  man  in  der  Zeiteehrift  Ar  Soiial-  tnnd 

Wirtschaftsgeschichte  finden.  Wir  geVten  im 
nachstehenden  den  Text  derart,  dafs  wir 
nadi  der  Art  epigraphischer  Pablihatioiien 

die  Auflösung  von  Abkfin^nnprn  in  runde 
Klammem  (>  setzen,  die  iiirgänzung  weg- 
gebrochener oder  verlöschter  Baehetaben,  die 

narh  dem  Fmfanp  der  leerfii  St«llon  SO,  wie 
wir  nie  geben,  auf  dem  Steine  gestanden 
haben  können,  in  eckige  |  ],  umgestellte 
Worte  in  spitze  <  ^.  Worte  oder  Buch- 
staben, die  nur  nach  Eoigektur  gesetzt  sind, 
haben  wir  durch  cwrmm  Dmck  ausgezeich- 
net, unter  Buchstahtn  von  zweifelhafter 
Letsung  Punkte  gesetzt,  wobei  sich  freilich 
der  Grad  der  Unsicheilieit  oidlt  BOm  Aus- 
druck l)rin)?en  liefs. 

Durch  die  Redaktiuu  dieser  Zeitschrift 
veranlafst,  füge  ich  dem  Texte  der  Urkunde 
eine  Übersetzuu;;  hinzu,  die  hls  zu  cinein 
gewissen  Urude  die  .SlüUe  eincH  KuuimcDtars 
vertreten  soll.  Aus  diesem  Grunde  ist  sie 
auch  nicht  überall  gan/  wörtlich,  sondern 
umschreibt  mitunter  uicbr  den  Sinn  des 
Paragraphen,  als  dafs  sie  seinen  Wottlaat 
wiedergäbe.  Namentlich  in  einer  Beziehung 
glaubte  ich  mir  durchgängig  eine  Änderung 
des  Überlieferten  gestatten  zu  müssen.  Es 
ist  schon  oben  gesagt  worden,  dafs  die  Pro- 
kuratoren  Trsyans,  als  sie  das  Statut  flber- 
arbeiteten,  die  Foimel  ant  dOMtnw  aut  con- 
duetoribM  väieine  tUminonm  eius  fundi 
immer  mehr  oder  weniger  verstümmelt  haben. 
Hätten  wir  sie  so  wiedergegeben,  wie  sie 
jetit  auf  dem  Steine  zu  lesen  ist,  so  wäre 
der  Sinn  dadurch  vieUhdi  entstellt  wofden; 
doch  anderseits  liefs  sie  sich  auch  nicht 
überall  in  der  Vollständigkeit  eigftnsen,  wie 
wir  sie  hier  geben,  da  ee  keineswegs  sicher 
ist,  ob  nicht  schon  Mancia  selbst  in  manchen 
Fällen  nur  von  den  conduetorta  und  vtttci 
geredet  und  die  ddattm'  absichtlich  fiber- 
gangen hat.  Es  schien  mir  daher  am  ^v- 
ratensten,  diese  Formel  an  allen  Stellen,  wo 
sie  in  ttagerer  oder  kflnserer  Gestalt  er- 
scheint, durch  da«  Wort  'die  Forderunf^n 
berechtigten'  zu  ersetzen.  So  bleibt  es  dem 
Leser  in  jedem  einseinen  Falle  flberlassea, 
oh  er  sie  nur  auf  die  neauftra^^Hen  de«  Grund- 
herrn oder  auch  auf  diesen  mit  beziehen  will. 
Wae  an  jeder  Stelle  ÜberUefert  ist,  lUM  sieh 
ja  leicht  aus  dorn  iielieiistehenden  Texte  er- 
sehen. DaüB  in  der  Übersetzung  das  Deutsch 
sehr  hölzern  ist,  wird  man  verzeihen  milssen; 

das  Latein  des  (iri^'inals  i-^t  es  nirht  minder, 
und  mir  durfte  es  nicht  so  sehr  auf  Flüssig- 
keit des  Stiles  «akeinmeii,  wie  mf  Qtaam^ 
k«it  in  der  Wiedeigabe  dea  Sinne«. 


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AnMigM  und  Miüeiliuieren. 


630 

I  [Ex  auctjQ[ri]t4te  1  Aug(u8ti^  n(ostr»),  ira- 
(p(eratorifi)J  Caeä(ari8)  Traiani  Aug(u8ti)  | 
[ojptimj  Gprmanid  Pii[rjthici  data  a  Liriin'o  | 
[JUaJximo  et  Feliciore  Aug(uati)  lib^erto)  pro- 

6  e(iii»toribiit)  ad  aemplniii  |  ^«gfi»  Mwieiiuie: 


Qtd  eonun  [i]nti«  ibildo  Vfllme  Mag.[n]o 
Variani  id  est  Muppalia  Siga  Juihitnl/unt,  iis 
eoB  agroa,  «^ui  BÜb]£c]e«va  sunt,  excolere 
pemuttitnr  löge  MMeiiia,  |  ite  nt,  in»  qvi 
excoluerit,  usum  proprium  liulxjat  ex 
ixactibus,  qoi  eo  loco  nati  cruat,  domiois 
10  M(|condiietonbi»H]ickve«iiMf(iiiidi)pirtei 
e  l«!g«  II a]iiei«M  pMitare  debeVoat. 


Hac  condicione  eoloni  j  froctus  cuiu^que 
caltnre  quota  dare  ad  villam  dejportttre  | 
terere  debeboat:  summas  deferant  arbikfttal 
8U0  conductoriboB  vilicUv^  [ejius  f^undi),  et 
16  si  oonduct|ori^B  viUciav«  ein«  f(a]idi)  is 
aium  parftee]  colowieas  dafar|[o^  renun- 
tiaverint,  tabelU  [o]b[8igiiat]is  8[i]ne  {^[raude) 
B(aa)  caveajnt,  fi-uctus  partes,  ^lUM  ff 
b(ac)  [l(ege)  prestjaro  dcbent,  J  coBduetorjbHi 
vilicisve  oius  f(andi)  inira  calenia$  Mortk» 
proximas  m  jiraecfariMfo«  ette. 


QiMS  [coljoni  colonic|a8  partes  preftare 
10  debeant:  (ju[i  ijn  fnmdoi  Villae  Mag|nae 
üive  Miippälia  Siga  villas  hab^ut  habeboui  [ 
dominicas,  attt  dimini»  eius  f(uiMU)  ant  OOO- 
ductori1)U8  vilicisv:  j  eorum  in  asspin  pürff"^ 
fructMuni  <^cu[ijusquc  geuf|naj>  et  viaearüiu 
^prestar«  debebunt^  ex  |  coDauetudine  kgk 
S6  llanoiaoe,  qmie  ita  habet:  tritici  ex  al^fvam 


2  Bei  dem  zv>eUen  Aug  ist  dag  A  in  ein 
0  hi$teiiikorrigiert  —  4  proco  —  6  habita- 
bmit  fMt,  ergäiut  mach  IV  93  und  3»  — 

y  eaa  —  12  adcportare  —  14  conduct'reB  — 
lö  cglicaR  —  17  ein?;  18  comiuctoreg  — 
intra  calendas  Martia«  jiroximae  se  ])rao- 
siaturoB  esse.  Quas  fehlt.  Der  erste  Mär» 
irt  als  2'ermin  für  die  PachtgiMmgm  bs' 
glaubigt  durch  Dig.  VII 1,  58  —  21  aut  do- 
mutis  fehlt,  ergänzt  von  Schulten  —  22  fruc- 
tiuu  et  viaeam  ex  |  conyuftudlne  Manciane 
cu[iju8qae  geneiris  habet  prestare  debebunt. 
JTtfr  fractnam  caiiuqiie  generis  tjß.  IV  S€. 

^  Wie  die  lies  M  aneiana  mit  der  Auf« 
ystimg  des  PachtveAaltnines  «cUieTet,  lo 


I  1— ö:  Im  AufUage  unsere»  Kaisers,  des 
Imperator  Caesar  Traiaiiaa  Aaguetus,  de« 
Besten,  des  ßermanensiegers,  des  Partlior- 
Btegen,  gegeben  von  den  Proknraturen 
Ideilliae  Mazimiu  und  Felicior  dtiu  Frei- 
gelassenen dea  Kaiaen  aof  Qmiid  der  Les 
Manciana; 

I  6 — 11;  Denjenigen  von  ihnen  (d.  h.  von 

den  Klein] lächicrn 'i,  die  auf  dem  Grund- 
stöcke von  Villa  Magna  Variani  d.  h.  MAppalia 
Siga  wohnen  werden,  wird  et  nach  der  Lex 
Manciaua  ^'estattet,  dio  Acker,  wtdrbe  !>ei 
der  Vermessung  der  Facbthufen  als  Ab- 
fldmitiel  abn'ggebliehen  dnd,  aatnbanen, 
80  dafs,  wer  »ie  angebaut  haben  wird,  die 
eigene  ütttsoog  davon  habe.  Aus  den 
FMehien,  die  an  dieser  SteDe  gewachaen 
8cin  urrli  ii,  ■a.x'rdcn  sie  den  Forderungn- 
berechügUin  Quoten  auf  Qrund  der  Lex 
Haodana  leisten  nkOtaeD. 

I  11  —  18:  Unter  folgender  Bedingung 
werden  die  Kleinpächter  von  der  Frucht 
jeder  Art  de«  Anbaue  aliquot«  Teile  geben, 
sie  zum  Qutshof  hinschaffen  und  auadreschen 
mässen:  Die  Gesamtmassen  der  Ernten 
sollen  sie  nach  eigener  Bchützung  den  Forde» 
rungsberechtigten  melden,  und  wenn  sie  den 
Ford«rung«berechtigten  angekündigt  haben, 
dafe  sie  auf  das  Oanxe  die  Pachtqnoten 
geben  werden,  sollen  sie  durch  versiegelte 
Tafeüi  sich  ohne  Präjudiz  verpflichten,  dafo 
sie  diejenigen  Ftnchbquoten,  welche  sie  nach 
diesem  Statut  leisten  müssün,  den  Forde- 
rungsberechtigien  bis  «um  nächsten  ersten 
IHn  leisten  werden. 

I  18  —  11  6:  Welche  Pachtquoten  die 
Kleinpäcbter  leist«?n  iiiässen:  Die  auf  dem 
Grundstück  von  Villa  Magna  d  h.  Mappalia 
Sigft  gnnidherrlidie  Wirtschaftsgebände 
habnn  oder  baben  werden,  werden  den  Fordp- 
rungsberechtigten  auf  das  Uauzo  Quoten  von 
FMIehten  jeder  Art  und  Wein  darbringen 
mflssen  nach  der  Gebflhr  der  Lex  Mandana, 


wird  sie  ohne  Zweifel  mit  der  Eingehung 
desselben  begonnen  haben.  In  ihrer  nr- 
ntrBngliehen  Form  eaUuellen  also  die  enten 

Paragraphen  wohl  BeBtinuminc;cn  fiber  die 
Vennessnnp  der  Fachthufen,  woran  s^icb  die 
folg<?nd('    Verfügung    über    die  Subseciva 

Bssend  anschlofs,  über  die  Ansetzung  der 
slapftcbtor,  ihre  Ausstattung  mit  dem 
nötigen  Inventar  u.  dgl.  m.  Aber  diese  Rin- 
leitungsparagraphen  pafsten  nur  für  die  Zeit, 
wo  Mancia  von  der  Eigenwirt«rluift  ruiu 
Kolonensystem  überging.  Als  zwei  Jabr- 
sdmto  spftter  das  Gnt  vom  Ftskos  in  Besiti 
genommen  wurde,  waren  sie  veraltet  und 
konnten  daher  von  den  Prokaratoren  Tnqaas 
geetaridien  werden.  8»  kommt  et,  dab  die 


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Aufligw  and  llitteiliing«n. 


681 


partem  tcrtüua,  hordei  oz  aream  (  parteiu 
tttrliiai,  fUbe  es  nttaa  piiteBi  qafartnm, 

vini  de  laco  partem  tortiam,  ol;[fJi  coacti 
partem  tortiam,  mcilis  in  aive^^oja  mellans 

n  ifKtnriM  tingulM.  qoi  Mi|iM  (  qoiaqtt« 
ftlvfos-  [  habebit,  in  tempore,  qu[o  vinj|demia 
meiiana  fue[rit,  autj  |  domink  aut  couduc- 

ft  to|[ibai  vilij|cisve  eioj  f(andi)qaiiKMii>anem 
i9aiaF[iMj  |  d<u«)  d(ebe!fait). 

8i  quin  a1vro!t  cxamina  api,-8  [v]a8a  |  mel- 
Itria  ex  fi[uQdo}  Villa«  Mague  sive  Mjappalio 
Sige  in  octonuitun  agnun  |  transtuleht,  qao 
10  fraua  aut  dominis  anjt]  |  ronciuctörihtiH  viti- 
ciave  eitts  fijmdi)  qua  bat,  a(ivj^e»  examix«^ 
npet  vua  saeUarin  malfo,  qnoe  injenint,  con- 
ductor?(7^'     ilironmiTe  f[iaa]  |  ^ondi)  ^in 

Fictis  aritln^s-  iirluirfg  [c]o{r]r()sas,  que  extra 
pom[ajjrio  erunt,  qua  pomariuni  (;,iu»j  iiundi) 
15  [ci]num  vÜlam  ipHa[mJ  |  sit,  ut  non  ampliu» 
noyeni!«,  q;uu(li  tliolu.  luialü,  iilojn  fiat,  co- 
ll^onj^is  arbitriü  muu  c«dere  bur^r^  j^liceatj. 


fTpjrtias  ronfdnctof Vi  vilicisve  ciii«  f(undi) 
partLeJw  de  [pujiuij^  <ii,are)  <i(,tibebuut). 

Ficeta  ve[t€j,ra  et  oliveta,  que  ad  via« 
[sunt],  medi[etjati9  ^fructwum^  cousuet{uJ- 
[dinem  oondnetoii  v^ieiava  «ina  pnataicfeJI 
10  4ebeant. 

8i  quod  ficetum  post^a  factum  erit,  eiua 
fie(eli)  I  fructum  p«v  eontiunaa  fioationaa 
qninque  |  arbitrio  suo  eo,  qui  seruerit,  per- 
ctpere  permittitor ;  \  post  quintam  ficationem 


27  Vinn  —  Inoo  eorrigiert  au»  laca  — 

n  5  qui  —  10  eisquam  —  ai^^'J 

—  11  melqui  —  12  conductoribug  —  13  in 
assem  steht  vor  f[iuBj  l\undi)  —  aridearbo» 

—  IS  fiructum  stdit  nach  cooeaetudiuem  — 
SO  4e>baat  —  11  findiuctum. 


Lax  in  ihrer  gegenwürti-rcu  Oestalt  mit  einer 
ZnrückweiBung  auf  ein  vorausgehende«,  aber 
jetzt  nicht  mehr  erhaltenes  coloni  beginnt^ 
Sie  ist  eben  am  Anfang  Iflckanliaft. 

*)  Nachdem  die  Leütongaii  deijenigcn 
Kleinpächter  bestimmt  sind,  die  ^'rutnihcrr- 
liche,  d.  h.  vom  Grundherrn  erbauUs  Wirt- 
ui'liuftsgebäude  inne  hatten,  war  untprüug- 
üch  wohl  von  demjenigen  die  Rede,  die  sich 
adbat  ihre  Wirtschaftsgebäude  hergeatellt 
liaitten  (vgL  IV  iOj,  and  ohne  Zweiftl  wurde 


die  folgendermafsen  bestimmt:  Weizen  von 
der  Tenne  den  dritten  TeQ,  Oeral«  von  der 

Tenne  den  Hritteii  Tfil,  Höhnen  von  der 
Tenne  den  vierten  Teil,  Wein  aus  der  Kelter 
den  dritten  Teil,  Oliven  eingesammelt  den 
dritteu  Teil ,  Tlouig  auf  jt-iicii  Honif>i?f oek 
einen  iiext^r  U,6ö  Liter).  Wer  mehr  als 
fBnf  Stöcke  hnben  wird,  wird  sq  der  Zeit, 
wo  die  Honigemte  gcw^Hcn  spin  wird ,  den 
Forderungsberechtigtea  fünf  äextare  auf  das 
Ganze  geben  müssen,  'j 

n  6—  1 3 :  W<:an  jemand  Stöcke,  Schwärme, 
Bienen,  üouiggefUfse  aus  dem  Grundstück 
von  Villa  Magna  d.  h.  Mappalia  8ig»  auf 
sein  Rauernland ')  hiiifibfrliriugt ,  um  den 
i'ürdttruagsUcrecbtigti'H  dadurLh  irgend  wel- 
chen Abbruch  zu  thun,  werden  die  Stöcke, 
ScLwärrue,  Bienim,  Honigpcläfse  nebst  dem 
Houig,  der  dariu  sein  wird,  den  Forderungs- 
berechtigten  als  Ganzes  zufallen. 

II  13 — 16:  Vertrocknete  Feigenbäume  oder 
andere  Biliime,  die  durch  Insektenfrafs  be- 
schädigt sind,  soweit  sie  aufserhalb  des 
Baumgartens  stehen,  wo  der  Baumj,'artea 
des  Grundstücks  den  Gutdhuf  aelbbt  um- 
giebt,  soll  jeder  Kolone,  falls  dies  ohne  bflae 
Absicht  geschieht,  bis  zu  der  Zahl  von  nenn 
nach  eigenem  Ermessen  abhauen  oder  durch 
Feaer  vernichten  dürfen. 

II  16 — 17:  Von  den  Baumfrüchten  werden 
tie  den  Forderungsberechtigten  den  dritten 
Teil  geben  müssen. 

II  17 — SO:  Die  alten  Feigenbäume  und 
Ölbäume,  die  an  den  Strafsen  stehen,  sollen 
den  Forderungsberechtigten  eine  Qebflllt  TOtt 
dw  Hälfte  der  Früchte  leisten. 

n  20 — S4:  Wenn  eine  Feigenpflanzung 
künftig  angelegt  sein  wird,  so  soll  es  dem- 
jenigen, der  sie  gepHanzt  haben  wird,  gestattet 
sein,  durch  fünf  aofeinander  folgende  Feigen- 


diesen  eine  geringere  Qoote  nagebilligt.  Aber 
diese  Vergünstigung  wurde  vermutlich  nur 
auf  eine  bestimmte  Reihe  von  Jahren  ge- 
wiilirt,  die  zu  der  Zeit,  wo  duH  (iut  in  kaiser- 
lichen BesitK  überging',  h(  liuu  abgelaufen 
war.  Die  Prokuratoreu  konnten  daher  den 
betreffenden  Paragraphen  als  veraltet  tilgen. 

■)  Unter  dem  oetonaritu  ager  ist,  wie  ich 
erlaube,  da.«  paclitfreie  Baucrnlund  derjenigen 
Koiuueu  m  verstehen,  die  neben  ihrer  i'acht- 
hufe  auch  noch  eigenen  Grundbesitz  in  der 
Nachbarschaft  der  Villa  Magna  hatten.  Seinen 
Namen  fBhrte  ea  wohl  davon,  daft  von  jedem 
Jugenim  acht  Modii  Weizen  an  die  kaisor- 
licheu  Koniinafjazino  z«  entrichten  waren, 
wiihnud  dii'  Steuer  df>  t irur.-i^nundbesitzes 

nicht  nach  einzelnen  Jugera  bemeaaen,  son- 
dern fOr  jedea  Latifimdinm  auf  eine  Fmiaeh'« 
•umme  angeaetst  war, 


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688 


Anadgtti  und  Hlttfliliiiig«!!. 


cadem  lege,  qaa  s(upra)  »(criptiun)  est,  |  con- 
ductoribus  viliejave  aia«  fltiuidi)  p(rMctere) 

S5  Vineaa  serere  |  colere  joco  vetemm  per» 
nuttitur,  ea  condicione,  [ut]  |  ex  ea  Mtiooe 
prOXQluiB  vindemis  qainque  fiructu[8j  [  carum 
vinearum  is,  qui  ita  s^nierit,  sno  arbitn'o 
perjcipeat  itemque  post  quintA  vindemia, 
quam  ita  sata  |  erit,  fi-ucius  partes  tertias  e 
30  lege  Manciaua  co&duc|toribu8  |  v[ilicüjYe 
in  eius  f[undt)  in  Mwm  due  debep>u[nt]. 


[OJjiv^iain  a^rfte  colero  in  eo  locp,  qo» 
qtiü  bifottam  excolulerit,  pemtittititr  ea 

6  condicione,  u|t  ex  ea  satione  eius  fnictus 
oliveti,  q]Qod  ita  satam  eat,  per  oUvatioo« 
proiximaa  decam  arbitrio  wtut  peniiitU>)Te 

debeut  item  (lOHt  (lecem  olivationes  ole|[iJ 
10  coacti  partem  tertiam  [cJonducto,ribtui  vi|i< 
dmre  «199  f|;\uidi)  d(are)  d(ebeat). 


[Q]oi  inieme^t  oleaaba,  poat  a{°i99f 
[qmJiQqiw  partem  tertjam  d(a*e)  d(«belHt). 

Q^i  W  aiwif ,       fftw  i»  fl[ando)  j 
Magne  Varfi^anj  sivfe]  Mappaliao  |  Sige  sunt 
15  ^roiit,  ppfltea  fcf^t  BLjgroa^  qui  |  yicias  habent, 
^Of^ '  eJ[g\rotvnL  bwüjiaaa  oondnetoribna 
vOidsTC«  pCartflm)]  71  d(ai«)  d(ab«bii). 


Cu  Stüde»   ratione$  /rn/ctUMm  a  aäomi» 

ejxigere  debebunt 

Pro  pccora,  qfu}e  intra  fniidiimi  Villc 
M[agua«  i(d)  e(8t)  Mappaiie  äig[ej  p^scentur, 
tu  pecof*  HBigula  aera  quatmia  'ftuUmm 

10  conductoribuB    vilicisve    dojmiiionim  eins 
f(undi)  prestare  debeb^t 

Si  quif  ez  fl[ondo)  Villa  |  Magna  live 
Muppalic  Sigc  fmchis  stantem  penjdentem 
maturum  inmaturum  caeciderit  exeideriit 
esportavarit  d«port*v«rii  eonbuMint,  9t  m- 
qxxioret  ex  |  ©9  ftant,  sciens  (iialn)  mfalo), 

25  detrimeatum   conductoribus   vilicisve  ei|aH 


SSlegam— ST  fteerit— arbitro— HI  1  fmndi) 
fämt  —  4  condiciciunc  -  5  q'uid  —  8  decem 
fehlt  —  14  vtfl  11  poHt(»a  factum  erit  — 
Itj  rulioiu's  fructmiin  a  (.nloms  (fhli  —  17  de- 
bebut  —  m  agn  —  IS*  quatenia  quotan- 
nis]  quattus  —  23  conbuser^utscqucxICQfiail* 
■fi^.  Der  mti»  iA  hier  f¥i  «Aalten^  ttigt 


trutcu  die  Frucht  jener  Feigcaprtnii7.iiiig  nach 
seinem  Ermessen  sich  anzueignen;  nach  der 
fünften  Feigenemte  wird  er  gemiLTs  derselben 
Begel,  die  oben  geschrieben  ist,  den  Forde- 
rungsberechti^ten  leisten  müssen. 

n  24— in  2:  Weinstöcke  zu  pflanzen  und 
grofszuziehen  ist  an  Stelle  von  alten  ge> 
stattet  unter  der  Bedingung,  dafi  dogoiige, 
der  so  gepflanxt  haben  irird.  aas  jener 
Pflanzung  (Ue  Frflebte  jener  Weinstöcke  bei 
den  fünf  n&ohsten  Weinernten  nach  seinem 
Ermeasen  sich  aneigne.  Und  aa«h  der 
fOnfkea  Weinernte,  die  nach  der  Pflanzung 
erfolgt  sein  wird,  wird  man  nach  der  Lex 
Manciana  den  f  ordenugaberechtigtea  die 
dritten  Teile  der  Frodit  aof  dai  Oanse 
geben  niiisHen 

ms— 10:  Olb&ame  au  pflanzen  und  giofii- 
«iziehen  ist  aof  wüstem  Boden,  den  jemand 
urbar  gemacht  haben  wird,  gestattet  unter 
der  Bedingung,  dafs  er  aus  jener  Pflanzung 
die  Frflebte  jener  OllAome,  die  ao  gepflanst 
sind,  bei  den  zelm  nächsteu  Olivenertiteii 
seinem  Emessen  überlassen  müsse  und  nach 
sebn  Oliveneniten  von  den  «uigMammelteD 
Oliven  den  dritten  Teil  den  Foidenuga- 
berecbtigien  geben  müsse. 

m  10— tt:  Wer  wilde  Olbftume  g^iflanai 
haljeii  wird,  wird  nach  fflnf  Jahren  den 
dritten  Teil  geb^  müssen. 

TU  19^1«:  Wer  aas  flandüftdien,  wo 

Boieli'    L  i!'  dem  OrundstÜLk  \ou  Villa  Magna 

Yariaui  d.  h.  Mappalia  Siga  sind  oder  sein 
werden,  kfinftig  Felder  gemaebt  baben  wird, 

die  Wicken  tragen,  der  wird  von  der  Frucbt 
jener  Felder  den  Forderungsberechtiglen  den 
sechsten  Teil  geben  mflsaen. 

ITT  16-17:  Die  Wächter  worden  Rechen- 
schaft über  die  Ernteerträge  von  den  Klräi- 
pftehtem  einfordeiii  mfisseo. 

in  17  20:  Für  die  Schafe,  die  anf  dem 
Grundstück  von  Villa  Magna  d.  h.  Mappalia 
fiiga  weiden  weiden,  wM  aa»  auf  jedes 
Schaf  vier  As  jährlich  den  Forderufigi- 
berecbtigt^  leisten  müssen. 

HI  so  —  IV  S:  Wenn  jemand  anf  dem 
Gnmdstnck  von  Villa  Magna  d.  Ii  Mappalia 
Siga  Früchte,  ob  sie  auf  dem  li^ilui  st^ihen 
oder  am  Baom  hingen,  ob  sie  reif  oder  un- 
reif sind,  in  böser  Absicht  abgeschlagen 
oder  heruntergeschlagen,  aus  dem  Urund- 

aber  rtatt  der  BndUkAen  teOwem  gamM  wätk 

Striche,  mit  <ln\en  <Jer  Stfinmetz  vielleidU  eine 
Hfdeserhilie  Sclmft,  ihe  t:r  stlhfft.  nicht  cer- 
stand,    wulizuinldi  Ii    nr<Hrhti\      Wir  hatjfii 

dafür  die  i^uc|^sto6e«^^^«€tJ<,  denen  sie  noch 


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Ansoigen  ond  JCitteilmigeii. 


633 


IV  f.uncli)  !  fc]olonix  rei  etitt,  eui  dct[ninentnm 
factam  erit«  et  alfeeiUBj  [  tBiitiim  prataie 

d(ebebitj. 


|(jui  intra  fundum  Vitlae  Mogjnc  nive 
Mappulie  Sige  [ticeta  vinea«  oliveta  oieaatra 
■ejlverant  severint,  [üb  eiu8  euperflciei  asnni 
5  Hbens,]  |  qui  e  legitimjiä  matrÜDonÜB  pro- 
creati  flunt  eruut,|  |  testameutfo  codicilÜtve 
relioqucre  liceat,  si  sup][erficieH  i|n  8|oIucii 
tfmpiu  fftcrs  pr(ofana  onmia  pro)  |  i9(cUj* 
yidiu  da^  sunt  dabootur;  [iU  Iieradi 
u||su[k)  hnius  fidod»  e  lege  ManciMia  wr- 


10      [Qui  R|u|perficiem  ex  inciüto  ezcoluit  ex- 
coluer(it,  in  »olo  fujj^di  Mdificium  depoeiiii 


8i  ii[i{  deiit  de«ierit,  <^per^  co  tempore, 
quo  ita  ea  fiuperiic[  ieaj  |  coli  desit  dcaicrit, 
ea  quo  fuit  fuerit  iu8  colendi,  dumtaxa,d 
bieiiiito  proximo,  ex  qua  die  oolor?  duit  de- 
15  «ier}^  lervatur  j  aervabitur. 


Post   biennium   conductort&Ha  vOietsve 

e^irfujui  superficie«,  que  proxumo«  annos 
cult»  tuit  et  coli  [deaijicril,  t-unu-  esse  de- 
tcWt  eondoctor  nlicnsve  eius  flfundi)  ei, 
eMiW  ea  Huperficies  ea«e  d[icetj|Ur,  denuntiet 
HUperficiem  cultatn  noti  esse,  iti  ea  superficü 
pIuH  non  eget  nrque  ne  etitn  culturum  pro- 
mittit  anno  aequ|eDti,J  |  <^conductur  viliciMve^ 
^eiua  fiundi^  post  bieonium^  denantia- 
tioiinm  deuandatam  g^y#  ^ictatia  teRta[t||0 
SO  itenique  in  «equenterä  annom  ^onaj  gratia 
sine  qaci[relj;a  eius,  cmmw  mm  eokndi  fiiit 
futrit,  aläm  eokmum  «m  miperfieim  eol^ve 
ia}(beto. 


IV  1  reieieni  —  S  nn  —  9  maneiatie 

—  11  |>o<»\n'rit  —  12  «li  -iit'ritjttTdesierit  — 
Ii  bieuuo      t'x  k(*rri(jieit  uut>  ha  —  desit  fehlt 

—  15  conducl'irr-  i(i  proxumo  —  17  curae 
ene  debebit  fehU  —  ei  cniua  fekU  —  IB  non 
CMe  n  ea  raper6cie  fAU  —  neqae  le  «am 
culturum  |>roiiiittit  anno  feJilt  -  10  riim 
l^undij    poat    bieoium    ^onduc^r  rihcusve 

ITSBi  JtkAMbn,  IIN.  2. 


stflck  wc^ebracht  oder  auf  dem  GrundeMck 
an  eine  andere  Stelle  gebracht  oder  ver- 
bmmt  haben  wird,  «o  dafs  sie  dadorch 

seUechter  werden,  wird  er  den  Forderung!' 
bereehtigten  oad  den  FAchtem  de^enigen 
Beriliei,  ao  dem  der  Sdiaden  verübt  ist,  den 

Schaden  doppelt  emt/on  iinUsi  n 

IV  2 — 9:  Wer  auf  dem  Urundatück  von 
Villa  Magna  d.  h.  Mappalia  Siga  Feigen- 
bäume, Weinatöcke,  zaiime  oder  wilde  Öl- 
bäume gepfianzt  hat  oder  haben  wird,  der 
•oll  die  Nutzung  dieser  Superficies  ',i  seiueu 
Kindern,  die  in  gesetzmüraiger  Khe  gehoii-n 
dnd  oder  aein  werden,  doidi  Teattuuent 
oder  fermloien  letzten  Willen  Iiinter1aa«en 
dürfen,  falls  die  Superficies  fflr  die  pacht- 
freie Zeit  xosammen  mit  winem  ganxen 
heiligen  ond  profimen  Beaite  als  unteObaree 
Vermögen  jenen  vermacht  ist  oder  künftig 
wird;  in  solchem  Falle  wird  dm  Treu- 
verspreehen  dieaer  Nntrang  nach  der  Lex 
Manciana  dem  Erben  gehalten  werden. 

IV  »—11:  Wer  auf  wfiatem  Grande  eine 
Superficies  angebaut  hat  oder  haben  wird 
oder  auf  dvm  Hoden  des  GrundstQckH  eiu 
ileb&ude  errichtet  hat  oder  haben  wird,  der 
MÜ  daa  Redbt  der  Knteung  haben. 

IV  11 — 16:  Wenn  er  die  Nutzung  auf- 
gegeben hat  oder  haben  wird,  soll  während 
derjenigen  Zeit,  wo  die  Bebauung  jener 
Superficies  so  aufgegeben  ist  oder  lein  wird, 
daaUecht  der  Bebanung  dort,  wo  ee  gewesen 
iii  oder  sein  wird,  gcgctiwiirtig  oder  kflnftig 
erhalten  bleihon,  aber  nur  fflr  die  nilchateo 
swei  Jahre  »eit  dem  Tage,  wo  die  Bebauung 
aufgegeben  ist  oder  sein  wird. 

IV  15  —  22:  Natli  /.wfi  Jahren  werden 
die  Fordeningsberechti^'tiii  tVir  clic  Sti|>er- 
ficiea,  welche  die  letalon  Jahre  bebaut  ge- 
wesen ist  und  deren  Bebauung  aufgegeben 
sein  wird,  Sorge  tragen  müssen.  Einer  der 
Forderungsberechtigten  soll  demjenigen, 
welcher  für  den  Beaitxer  jener  Superficies 
gilt,  formelle  Anzeige  machen,  dafa  die 
Superficies  nicht  bebaut  ist.  Wenn  er  jene 
Superficies  nii  ht  mehr  braucht  und  nicht 
•ie  im  folgenden  Jahre  wa  brbnnen  verspricht, 
soll  der  Forderungtherecbügti'  unter  Za- 
siehung  von  Zeugen  ein  Protokoll  diktieren, 
dab  die  formelle  Anseige  nach  swei  Jahren 

«leM  in  dieaer  Seihenfolge  hittUr  Sl  que[relja 

eius  -     (It'iniutiiihim        20   rr/l   / 1'  .j.i 
21  cuiuB  ius  colendi  tuit  fuent  alium  colo- 
num  ean  anperfieiem  /*eMf. 

■)  Du  Wort  mperficie»  iat  teehniaoh  flh 

fiiK'ii  Hofiit/.,  der  mit  fremdem  Qrund  Und 
tiodeu  unlösbar  verbunden  tHt. 


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634 


Anzeigen  und  Mitteilungen. 


N<»  qui«  conductor  viliiusvff  i']nnini  in- 
quilinuni  [eiuüj  |  fi^undi)  plim  oyerarum  jtrac- 
ttare  togaif  fuam  imfra  tariptim  «rt. 

Coloni,  qui  intra  f{undutn)  Ville  Maguao 
id  ttt  Mappalie  Sigv  hu{litt]|abunt,  domini« 
aut  conduct{oribu8  vilicisve]  eiua  f(nndil 
85  q  uodannis  in  hominibuH  nin^u})!^  ^r[atioJni8 
>]  ii[a]i  n(aiiiero)  n  et  in  messet ft[Qj^tnii]qi 
|cui|u8quc  ^encriH  |  Hingulai  «pwM  bioM 
prafcstäre]  deb[ebu|nt. 

Coloni  I  inquUini  ciuä  ^luidi)  i^tra  sextutn 
iuei^[!*e|cn  anoi  n|oimna  tna  coDd^ctoHbns 
80  T[ijlj[cj!9t!e  [eojrvip  jn  catto[dia8  eingula«, 

Ylaiii  ne  ni]miam  «eorflum  df  u]r8um  facere 
[coß]antur,  in  iiaum  j  Btipendiarionim ,  qut 
[ijnftra  Ijundum)  Ville  Maj^^ae  id  est  l^ap- 
pa|lie  Sige  babitabunt,  iiibebitur,  [u]t  fu[ncj- 
(io[D]c^  Huafl  cjonductoribua  vilicifve  e^ujs 
fi[iiiidij  my^n  <|«b<fflVt. 

3f»  CuBtIpdiaB  ffundi^  «em«  dominici?  ^rädere 
liceat;  cum  tt'nt  [i  ^j  non  sin]t|,  ad  natan 
|Tu(gje8  in#pi5i§uda«  fazniU^  |  bar^ri««« 
T^cabunl. 


Parfti]ariuH,  fqui  eins]  fiundj)  8a[rr:i  f<-s(is 
fc]e|ebrati8   [lujBtris   den!l[i]ct»mi«  c«t  erit, 
bona  grajtia  sine  qnerela  centunam  r?9tiU'«t 
40  totamlfratam. 


«tattf^efunden  hat,  und  soll  ffir  «las  fulfcrfude 
Jahr  in  {ipiter  Freund^hafl  und  ohne  Klage 
desjenigen,  der  dae  Hecht  der  Bebauung  ge- 
habt bat  oder  haben  wird,  einem  andern 
lichter  die  Bebauung  jener  Superficies  zu- 
gprochen. 

IV  22    23:  Kein  Forderungsberechtigter 
eoll   einen   Einwohner  diene«  Grundstücks 
cwingen,  inaiir  Frofamlcn  zu  leiitan, 
weiter  unten  ppRchrieben  »teht 

IV  23—27:  Die  Kleinpächter,  die  aui'  dem 
Grundstflck  von  Villa  Miigua  d  h.  MappaU» 
Siga  wohnen  werden,  werden  den  Kordenmgs- 
berechtigten  jährlich  auf  jeden  Kopf  Pflüge- 
frohnden  leisten  müBsen,  zwei  un  der  Zahl, 
und  für  jede  Ernie  jeder  Fruciitari  je  awei 
Frohndcn. 

IV  27— SO:  Die  Kleinpächter,  die  Ein- 
wohner diese«  Unmdfltfldn  aind,  sollen  inner- 
halb dos  Msehflten  Monsfs  des  Jahre»  zum 
Zwecke  je  eine«  W&chterdienstes,  den  mi? 
jahrlich  leiBten  soUen,  ihre  Namen  den 
Forderongtbereditigtien  anmelden. 

IV  30 — M:  Damit  sie  nicht  gezwtingen 
sind,  übermAiaige  Wege  hin  nod  her  m 
machen,  wird  Kom  Kntsot  der  Keipfttener- 
pflichfi^jou.  die  uuf  dem  Grundstück  von 
Villa  Magna  d.  h.  Mappalia  Siga  wohnen 
werden,  der  Befehl  gegeben  werden,  dftls 
sie  ihre  Steuern  an  die  Fordemogabeieoh- 
tagten  des  Qate«  leisten  sollen. 

Vr  84— ST:  Es  ist  erlattbi,  dt«  mditer- 
dienatc  des  HuteH  grundherrlülun  Sklaven 
txk  fibertragen  i  falls  Männer,  die  ein  gültiges 
Zeugnis  abl^;^  kOnnen,  nicht  zur  Stelle 
sind,  werden  nie  die  ItarliarisclicTi  Sk',!,,  ' 
Schäften  zur  Begutachtung  der  Erateoträge 
mfen. 

IV  ;}T  40;  Orr  Teil|.;icbl«'r ,  der  die 
Heiligtümer  dieses  Grundstücks  nach  Feier 
de«  LnstralfiMtes  gegenwärtig  oder  kfinftig 
hinter  >\c\\  zu  lassen  gedenkt,  soll  in  guter 
Freundschaft  ohne  Klage  seine  Fachthofe'^ 
in  guten  Zostuide  aUiefeni. 


2H  plus  operanim  priiestare  roj/at  rniani 
infra  scriptum  est  feMt  —  id  est  fehit  — 
SS  aseeeem  —  29  ve  fdUt  —  30  qnotannis 
/UM  -  34  dfbwi  -  88  [«l9i?brlf. 


'i  Die-  Parhtliufe  ist  hier  durch  das  Wort 
eenturui  beaeichnM,  das  ein  Ackermab  von 
200  Jugera  bedeutet,  uns  also  Zeagnis  Qber 
ihre  Aosdahnong  giebt. 

Otto  SascK. 


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ijueägul  viid  IfHiteilatigwt 


635 


Ivo  Bruns,  Dik  PKBsöNLirHKBiT  in  dkk 
GcscBiCBTBCHiuuainio  DEB  Altbh.  Berlin 
1898,  Beaser.  Vni,  102  S.  8«. 
Die  Qucllenuntersucbun^en  zu  den  antiken 
8ehriflfltel]era,  insonderheit  xu  den  GeBchicht- 
üchreibern,  nach  dem  bekannten  Schema  der 
Addition  und  Subtraktion  der  überliefert«! 
NMhiichten  sind  endlich  uu  der  Mode  ge- 
hvamun,  Neuerdinge  wendet  man  der  Korn- 
poeitioB  auch  der  Proeawerke  ein  thätigüs 
Interesse  zu  und  sucht  Einblicke  m  thun  in 
die  künstlerische  Werkstatt  ihrer  Aatoieiu 
Für  den  philosophischen  Dialog  hatBtldolf 
Hirzel')  einen  trotz  mancher  Mängel  ver- 
dienstlieben Venncli  einer  kritischen  Ann- 
Ifte  und  ii«ttieti«ehen  Wärdigung  unter' 
nommen,  fSr  die  lateinieehe  Geschieht- 
aebreibung  bat  Hermann  Peter*}  du 
intereeMinte  Problem  Aber  die  Grenien  der 
WissenscbaflJicbkeit  und  der  Rhetorik  auf- 
geworÜBn,  die  Stilgeeetae  der  antiken  Kanal- 
prosn  aber  hni  ISdnard  Korden*)  zu  be- 
obachten versucht.  Zu  den  Schriften,  die  sich 
in  dieser  Richtung  bewegen,  gehört  auch 
die  kleine  Stndie,  der  diese  Zeilen  gewidmet 
sind.  Sic  bildet  eine  Ergänzung  zu  dem 
grOfseren  Boche  desselben  Verfassers  'Das 
liftorariscbe  Portr&t  der  Oriecben  im  fSnften 
und  vierten  Jahrhundert  v.  Chr.'  (Berlin  1896\ 
in  dem  Bruns  den  Nachweis  versachte,  daTs 
die  Griechen  das  Charakterbfld  eines  Helden 
in  ilo]i])elt<T  Weine  zu  entwerfen  verstanden, 
entweder  direkt  (sobjektivigüscb)  oder  in- 
direkt (objekiiTistisebV  'Jene  (die  flabjek- 
tivirttoni  sa^en  ohne  ITmwege.  was  ihre  An- 
sicht von  den  Menschen  ist,  diese  verstecken 
ihr  Urteil  in  die  Ehrsllhlnng  der  Ereignisse. 
Jene  können  den  ulierlieferf en  Stoff  unser 
ändert  weitergeben,  diese  müssen  ihn  om- 
foRtten.'  In  dem  neuen  ItleiBeren  Bache  ist 
die  ünterfiu-litint:  in  die  römischen  Zeiten 
weitergefülui  worden  imd  behandelt  die 
Kunst  der  Charakteristik  namentlieh  bei 
PolyMuR.  T-ivius  und  Tai  ifiis  T^a»  Büchlein 
ist  gut  disponiert  and  anregend  geschrieben. 
Am  wertvollsten  darin  erscheineB  mir  die 
beiden  Kapitel  ül>cr  Polybiu«  S  1  il; 
84  -  100).  In  Urnen  wird  die  jetxt  herrschende 
Ansieht,  dafs  Poljbius'  Geschiehtsehreibnng 
und  mithin  auch  seine  Melljode  der  fliarak 
teristik  von  dem  strengsten  Streben  nach 
Wahibeit  getragen  sei,  bestiltigt,  sngleieh 


i>  Rudolf  Hirzd,  Der  Dialog  Leipzig  1895. 

*^  Hermann  Peter,  Die  getJchichUiche 
Litterator  der  rOmisehen  Saiseneit  Leipaig 
1897. 

*)  Eduard  Norden,  Die  antike  KtmetiRoea. 
I<eiiiiig  1898w 


aber  endietnt  Polybius  als  SulyektiTist 
von  beflonderer  Art.  £r  bietet  nftadieh  m- 
sammenfassendo  Charakteristiken  nnr  von 
Nebenpersonen,  die  nur  einmal  auftreten, 
eo  da&  sich  der  Autor  geswimgcn  sieht,  an 
dieser  einen  Stelle  das  Bezeichnende  kurs 
auszuspreeben.  Bei  den  Hauptpersonen  lehnt 
Polybius  eine  Gesamtcharakteristik  ab  und 
ersetast  sie  durch  eine  Kritik  der  eiaselnen 
Handinngen  von  Fall  in  FalL  'Bern  Btaeben 
geht  auf  Analyse,  nicht  auf  Konstruktion. 
Denn  jede  Konstruktion  operiert  mit  einem 
Znsatee  von  Erfindung,  die  er  ans  einem 
streng  wissenschaftlichen  Werk  verbannt 
wissen  will.  Was  wir  von  Poljbios'  JBr> 
Ortenmgen  Aber  grohe  IDbmer  wie  die 
Scipionen,  Hannibal,  Aratoa,  Philopoemen, 
PhUippos  noch  liaben,  sind  Einzelerklärungcn 
oder  Einxelnntenaehnngen,  nicht  zersprengte 
Glieder  einer  (Jesamtcharakterintik  '  Polyl'inH 
selbst  hat  vor  seinem  groben  Werke  eine 
Biographie  sdnes  LieUing«  PUlopoemea 

verfafst.  Aber  auch  diene  ffenü^t  Heinen  An 
forderungen  an  strenge  Geschichtschreibung 
nicht;  er  scheidet  prinzipiell  die  Biographie 
von  der  Geschieh  tuchreibunp  'Die  Bioifraphie', 
sagt  er  ($  8),  'verlangt  als  zum  enkomiasti- 
sehen  LittenäiiTBweige  gehörig  eine  Darstel- 
lung, die  sich  auf  die  Hauptsachen  —  in 
diesem  Zusanuaenhang  bedeutet  das  eine 
Auswahl  der  rhetoristä  wirksamsten  IbaiA- 
lungen  —  beschiÄnkt  und  die  Thafsachen 
steif^ert;  die  (leschichte  dag^en  mufs  sich 
vollkommener  Wahrheit  befleUIngeB  nnd  die 

aus  den  einzelnen  Vorkdmmnisson  notwen- 
digen ScUufsfolgerongen  ausführlich  er- 
örtern.* Tn  dem  «weitni  bpitel  Uber  Poly- 

liius  i  84  lOn'i  werden  alle  Plollen,  in  denen 
sich  dieser  Autor  über  die  Auffassung  und 
Keiehming   der  PersBnIiehkeit  aossprieht, 

zUHammentrf und  ltele\i(htef 

Weniger  gelungen  erscheinen  mir  die  Teile 
des  Buches,  die  die  Technik  des  Livios  be- 
handeln Bruns  will  lieweisen.  'dafs  Li^nuK 
bei  allen  Persönlichkeiten  konsequent  die 
indirekte  Metbode  befolgt  hat  und  dalk  er 
•«i  lli.Mf,  wo  yeine  Vorlage  direkt  charakteri 
siert,  diese  Partion  entweder  wegliefs  oder 
sie  in  seine  Formen  nmgoni*.    Aber  dibei 

kommt  Rrnns  in  die  I;a>,'e.  so  viele  .\xiH- 
nabmcn  zu  diesem  Prinzip  konstatieren  zu 
müssen,  dafs  er  «s  imn  gnten  TeQe  selbst 
wieder  aufhebt.  Denn  erstens  sind  bei  Livius 
die  'Nebenpersonen'  mit  kurzen  'einführen- 
den Wesensbexeichnnngen*  ausgestattet;  an 
den  Nelieiiy^estalfen  nTier  ;:rehflren  in  difsem 
Falle  auch  Mcneniutt  Agrippa,  l'orioian, 
ManliuR  Capitolinue.  In  anderen  Fällen  soll 
das  Oewiasen  des  Historikers  mit  d«B  Focde- 


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636 


AnMigcfl  und  Mitteitungm. 


riiii^'L-n  <l«-r  indirekten  Methode  in  Konflikt 
geraten  sein,  oo  dafs  Liviot  z.  B.  bd  der  Er- 
dUilon^   von   den  BeipiODenproiMMii  in 

^oIyl>ianis^■^)^tl^.jektivi(lti8cher  Weise  darflber 
reilektiere,  welche  von  den  OberUeferangen 
wohl  di«  richtig«  lei.  Hit  Absicht  loll 
LI\iuH  einen  anderen  Wi  ^'  als  den  der  in- 
direkten Cbamkteristik  eingeschlagen  haben, 
alt  er  IX  1«,  12  f.  ein  Wmensbild  de«  Pkpirinfl 
Cunsor  und  XXXIX  40  i  in  si  lir  auHttibrliches 
des  IL  Porcina  Catp  entwarf.  'Möglich,  daTs 
die  Bedeutung  des  Maones  den  Lirini  ni 
einetu  Ausflug'  in  ein  rr>-nnti-r.  Slilgebiet  ver- 
aolalst  bat.  Ebenso  berechtigt  aber  ist  hier 
wie  bei  dem  Papirintabedutitt  die  Ver- 
miituiii,',  .lufs  <lif  Ki;,'frnir{  tlif^i.-r  ('haruk- 
tehstiken  auf  der  Benutzung  einer  in  aub- 
jefctirisdiem  Stil  gehaltenen  Quelle  beruht.* 
Dies«'  EntKrliuIiliffiintft'n  winl  wohl  nifiiiainl 
als  stichhaltig  ansehen}  sie  widersprechen 
direkt  dem  von  Bmne  an^eatellten  Sntee. 
EhrriMo  kann  man  die  »OKeiiiiimfcn  Elof.'ii'n, 
kurze  zxwun  menfaesende  Charakteristiken, 
mit  denm  Lirine  einen  Serria«  TtiUins, 

Camillas,  KabiuH  MilxiIllU^',  Srijiio,  Arinilius 
Paulus,  Cicero  u.  a.  %on  der  Bühne  abtreten 
UUM,  ala  'AnaflOge  in  ein  firemdes  Stilgebiet' 
betracht/»n  Man  winl  al^o  wnlil  darauf  vnr- 
jücbten  müssen,  einem  so  beweglichen  und 
ao  etnrk  rhetoriaeh  aehillemden  Qeiate  wie 
LiviuB  eine  j^aii/.  bestimmte  Methode  der 
Charakteristik  beizumessen.  Muls  denn  wirk- 
lieh dem  Sehematismna  snliebe  ilbemll  ein 
feste«  Prinziji  rrkaiint  werden?  Man  wird 
sich  bescheiden  uiiisseu  zu  sagen,  dafs  Livius 
im  Krofsen  und  gancen  snr  in^rekten  Chmk- 
ttriBtik  neigt,  dafn  alicr,  wrnii  r-s  ihm  ans 
rhetorischen  oder  Kuthiichen  IVriinden  ge- 
boten schien  oder  vielleicht  auch  gana  nn- 
bewufst,  manchmal  di«'  andere  Stilart,  die 
direkte Cbarakterschilderung,  anwendet.  Auch 
bei  der  Lektüre  dea  Kapitels  über  Tacitus 
(S.  67-  X'Ai  hid  irmn  dif  Kmiiün  !  itiL',  dafs 
diesem  gTi;ilBen  Autor  eigeullicii  Üt;ualt  au- 


gethan  wird,  wenn  er  in  seiner  CbarakteriBtik 
dea  Tibertna  als  Aohfioger  der  'mdiiektan 
Methode*  in  Anapmcfa  genommen  wird. 
•Sehr  anfechtbar  ist  endlich  die  Behauptung 
{Ü.  Vi>,  dafs  'nur  der  äubyektirist  ein  der 
Wiaaenachaft  unmittelbar  verwendbares 
Material  bietet,  die  Mitteilungen  dagegen, 
die  in  jener  indirekten  Bearbeitung  auf  uns 
gekommen  sind,  ateta  mit  einem  i^Iaerea 
und  kleineren  Beisatz  von  ?!rfitiduitg  ge- 
wischt sind'.  Mao  könnte  mit  demaelben 
Rechte  dae  Oegenteil  behaupten.  Denn  der 
direkte  Charakterzeichner  «nli  r  S'ubjektiviat, 
wie  ihn  Bruns  nennt,  ist  nicht  notwendig 
andi  Analytiker  wie  Poljbius,  sondern  kann 

auch  auf  rin  'o-samfhiltl  rincr  Person  aus 
geben.  Üq  wie  er  aber  das  thut  und  ein  in 
aich  geeehleeaenea  paycboiogiach  veisUnd- 
lirh«'«  rharaktt-rhild  litdVni  will,  iniir>  .-r 
unter  Lmstiuiden  noch  mehr  Konstruktion 
und  Erfindung  anwenden  ala  dn  Anhinger 
der  indirekton  Methode  Wenn  also  —  wa« 
kein  Verständiger  mehr  bezweifelt  —  Po|y- 
biua  wahihailer  und  glaubwürdiger  lat  it» 

Livius,  HO  ist  rr  ph  nicht  al.-<  ^"ulljl•ktivi^t, 
sondern  als  emsthafter  Forscher  nach  der 
Wahrheit;  und  Liriua  tTnnverlftaaigkeit  be- 
niht  nicht  so  .-^chr  auf  dor  Neijninjr  7^^T  in- 
direkten Charakteristik,  als  auf  dem  rheto- 
riachen  Charakter  aeiner  gaaieo  Sefanft* 
stcllerei.  Es  wäre  nicht  nninfcrrsfjant 
gewesen,  wenn  Bruns,  um  in  diesen  Fragen 
der  allgemeinen  hiatoriaefaen  Kritik  ein  noeh 
umfangreicheres  und  einwandfri^icrcs  Be- 
obachtungsgebiet Bu  haben,  einige  moderne 
Hiatoriker  herangeiofeB  UMte,  a  B.  %bel, 
Trcit'srJikt'  untl  riTiirrf>  Franzos-cn  odor  Eng- 
iütidt-r  Vielleicht  würde  sich  da  ergebe« 
haben,  dal«  ein  und  dieselben  Historiker 
direkte  und  ijidirpkte  Mitte!  der  Tharak- 
teristik  anwenden,  ohne  dals  man  daraus 
den  geringHten  SchlulH  auf  die  Wahrheit  und 
Ol^jekUriUtt  ihrer  Darptelhm^  machen  diiit. 

Otto  Kni  iiM»  Scamnr. 


Berichti<»nn?. 
S,  464  Z.  10  V.  tt.  1.  Periklea  statt  Tbcmistokles. 


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JAHRGANG  1898.    ERSTE  ABTEILUNG     /[KlIXiK-  l 


KHETOßlK  UND  POESIE  IM  KLASSISCHEN  ALTERTUM. 

Von  Hbaicahk  Peter. 

Wirk«B  Tdll  der  Poet  wie  dfr  Redner. 

Aber  dag  Hücbstu 
Bleibt  ihm  die  Schönheit  doch,  die  er  zu 

bilden  »ich  sehnt. 
Jener  behiUt  dea  Erfolg  im  Bück  sleU; 

dieser  erreicht  ihn. 
Wenn  er  Um  Aber  dem  Drang  aeligen 

Schaffens  vergifst. 

Ooeth«. 

Im  Mittelpunkt  des  Literesses  für  klassische  Philologeo  und  diejenigen 
Litteratorfreimde,  iraldiB  ueh  noeh  mit  ihnen  in  FfiUmig  halten,  stehen  jetet 
die  Sohätn,  welche  uns  die  Erde  neu  geeehenkt  hei  Darüber  wdlen  wir 
aber  die  höchst  bedeatmigPTolle  Bereicherung  nicht  vergessen,  welche  in  den 
letzten  Jahrzehnten  unser  YeislSndniB  des  Altcrttims  durch  die  Erkenntnis  des 
Wesens  der  antiken  Knnst])rnga  empfangen  hat.  Das  Gefühl  für  ihren  rhytlimi- 
schen  Wohllaut  haben  die  Gebildeten  besessen,  solange  die  lateinische  Sprache 
noch  unter  ihnen  lebte,  und  halb  unbewufht  iu  dem,  was  sie  selbst  lateinisch 
schrieben,  ihn  nachgebildet.  Aber  schon  unsere  deutschen  Ilunianisten,  in 
erster  Reihe  Melanehthon,  sahen  ein,  wie  Fr.  Bmm»  richtig  bemerkt  hal^  dab 
ihre  Stellnng  an  der  lateinischen  Sprache  sich  gemidert  habe,  ond  dafii  es  ver- 
kehrt scd,  fiber  den  Bhjthmus  Begeln  an  geben,  da  ne  nicht  mehr  lebe 
(Corpus  reform.  XIII  413  ff.  600).  Durch  die  bis  in  unser  Jahrhundert  hinein 
auf  den  gelehrten  Schulen  herrschende  'Imitatio'  ist  indes  die  Tradition  fort- 
gepflanzt worden;  ihre  Wirkungen  reichen  bis  an  das  Zeitalter  unserer  deutschen 
klassischen  I^itteratur  lieran,  und  die  Ausbildnn^  der  Prosa  der  modernen 
Kulturvölker  hat  sieh  wesentlich  unter  dem  Einflufis  Ciceros  vollzogen.  Die 
Franzosen  und  auch  die  Italiener  mit  ihrem  feinen  Ohr  für  Rhythmus  gefallen 
■ich  immer  noch  in  wohlklingenden  Perioden^),  wahrend  sie  bei  uns  in  Deutsch- 
land mit  onTerkennbarer  Absichtlidikeit  Terschniaht  verd^  Jeder  Leser  von 
Scherers  Deutscher  Litteratorgeschichte  a.  B.  wird  diesen  Gegensata  empfund«i 
haben.  Sätze  wie  S.  108  fder  2.  Aufl.)  verletzen  auch  unser  Ohr  noch:  «Er  ist 
ein  vollendeter  Schachspieler,  Jäger,  Musiker,  Dichter.  Er  hat  die  feinsten 
Manieren.  Er  ist  mit  einem  Worte  'höfisch'  durch  und  durch.  Er  erhalt  von 
Marke  den  iÜtterschlag.   Er  rächt  seinen  Vater  au  Morgan  von  Bretagne.  £r 

^  Daher  auch  die  Hochschätznug  eines  Rhetors  wie  Arif^tides  daidl  Scaligcr  und 
Casaubonua;  s.  W.  Schmid,  t'lur  dtn  knlturpr-HthlditUchen  Zusamincnhang  und  die  Be- 
deutoDg  der  griechischen  Benaiasance  (Akademische  Antritlwede  1898)  3.  37. 
VsMMibtShsr.  UM.  t.  48 


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638  H.  PtHut  Bbetoiik  and  Po«aie  im  Vlawiachen  AUtttoin. 

besiegt  den  Morold  von  Irland  und  befreit  dadurch  Coruwali  von  einem  sckimpf- 
Ueluai  Ifenadmisiiu.  Er  USMt  in  Irland  einen  Drachen»  n.  s.  w.  Vielleicht 
aber  hat  gerade  diese  Abkehr  tob  den  InAerliehkeiton  der  epracUiehen  Dar- 
slellnng  nna  Deutschen  die  flhigMt  Terliehen,  mit  nnbefimgoier  ObjektiTitü 

die  gesamte  Eigenart  der  antiken  Kunstpoesie  zu  erfassen;  in  Frankrnch  hat 
man  viele  Einzelheiten  richtig  herausgefühlt,  aber  dun  die  Litteratur  vieler 
JalirbuiidfTte  beHtlitimende  Übergewidit  des  Wortes  über  den  Inhalt  ist  dort 
nicht  zur  vollen  Klarheit  gelanr^.. 

Auch  wir  besitzen  sie  noch  nicht  lange.  Westermunn,  obwohl  ein  gründ 
lidier  Kenner  des  Sprachschatzes  der  griechischen  liedner,  schweigt  in  seiner 
1833  nnd  1835  ersdiienenen  Oesehiehto  der  antiken  BrnbaoLkeit  ftber  die 
tiefeingreifende  Bedentong  der  Knnsfcform  TöUig.  Erst  G.  E.  Benseier  hat  im 
Jahre  1841  mit  sein«'  berfihmten  Abhandlnng  fiher  den  Hiatus  angefangen 
unseren  Blick  hierauf  zu  lenken,  dann  hat  der  feiitHinnige  Rehdantz  sich  be- 
müht, die  Reden  des  Demosthenes  uns  auch  als  Kunstwerke  näher  zu  brinjjpn. 
bis  Fr.  Blafs  in  seiner  1868  begonnenen  Geschichte  der  griechischen  Bered- 
samkeit auch  das  System  der  Kunst  der  spracii liehen  Darstellung  bei  den 
Rednern  uns  im  Zusannueniiaug  entwickelt  hat.  Das  Werk  war  nicht  frei  von 
Übertreibungen;  überdies  konnte  vieles  auf  dem  Gebiet  der  rhetorischen  An- 
ordnung und  Gliederung  nur  Ton  einem  geschulten  Ohr  gefühlt  nicht  für  jeden 
Leser  su  ToUer  Übeneugnng  erwiesen  werden.^  Die  für  die  flbrige  Litteratur 
naheliegenden  und  von  BlaCa  sdbst  sdion  angedeuteten  Foj^^orungen  rind  daher 
erst  sehr  allmählich  gezogen  worden,  für  Aristoteles  in  glänzender  Weise  von 
G.  Kai  bei  in  seinem  Buche  über  *Stil  und  Text  der  JIoiAxsiu  ^Afh^wtiop 
des  Ar.'  (1893). 

Ich  selbst  habe  versucht  in  meiner  Behandlung  der  geschichtlichen  Litteratur 
über  die  riimische  Kaiaerzeit  und  ihre  Quellen  (1897)  die  Kehrseite  dieser  Er 
scheinung  aufrudecken  und  aus  der  Berorzugung  der  Form  und  der  in  ihrer 
Blfiteieit  groAartigen,  dann  TerhingnisToDen  Einseiti^eit  der  Griechen  die 
YemacUissignng  des  Inhalts  und  die  Mißachtung  der  Wahrheit  ftbeihaupt  su 
erklären,  eine  Thatsache^  die  bis  dahin  infolge  der  Yerkennnng  dieses  Veriiilt- 
nisses  und  der  Übertragung  modemer  Anforderungen  und  Anschauungen  in 
das  Altertum  in  ilirer  Allgemeinheit  noeli  nicht  dargelegt  worden  war.  Doch 
war  ich  mir  der  Unvollstäudigkeit  der  nur  zu  Gebote  stehenilen  Forschungen 
über  die  einzelnen  Aurserungen  des  Wesens  der  Kunstprosa  wuhl  bewufst;  um 
so  freudiger  habe  ich  das  Buch  von  E.  Norden  'Die  antike  Kunstprosa  vom 
YL  Jahrh.  t.  CSir.  bis  in  die  Zeit  der  Renaissance'  (2  Bde.,  Leipzig,  Teubner  1898) 
begrflbt  Mit  dem  Mute  d«r  Jugend  hat  er  das  um&ssende  Werk  in  AngrüF 
genommen  und  auf  Grund  einer  staunenswerten,  oft  entsagungsvollen  LekMre 
SU  Ende  gefuhrt.  'Untersuchungen*  nennt  er  es  mehrfach,  und  darin  liegt  ein 
grofser  Teil  seines  Wertes,  dafs  er  uns  das  Material  selbst  mitteilt  und  uns 
zu  Mitarbeitern  machi   Der  Titel  'Die  antike  Kunstprosa'  Terspricht  freilich 


')  Ich  eitlere  das  Werk  im  folgenden  nach  der  zweiten  Aui'lage. 


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H.  Peter;  Bbetorik  nnd  Poesie  im  Uaemchen  Altertum. 


639 


mehr,  als  das  Buch  selbst  leistet.  Norden  findet  in  der  antiken  Kunstprosa 
drt'i  wesentliche  Cliamkteristika  'die  Gorgianischon  Rwkfipuron,  die  mit  poßti- 
sclien  Worten  auagestattete  Prosa  und  die  rliythmische  Prosa'  (S.  16.  50);  damit 
irt  indes  ihr  Wesen  noeh  nicht  erschöpit;  es  fehlt  nunentlich  die  Kunst  der 
Gestoltoog  und  Oliademng  des  Stoffes  und  die  der  Vsriiindiing  der  eiwEelnen 
Teile.  Noidens  ^unstprosa*  Terhllt  sich  zur  Prosa  {lber)i»upt  wie  die  MeMk 
zur  Poesie,  in  Wahrheit  mufa  eine  Systematik  derselhen  alles  das  in  sich  be- 
greif«!, was  »nf  dem  Gebiete  der  I\)esie  die  Poetik.  Sogar  innerhalb  der  ge- 
rofTonen  Grenzen  leidet  die  Arbeit  an  einer  gewissen  Ungleichmäfsigkeit,  die 
allerdiiigH  lieabsichtigt  ist;  die  'Epochen,  die  ihm  keine  Veranlassung  boten, 
eigne  und  neue  Hesultata  vofTinlegen',  erklRrt  Norden  kürzer  oder  ganz  kursorisch 
behandeln  zu  wollen  (Vorwort  8.  IXj,  und  demgemäfs  hat  er  auch  die  Ergeb- 
nisse eign«  Lsktflre  der  antiken  Schriftsteller  gern  als  soKdie  hingestellt  nnd 
ansfOhrlidier  besprochen  nnd  sieh  mit  den  einschlägigen  Arbeiten  anderer  Ge- 
lekrlen  oft  rssch  abgefunden,  mehrfiich  in  Aet  Form  ungünstiger  Urteile,  Itlr 
die  nicht  überall  eine  innerlich  oder  aufserlicb  swingmde  VeraalMSUng  geboten 
war.  Das  trotz  seines  Hegelianismus  heute  noeh  grundlegende  Werk  der 
Ästhetik,  das  Fr.  Th.  Vi  sehen?,  seheint  er  absichtlieh  nieht  benutzt  zu  haben. 
Diese  Mängel  betretfen  mehr  die  künstlerische  Anlage;  wir  müssen  vom  Titel 
absehen  und  das  Buch  als  das  betrachten,  als  was  es  der  Verfasser  selbst  im 
Text  bezeichnet,  als  Untersuchungen,  um  üun  ganz  gerecht  zu  werden.  Er 
hat  mm  ttstenmal  die  Entwiekelung  des  dem  modernen  GeflObl  am  fttnsten 
stehenden  Teiles  der  antiken  Fonngebung  kunstnwfsiger  Prosa  vom  Ursprung 
an  bis  an  die  Neuzeit  heran,  also  durch  zwei  Jahrtaussnde  hindurch  verfolgt 
und  dabei  neben  tüchtiger  Gelehrsamkeit  ein  für  die  musikalische  Seite  aufser- 
ordentlich  feines  Verständnis  bewiesen,  das  mit  seiner  Rhjthmisierung  natürlich 
nicht  unfehlbar  ist,  wie  dies  Norden  ^selbst  wiederholt  einräumt.  Kein  Philo- 
loge wird  es  nunmehr  küiiftijr  unii^elien  können,  xü  den  von  Rlafs  und  Norden 
behandelten  Fragen  Stellung  zu  nehmen  und  sich,  selbst  wenn  ihm  die  feinere 
Empfindung  für  Rhythmus  der  Sprache  fehlt,  in  die  wieder  erschlossene 
Würdigung  des  formeUen  Tdls  der  antiken  Litteratur  hineinzuarbeiten.  Zudem 
entUUt  das  Buch  fimehtbare  Anregung  nach  verschiedenen  Bichtungen  hin 
und  wird  durch  das  reiche  in  ihm  aufgestapelte  Material  noch  viele  Mitarbeiter 
XU  Dank  verpflichten.  Mit  seinen  Ansichten  über  die  ein/ehit  n  Schriften  des 
Nonen  Testament;!  z.  T5.  und  über  das  Verhältnis  der  christliclien  Litteratur  zu 
der  Geseliichte  der  Litteratur  ühcrliaupt  wird  sich  die  theologische  Forschung 
ohne  Zweifel  auseinanderzusetzen  haben. 

Meine  Absicht  ist  es,  unter  Benutzung  der  Sammlungen  und  Forschungen 
Nordens  früher')  nur  in  Beziehung  auf  die  Geachiehtschreibnng  gegebene  An- 
deutungen aussuführen  und  zu  erweitern  und  das  gesamte  Verhältnis  der 
einzelnen  Gattungen  der  antiken  Litteratur  zu  einander  einer  eingehenderen 

*)  Qeschichtl.  Litt.  II  8.  «03 ff.  und  Beihige  sur  Allgem.  Zeitung  im  Vt.  171  nnd  nt 
'Die  Kunnt  der  Rede  im  Altertum  and  die  Gflsehichtsefaretbung*;  leider  ist  der  Abdruck 
durch  tinnttOrande  Fehler  entstellt. 

43* 


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640 


H.  Petert  RlMtorik  vaA  Poede  im  UawiMlMn  Altavtan. 


Behandlung  zu  unterzielieu;  es  wird  sii  h  dubci  die  schon  in  meinem  Bucb  be- 
tonte Notwendigkeit  bestätigen,  auf  die  unserer  modernen  Litteratur  entsprechende 
Einteilung  der  antiken  zu  ?erzichten  und  wegen  der  tiefen  Kluft^  die  während 
des  kngsamai  HerabuteigmB  der  grieehiiehen  die  swei  Arien  der  FlroM»  die 
knnefniäfiiige  (oratio)  und  die  koiutioee  (urmo),  bei  Chrieehen  und  BSmem  trenn^ 
für  diese  Periode  die  erstere  in  unmittelbare  Yerbindimg  mit  der  Poesie  m 
bringen  und  sie  zusammen  al^  die  eine  Hälfte  der  Littemtnr  der  kunstlosen 
Prosa  als  dpr  anderen  gegenübcrzustellon,  wenn  man  es  nicht  vorzieht,  diese 
letztere  wenigstens  in  der  Theorie  Uberhaupt  der  Geschichte  der  Wissenscheften 
zuzuweisen. 

Ab  Gorgias  daren  ging^  mit  bewufeter  Absieht  die  griechische  Prosa  sn 
gestslten,  da  war  sein  Zweck  nieht,  dadnidi  die  Yersündliehkait»  Elarliei^ 

Übersichtlichkeit  der  Darstellung  zu  fördern;  Wshrlieitnnd  Unwahrheit  kümmerten 
ihn  wie  seine  Zeitgenossen,  die  Sophisten,  weniger;  er  wollte  nur  durch  die 
Macht  seiner  Worte  überreden,  bereden,  beziiubem,  wpnn  notig,  verblüffen  und 
tauschen,  und  sah  seinen  Stolz  darin,  aus  jedem  Stoff  alles  zu  machen,  das 
Qrofse  klein,  das  Kleine  grofs  erscheiuen  zu  lassen.  Seine  Kunst,  die  Rhetorik, 
sollte  alle  anderen  Künste  und  Wissenschaften  in  sich  zusammenfassen,  sie  aUe 
erseiaen  können  (Plai  Gorg.  11  S.  456  f.),  die  Mittel  entlehnte  er  der  Pteeie. 
Er  gefiel  sieh  in  kflnstlichen  WorigebSuden  nnd  angespitsten  Sratenaen  und 
führte  namentlich  die  nach  ihm  benannten  Figuren,  die  Perba,  Paromoia  und 
Antitheta  in  die  Prosa  ein,  alles  dies  aber  der  Laune  und  der  Eingebung  des 
An^enhlicks  gehorchend,  weshalb  der  Verfasser  der  Schrift  TZfpl  v^ovs  (.'1,  2 
S.  13J.)  über  ihn  und  spiltere  Nachahmer  treffend  nrteilt:  TrolXaxov  yag  it'd'ovOiäy 
iavTofg  doxovvx^s  ot*  ßuxxivovßiv^  alXu  Ttai^ovaiv.  Diese  Spielerei  liatlsokrates 
zu  einer  mit  Bewufstsein  geübten  Kunst  ausgebildet  Mit  der  nämlichen 
Schnelligkeit,  mit  der  sieh  damals  auf  allen  Gebistm  des  Geistes  die  Bnt> 
Wickelung  bei  den  Ghrieclien  Tolhtog,  ist  durch  ihn  die  Schan-  und  Pmnkrede 
aar  Vollendung  erhoben  wordon,  indm  er  die  Answfiehse  der  Qorgianischen 
Weise  beseitigte  und  der  so  gemilfsigten  nach  dem  Vorgang  des  Thrasjmachos, 
des  älteren  Zeitgenossen  dea  Gorgias,  durch  kunstvolle  Perioden  rhythmischen 
Wohllaut  verlieh.  Er  wurde  so  der  Schöpfer  der  ?.i%ig  ««rförpKUft/n;  {oratio 
contorta,  verschränkten  Redel,  die  er  dei-  einfach  aneinanderreihenden  der  Alten, 
der  X.  eiQOfievt]^  gegenüberstellte.  Namentlich  aber  vertindert<>  fr  das  Ziel. 
Gorgias  huldigte  allein  seinem  Egoismus;  er  behuudelte  die  Zuhörer  als  i'uppen 
und  Terlangte  gleich  einem  Zanberw  Ton  ihnen  nur  urtoilsloses  Staunen.  Bei 
Isokrates  spielte  die  Eitelkeit  ebenfalls  eine  grofte  BoUei  aber  sein  Progvannn 
war  darauf  geriditet,  den  ZuhSrem  einen  Sstiietisehen  Genufa  sa  bereiten, 
Freude  an  der  Schönheit  einer  Terhaltnis-  und  cbcnmäfsigen  Form.')  Er  wmdets 
sich  also  an  die  Sinne,  und  swar,  wie  die  bildende  Kunst  an  das  Auge,  so  sn 


Xo9  w^tdvH  fljvf^itu 


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H.  Pater:  Shetorik  und  Poeu»  im  Ittamtolieii  Alterlam. 


641 


das  Ohr  und  vi^rspracb  »ich  mm  gleiche  Wirkung,  wie  wir  sie  heutzutage  von 
Hnsik  empfinden,  der  in  der  Zeit  des  sinkenden  Griechentums  der  Wohl- 
lani  der  Bede  weit  vorgezogen  wurde. 

Demit  traf  er  den  OeeehmadE  der  Zät,  und  die  GeBchichte  hat  0im  recht 
gegeben.  Nicht  nor  die  Rede  befolgte  die  tob  ihm  gelehrten  und  durch  Hneter- 
beispiele  eingepfSgten  Vorschriften;  jede  kunstvolle  Darstellung  in  Prosa  unter- 
warf sich  ihnen,  und  so  bildete  sich  von  ihm  ansgi-hend  eine  allgemeine 
Kuustprosa.  Nicht  einmal  Aristoteles  hat  auf  hIIo  Kunstmittel  verzichtet,  ob- 
wohl er  sie  nur  sparsiim  und  so  geschickt  und  vorsichtig  angewandt  hat,  dafs 
die  Schlichtheit  und  Einfachheit  seiner  Sprache  dadurch  nicht  gestört  wurde. 
Die«  hat  nne  Kaihel  tiberieageiid  nachgewiee«i  and  in  dem  <Ä  kuutfoUen, 
aber  daneben  anweilffia  gerade  nehdiegende  Perallelen  und  namenflidi  alle  Fli<^- 
wivrte  vermeidenden  P«riodenban  der  athenisdien  Politie  eine  etiUe  Kritik  der 
bifftoriBdien  Darstellung  der  Isokrateer  gesehen  (a.  a.  0.  S.  ^IfT),  die  allerdings 
der  so  angegriffenen  Schule  keinen  Abbruch  gethan  hat.  Begünstigt  wurde 
diese  Herrschaft  der  Form  durch  die  Sitte  des  Vorlesen«.  Die  Historiker  von 
Thukydides  bis  Polybios  schreiben  für  'Hörer'  und  *Hören',  nicht  für  Leser 
und  Lesen;  für  gutes  Vorlesen  wurden  Prämien  ausgesetzt.*)  Sogar  in  der 
Einsamkeit  las  man  für  sich  laut.')  Der  Unterschied,  der  Hir  uns  zwischen 
der  gesprochenen  Rede  und  Sdiriftwerken  besteht,  wurde  so  aufgehoben,  ein 
eadSi&tigeB  Sichversmkni  in  den  Inhalt  erschwert  Form  vaaA  Inhalt  ^eh- 
BdUUg  in  eidbi  aofinmehmen  und  rat  wflrdigen,  nunal  bei  einmalige  Hören, 
verlangt  eine  Anspannung  der  geistigen  Thätigkeit,  wie  sie  uns  jetzt  im  all- 
gemeinen kaum  möglich  ist,  über  die  aber  das  griechische  Volk  in  seiner 
Blütezeit  einmal  verfügt  haben  rauf?;  sonst  hätte  es  den  Tragödien  des  Aischyloa 
und  Snjihokles  nicht  folgen  können.  Als  aber  derartig?  Nahrnng  häutiger 
und  reichlicher  geboten  wurde  und  die  Kraft  nachUefs,  begnügte  man  sich  mit 
der  Schönheit  der  Form  und  dem  Wohlgefallen,  welches  das  Ohr  an  ihr  fand 
St^er  bei  ernsten  Gerichteveihaadlungen  wollte  es  nidit  leer  ausgehen,  sondern 
geHtaelt  weiden  (MiRoriy  Norden  S.  273 f.);  der  Beiikll  wurde  durch  die  Form 
hervorgelockt,  und  Fronto  lehrt  seinem  kaiflerlichen  Zögling  nachdrficklich,  in 
öffentlichen  Beden  auribtts  serviendnm,  wenn  nicht  durchweg,  »o  doch  non- 
nuntquam  et  nliqitnnd'i  fS  142  N.\  Wie  in  den  Versen  des  Metrums  wegen, 
80  würfelt  man  m  der  Prosa  auf  Kosten  des  leichteren  Verständnisses  die 
Worte  durcheinander,  um  Wohllaut  zu  erzielen;  der  beliebten  KiauHci  _  «  _  _  v 
zu  Gefallen  wird  in  der  rhetorischen  Inschrift  des  Königs  Antiochos  von 
Kommagene  aus  dem  I.  Jehrh.  v.  Chr.  vor  einem  Eoneonantsn  ein  p  angehSngt: 
dtii^Mv  toötois  (N<  B.  140),  Cicero  gestdit  rat,  dab  man  swwUaHs  emiaa 
sprachliehe  Fehler  machen  dflife  (Fr.  43  8. 143  R);  viele  Bonmots  des  Altertums 

Rohde,  üricch.  Roman.   8.  304  ff.   Norden  S.  6. 
*)  Dies  becengt  Lndan,  Adv.  indoct.  S  suBdrAcklich:  «ft  Sh  Avmjtifvois  n^v  rois  6<p^al- 
IMti  6QÜe  tu  ßißlia  VT)  Jitt  titrraxÖQms  x«)  &vuyivAnuiS  Irie  itävv  imr^iiaiv  q>&ävovroe 
To^  öqx^ifiiioi'  rii  oTüiia    T>i('  Stell«  ist  Norden  eatgengen,  der  8.  6  nnr  einen  indirekten 
Beweis  aus  Augustin  beibringt. 


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G42 


U.  Feter:  Rhetorik  und  I'oeaie  im  khuMi«chen  Altertum. 


TerduLkfln  ihre  Überliefenmg  weniger  der  Überzeugang  tdh  dar  Wahrbeit  des 

Inhalts  als  dem  Gefalleu  an  der  Form.  Der  Sinn  wurde  sogar  mifsachtet^  Qni 
irgend  eine  Fi^nir  anzubringen  (N.  S.  290 f.),  die  Einzelheiten  des  Stoffes  'waren 
völlig  gleichgültig^  ^worden.  In  den  Hörsaal  der  griechischen  Sophisten  dranj»t<»u 
sieh  Römer,  die  ihre  Sprache  gar  nicht  verstanden.  Stellen  wir  uns  auf  den 
antiken  Standpunkt,  so  müssen  wir  an  die  Texte  denken,  die  wir  uns  beim 
Gesang  bieten  liefsen  und  nodi  bieten  Uesen,  und  werden  nun  Über  maneheB 
Werk  des  Älteriume  ein  anderes  Urteil  gewinnen;  a.  B.  fiber  die  Lobrede  daa 
feinsinnigen  jflngeren  Pliniua  auf  Trajan.  SoUte  die  Form  YoUtönen^  so  mutete 
der  Inhalt  ihr  mitsprechen  und  hier  ^idifalls  die  Klangfarbe  kräftiger  ge- 
nommen werden. 

Dir  Rhetorik  d(  s  Isokiatos  btthatigte  sich  nach  drei  Richtnn^n  hin, 
wie  « r  dies  selbst  in  der  Rede  gegen  di«'  Sophiston  (XIII  16)  ausspricht:  xai 
TOi^  iv&tiftilHaOt  jtQcrötfrag  olov  rbv  /.öyoi'  xaTa:Tuixl/.(a  xal  rotg  ovo^aiv 
(VQV&fias  xtd  [iovoixb}^  ti:!t6lv.   Die  erste  Aufgabe  ist  uläo  eine  angemessene 
AnsBehmQelciing  d«r  Bede  durch  poetische  Steigerung  des  Au^mchB  und 
besonders  durch  die  bereits  erwühntcn  Oorgianischen  Figuren,  sanSchst  dia 
bei  Griechen  und  B5meni  beliebte  Parisosis,  den  Fsrallelismus  der  F<Hrmy  fttr 
den  Norden  als  typisches  Beispiel  einen  Satz  des  Gorgias  anltlhrt  (8.  816): 
Ti        iat^v  tolg  uvdgaai  Tovtotg  i»v       itvöffASi  ar(»o0tl«f«tt; 
t(  8\  xkI  jtQOOYiv  &v  ov  öbI  :TQO«t£lvmi 
flnfiv  dvvat'iiriv  u  ßovXofiMij 
ßovXoi'imjv  d'  'd  SbI' 

tpvyhv  di  tb»  ivf^ifUTtivov  ^tfHvov. 
Nodi  bequemer  und  schon  von  Heraldit  verwandt  war  die  Faronomasie  oder 
das  Wortspiel,  tou  dem  Gtorgias  einen  so  ausgedehnten  Gebrauch  gemacht  hat^ 
dafs  er  deswegen  im  ganzen  Altertum  als  kindisch  und  frostig  getadelt  worden 
ist  (N.  S.  23flF.).  Ebenso  ist  die  Antithese  zwar  von  Gorgias  und  Isokrates 
zuerst  mit  Bf^ufstsoin  in  grnff^prrm  Umfange  als  Kunstmittrl  vrrwcrtot  worden, 
aber  *erfini(icii'  liat  sie  weder  dtM-  eine  noch  der  andere.  Srihst  ilie  allgemeinere 
Annäherung  der  Prosa  an  die  Potaie,  die  Aristoteles  (Rhetor.  III  1 J  dem  Gorgiaö 
Torwirfi,  ist  nicht  Ton  ihm  ausgegangen;  die  Trennung  hatte  sich  damals  ttber- 
haupt  noeh  niebt  mit  aOer  Scharfe  vollsogen;  wir  werden  darauf  noch  einmal 
zurflcksukommen  haben. 

Trat  Isokratcs  r  mit  Vorsicht  (N.  S.  30flF.)  in  die  Spuren  des  Gorgias, 
so  bat  er  in  der  rhythmischen  und  musikali^-rhen  Gestaltung  der  Rede  die  Anfinge 
des  ThrasyTTiachos  von  Kalchcdon  fortj^cst  tzt .  aber  anc-li  liier  n>crtreibungen 
gemäXsigt.      Er  streifte  also  von  der  Poesie  das  Metrum  ab  und  behielt  nur 

GScero,  De  «rat.  Ht  44, 17S:  idfne  (dmuMbu)  prvueim  hoerate»  vutÜnKkte  ferUnr,  «t 

inconditam  antiquorum  dicendi  consuehtdinem  delectationis  alque  (lurltim  rauxn.  fjuiinadmodum 
scribit  discipulus  eiwf  Naitcrates,  numeris  tuiringeret.  Die  zwei  Posener  Programme  voa 
K.  Steiner  verdieneu  übrigens  aucli  jetzt  noch  aU  zweckmäÜBige  Zuaammeafassuog  Er- 
wUmung:  De  numero  mtatoiis.  Soateatias  ab  Aristotel«  ae  Cicerone  pvolatas  ia  themiae 


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H.  Fator:  Rhetorik  tDmd  Poesie  im  Idaettecheit  Altertam. 


643 


den  Rhjtlmina  bei;  dieier  aber  m  bedingt  durdi  die  Periode  S.41£)y 
deren  Anadehnnng  in  dem  OedMiken  nnd  im  Atem  ihre  Grenze  fand  nnd  Ton 

Cicero  auf  den  Raum  von  liet  daktylischen  Hexametern  bestimmt  wurde 
(Oniti.6^222);  in  ihrem  Aufbau  ans  den  einzelnen  Gliedern  {x&Xa  und  xcififim«)^ 
die,  wie  sie  erst  durch  die  Einfl5f(i:r<?  in  das  Ganze  ihre  volle  Bedeutung  er- 
hielten. HO  durch  ihr  Zahlen-  und  GröfHeu Verhältnis  zu  eiimiider  und  durch  die 
xwisihen  ihnen  zu  machenden  Pautten  den  Wohlklang  hervorl)racbten,  zeigt 
sich  der  eine  Teil  der  Kunst  des  Redemeistertj.  Der  andere  bestand  in  dem 
rbytimuHlien  Timftll  der  einnelnen  Glieder,  an  Anfang  nnd  besonders  am 
Sdilttl^  jedoch  unter  Vermeidung  dw  i^eicjhm&ftigen  Wiederkehr  derselben  und 
flberiianpt  der  in  der  Poesie  gelängen  Yersmabe,  um  nidit  in  ^en  VerB, 
B.  mten  daktylischen  Hexameter  oder  einen  iambischen  Trimeter  zu  ver- 
fallen. Tb  Ox^liti  tilg  l^stof  del  fiijre  innexQov  elvai  (ii^te  agQvd^fiov,  ^v&fibv 
dtl  ixtiv  TOP  Adyov,  fit'rgov  dl  fxrf.  lehrt  auch  Aristoteles  (Rhet.  Ul  8),  dem 
Cicero  (Orat.  öT,  195;  51,  112)  uiid  die  Techniker  »Ich  anschüefaen  ('Blafs  U 
139, 145  ü".;,  und  selbst  er  (^mguivitut  Qt>&fi^  ndvvu  )^  giebt  eingehende  Charakte- 
ristiken der  einzelnen  YersfOTse  fQr  diesen  Zweck.  In  der  Praxis  hat  sich 
sogar  ein  Demosthenes  an  gewisse  rhjtfamiadie  Regeln  gebunden,  indem  er  den 
ernsten  daktyliseh«!  Rhythmus  herorsugte  und  der  Regel  nach  nicht  mehr  als 
zwei  Kürzen  aneinander  reihte  (Blafa  IH  105),  während  bei  seinen  Nachfolgern 
weichlichere  und  HchlafTore  Rhythmen  in  den  Klauseln  aufkamen,  der  Ditrochäus, 
zwei  Cretici  oder  ein  Creticns  mit  eincTn  Trochäus,  und  die  spieleiule  Auf 
lösuug  der  Länge  in  Kürzen  zunahm  (N.  S.  017).  Es  liegt  auf  der  Hand, 
wie  viel  solche  Beobachtungen  zur  Erkenntnis  des  ('harakter.s  des  K^idners  oder 
Schi'iftstellera  beitrugen.  Die  Geschichte  des  rhythmischen  Satzschlusses,  die 
Norden  seinem  Badie  angehängt  hat  (S.  900 — 960),  ist  deahalb  sehr  wertrolL 
üm  sich  freilich  von  der  Wirkung  einer  solchen  Klausel  eine  deutliche 
Vorstellung  an  machen,  muft  man  xonSchst  berflcksiditigen,  dafs  nach  den 
Lehren  der  Techniker  auch  ihr  Rhythmus  allein  dorch  die  Quantität  der  Silben 
bestimmt  wurde,  mit  anderen  Worten,  dafs  für  die  Klauseln  der  Prosa  wie  för 
die  Terse  die  Tjänß;en  nnd  Kürzen  der  Silben  mafsgebend  waren*);  nur  insofern 
bestand,  wie  Diomedes  (8.468,  2'6  ff.  K.)  versichert,  zwischen  Poesie  und 
Prosa  ein  Unterschied,  als  in  der  letzteren  die  Position  einen  eigentlich  kurzen 
Vokal  nicht  lang  machte.  Der  Wortaccent  war  hier  für  den  Rhythmus  ebenso 
gleichgültig,  wie  in  den  Versen  und  in  der  Musik*),  was  uns  Deutschen  freüidb 
erst  dann  begreiflich  wird,  wenn  wir  nach  dem  Muster  der  Italiener  den  Unter- 


fonnaim  rediffere  conatai  «et  C.  8t  (ICniengTiBii.  1860).  De  voda  meta  ontorio  ■ODOmm- 

que  ronsoniiiitiis  a  Oraeris  in  dirriido  adhihitis  earumque  natura  ac  ratione  nuineris 
ezpreesa  ex  autiq^uoe  maxime  musices  foatibus  diaaerere  conatus  est  C.  Si.  (1864). 

Vgl  tafMt  vielen  anderen  Stellen  doero,  Or.  Se,  190:  iStt  ^iw  hoe  eogtUhm  m» 
$lihtti»  eüam  verbi«  inesae  numeros  eosdettique  etw  cratori»  flU  $mtpoetiei}  Bionjs.  HaL  Ober 
Iflokrates  2  (V  S.  538  H  -rmioSm  rt  Her!  TtMm  TTfffda^p^vHW  tit  vOiffMeVtt  «nfAfttt,  fv9pttd^ 
xürv  Mtl  oi  «olv  ünfxovTt  tov  JTOtijrtxov  ^vdftov. 

^  0.  Cnudw,  ErgäDzungsheft  mm  FUloi.  UQ  (IBM)  8.  ItO. 


644 


H.  Pator:  BItehMik  xmi  Foetie  in  Mwaohea  Altertam. 


schied  swücben  knrsen  mid  hngm  Silben  viel  foh&rftr  h«iTor-  nnd  daftr  d«ii 
Wortaooent  nurflcktreten  Imboii.*) 

Wenn  nmi  aber  der  Hhythrnne  das  MniikaliBclie  in  die  geqHroehene  Rede 
xäßkt  liineinbrachte,  wie  Mrurde  daiin  die  dritte  Forderung  des  laokrates,  das 
ftovtffxA?  slxelv,  erfüllt?  Die  Antwort  giebt  uns  Piaton,  der  mehrfacli  sich 
widprsprcrhencle  Reden  nioht  musikalisch  nennt.  7,.  B.  Protag.  2<)  S.  333  A,  wo 
er  den  Wort^'n  ovroi  yuQ  ol  köyoi  aiKpötfQf)/  ov  rr(rrt>  uox>(fixö}^  ktyoinm  die 
Erklärung  anfügt:  ov  yap  tivvq.dov6iv  ovöi  avx>uQu.oxjvv6LV  cckXrjkoiQ.  (nler  in 
den  tieäetzen  V  2  S.  729  A:  ij  tüv  vimv  dxoXttxevTog  oveCu  . .  .  xuöujv  furv- 
tixandvii  tt  »od  «(fftSTt)-  ivngnnßoOta  yäg  inilv  xal  lvvaQp4tww^  «fe  SmvPvk 
äkwew  TÖy  fiiov  i3feQy«f;ßUtt.  Gtomeint  ut  also  dabei  oamentiich  daa  Ver- 
meiden des  Hiatus  (der  '»SyxifoMig  vAy  ^mPijiytm^,  das,  roa  laokiafea  aom 
Gesetz  erhoben,  mehr  oder  weniger  streng  von  allen  fl0rgfaltig<  t:  Srhriftstellen^ 
nicht  nur  denen  der  Eunstprosa,  beobachtet  worden  ist,  und  das  des  Zusammen- 
stofaens  gleicher  Silben  am  Ende  des  einen  und  am  Anfang  des  nacliHtj"7i  W<>rt^< 
( 7ix<n'6tt(uv  (it'v)  sowie  harter  Konsonanten,  wodurch  die  getadelten  3;cc(lti'ot 
oder  freni  entstanden.  Nur  tä  kiyöfitv«  xtdä  övd/Mcra,  d.  h.  wohlanständige, 
aus  ^schonen'  Buchstaben  zusammengeselzte  Worte,  sollte  der  Kedner  in  den 
Mund  nehmen;  die  *€^iv^«ig  dtfofulttov'  hat  die  alten  Teefaniker  viel  heediiftigf^ 
ohne  dalli  freilidi  unser  minder  empfindlidiea  Ohr  ihnen  flherall  nachkommen 
könnte.  Daher  &lkt  Plntareh,  De  aud.  poei  C.  2  die  Yorsttge  eineir  wohllantenden 
Darstellung  so  aoBammen:  ovrf  yoQ  [l(xqov  o{ütc  tgdxog  oirte  k^eag  oyxog 
oirt*  eitxaiQia  fitxatpoQäg  oCrc  «Q^ovla  xal  avvd^töig  i^n  xoöovtqv  ca^vli'ag 
xccl  j^ßQtrog  oßov  fv  ^rs^ntr^uitn]  dircd-tOiQ  iiyd'oXoyiag.  Gesteigert  wurde  die 
musikalische  Wirkung  der  Buehstaben  durch  den  Vortrag,  dessen  Charakter 
im  allgemeinen  je  uach  dem  Inhalt  eine  besondere  Tonfarbe  haben  mufste  und 
dann  noeh  in  aidi  mehflelmd  ^  naeh  dem  Siim  hei  im  hexanBohebrnden 
Wörtern  nnd  Verbindungen  einen  höheren  oder  tieftran  Ton  ansehli^  oder  je 
nach  der  Form  innerhalb  des  Satses  ihn  bald  steigen  bald  fidlen  lieft;  in  einer 
Frage  steigt  der  Sehlufs  oft  über  eine  Quinte  über  den  Mittelton,  in  einem 
Anssagesatz  fallt  er  um  eine  Qnarte  (Helmholtz,  Lehre  von  den  Tonempfindongm 
S.  1^92).  Bekannt  ist,  dafs  sicli  C.  Uracchns  durch  einen  hinter  ihm  verborg^^nen 
Flötenblaser  den  Ton  angeben  liefs  (s.  N.  S.  5511.).  Auch  die  durch  den 
rhythmischen  Aufbau  bedingten  längeren  und  kürzeren  Pausen  {diuöTfjfiatcc) 
wurden  in  dieser  Richtung  nach  den  Lehren  der  Rhythmiker  verwertet.*) 
Endlieh  aber  war  das  Wesen  des  griedusehen  Wortaooents  (xQoamditt)  im 
Gegensats  an  dem  em^piratoriBeh-energisdien  oder  dynamischen  dee  Verses  ein 
*hober'  oder  'tiefti:^,  weshalb  er  auch  der  Melodie  das  Gnmdgeseta  gab  und 
in  der  Mnsik  eine  aeoentuierte  Silbe  möglichst  höher  gesungen  werden  mnfst^ 
nie  tiefer  gesungen  werden  durfte  als  die  nicht  acccntuierten  NachbarsUben 
(Cnisius  a.  a.  0.  S.  113).  So  sagt  Cicero  von  seinem  idealen  Bedner  (Or.  17,  Ö6): 


»)  W.  Mejer,  Abhandl.  der  Kgl.  bayer.  Akad.  d.  WisBcnBch.  PhiL-hisk  Kl.  XVU  S.  6t 
^  S.  Yolkmann,  Ithetor.*  S.  fi05  und  BteiiMit  sweitei  Programm. 


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H.  Peter:  Khetorik  uod  Poesie  im  klassischen  Altertum. 


645 


Vold  .  . .  et  contmta  voce  atrociter  dicere  et  summissa  leniter  et  inclinata  videri 
gravis  et  inflexa  miserabilis.  Mira  est  etiim  qvaedam  natura  vocis,  cuitis  quidem 
e  tribus  omnino  sonis,  inflexo,  aaäo,  gravi,  ianta  sit  et  tarn  suavis  varietas  per- 
fecta in  cantibus.  Est  autem  etiam  in  dicetido  (ptidam  catUus  ohscurior  (andere 
Stellen  s.  N.  S.  56  f.).  Stolz  vergleichen  sich  die  Sophisten  mit  einem  Schwan 
oder  einer  Nachtigall  (N.  S.  376).  Heutzutage  vermögen  nur  wenige  Glückliche 
jenen  Reiz,  den  der  Wechsel  zwischen  den  beiden  Arten  der  Betonung  hervor- 
ruft, wiederzugeben,  auch  zu  empfinden  nur  solche,  die  von  den  modernen 
Forderungen  an  einen  *guten'  Vortrag  absehen;  denn  jetzt  wird  ein  'singender* 
als  unschön  durchaus  verboten,  bei  den  Alten  war  der  'quidam  cantus  ohscurior* 
schon  in  der  ersten  Kaiserzeit  bis  zu  einem  wirklichen  Oesang  übertrieben 
worden  und  trotz  aller  Warnung  gernüfsigter  Lehrer  wie  Quintilians  (quod 
inutüius  sit  an  foedius  ncscio  XI  3,  57)  bald  in  dem  Grade  Mode  geworden,  dafs 
man  auch  den  Körper  im  Einklang  damit  immer  lebhafter  bewegte  und 
Tacitvis  im  Dialog  (C.  26)  seinen  Messulla  klagen  läfst:  Quod  vix  auditu  fas 
esse  dd>eat,  laudis  et  gloriae  et  ingenii  loco  plerique  iactant  cantari  saltariqiie 
commentarios  suos  (s.  N.  S.  294 f.).  Das  Verständnis  dafür  hat  uns  zuerst 
Helmholtz  in  seinem  berühmten  Buch  (S.  391  ff.)  eröffnet,  dann  haben  es  uns 
die  gelehrten  Benediktiner,  wie  ich  aus  Norden  S.  859 f.  gelernt  habe,  und 
0.  Crusius  in  seinen  Untersuchungen  über  die  delphischen  Hymnen  näher 
gebracht.  Helmholtz  hat  nämlich  in  dem  singenden  Ton  der  italienischen 
Deklamatoren  und  in  den  liturgischen  Gesängen  der  römisch-katholischen  Priester 
'Nachklänge  des  antiken  Sprechgesangs'  erkannt  und  auf  die  Entwickelung  des 
Gregorianischen  Gesanges  aus  den  schon  seit  Papst  Sylvester  (314 — 335)  be- 
stehenden Singschulen,  also  einer  Zeit,  bis  zu  der  die  alte  Tradition  gedauert 
hatte,  hingewiesen.  Von  hier  aus  werden  wir  uns  demnach  das  Bild  einer 
antiken  Kunstrede  zu  entwerfen  haben,  allerdings  beachten  müssen,  dafs  in 
denjenigen  Schulen,  die  gegenüber  der  ausartenden  Moderichtung  mit  Aristoteles 
Mafs  hielten,  die  Regeln  über  den  Rhythmus  nur  für  den  Schlufs  des  Satzes 
galten  (Cicero,  Orat.  59,  199;  s.  Blafs  U  147).  Der  ansteigende  und  dann  wieder 
fallende  Ton  einer  stattlich  aufgebauten  Periode  wirkt  andersartig  auf  das  Ohr 
als  der  rhythmische  Abschlufs  und  liefs  es  nicht  zur  Monotonie  kommen 
(Diom.  S.  471,  6  ff.).  Diese  ist  erst  mit  der  Manier,  die  Gedanken  in  kurze 
geistreiche  Sätze  zusammenzudrängen,  eingerissen;  nun  herrschte  der  Rhythmus 
von  Anfang  bis  zu  Ende  (N.  S.  295 ff.);  die  Kunst  verzichtete  auf  den  Anspruch, 
für  Natur  gehalten  zu  werden  (Cicero,  De  or.  LH  51,  197),  und  die  Sprache 
wurde  für  sie  das  Werkzeug  ihrer  in  Spielereien  sich  gefallenden  Eitelkeit. 

Während  Gorgias  und  die  Sophisten  sich  damit  gebrüstet  hatten,  aus  dem 
Stegreif  zu  sprechen,  bekannte  Isokrates  ehrlich,  dafs  er  viel  Arbeit  brauche 
(Or.  XIU  17,  Geschichtl.  Litter.  U  S.  410);  eben  dadurch,  dafs  er  den  öffentlichen 
Vortrag  seiner  Prunkreden  und  den  Schein  fehlender  Vorbereitung  ablehnte, 
den  selbst  Demosthenes  sich  zu  geben  suchte  (Blafs  HI  183  f.),  hat  er  so  aufser- 
ordentlichcn  Einäufs  auf  die  Gestaltung  der  gesamten  Prosa  ausgeübt.  Er  er- 
klärte seine  Aufgabe  für  schwieriger  als  die  eines  Dichters  (IX  8  ff.,  XV  45  ff.), 


646 


H.  Fetor:  Rhetorik  md  Vo«d»  tm  kiMiriiirhfin  AUcrtmn. 


und  wir  wertlcu  linu  dies  glauben  dürfen,  obwuhl  die  durch  die  Übung  ge- 
wonnene Fertigkeit  mwib  der  yMahgAUm.  Teniehemi^  der  Alten  vid  fimt  und 
besonders  das  ihnen  angeborene  Geftthl  ftbr  die  Enrytiunie  xa  Hilfe  kam.  Wie 
bei  Ovid  *qaidqmd  tentabat  dieere^  Terans  erat*  so  konnte  sogar  ein  iwinsipieller 

Gegner  der  ilutonschen  Schreibweise,  wie  Epikur,  sich  des  Rhythmus  in  seiner 
Darstellung  nicht  erwehren  (N.  S.  124 f.),  und  auf  das  Ohr  wirkt  doch  auch 
die  des  Plato,  für  den  die  Rhetorik  nur  ^ffixeigi'u  xal  tQißij'  war  (Gorg.  1^ 
S.  463B).  Gewifs  halitn  daher  auch  Redner,  die  sich  nicht  jedes  Wort  vor 
dem  Besteigen  der  iiednerbüküe  zurechtgelegt  hatten,  den  Ohren  des  zuhörenden 
Volkes  genügt,  aber  alle  Ansprüche  der  Schule  wurden  erst  gegenüber  der 
aufgeadhriebenen  JU|»5  erhoben,  die  sehon  Aristoteles  als  die  higißeöt<itr)  von 
der  iymnatua^  als  der  ^amt^tiMmdtii  scheidet  (Bhei  m  12),  wedialb  denn 
noch  an  Flatons  Zeit  gerade  die  grSlbleo  Bedner  sidi  scheuten,  ihre  Reden, 
anfrnzeichnen  (Phaedr.  39  S.  257  D).  Als  dann  aber  die  Rhetorik  den  er- 
klärten Sieg  errungen  hatte,  kannte  sie  im  Gefühl  ihrer  Leistung  kein  Mafs. 
Wie  das  litterarischo  Schaffen  sieh  bei  den  Griechen  sehr  enge  Kreise  zog, 
so  dafs  in  ihrer  Blütezeit  derselbe  Dichter  nicht  Tragödien  und  Komödien  ver- 
fafste,  und  die  Bildung  des  Einzelnen  eine  beschmnkte  war,  so  erzeugte  die 
ihnen  eigene  Einseitigkeit  in  jeder  Richtung  geistiger  ThStigkeit  und  BÜdong 
die  Yorstellang,  aUein  das  Wahre  getroffen  au  haben,  und  dadurch  Ündnld- 
Munheit  gegen  die  fibrigen  und  Yerkennang  ihrer  VcnOge,  Die  Bede  sei  das 
vornehmste  Organ  des  Menschen,  und  wer  dies  ausbilde,  der  bilde  seinen  Ver- 
stand und  durch  diesen  seinen  Charakter,  dieser  Satz  des  Isokrates  (Blafs  11  27) 
hat  Jahrhunderte  lang  auf  der  Fahne  der  Rhetorik  gestanden.  Voller  Mifs- 
achtung  blickte  die  Schule  daher  gemdf»  anf  di(;  beiden  Künste  herab,  denen 
sie  das  meiste  verdankte,  die  Poesie  und  die  Musik.  Schon  Ephoros  hatte  in 
der  Vorrede  zu  seiner  Universalgeschichte  Trug  und  Zauberei  den  Zweck  der 
Musik  genannt  (Polyb.  IV  20),  und  Isokrates  ging  in  seiner  Verkennung  der 
Poesie,  ol^leidi  er  ihre  Sinnsprfldie  branchhar  &nd,  so  weit  an  hdianpleo, 
dafe  der  Ruf  der  berfibmtesten  DidhtwweiiEe  nor  auf  dem.  Metnan  beruhe,  wie 
sich  dies  sofort  zeige,  wenn  man  sie  dessen  entkleide  (IX  10  f.,  Blafs  II  48). 
Allmählich  wurde  sie  sogar  zu  einer  Dienerin  der  Rhetorik  herabgedrückt. 
Dir"  Überschätzung  der  Form  in  der  eigenen  Kunst  hatte  «u  der  des  Metrums 
in  der  i'nesie  verleitet. 

Dahin  konnte  es  allerdings  erst  kommen,  nachdem  unter  den  Griechen  der 
mächtige  Quell  der  Platonischen  ^i(a  fuxv£tt,  Goethes  'Drang  seligen  Schaffens*, 
fttr  die  Poette  zu  Ter&icgon  angefangen  hatte.  Isokrates  nahm  sidi,  beinahe  hundert* 
jährig  nach  der  Sdüacht  bei  Chaironeia  das  Leben;  der  griechisehe  Schönheits- 
sinn hatte  seine  edelste  Entfaltung  schon  hinter  sich,  ehe  die  Kämpfe  um  die 
nationale  Selbständigkeit  ausbrachen.  Auch  die  Poesie  löste  sich  in  der  helle- 
nistischen Periode  von  ihrem  mütterlichen  Boden,  nehlofs  sich  in  die  Wiindt 
der  Schule  ein,  wo  sie  die  Redektmst  schon  antraf,  und  liefs  die  Venniachung 
der  bis  dahin  streng  auseinander  gehaltenen  Dichtnng8art<Mi  r.n. 

Es  ist  für  Rom  von  aufserurdeutiicker  Bedeutung  geworden,  dafs  die 


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H.  Peter:  BheUvik  und  Feerie  im  UamMhen  Altertnm. 


647 


griechische  Gelehrsamkeit  von  Ptrgamon  eingewandert  ist,  wo  auch  die  in 
Alexanilria  hintangesetzte  Proäa  behaudalt  wurde.  Hermagoras  fand  daher  für 
leine  icbolAstische  Rhetorik  dort  geeigneten  Boden  imd  uhlreicbe  Schüler')^ 
die  D^nition  des  Redners  als  eines  *Tir  bonos  dicendi  peritas",  wie  sie  der 
alte  Cato  angestellt  liatte  (Quintil.  XR 1, 1),  macbte  einem  liandwerksmäAngen 
Betrieb  der  Redekunst  zuerst  unter  griechischen  Lehrern  Fiats.  Mit  Hortensiua 
schien  der  schwülstige  Asianismus  das  Forum  zu  erobern.  Dagegen  verfolgte 
Cicero  einerseits  praktisch  die  von  den  beiden  jn^ofsen  Kednern  seiner  Jugend, 
Crassus  und  Antonius,  eingeschlagene  Bahn  weiter  und  suehtc  vcnn  Kömertiini 
80  viel  zu  retten  als  zu  retten  war;  anderseits  lehrte  er  im  Gegensatz  zu  der 
Schule,  die  die  Aneignung  eines  Systems  von  Regeln  fQr  ausreichend  zur 
rednerischen  Ansbildnng  erUirte,  das  Znrtte^^ehen  auf  die  grofsen  Meister 
firfihnrer  Zeiten,  aamentlioh  auf  Aristoteles^  und  auf  die  EoryphSen  der  griechi- 
sohen  Beredsamkeit  selbst,  vor  allem  auf  Donosthenes.  Er  hat  die  allgemeine 
Überflntnn«^  Roms  durch  die  das  Ohr  kitzelnde  Rede  auf  Jahrzehnte  aufgehalten 
und  dem  Inhalt  noch  einmal  zu  seinem  Rechte  verhol iVn,  urul  meinem  Verdienst 
ist  es  wesentlich  znznsehreiben,  dafs  das  Römertum  sich  bis  in  die  Mitte  des 
II.  nachchristlichen  .labrbundcrts  vor  den  Oriechen  durch  seiTie  (Te.sundhoit  aus- 
gezeichnet und  die  Ilauptäbadt  des  Reichs  eine  Zeit  lang  die  Herrschaft  auch 
auf  dem  Gebiete  des  Geistes  und  der  Littentur  besessen  hai  Den  EinfinTs 
der  Rhetorik  können  zvar  selbst  Tiboll,  Fh)perz,  Virgil  nicht  Terlengnen,  aber 
ihre  diehterisehe  Kraft  ist  dooh  von  ihr  nicht  erstidEt  worden,  und  den  von 
Rhetorik  rdllig  fimen  Satiren  nnd  Episteln  des  Horaz  hat  das  dama1it;e  Griechen- 
lund  nichts  auch  nuT  entfernt  an  die  Seite  zu  stellen.  Selbst  fQr  die  griechisehe 
liitteratnr  des  znm  Alten  zurückkehrenden  Klassieismns  oder  Atticisnnis  wurde 
Horn  eine  Heimat  und  unter  dem  Schutze  Casars  und  des  Augustus  ein  ilittel- 
puukt,  von  ^vo  aus  die  verwandten  Bestrebungen  auch  in  den  Mutterländern 
Stärkung  emphngen  (Dion.,  De  ant.  or.  pr.  ii,  Y  8.  448  f.  11.).  Die  ästhetischen 
Sdmften  des  Dionys  ans  HsIikBraafo  und  des  Caeeüins  ans  don  sisQisehen 
Ealakte  sind  damak  in  Rom  yerkM  worden.  Bis  Mi  das  Ende  des  erstm  naeh- 
christliehen  Jahrhanderts  gewShrte  Giceros  Anknrilftt  einen  kraftigen  Rückhalt 
dm  BestreboiiLT  r  ,  ^  aidi  der  ftuAerlichen  Befareibong  der  Redekunst  entgegen- 
stemmten,  und  Verehrung  haben  er  und  der  Erneuerer  seiner  Lehre,  Quintilian, 
auch  weiter  im  Altertum  gefunden.  Aber  eben  weil  seine  Rede  im  Boden  der 
Wirklichkeit  wurzelte,  verlor  sie  durch  den  Umschwung  der  politischen  Ver- 
hältnisse jede  Fühlung  mit  dem  Leben;  in  den  Schulen  hatte  sie  keinen  Raum 
neben  den  unterdes  in  sie  eingedrungenen  Deklamationen,  die  ncccssaria  deserutU, 
Am  dpeekm  iedanlvr  (Seneca,  Contror.  9  praef.  2).  Zu  Qaintilians  Zeit  hatte  sich 
diese  Bichtang  sogar  der  Öffentliehkeit  bemSehtigt:  In  ipsa  captH»  tuU  fortttnarutn 
pariada  irrupU  volupias  (IV  2,  122.  127}  8,  2).  Indes  auch  in  ihr  bildete 
damals  die  Znhdrerschaft  ein  kleinere*  Kreis  von  Kritik  dbendMi  Gebildeten'), 

0  Blab,  Gr.  Beiedsauk.  v.  AlessiideT  bis  «nf  Angnsti»  8.  84ff.  lOSff. 

TacituH,  Dial  10:  Cum  vix  in  eOfOIM  qilitfpum  OttUtat,  ^HMI  clemarf»  «(lMf«9niM  efn 
non  instrucius  at  arte  mbutut  at. 


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648 


H.  Peter:  Rhetorik  und  Poesie  im  klansischen  Altertum. 


deren  Beifall  ebenfalls  der  Form  galt  (Teuffei,  Litteraturgesch.'  §  45,  4  S.  81). 
Wenigstens  wurde  hier  noch  der  Schein  der  Wirklichkeit  gewahrt.  Sogar 
dieser  schwand,  als  mit  dem  zweiten  Jahrhundert  die  neue  Sophistik  aus  Asien 
in  Rom  einzog  und  sie  und  mit  ihr  die  griechische  Sprache  das  Übergewicht 
gewann  (Geschichtl.  Litterat.  I  6  ff.,  N.  S.  351  ff.).  Schon  die  attischen  Redner 
hatten  sich  wenig  um  ihre  Landesgeschichte  bekdmmert,  Isokrates  hatte  offen 
Abweichen  von  der  Wahrheit  bei  Lob  und  Anklage  gestattet  und  der  rhetori- 
schen Wirkung  wegen  die  Geschichte  gefälscht  (Blafs  II  7.  45 ff.);  selbst  Cicero 
und  Quintilian  scheuten  sich  nicht  in  diese  Fiifsstapfen  zu  treten.  Die  ein- 
seitige Ausbildung  des  Sinnes  für  das  Schöne  schädigte  und  vergiftete  den  fOr 
die  Wahrheit  und  erreichte  es,  dafs  nicht  nur  bei  einem  Widerstreit  zwischen 
dem  Schönen  und  Wahren  dieses  zurückgeschoben,  sondern  die  Wahrheit  Ober- 
haupt nicht  mehr  gewürdigt,  also  auch  eine  nur  auf  Verständlichkeit  und 
Deutlichkeit  bedachte  einfache  und  schlichte  Darstellung  derselben  von  den 
Meistern  der  Kunst  mifsachtet  wurde  (Geschichtl.  Litterat.  1 10  ff.,  36  f.,  II  183  ff.). 
Auch  die  Sprache  hatte  sich  von  der  des  Lebens  entfernt.  Indem  die  Sophisten, 
vielleicht  unter  dem  Einflufs  des  Herodes  Atticus,  in  die  Bahn  des  Atticismus 
einlenkten,  ihren  Stil  nach  den  Klassikern  der  Rede  gestalteten  und  sich  ängstlich 
vor  jedem  Verstofs  gegen  die  Reinheit  der  altattischen  Ausdrucksweise  hüteten, 
verzichteten  sie  auf  Volkstümlichkeit  und  schufen  einen  'papiemen  Stil',  der, 
aufserhalb  des  Mutterlandes  zur  Herrschaft  gekommen  und  in  die  Entwickelung 
der  Verkehrssprache  nicht  hineingezogen,  sich  mit  wunderbarer  Zähigkeit  bis 
in  das  VI.  Jahrhundert  hinein  ohne  wesentliche  Änderungen  erhalten  hat.*) 

Nun  war,  wie  schon  bemerkt,  seit  alters  bei  den  Griechen  in  der  feierlich 
gehobenen  Rede  die  Trennung  zwischen  Poesie  und  Prosa  nicht  so  scharf, 
wie  wir  jetzt  sie  zu  betrachten  uns  gewöhnt  haben  (N.  S.  30.  36).  Die  Muse 
der  epischen  Dichtung,  Kalliope,  verleiht  bei  Hesiod  Theog.  79  ff.  den  Königen 
die  honigsflfsen  Worte,  durch  die  sie  den  Streit  in  ihrem  Volke  schlichten. 
Die  Metrik  war  aber  eher  gefunden  als  die  kunstvolle  Form  der  Prosa,  und 
80  wählten  die  ionischen  Philosophen  jene,  als  sie  ihre  Wahrheit  in  einer  über 
den  gewöhnlichen  Gesprächston  sich  erhebenden  Sprache  vortragen  wollten. 
Antithese  und  Wortspiel  hatten  jedoch  wie  Heraklit  so  Parmenides  und  Empe- 
dokles  schon  vor  Gorgias  mit  Bewufstsein  angewandt,  und  wenn  der  Mode- 
richtuug  des  Gorgias  und  der  Sophisten  athenische  Dichter  nachgegeben  haben, 
so  haben  sie  damit  nichts  Neues  eingeführt.  Agathon  hat  freilich  darin  für 
den  Geschmack  unbefangener  Zeitgenossen  das  Mafs  überschritten;  wie  Piaton 
im  Gastmahl  seine  Prosa  nachahmend  seine  Lobrede  auf  den  Eros  in  einen 
Lobgesang,  in  dem  auch  ein  Vers  vorkommt,  ausklingon  läfst,  so  bediente  er 
sich  in  seinen  Tragödien  mit  Gorgias  wetteifernd  der  rhetorischen  Figuren;  in 
dem  Fragment  (11  N.*) 

•)  8.  W.  Schmid,  Der  AtticismuR  in  seinen  Hauptvertretcm  von  Dionysius  von  Ilalikamaf« 
bis  auf  den  iweiten  Philostratus,  5  Bde  '1889—1897).  Einen  Teil  der  Hauptergebnisse  hat 
er  in  d«t  oben  B.  687  Anm  1  citierten  akademischen  Rede  zusammengefaTst. 


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H.  Peter:  Blietovik  nnd  Foerfe  im  Uaediehen  Altertimi. 


649 


tb  ftiv  TtaQfQyov  (Qynv  iog  ^rotovftid'a, 
th  d'  ^pyov  nÜQifjyov  iicxovovfiB^cc 
haben  wir  Antithese,  Parison  und  l'aromoion,  also  silli'  drei  Gorpianischen 
Figuren  (Bials  1  76  f.).  Aber  auch  im  EuripiUes  nind  ;6uhirüiche  Beispiele  ähn- 
iM^er  BedewsiM  naehgewieieii  worden.  Natnigenuls  miirBto  ndi  die  LÜtkEitiflohe 
Knnstproaa  mit  ilirer  X^tg  fueuvtffu^^yjvq  nnd  ihrem  Bhyfhmufl  der  Poeeie 
noeh  weiter  nihem,  und  ffieb  QU  1^  8. 115)  bnt  nebtig  beltmipte^  dab  *maneh- 
mal  Bwischen  Demosthenes'  Prosa  and  Findani  Lyrik,  von  der  Strophenform 
abgeeeheny  der  Abstand  geringer  sei  als  zwischen  Pindar  und  Homer'.  Und 
noch  geringer  erscheint  er  z-wi^cbrn  f^oocio  und  Prosa  in  der  oben  S  *Ul  er- 
wähnten grofsen  Inschrift,  einem  liithyrurabus  in  Prosa,  in  dem  der  König 
Antiocbos  (oder  ein  Rhetor  in  .seinem  Naraen)  feierlich  «nd  rhythmisch  zur 
Nachwelt  spricht}  die  beliebteste  Klausel  ^  i  x  zählt  Norden,  der  S.  140  ff. 
diese  hoehintereeeeate  Urkunde  wiederholt  und  behandelt  hal^  49inal  (darunter 
14mal  am  Sehlnb  des  gansen  Sataee),  die  Fom  .twixw&  20mal  (ömal  am 
Schlule  des  ganxen  Sataei).  Nieht  einmal  der  Sufeerliehe  Unteraehied  dee  Ab- 
Setzens  am  Ende  der  Yerae  bestand  bis  zur  Gründung  der  Philologie  fOr  die 
lyrischen  Gedichte,  der  einzige  urkundliche  Text,  der  auf  die  Zeit  vor  Aristophancs 
von  Bj-zanz  zurückgeht,  der  d^-s  in  Epidaurns  ansgegrahenen  P'aan  des  Tsyllos 
(blüht  um  2H()  V.  Chr.  j  kennt  metrische  Abteilung  nicht  (  v.  Wjlamowit/.,  Isjllos 
S.  12  ff.),  und  dagegen  hnden  »ich  Spuren  vom  Zürlegeu  nach  Kola  in  Hand- 
schriften von  Reden  dee  Demosthenes  (Blals  HI  1  S.  113).  Wir  Terstehen  nun 
die  Scharfe,  mit  der  Arietoielea  ftheraU  Poeeie  und  Proea  auaeiiuuiderhaU^  and 
die  UfiAaehtnng  der  Poeeie  dnreh  leokratea,  der  da»  dnaige  unteivdieidende 
Merkmal  von  seiner  Prosa  in  dem  Metrum  sah  (a.  bes.  IX  9iF.).  Femer  rer- 
langte  auch  die  Rhetorik  dichterische  ErfindungS-  imd  Gestaltungskraft  und 
Phantasie,  wenn  sie  die  Zuhörer  in  Ekstase  versetzen  und  damit  ihre  erste 
Aufgabe,  das  movere,  erfüllen  wollte,  und  natürliche  Bennlagung  setzten  Isokrates 
(Or.  XIU  15,  XV  187)  und  die  späteren  Redelehrer  bei  ihren  Schülern  voraus 
(Volkmann  a.  a.  0.  S.  30  f.).  Diese  Gottesgabe  aber  war  damals  bei  den  Griechen 
verkümmert,  hei  den  BomOTu  flbeibaupt  kaum  Torhanden  und  mofste  aowohl 
in  der  Rhetorik  ale  in  der  Poeaie  fdr  da«  movere  durch  Unterridit  und  Übung 
ergänzt  werden.  Im  dritten  Jahrhundert  hatte  man  Oberhaupt  in  gelehrten 
Ereilen  die  Zeiten  der  Poesie  für  abgeschlossen  gehalten.*)  Daa  religiöa- sitt- 
liche Gefühl,  das  bis  dahin  in  der  Poesie  Befriedigung  gesucht  hatte,  nahm 
jedenfalls  seine  Zuflucht  zur  Philosophie;  die  Poesie  seihst  fiel  der  Philologie 
V.W  und  büfste  sogar  in  Alexandria,  wo  man  ihrer  Lebenskraft  noch  am  meisten 
zutraute,  abgesehen  von  der  sentimentaiischen  bukolischen  Poesie  den  letzten 
Reut  ihrer  Eigenart  ein. 

So  undeuüich  waren  die  GrenaUnien.^  Zu  Oiceroa  Zeit  warfen  die  Diditer 
aelbat  die  Frage  auf,  was  sie  von  den  Rednern  unteradieide,  ihm  brannte 


<)  V.  WUamowibc,  Antigonoa  v.  Kaiyitos,    S.  166  f. 
*)  8.  hiertber  Norden  8.  M8ff.,  werani  das  Folgende» 


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650 


H.  Peter:  Rhetorik  und  Poesie  im  klassischen  Altertum. 


Kritiker  hatten  die  Prosa  des  Plato  und  Demokrit  wegen  ihres  feurigen  Schwunges 
und  des  herrlichen  Schmuckes  des  Ausdrucks  eher  für  Poesie  erklärt  als  die 
Verse  der  "Komiker*);  er  selbst  giebt  indes  nicht  an,  worin  eigentlich  der 
höchste  Vorzug  des  Dichters  zu  suchen  sei'),  und  auch  Quintilian  warnt  die 
Dichter  nur,  'oratores  aut  declamatores'  nachzuahmen  (X  2,  21).  Nicht  einmal 
Ovid,  der  Zögling  der  Rhetorenschule,  hat  sich  über  das  Verhältnis  der  Poesie 
zur  rhetorischen  Prosa  irgend  welche  Klarheit  verschalft;  er  schreibt  an  den 
Rhetor  Cassius  Salanus  (Ex  Pont«  II  5,  GoflF.): 

Distal  opus  mstrum  scd  fontibus  cxit  ah  isdem.  —  — 

Utque  nieis  nunuTis  Uta  dal  facxmdia  nervös, 
sie  venit  a  nobis  in  tua  verba  nitor. 

Iure  igitur  studio  cotifinia  cartnina  vestro 
d  commilitii  Sacra  tuenda  putas. 

Die  Auseinandersetzung  des  Dionys  von  Ilalikamafs,  nach  seiner  Einbildung 
eine  Enthüllung  der  'Mysterien',  die  nicht  unter  das  Volk  zu  bringen  sei,  geht 
auf  die  Weisheit  hinaus,  die  beste  Rede  sei  poetisch  und  die  beste  Poesie 
rhetorisch  (De  compos.  20  f.). 

Wenn  so  in  der  Theorie  die  Ansichten  durcheinander  gingen,  darf  es  nicht 
Wunder  nehmen,  dafs  auch  in  der  Ausübung  die  Kunstmittel  nicht  getrennt 
wurden. 

Nachdem  daher  die  Rhetorik  gleich  zu  Anfang  aus  der  Sprache  der  Poesie 
den  Widerwillen  gegen  die  öuyxpoutfis  xG>v  <p(ot^itirta)v,  den  Hiatus,  entlehnt 
hatte,  hat  sie  in  dem  ersten  Jahrhundert  der  Kaiserzeit  die  zugespitzte  Kürze 
der  Epigramme,  die  damals  hoch  geschätzte  Aufserung  geistreicher  Laune, 
nachzuahmen  begonnen;  die  von  der  Mode  getragene  Richtung  entschlofs  sieh 
zum  Verzicht  auf  ihre  stolze  Xt%i$  xuTeaTQUfifitm},  bewegte  sich  in  knappen 
'Sentenzen'  sprunghaft  vorwärts  und  verband  damit  eine  möglichst  blumenreiche, 
mit  verschiedenartigen  Arabesken  auf  Kosten  der  Deutlichkeit  gezierte  Dar- 
stellung, selbst  in  der  Öffentlichkeit. ')  Der  Stimmführer  ist  der  jüngere  Seneca, 
aber  auch  Tacitus  hat  seinen  Stil  unter  ihrem  Einflufs  ausgebildet  (^N.  S.  280  ff.  i. 
Unter  den  Griechen  finden  wir  diese  Kürze  der  Sätze  zuerst  bei  dem  Rhetor 
Polcmon.*) 

Noch  tiefer  hat  die  Rhetorik  in  die  Entwickelung  der  Poesie  eingegriffen, 
die  nach  Überschreitung  des  Höhepunkts  ihre  natürliche  Kraft  verloren  hatte 
und  weniger  widerstandsfähig  geworden  war.  Die  o^oioTt'Xfina  sind  mit  be- 
wufster  Kunst  von  den  griechischen  Dichtem  erst  angewandt  worden,  als  auch 
sie  sich  des  durch  Gorgias  und  Isokrates  zur  Herrschaft  erhobenen  Geschmacks 

')  Orat.  20,  66  ff.  vgl.  De  orat.  m  7,  27:  PottU  proxima  cogiiatio  cum  oratoribus  und 
Horat.  Sat.  I  4,  45  tf. 

*)  Seine  eigenen  dichterischen  Versuche,  namentlich  das  0  fortunatam  nafam  mf  ronxttle 
Ilomam  und  Ctdant  arma  lotjae ,  cuucahtt  Uxurea  Imuli  lassen  uns  zweifeln,  ob  er  ihn  ge- 
funden bat. 

^  Tacit.  Dial.  20:  Exigitur  iam  ab  oraUtre  etiam  pottiats  decor. 
''chmid,  Atticismus  I  S.  65  ff. 


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H.  Petert  Hietorik  ond  Poetie  im  MMritchw  Altertain. 


661 


nicht  mehr  erwehren  konnten;  wenn  sie  sich  bei  den  Rr^üicrn  in  der  ge- 
hobenen Sprache  der  Tragödie  von  Anlaug  an  finden,  ho  hat  iÜlh  darin  seinen 
Grund,  dafs  diese  anders  ala  rhetorisch  bei  ihnen  nie  gewei>eu  ii^t.  Nur  das 
Ubennars  tadelt  Cicero  an  dem  Redner  und  Tragiker  C.  Titius  im  Urutus 
(45, 167):  Hitku  aroMones  tonkm  ai^uHanim,  taMkm  exemjpiorum,  tawtmm  wiham- 
taü»  habeiU,  ut  paau  AUico  stäo  seriptM  esse  iwieemAw.  Easdem  argutias  in 
imgae^ßs  saüs  iBe  ^mdm  wg¥te  seä  pamm  iragiee  inmsMU.  Snnius  luit  es 
nicht  unter  seiner  Wflrde  gehalten,  das  von  den  Griechen  vernpottete  Goigianiscbe 
'yvxsg  iiitffvxM  td^^  (N.  S.  384  f.  889 1)  in  minen  Annalen  zu  verwerten 
(Fr.  141  f.): 

Volttmts  in  spinis  misf^rnm  nuinäfihnt  hom^m&n; 
heu  quam  crudeit  cuiiudmt  mcmhra  stpulcro! 
Sogar  bei  der  Entwickelung  der  Bildongngusetze  des  lateiniachen  Hexameters 
batte  nadi  einer  Entdeckung  Leoi  aeit  Cafaill  nnd  Cicero  die  Kketorik  ibre 
Ibnd  im  Spiel  (N.  S.  884).  Im  allgemeinen  aber  dürfen  wir  von  den  rOmiacben 
Diditern  behanptra^  dab  je  reieher  die  Beanlagung  und  je  feiner  der  Geschmack 
war,  sie  sidi  nm  so  mehr  gegen  die  eigentlich  rbetorisdien  Kunstmittel  ab- 
geschlossen haben.  Dagegen  sind  das  üufserste,  was  in  der  rbetorisohen 
Färbung  ein  Versemacher  geleistet  liat,  die  dem  Oppian  /.nges(liri»'l'f'?  f'ii  im 
J.  212  dem  Kaiser  CaracalJa  gewidmeten  Kviniyixt,xd\  dies  hat  Norden  b.  bii4  ü. 
sehr  ausehauüch  gemacht. 

Nicbt  weniger  niborten  lieh  Bbetorä  nnd  Poesie  ibran  Inhalt  nadi. 
Schon  dafs  Dichter  wie  IVopera  (II  13, 25)  nnd  MarUal  (XII  praef.)  Bflcher 
f&r  ein  notwradigea  Inventar  erkfiiren,  beweist  die  Yerschiebnng  ihrer  Thätig- 
keit  und  die  Lösung  vom  wirklichen  Leben.  In  der  alexandriniflchen  Zeit 
wurde  zwischen  der  Behandlung  in  Prosa  und  Poesie  kaum  noch  unterschieden. 
Des  Aratos  astronomisches  Lohrgedicht,  die  ^(av6un>a,  wnrdo,  olnsohl  es 
we<ler  dichterisebe  Vorzügf  in  der  Bewältigung  odt-r  Brlthung  des  spröden 
Stotlos  noch  als  eine  an  MiTsverständnissen  reiche  Bt'urbeitung  des  Eudoxos 
irgend  welche  wissenschaftliche  Bedeutung  besitzt,  viel  gelesen,  als  nützliches 
Lehrbuch  benatat,  hanfig  arUart  und  Ton  den  Römern  in  ihre  Spradie  flber- 
setst;  auTserdem  wurden  medixiniache  Stoff»  in  Versen  behandelt,  z.  B.  Gifte 
und  Gegengifte,  die  Heilang  des  Bisses  giftiger  Tkre^  der  Fischfang,  die  Stein« 
künde  U.  s.  w.  Bis  an  die  Grenze  des  Mittelalters  heran  reiclu-n  solche  Ldir- 
gedichte.  M  Femer  wurden  Themen  der  Rhetorenachule  schulgemäfs  auch  in 
Versen  bearbeitet,  wofür  die  Anthologie  zahlreiche  Proben  liefert,  z  B.  (198  Ii. 
IV  332  B.):  Vrrbd  Arliillis  in  iMrthetwtu;,  mm  tuljam  Diomedis  aiuiiret,  nnd  die 
gleichen  Geguustäude  wurden  wie  von  den  Khetoren  so  von  den  Diditern 
immer  tou  neuem  vorgenommen  (Gesch.  Litt.  I  S.  16  f);  die  Ausstattungsstücke, 
die  Schilderung^  von  Gegendon,  SÜdten,  Bau-  und  anderen  Kunst- 

werken, NatnrereignisBen,  besonders  Seestünnen,  Tieren,  kehren  hier  wie  dort 


■)  S.  oben  J.  Zidaen,  Zur  Oetchichte  der  Ldirdtdatoag  ia  der  spIltrOiiuMhsa  Litteratnr 
S.  404-417. 


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652  fl.  FBter:  BbfltOKik  und  Fottä»  im  klMiiidi«B  Altartam. 

wieder;  sogar  die  Erdichtung  von  Traumen  al»  der  Anregung  zur  Schrift- 
Btellerei,  die  bei  den  Griechen  Ksllimachoa,  bei  den  liömeru  Ennius  auf- 
g^braeht  battea,  haben  PlroMuker  iriederholt,  der  Slfenre  Flimna,  Cmbiiui  Dio^ 
Anstides  (Oeach.  Liü  II  S.  818  f.);  GSttergeitalleii  wwden  ebenso  von  rheto- 
rischen Dichtem  Terbannt^  vie  Ton  rludamiAun  Geaehiehtedireibeni  Alexi&dan 
oder  Hannibals,  grieduaehen  nad  rSmisehen,  eingefBhrfc  (Baliq.  hiiL  Rom.  I 
8.  CCXX  ff.V) 

Aus  solchen  unklaren  Vorstelhmgen  heraus  sind  die  Dichtungen  Lucans 
und  die  meisten  den  ersten  Jahrhunderts  der  Kaiserzeit,  g^gen  die  Petron  so 
energisch  und  einsichtsvoll  Protest  erbebt,  emporgewachsen  (Geäch.  Litt.  II 
8.  205ft)y  inhraid  Tadbis  seine  hervorragende  dichterische  Begabung  der 
Gesdiiehte  zugewandt  hai;  andereeifa  aber  konnte  eben  dttniia  sich  die  «wette 
Sophistik  Ober  die  Poeaie  eo  weit  erhaben  ÜBhlen,  sie  nnr  ala  Ifitlel  aar  Vor- 
bereitung und  Vorübung  oder  Yorstofe  ansehen  nnd  die  AUeinherrscihaft  anf 
dem  Gebiete  der  redenden  Künste  für  sich  beanspruchen.  *)  Sie  deklamierte 
vor  grofsen  Vcrsammhingen  ihre  Hymnen,  die  sie  sogar  nach  dem  Muster  der 
alten  Dichter  systematisch  einteilte,  hielt  zum  Lobe  de3  Lenzes,  der  Rose,  der 
Nachtigall,  der  Schwalbe  Reden,  die  sie  mit  zum  Flitterwerk  herabgewürdigten 
Prachtstücken  der  Poesie  aufpu^te,  selbstgefällig  lächelnd,  wenn  sie  eine 
Periode  abgesirkelt  hatte*);  Himerios  Tninalii  sich  in  einem  itu^uXdiuos  Jiöyos 
mit  Sappho  m  wetteüS»m  (s.  Rohde  S.  332  ff.). 

Wenn  denutadi  die  Litteratur  alle  in  der  Sehrift  atim  Ansdroek  gebrachten 
Bethätigiingen  des  menschlichen  Geistes  nmfidbt,  so  pflegen  (oder  pflegten?) 
wir  sie,  je  nachdem  sie  das  Schöne  (oder  wenigstens  ästhetisch  Wertvolle)  oder 
das  Wahre  zum  Inhalt  hat,  in  Poesie  und  Prosa  7.n  selieiden.  Dies  trifft  aber, 
wie  nunmehr  eingeräumt  werden  Avird,  für  die  lange  Zeit  des  Herabsteigen? 
der  Litteratnr  des  klassischen  Altertums  nicht  zu.  Die  Kunstprosa  stand 
damals  als  grundsätzlich  gleichberechtigt  neben  der  Poesie,  und  duichaus  folge- 
richtig schlieiht  Dionys,  dab  Thnkydides,  dessen  Werk  er  eine  ^Dicbtong* 
nennt,  den  peloponnesisehen  Krieg  mit  seinen  Greueln  der  Nachwelt  niciit  hatte 
ttberliefem  soUen  (Gesch.  Litt.  II  S.  189),  wenngleich  diese  Einseitigbit  mit 
den  Thatsachen  nicht  übereinstimmt.  Wie  die  Poesie  dnrch  die  Metrik,  so  ist 
jene  durch  die  Rhythmik  gebunden  und,  was  auch  Cicero  ausspricht,  keines- 
wegs *soluta';  sie  will  ebenfalls  auf  die  EmpGndung  %virkcn  und  glaubt  atich 
der  Piiantasie  zu  bedürfen;  sie  verlangt  daher  für  ihre  Kunst  wenigst^-na  die 
gleiche  Anerkennung  und  sieht,  da  ihr  allmählich  der  Inhalt  immer  gleich- 
gültiger wird,  die  kunstlose  Prosa  als  ganz  anfser  Vergleich  mit  sich  stehend  an. 

Diese  enge  Verbindnng  der  Poesie  nnd  Ennstprosa  hat  aber  auch  auf  die  ge- 


')  Es  war  ein  sehr  feiner  Gedanke  Vischera,  im  letzten  Abschnitte  seine«  grofsen 
Werks  die  didakti»che  Poesie  und  die  Tendeiupoeaie  zusammen  mit  der  Rheitvik  so  be- 
sprechen. 

■)  Bewn&fo  Terdiiaffong  der  Poene  durdi  die  Bhetonn      bei  Sehmid,  Griech. 

Eenaifsancc  S.  39;  auch  Atticisiiiu.s  I  211. 

^  Dies  wird  von  Polemon  ausdrücklich  Qberliefert.   Scbmid,  Attic.  I  39  f. 


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R.  Paier!  KhatorOr  und  Foflo«  im  Hitriiehn  Attertnn. 


658 


BÄTiitp  Gestaltung  der  mittelalterlichen  und  nmen  Dich  hing  einen  entscheidenden 
Eintluls  ausgeübt:  ihn,  wenn  nicht  zuerst  behauptet  (S.  843  f.),  so  doch  üher- 
zeugend  nachgewiesen  zu  haben,  i&l  das  Ilauptverdienät  des  Nordenschen  Buches. 

W.  Meyer  hatte  den  Ursprung  des  Reims  in  der  griechischen  und  latei- 
BiBeheik  Didiiuiig  axa  der  Poesie  der  aenilttscheit  YGlker  abgeleitet  (Abb.  d. 
KgL  bayer.  Ahid.  ZVII  8. 2e&— 450}»  eber  mit  dieser  LSnmg  des  RSteelB  wenig 
Beilall  geAmden,  Jetefc  leigt  Norden  (iW  die  Geacfaidite  des  Reime'  8.  810 
— ^908),  wie  die  bekannte  Thateache,  dafs  die  Reimpoesie,  die  ma  zuerst  in 
der  spateren  Xaiserzeit  in  den  christlichen  Hymnen  ent^j^egen tritt,  sich  eben 
aus  der  gehobenen  Knnatprn^a  entwickelt  hat.  Zwar  finden  Hieb  im  Altertum 
—  ich  kann  hier  einfach  relerinrend  verfahren  —  Reime  fz;eiegentlieh  auch  in 
V  ersen  früherer  Dichter  und  in  Formeln  des  gewöhnlichen  und  rituellen  Lebens 
(der  iUteste  bei  den  Römern  ist  terra  pe^&n  tmeto,  saUts  Ate  utoneA),  Varro,  De 
r.  r.  I  2,  27),  aber  die  Voraussetzung  eiser  bewnliiteik  Remkintst  liegt  in  dem 
Bsralidismiis  der  Form,  und  diesen  baben  w  aUein  in  der  Ton  Gbieeben  so 
genannten  und  schon  von  Gorgias  viel  gebrauchten  jree^tfimnp  der  Eonstprosa, 
die  die  einaelnen  Glieder  in  immer  wachsender  Ansdehnung  gern  durch  ein 
b\totoriXfvro%'  kr5nt*  und  kenntlich  nififhte  'Ktin  wurden  Hchon  von  TTeiden 
bei  grofsen  Festen  in  hochpathetischer,  rhythmischer  Sprache  wie  früher  durch 
die  frei  metrisch  gehaltenen  Dithyramben'),  so  in  der  Periode  der  zweiten 
Sophistik  durch  nicht  metrische  Ilymneo  die  Götter  gefeiert  (Aristides  nennt 
es  4^fM«tM  fyßtw  fihQov  oder  xmtdoyddijv  —  in  Prosa  —  ^deiv),  imd  die  durist- 
lieben  Prediger  beben  mit  dun  Rbytiunns  ancii  die  Ennsbrnttei  der  Bhetorik 
Ton  ihren  heidnischen  Yori^sgeni  Ubemommen,  namentlich  die  Farmosis  und 
das  Homoiotelettton,  nnd  dies  letztere  ebenfalls  nach  antikem  Huster  zur 
Steigerung  der  Rede  mit  Vorliebe  benutzt.  Gereimte  und  ungereimte  Stücke 
finden  sich  daher  in  solchen  Predigten  nebeneinander.  Auch  der  alte  Kirchen- 
gesang ist  'nichts  anderes  gewesen  als  ein  feierlicher,  mit  modulierter  Stimme 
mehr  recitativisch  gesprochener  als  gesungener  Vortrag'  (S.  859)  und  hat  sich 
seinem  Wesen  nach  kanm  wesentiich  von  der  hochrhetorischen  Predigt  ab- 
gehoben; so  hat  sieh  die  Hymnenpoesie  ebra&Us  nach  der  ihetoriscben  Rich- 
tong  ansgestBltet"),  sowohl  im  Morgen-  wie  im  Abendhiidey  nnd  hat  sidi  all- 
mihlieh  immer  mehr  an  den  Rhythmus  nnd  das  Homoiotelenton  eis  sein 
äuTseres  charakteristisches  Merkmal  gewöhnt,  m  dafs  dies  im  nennten  Jahr- 
hundert von  hier  a\ich  in  die  Poesie  der  Muttersprache  bei  den  germanischen 
und  romanischen  Völkern  Eingang  fand  und  die  nationalen  Versformen  ver- 
drängte. Noch  das  ganze  Mittelalter  hindurch  hat  man  die  Poesie  in  die 
Rhetorik  einbegriüen,  den  Heim  Omoeoteleuton  (oder  -lenton)  genannt  und 
als  einen  der  eoloree  rhetorici  gezahlt,  und  selbst  die  Hnmadsten  haben  die 


')  Borat.  Carm.  IV  2, 10  ff.:  seu  per  audad»  mva  dUhyramboa  verba  devolpit  numeritgue 
fertur  lege  »ohitii. 

*)  Dalier  wurden  die  Byrnnen  denn  auch  von  den  QysantLaeni  la  den  FMiaweeken 
gerechnet.   Krumbacher,  Btysaiit.  Litt.'  8.  SSV. 

Mmm  JabtbOdMT.  US«.  I.  4i 


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654 


H.  Peter:  Rhetorik  und  Poesie  im  klassischen  Altertum. 


Poesie  der  Rhetorik  untergeordnet  und  die  'Eloquentia*  in  prosaische  Rede 
und  Poesie  geteilt.    So  weit  Norden. 

Gewifg  hat  die  Vertiefung  unserer  Kenntnis  des  klassischen  Altertums  eine 
neue  Periode  begonnen,  als  die  Notwendigkeit  erkannt  und  gelehrt  wurde,  es 
mit  der  neuen  Zeit  und  anderen  Völkern  zu  vergleichen;  aber  fast  möchte  ee 
scheinen,  als  ob  wir  vielfach  auf  der  Brücke,  die  so  zu  ihm  hin  übergeschlagen 
werden  soll,  stehen  geblieben  und  nicht  in  das  jenseitige  Land  selbst  ein- 
gedrungen wären.  Jedenfalls  ist  den  alten  Schriftstellern  dadurch  oft  bitteres 
Unrecht  zugefügt  worden,  dafs  wir  sie  von  unserem  modernen  Standpunkte  aus 
beurteilten,  was  oft  auf  eine  Verurteilung  hinauslief  und  hinauslaufen  mufste. 
Wir  haben  in  Deutschland  lange  Zeit  unter  der  Herrschaft  der  lateinischen 
Sprache  und  der  mit  ihr  in  der  Litteratur  von  Anfang  an  unlösbar  ver- 
bundenen Rhetorik  gestanden;  wiederholt  hat  sie  die  derben  Auswüchse  unserer 
heimatlichen  zurückgeschnitten  und  das  Formgefühl  verfeinert  oder  neu  belebt. 
Dann  aber  hat  sie  den  deutschen  Volksgeist,  als  er  zu  eigener  Kraftäufserung 
zu  matt  geworden  war,  in  enge  Fesseln  geschlagen  und  auch  Talente,  die  sich 
sonst  freier  entfaltet  haben  würden,  in  ihnen  festgehalten.  Um  sie  zu  brechen, 
bedurfte  es  des  vorurteilsfreien  und  selbständigen  Denkers  Lessing  und  der 
ursprünglichen  und  hinreifsendeu  dichterischen  Originalität  Goethes  sowie  des 
neuen,  auf  die  höchsten  Erzeugnisse  des  griechischen  Geistes  gegründeten 
Humanismus.  So  haben  wir  uns  von  der  römischen  Rhetorik  befreit,  aber  wir 
haben  verkannt,  dafs  die  Griechen  ihre  Gröfse  der  Selbstlosigkeit  verdanken, 
mit  der  sie  sich  vor  allem  Übermäfsigen  gescheut  und  sich  einem  bestimmten 
Gesetz  gefügt  haben.  In  eine  Sturm-  und  Drangperiode  haben  sie  sich  nie 
verirrt,  und  ihre  Freiheit  bestand  nicht  in  einem  schrankenlosen  Austoben  des 
Genius,  sondern  bewegte  sich  taktvoll  innerhalb  der  von  jenem  gezogenen 
Grenzen.  Diese  Seite  der  Gröfse  des  griechischen  Geistes  ist  uns  durch  die 
historische  Durchforschung  namentlich  des  Verfalls  völlig  klar  geworden;  erst 
die  Ausartung  des  Schönheitssinnes  und  der  gekünstelte  Ausbau  eines  einseitig 
formalen  Systems  hat  uns  klar  sehen  gelehrt,  dafs  an  ein  Grundgesetz  sich 
selbst  die  Heroen  der  griechischen  Litteratur  gebunden  haben.  Die  Rhetorik 
des  klassischen  Altertums  ist  ein  echtes  Kind  griechischen  Geistes,  und  wenn 
wir  gerecht  urteilen  wollen,  so  müssen  wir  rhetorische  Werke  der  Griechen 
und  Römer  oder  rhetorische  Teile  von  wissenschaftlichen  Werken  hinsichtlich 
des  Inhalts  mit  demselben  Mafsstab  messen  wie  poetische,  und  weiter  uns 
immer  dessen  erinnern,  dafs  sie  nicht  allein  als  geschriebene  mit  dem  Denken 
aufgenommen,  sondern  als  gesprochene  gehört  sein  wollen,  und  dafs  unser 
Ohr  lange  nicht  fein  genug  fühlt,  um  alle  die  Schönheiten,  in  denen  das  des 
antiken  Zuhörers  schwelgte,  annähernd  zu  empfinden  oder  auch  nur  zu  merken. 
Vielleicht  führt  uns  eine  solche  Erwägung  dann  zu  der  Einsicht,  dafs  wir  uns 
in  unserer  modernsten  Litteratur  der  Gefahr  nähern,  die  einst  einseitig  uber- 
schätzte Schönheit  der  Form  ebenso  einseitig  zu  mifsachten. 


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ZÜK  ENTWIGKELUNG  GjEOECHISaHEB  BAUKUNST. 


Ton  FSROIHAMD  NoA€X. 

ra 

Wir  haben  keine  Yeranlasaung,  ja  nicht  einmal  das  Hecht,  die  dem  Tempel 
eignendo  Forioliamo  und  damit  'die  auf  «ner  peinlich  i  egelmürsigen  Einteilung  des 
Triglyphon  beruhende  Verengerung  der  BSckinterkoltaiimien'  (Jahrb.  dlnti  XI 70) 
bweita  fllr  die  mykenisebe  Ardüieldbiur  TorauBsaeeiBen,  wenn  wir,  wie  billige 
unter  dieser  Jie  Baukunst  während  der  mykenischen  Kulturperiode  allein  be- 
greiftn.  Die  Peristasis  charakterisiert  den  Tempel  und  gehört  mit  diesem  in 
die  erste  nachmykenische  Zeit.  Aber  durch  sie  wird  die  alte  fortlebende  und 
fortwirkende  mykenische  Bautechiuk  nicht  um  wesentliche  neue  konstruktive 
Ideen  bereichert.  Nach  demselben  Prinzip,  nach  dem  seither  das  Gebälk  die 
Cella  überspannt  und  sich  über  dem  Architrav  der  Vorhalle  aufgebaut  hatte, 
wird  nun  andh  der  Saulennmgang  fiberdeekk.  Die  DeekhallEBn  durohbrochon 
gleicluMun  ihren  seitherige  anTeeren  Abschlolb  und  strecken  nnd  dehnen  sidi 
allseitig  bis  hinüber  zum  ArchitraT  der  Peristaais  (s.  u.  und  Abb.  Vlll).  Die 
£rscheiTnin<>;,  die  vorher  nur  die  Fnmt  des  Megaron  mit  dem  von  Ante  TO 
Ante  führenden,  von  Säulen  getragenen  Architrav  geboten  hatte^  wird  nun  TOn 
allen  vier  Seiten  de;?  Tempels  gefordert. 

Der  Kern  der  Bache  liegt  aehlielsliph  in  der  Frage:  wie  muls  das  myke- 
nische Megaron  ausgesehen  haben,  dais  sich  der  dorische  Bau  daraus  ent- 
wicht konnte?  Indem  ich  auf  die  Einsduntersuchnngen  yon  Penrot  und 
Ghipiea  (Histoire  de  Tart  VI),  Ton  F.  t.  Beber  (Abh.  der  KgL  bayer.  Ak.  d. 
W.  XXI  475  ff.  und  Jahrb.  d.  Insi  XI  234  ff.)  verweise,  hebe  ich  hier  nur  die 
Hauptsachen  hervor. 

Die  Vorhalle  des  Megaron,  das  in  Tiryns  und  Mykenae  das  Centrum  der 
Palastanlage  bildet,  fordert  den  Architrüvb.'ilken  (nach  v.  Reber  zwei  Balken 
nebeneinander)  über  den  Anten  und  den  l>t>iden  ZwisclienHÜnlen.  Ich  stimme 
mit  V.  Reber  darin  überein,  dafs  der  Architrav  sich  mcht  über  den  j^eschlossenen 
Wänden  fortzusebsen  brauchte;  diese  gingen  vielmehr  selbst  weiter  empor. 
Die  vier  FretstOtsen,  die  den  Herd  des  Hauptraumes  umstanden,  beweisen,  dafii 
die  eig^ilichen  Deckbalken  von  awei  starken  sogenannten  Unterzugsbalken 
getragen  wurden.  Man  nimmt  an,  dafs  sie  mit  dem  ArehitraTbalken  (Ä)  in 
einer  Höhe  lagen.  Auf  diesen  wenigen  Hauptbalken  tmd  den  Lehnn\ilnden 
lagen  in  dichter  Reihe  die  eigentlichen  Deckbalken,  deren  uraprttnglich  frei- 
liegende Köpfe  das  Grundmotiv  des  TrigljphenfrieBes  abgaben. 


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666 


F.  Hdtuskt  Zw  Enfcwiekdnng  grieehiteber  Baakoart. 


Nun  ordnet  t.  Reber  (S.  489  f.)  die  beiden  Untenogibdkiii  in  der  Lingi- 
riohtimg  des  Meganm  an  (Abb.  HI,  Ä),  so  dab  sie  im  rechten  Winkel  uf 
den  FronterdütntT  sioben.  Er  giebt  sa,  dafii  'wir  nicht  bestimmt  wissen,  in 
welcher  Ricfatang  die  Untersogsbalken  gelegt  waren',  and  dafs  *die  Spann- 
weiten in  dieser  Beziehung  nichts  entscheiden'.  Entscheidend  ist  für  ihn  daher 
der  Cledanke^  dais  bei  einer  anderen  Anordnung  (Unterzugnbulken  parallel  zum 

Architrav,  die  Deckbalken  in  der  Längs- 
richtung) 'die  Deckbalkenköpfe  an  den  beiden 
Schmalseiten  zur  Ansicht  kämen,  wodurch 
die  Zwischenräume  swisdien  den  Balken- 
köpfen ihren  Wert  als  Licht-  ond  Luft- 
Sffirangen  verliegren  wttrden*.  Deshalb  sden 
'die  Deckbalken  im  gansen  Qeh&ude  einheit- 
lich in  der  Breitrichtung  gelegt  wovden;  Ton 
den  beiden  äufsersten  lag  der  eine  vom  über 
dem  Architravbalken,  der  andere  hint-en  über 
der  Sfhmalwiind  des  Saales;  die  Schnittenden 
sämtlicher  Baiken  waren  an  den  Laugseiten 
sichtbar*.  Diese  Schnittenden  mnfrten  *Mn» 
schfiiKende  und  sierende  Yersehalong*  er- 
haUen,  und  um  'eine  gewisse  Harrngnie  der 
Erscheinung  zwischen  dem  Friese  der  Lang- 
seiten und  jenem  der  Schmalseiten  hersa- 
stellen',  wurde  vor  dem  Deckbalken,  der  über 
dem  Frontarckitrav  herlief,  eine  die  verzierten 
Balkenköpfe  der  Langseite  imitierende  Deko- 
ration aus  Stein  befestigt,  wie  sie  uns  im 
Alabasterfiries  von  Tiryns  und  ihnlidien 
Stadcm  ans  Porphyr  «rhalten  ist  Die 
Zwisehentftume  swisdisn  den  BsflrenkfipfBn 
der  Langseiten  worden  nicht  durch  'Metopentafoln'  geschlossen,  sondern  blieben 
als  .Lichtöffnnngen  frei.  Hiernach  und  mich  Taf.  II  bei  v.  lieber  habe  ich 
dessen  Auffassung  von  der  Lagerung  des  (iel)iilks  in  einer  perspektivischen 
Skizze  (Abb.  iV)  auszudrücken  gesucht.  Architrav  und  Unterzugsbalken  sind, 
entsprechend  Abb.  III,  mit  Ä,  die  Deckbalken  mit  B,  die  Giebeldachsparren 
mit  C  beniohnei 

Gegen  diese  Rekonstruktion  habe  idi  folgendes  einsnwaiden.  Vor  aUan 
mfissm  wir  die  YoraussetBung  heute  ablehnen,  dafo  die  Hetopen  jemals  als 

Lichtöffnungen  gedient  hätten.    Wir  mflssen  schon  deshalb  davfMt  abuflliiHi, 

weil  bei  einer  Wandstärke  von  fast  1,40  m  (Tirjms)  und  dem  noch  betriichtlieh 
daniber  ausladenden  Dach  Balkenzwischenräume  von  nicht  ganz  0,G0  m  Höhe 
hoch  oben  nntev  der  Decke  sehr  frag^vürdige  Liehtverraittler,  zumal  für  den 
unteren  Kaum,  wo  man  des  Liclites  zunächst  Ix-durf,  gewesen  wären.  Deutlich 
genug  zeigt  das  Abb.  V,  in  der  der  C^uerscbnitt  nach  v.  Ilebers  Abb.  VI  ^S.  49^) 


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F.  Noack:  Zur  Entwiekdnng  griediisditt  Bankuiwi 


657 


wiederholt  ist.  Die  zugefügten  punktierten  Linien  geben  den  höchsten,  mittleren 
und  tiefsten  Stand  der  Sonne  an,  wie  er  sich  für  den  38.  Breitegrad  (Athen) 
ergiebt^j  Angenominen  ist,  dals  die  Lichtstrahlen  die  Südseite  des  von 
0.]im!Ii  W.  orientierten  Gebäudes  treffen.  £s  ergiebt  sieb,  dafs  direktes  Licht  selbst 
beim  tieftten  Sonnensfamde  (am  21.  DeBember)  in  die  nadk  Reben  Aimalun» 
inrrerediloMMoe  UetopenMhnng  nur  bia  »i  gans  geringer  Träfe,  in  das  Ge- 
töudeinnere  Oberhaupt  nicht  einfallen  kann,  ja  sdbet  bei  einer  nur  balb  so 
dicken  Wand  noch  nicht  einfallen  konnte.  Anfserdem  aber  wissen  wir  beute, 
dab  i*a£  die  Lagerlöcber  für  die  Trigljpbenbalken,  ffatonal  die  awiscben 


den  einseinen  ÖfiTuungeu  befindlichen  geschlossenen  Wandteile  waren,  wie  Yitruv 
IV  2, 4  will  (Athen.  Mitt  YOl  162 f.;  Dnrm,  Bank.,  der  Gr.*  127).  Die  RQcksicht 
darauf,  dab  der  swiscben  YorbaUe  und  Saal  liegende  Vorranm  bei  der  von 
T.  Beber  angenommenen  Balkenlage  sein  eigraee  üdit  geltabi  babe  und  nicht  *auf 
indirektes  Licht  beschrankt'  gewesen  wäre,  darf  (Iberbaupt  keine  Bolle  spielen. 
Dieser  Raum  (den  mit  dem  homerischen  a^pddo/ios  zu  indentifizieren,  im  Gegen- 
satz zur  (d^ov6((,  ich  übrigens  für  unzulässig  haltet  ist  so  sehr  eine  Besonder- 
heit der  lluuptmegura  von  Tiryns  und  Mykeuae  und  dem  typi.schen  raykeiiisehcn 
Megaron  so  fremd,  dafs  auch  der  Tempel  ihn  späterhin  in  seinem  Cellagrundrifs 
nicht  aufgenommen  hat.") 

I)  »o«4-28V;»— 88"  (21.  Juni).  9ü''-3ö<'  (21.  Mirs,  21.  September).  W»— SSy,«— 88» 
(tl.  Desember). 

^  Wean  die  Hetopen  wiiUieh  solch  notwendige  Lii  lürjuellen  fi'ir  ili«-  Cella  gewesen 
wifen,  mflflile  bmb  gegn  die  Banmeuter  der  peripteralen  Anlagen  den  Vorwurf  erkebeD, 


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658 


F.  Noaek:  Zur  Entwickelaiig  griAehitelier  BankuiMt. 


Dagegen  besitsen  wir,  wifl  ja  auch  ReW  betoni,  zwei  Hil&mittel,  die 
uns  den  riclitigen  Weg  zeigen.  Das  eine  iai  die  Frage  nacK  dem  konsMctiv 
Notwendigen,  du  andere  der  Bfieksdiliife  von  der  spiteren  Naehbüdmig,  der 
Cella  des  doriai&en  Tempels.  Eine  Notwendi^eit,  das  Urbild  der  Triglyphen- 

dekoration  an  den  Langseiten  entstunden  zu  denken,  giebt  es  nicht,  nicht  nur 
weil  die  HauptlMgründiing  (Metopenlicht)  t.  Bebera  unhaltbar  ist.   Seihst  wenn 

die  Deckbalken  in 
der  Tou  ib?n  an- 
genommenen Bich- 
tang lagen,  war  ee 
nicht  unbedingt  not- 
vcndig,  dafs  ihre 
Köpfe  sichtbar  blie- 
ben und  nur  mit 
Hilfe  der  dekora- 
tiven Trigly{)benver- 
scbulung  getscbützt 

werden  konnten. 
Man  wird  es  ftr 
genau  ebenso  m^- 

lich  halten  müsaen, 
dafs  auch  in  diesem 
Fall  die  Wand  in 

den  Zwischenräu- 
men zwischen  den 

(MMh  T.  aab«n  Abb.  «.)  üalken  uucü  weiter 

ouporgeftihrt  war, 

und  dafs  aach  die  Balkenköpfe  hinter  dem  die  ^uuse  Lehmnegebnaner  Qber- 
ziehenden  Verputa  Terschwaaden  (wie  es  in  Abb.  VI  in  der  den  Hanptsaai  füber- 
spannenden  Gebälkkonstruktion  rechts  angenommen  bt).    Wenn  dagegra  die 

Unterzugsbalken  —  was  v.  lieber  an  sich  als  möglich  zugiebt  —  quer,  parallel 
zum  Architrav,  und  die  Deckbalken  infolgedessen  in  der  Lanpsrichtnnp:  geftihrt 
waren  (Abb.  VI,  vgl.  auch  Pcriot  Chipie?:  VI  700),  lag  die  Sache  j?5ni/.  anders. 
Dann  gab  es  in  der  That  eine  Öt«llt»,  wo  die  Köpfe  der  Deckbalken  not- 
wendigerweise zuerst  frei  und  sichtbar  sein  muisten,  wo  sie  ebensowenig 
wie  die  'Metopen'  awischen  ihnen  sich  so  gans  einjach  verdecken  lielsra:  das 
war  Ober  dem  Architra?ba]ken  zwischen  den  Anten  (Jahrb.  XI  226).  Sowohl 
an  den  Langseiten  wie  an  der  Rückseite  trafen  die  Balken  aof  die  Lnftaiegel- 
winde,  in  deren  Tiefe  sie  weit  einbinden,  dem  Auge  aber  entzogen  werden 
konnten.  Nor  an  der  Front  moüste  die  Holzkonsfaruktion  sichtbar  bleiben;  nnr 


dafs  aie  für  dies>'1V<(>n  keinen  Ersatz  geschaffen  h&tten.  Denn  hier  ist  die  Cclla  thatsäch- 
lich  nur  durch  die  TbCir  zu  erbellen,  w«0  deoo  für  jene  alte  Theorie  tod  der  Metopeo- 
beleachtong  nicht  gerade  günstig  ist. 


I 
I 


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F.^Noack:  Zur  Kntwickeluag  gltedbucher  Baukunst. 


659 


hier  w  man  geswimgen,  sich  die  BalkenkSpfe  entweder  einlach  gefallen  su 
lassen,  oder  zn  ihrer  N  erhüllunt»  irgend  ein  neues  Element  einzuführen 
(Abb.  VII).  Trotzdem  würde  man  wohl  v.  Hebers  Auffassung  zustimmen,  wenn 
der  dorische  Tempel  sie  bestätigte.  Der  Peript«  raitempel  zeigt  alk-rdings  den 
Triglyphenfries  an  allen  vier  Seiten.  Aber  wir  <lürfen  mit  dem  Megaron 
doeh  einzig  und  allein  nur  die  Oella  Tergleichen.  Für  diese  aber 
bestellt  in  allen  Zeiten  das  Oeaet^ 
dab  der  Tr^ypbenfriea  nur  Aber  der 
offenen  Sinlenatellung  stehen  und  über 
der  gesehlossenen  Ce  IIa  wand  nicht  fort- 
geführt werden  dürfe.  Da  dies  für 
Zeiteu  gilt,  wo  der  Fries  thatsäehlich 
zum  reinen  Ornament  geworden  war, 
so  dafs  man  ihn  wirklich  beliebig 
hStte  Terwraden  kfinnen,  so  wird  man 
sieh  mit  der  Konatatiemng  des  Oesetaes 
nicht  begnügen,  sondern  nach  wnem 
Ghronde  suchen  dürfen. 

Der  naheliegende  luieksehlufs,  den 
V.  Reber  (S.  49Hf.  i  heziiglicli  des  (Jiehel 
daches  geradezu  verlangt,  bei  dem 
Trigiyphenproblem  aber  gerade  hier 
unterlSüst,  der  jenes  Geseta  rersiSndlich 
maoh^  ist  der,  dafs  sdum  am  Megaron 
die  Tri^jphen  nur  auf  die  Sclunal* 
Seite  beschrankt  gewesen  seien.  Ihm 
kommt  der  andere  aus  der  Konstruktion 
gezogene  Schlafs  auf  halbem  Wege  be 
statigcnd  entgegen.  Ich  halte  daher 
an  meiner  früher  ausgesprochenen  An- 
sicht fest,  dafs  der  Ton  Penrot  und 
Chipiez  gegebene  Rekonstmktions- 
Tarsnch  (Hisi  de  l'art  VI  7101t)  in 
dien  wesentliehen  Dingm  das  Rechte 
getroffen  hat. 

Gewifs  ist  der  Alabasterfries  von 
Tirjns  'nur  eiiu*  konstruktiv  nicht  ge- 

l)otene  Nachahmung  und  Ergänzung  des  Trigl^'phenwerks*  (v.  Reber  S.  495), 
aber  nicht  der  Triglyphen  der  Langseite,  sondern,  wie  es  Abb.  VII  veranschau- 
lichen soll,  der  ursprOngUcheren  Triglyphenform  der  Front.  Der  Alabaster^ 
friee  folgt  auf  einen  alteren  Znstand,  er  entspricht  einem  höheren  dekoratiTen 
Bedflrfiiis.  Es  ist  daher  schwer  xa  sagen,  wie  wdit  er  sein  ein&cheres  Torbild 
kopiert,  wie  weit  die  EinfÜhning  des  anderen  Materiales  auch  neue  konstruktive 
£inaelheiten  nötig  macht   Die  Tänia  des  Architra?s  ab  eine  besonders  ein- 


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660 


F.  Noack:  Zur  Entwickelung  griechischer  Baukunst. 


geschobene  Bohle  zu  erklSren,  die  den  vor  die  Balkenköpfe  gesetzten  deikocatiTen 
Triglyphenplatten  als  Auflager  dienen  sollte  (v.  Rebor494fl",  Perrot-Chipiez  a.  a.  0. 
und  unsere  Abb.  VII  u.  VIII,  1)},  halte  ich  für  sehr  richtig.  Ebenso  erklärt 
sich  die  Tropfenregula  aus  der  Konntruktion.  Es  waren  kleine  Querriegel, 
welche  die  Archiiravtänia  mit  ihrer  Unterlage,  also  dem  Architravbalken  selbtit, 
▼edbinden  soUten.  Sie  waren  s.  T.  in  diesen  eingelaMen;  cbiroh  ihren  und  der 
ISnia  darftber  Tor  die  Flncht  des  Arehitmn  Tomtgenden  Band  waren  von 
unten  naeh  oben  Holabolxen  getrieben,  die  oben  wieder  henroiiraten  und  das 
untere  Ende  der  Trigljphenplatte  vor  dem  Balkenkopfe  festhielten.  Dafis  die 
Platten  oben  wieder  durch  eine  Holzvorrichtung  mit  den  hinter  ihnen  befind- 
lichen Balkenköpfen  verbunden  sein  muisten,  giebt  auch  v.  Reber  zu.  Nur 
halte  ich  es  für  richtiger,  vom  Alabasterfries  auszugehen,  denn  Holzplatten 
konnten  vor  die  Balkenköpfe  schliershch  auch  von  vorn  befestigt  werden.  Der 


Abb.  vn  Bnammia  bh  Tanumaranns  am  Qmmkmm  a  Ann. 


Alsbasterfries  dagegen  konnte,  um  Bibers  Worte  zu  gebrauchen,  'nur  unten 
und  oben  g^bt  nnd  an  die  dahintw  befindlicfaen  Balkai  gedrflekt  werden*. 
Die  Ton  Perrot  TorgeecAiIagene  Lfirang,  dab  das  obere  Ende  der  Hatten  in 
den  Falz  einer  Bolile  eingriff,  die  in  der  Richtung  der  Balken  (und  Aber  diesen 

liegend)  über  jene  Alabnstcrplatten  vorragte,  wird  zwar  immer  l^ypothetisch 
bleiben,  scheint  mir  aber  die  entsprechende  Form  des  Steinbaues  am  besten 
zu  erklaren.  Ich  habe  sie  daher  auch  bei  meinen  Skizzen  Abb.  VII  und  VllI 
gewählt.  Auf  die  Andeutung  der  übrigen  Einzelheiten  habe  ich  der  Über- 
sichtUchkeit  wegen  verzichtet. 

Wie  viel  Ton  diesen  Befestigungsmitteln  der  eteinemen  Trigljphenplatten 
Ton  einer  nrsiHrani^elieren  Holvrersehalmig  flbemonunen  ist,  bleibt  fraglich. 
Es  lliat  sudi  jedooh  nicht  leugnen,  dab  die  Notwendigkeit  eines  denrtigsn 
Yerfabrens  zunächst  nur  hei  dem  Fries  von  Stein  zuzugeben  ist,  und  da(s 
T.  Beber  dies  alles  an  der  reinen  Holakonstmktion  nur  deshalb  dorehanf&hren 


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F.  NoMkt  Zur  Etaiwickfllttiig  giiedilBchtt  Bankimit. 


661 


sackte,  weil  er  yon  der  Yonusseizang  ausging,  dab  liobeiiie  Tnglypben* 
werk  sieh  mit  der  Lniktiou  in  Akbaster  nunumen  und  gleichseitig  am  nim- 
lieken  Gebinde  befanden  kabe.  Naehdem  wir  geaeken  kaben,  dals  wir  mir  an 

ein  Nacheinander  beider  Brei^inmigen  denken  dürfen,  deren  Abfolge  rieb  nur 
an  der  Front  des  Megtzon  vellsog,  mileeen  wir  darauf  verzichten,  vom  Akr 

basterfries  nncl  der  von  ':hm  pefordt-rten  Holzlconstraktion  des  Gebälks  einen 
RQckschluiä  in  allen  Ein/'  llieiten  auf  das  ältere  reine  Holzgebälk  zu  machen. 
Ein  solcher  Steinfries  braiu  ht  ja  gar  nicht  überall  im  Bereich  Tnykenischer 
Baukunst  eingeführt  worden  zu  sein;  auTser  Tirjms  hat  uur  Mykeuae  derartige 
grSfeere,  airehitektomeefaen  Zweeken  dienende  Fnemtfieke  gdiefiart.  Da  sei 
denn  wenigptma  noch  einmal  daran  erinnert,  dab  andi  manehee  andere  daf&r 
•pricibt,  daft  der  erete  doriaeke  Tempel  in  der  Nabe  der  Hegpua  von  TuTne 
mid  Mykenae  entilanden  ist. 

Zwischen  die  Alabaster -Triglyphen  und  von  diesen  gehalten  sind  die 
Metopeiitafeln  eingesot/t  trewe^en.  Sie  sind  das  erste  Zenfn^i«  «Infür,  dafs  die 
Metopen  keine  Lichtöfinungen  waren.  Auch  der  dorische  Tempel  hut  allezeit 
darauf  verzichtet,  sie  dazu  zu  gebrauchen,  und  hat  hüuhg  vorgezogen,  sie  zu 
Tra^rn  figOrlieker  Dekoration  zu  machen.  Der  ionische  Tempel  hat  sogar  nie 
die  Höglickkrit  beaeaeen,  leiner  CeUa  anf  diesem  Wege  lickt  zu  Tersdiai^n, 
da  er  von  jeker  den  g^ttoi,  geeebloBBeneo  EViee  beeab. 

Die  Motive  für  das  auf  dem  Triglyphenfries  ruhende  Dachgesim^^e,  das 
Vorbild  des  dorischen  Geieon  mit  seinen  viae  und  Nagelköpfen,  findet  Perrot- 
Chipiez  nach  Dörpfelds  Vorgang  in  der  Deekenkonstruktion  des  flachen  Erd- 
daches, V.  Keber  dagegen  im  Zusammenhang  mit  dem  Giebeldach.  An  diesem 
hält  er,  seiner  friiber  geSufserten  Ansicht  treu  ( Sitzungsber.  der  Kgl.  bayer.  Ak.  d. 
Wiss.  1888  11  1,  SOS.),  auch  heute  fest  (a.  a.  0.  4981?.):  wenn  wir  heute  in 
dem  GebSUt  mykenieoher  Megara  das  mdhr  oder  weniger  direkte  Vorbild  für 
die  entqHredienden  Glieder  des  dorisohen  Baues  erkennen  dQrlbity  so  mflsse  man 
mit  demselben  Bediie  fblgem,  dab  nieht  nur  ftr  da«  doriadie  Gesimse»  sondnn 
auch  för  das  Giebeldach  das  mykenische  Megaron  vorbildlich  gewesen  seL 
Zur  Unt<^rstützung  dieser  Aimahme  wird  allerdings  mit  Recht  die  Behaupiong 
abgelehnt  (S.  ö()4),  dafs  das  Giebeldach  in  mykeniselier  Baukunst  zwar  vor- 
handen, aber  nur  auf  den  Tempel  beschränkt  gewesen  wäre.  Damit  ist  aber 
nicht  viel  gewonnen.  Die  aus  der  Odyssee  heraugezogeuen  Stellen  sind  nicht 
beweiskrimg.  Sie  gehören  so  jungen  Stücken  bezw.  Znsatzen  an,  dals,  selbst 
wenn  rie  mir  unter  der  VorausselBung  des  Giebeldackes  tu  Torstehen  wirm, 
sie  für  dessen  Existens  am  mykaniscken  Megaron  kein  Zeugnis  ablegen  kSnnen. 
Ghinz  unbekannt  war  das  Giebeldach  in  mjkeniaeber  Zeit  nickt,  wie  die  ikm 
naebgebildeten  KammergrSber  am  Palamidi  bei  Nauplia  und  bei  Spata  be- 
weisen: aber  gpgpn  ihre  Verwendung  beim  Megaron  des  Anaktenhauses  sprechen 
sowohl  dessen  breite,  schwere  Wüti'U  nls  auch  ein  Detail  des  dorischen  Tempels, 
aus  dem  v.  lieber  keinen  Kütkbchluls  gemacht  hat;  das  ist  das  liorizontale 
Giebelgeison.  Betrachtet  mau  deu  von  Reber  mii^teilten,  von  Bühimann  ent- 
worfenen RekonstruktionsTersuck  des  mykeniseken  Megaron  (Taf*  II),  so  faUt 


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662 


F.  NoMk:  Zur  Eatwidnlttaff  griecMBcher  Bankoiist. 


sofort  Auf,  dafii  Üb«r  dem  Triglyphenfries  Fassade  das  vorragende  Horicontal- 
gesimie  fehlt;  statt  dessen  ist  eine  BekrOnimg  mit  fiberfidlmdem  Blattpn^ 
gewShlt.  Hit  richtigem  Empfinden  hat  man  sidi  gesagt,  dab  ein  Gesims^ 
das  sich  nur  ans  einer  weiteren  rorsprin Reuden  Balkenlage  erklart,  bei  der 
TOiansgesetzten  Balkenlage,  hier  an  der  GiebeLseite,  unbegründet  ^lire.  Wenn 
nun  aurstrdom  das  alleinige  Vorbild  für  das  Geison  mit  seinen  riae  nnd 
Tropfen  in  der  Erscheimnii;  der  an  den  Trauiseiten  weit  überhängenden  Enden 
der  Sparrendielen  des  Giebeldaches  gefunden  wird  (S.  506  f.),  so  bleibt  vollends 
unbegreiflich,  wie  später  über  dem  dorischen  Trigljphenfriea  der  Giebelseiten 
das  horiiontde  Gcisoa  anfkonunen  konnte.  Wenn  vir  eimnal  ans  dem  dorischen 
Tempd  rU^wftrts  sdüieben  wollen,  so  mflssen  vir  vor  alkn  Dingen  «nch  an 
dieses  merkwUrdige  Gesimse  denken.^)  Wie  fiberflflssig  nnd  nnverstindlich  es 
nnter  dem  Giebel  erscheint,  hat  uns  t.  Beber  selbst  am  deutlichsten  gesagt 
als  er  es  auch  am  vordorischen  Megaron  verschmähte.  Wenn  es  aber  seiner 
Natur  nach  nicht  nnter  den  Giebel  gehört,  so  gehört  auch  der  Giebel  nicht 
darüber,  und  ist  es  als  Zusatz  znm  Giebel  nicht  natürlich  zu  erklären,  sondern 
widersinnig  und  iui  Grunde  falsch,  so  war  es  eben  vor  dem  Giebel  da  und 
bezeugt  uns  das  flache,  horizontale  Dach.  Gerade  weil  ein  solches  mit  schwerer 
Erddecke  auf  dem  Gebilke  lastete,  war  dieses  so  sorgfältig  gefügt,  waren  die 
Oeüaii^de  so  breit  und  wnditig,  und  standen  im  Hauptsaale  nach  der  lütte 
zu  bei  einigen  Räumen  von  gröfserer  liditer  Weite  die  Tier  Saolen,  deren 
Standplatten  sowohl  in  Tiryns  wie  in  Mjkenae  noch  gefunden  worden  sind. 
Diese  hat  später  das  Heraion  r.n  dem  gleichen  Zwecke  (Unterstützung  der 
grofsen  Tragbalken  der  Decket  durch  die  kurzen  Quirwände  ersetzt;  in  anderen 
uns  nicht  mehr  erhaltenen  Tt  nipeln  mag  nuin  vielleicht  sich  dadurch  geholfen 
haben,  dafs  man  die  Längswände  näher  zusammen  rückte  und  so  die  schmalen 
Gellen  schuf,  die  man  als  ToiKnftr  aUerdings  nur  fDr  dw  Selinonter  Tempel 
Tennuten  moehteL  In  Griechenland  selbst  dagegen  haben  schon  die  ilteeten 
Steintempel  die  Dreiteilnng  durch  Innensftulen  Torgesogen,  an  der  das  beim 
Heraion  angewandte  Verfahren  ja  führen  mufste. 

Können  wir  das  horizontale  Giebelgeison  also  nur  als  ein  Rudiment  eines 
älteren  Zustandes  begreifen,  so  erklärt  sich  das  Festhalt<»n  an  ihm  m\r  so, 
dais  es  als  der  Vorstofs  des  flachen  Daches  auch  an  den  ält4'sten  Tempel- 
fronten eine  Kolle  spielte,  ^un  hätte  es  als  übertlüäsig  eliminieren  können  in 
dem  Augenblick,  als  man  die  gesamte  Gebälkkonstruktion  hinausschob  bis  ^um 
Architrar  der  Peristasis,  wmn  man  flberhaupt  damals  schon  mit  dem  Tempel 
nnd  für  ihn  augleich  aueb  das  Giebeldach  gesdiaffen  hatte.  Dab  das  Horinontal- 
geison  auch  dann  geblieben  ist,  kann  uns  beweisw,  daib  es  dar  Erscheinung 
des  peripteralcn  Tempels  bereits  als  integrierender  Teil  zu  fest  angehörte,  um 
dem  hinzutretenden  Giebel  zu  weichen.  Auch  der  Peripteraltempel  hatte 
demnach  zuerst  nur  ein  flaches  Dach:  zugleich  eine  nene  Stiltze  dafür, 
daüa  die  Peristusis  zu  den  frühesten  Charakteristiken  des  Tempels  gehörte 


')  Vgl.  Dörpfelii,  Berl.  philol.  Wochen»chr.  1886,  836  837. 


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F.  Noaek:  Zur  Entwiekelnng  gcieehiicher  Bkokantt. 


663 


(Jahrb.  XI  2H3).  Das  Giebeldach  setzt  die  peripterale  Tcmpelanlage  als  vollendet 
voraus.')  Wie  diese  ist  es  eine  pcloponnesische  Ertindung:  gewiXB  mit  mehr 
Glauben  lesen  wir  jetz^  dafs  man  in  Korinth  (Find.  Ol.  Älii  21)  9e&v  vaolGiv 
o^awAy  ßuffil^a  d^vftov  In^iu^  den  doppelten  ABtoe  den  Tempeln  der  05Uer 
Immifltlgte.  Auf  diMe  Weise  erklärt  es  ndi  denn  auch,  daüa  schon  das  Heraion 
eine  doppelte  Dedn,  die  horixontale  und  das  Giebeldach,  beaafs,  dafs  femer 
selbst  durch  einen  offenen  Giebel  kein  Licht  in  die  CeUa  hatte  gelangen  kSnnen, 
so  dafs  der  Abschlufs  des  Giebeldreiecks  durch  die  TrmpanonwaTid  ron  vorn- 
herein anzunehmen  ist,  nnd  dafi«  pridürh  der  Gedanke  an  dio  jetzt  ja  m  energisch 
abgelehnte  hypäthrale  Anlage  *j  den  griechischen  Architekten  nur  noch  weniger 
zuzutrauen  ist. 

T.  BeW  hSlt  die  Einführung  der  Peristasis  nnd  die  ümsefanng  in  den 
Steinhau  für  gleichzeitig  (S.  526).  Kach  der  hier  mtwickelten  Ansidht  ist  daa 
avsgeschloisen.  Man  fragt  wiederum  y^rgeblich  nach  der  BerQcksichtigung  des 

Heraions  von  Olympia.   Als  man  rings  um  das  Megaron  die  SanlenhaUe  setzt, 

erhebt  sich  die  Frage,  wie  diese  mit  jenem  zu  einem  einheitlichen  Bau  zu  ver- 
binden sei.  Die  Antwort  war  in  der  0el);ilkkon8truktirin  der  Mcjrnra  jjetjeben. 
Den  Gai\<;  der  Entwickelung,  wie  er  im  folfrenden  dargestellt  wird,  habe  ich 
in  Abb.  VIII  veranschaulicht.  Zu  diesem  Zweck  sind  die  drei  aufeinander 
folgenden  Stufen  nebeneinander  gesteUt;  nur  daa  Notwendigste  ist  eingezeichnet 
worden.  Die  Vorhalle  der  Cella  ist  in  konstmktiTer  Hinsieht  mit  derjenigen 
des  Megaron  nodi  -vdUig  identiaeh.  Nnn  wird  ebenso  wie  bei  ihr  Aber  die 
aufinren  %nlen  der  ArdiittaT  (Jl,)  gdegi  nnd  damit  eine  nnnnterbrochene 
Verbindung  der  Säulen  untereinander  geschaffen.  Die  Verbindung  dieser  Säulen- 
reihe mit  der  Cella,  wodurch  jene  erst  zur  richtigen  Halle  wird,  geht  wieder 
von  dem  Vorbild  der  Vorhalle  aus:  die  Balken,  deren  Köpfe  bis  dahin  auf 
dem  Antenaicliitrav  <;elefTen  hatten  {B^,  werden  fortgeführt  bis  zu  dem  dem 
letzteren  pamllelen  üulHeren  Architrav  (J^  und  bilden  hier  dasselbe  Schema, 
wie  vorher  Aber  der  Vorhalle;  fiber  deren  Ardutray  Terschwinden  awar  die 
Trigljphen,  aber  aneh  nur  sie,  d^n  die  HetopenfflUnngen  daawiachen 
werden  aueh  jetat  gefordert.  Das  Ornament  ist  zerstSrt,  nur  daa  noch 
ältere  konstruktive  Motiv  bleibt  soweit  möglich.  Erst^  res  tritt  nunmehr  über 
der  äufseren  Säulenreihe  auf.  Aber  nun  bleibt  dieser  Prozefs  nicht  mehr  auf 
die  Frontseite  besclirankt.  Auch  zwischen  der  Saultureilie  iiiul  den  geschloi^senen 
Wänden  ist  keine  andere  Verbindung  möglich,  nnd  so  erscheinen  nun  auch 
die  Balkenköpfp  über  dem  Architrav  der  Langseiten  und  der  iiüekseitt;.  Sie 
werden  sümthch  verkleidet  wie  die  Bulkeuköpfe  am  Megaron,  dio  Zwischen- 
räume wie  dort  dareh  Metopentafeln  geBehloisai.  Damit  ist  der  umlaufande 

')  Ich  gebe  Trondelcnburgs  Berichtigung  boz.  des  Giebeldaches  der  Schatzhäuiier  (Bendis, 
Progr.  d.  aiikan.  frym  ,  Bi  rlin  1898.  Anm.  zu  S.  10,  6)  als  berechtigt  /ii;  die  Überzeugung, 
dafs  das  Giebeldach  am  Tempel  erst  sekundär  ist,  wird  davon  ja  nicht  berührt,  dafs  es 
den  Mciifutni  iieod  war,  aar  nodi  mdir  beiUUigfc. 

Zillcrt  Tvnnittelnde  Annahiii«  <Beri.  fliilel.  Wodieiiidir.  18M,  BIS)  leeditet  mir 
nicht  ein. 


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664 


F.  Noack:  Zur  Entwickelung  griechischer  Baukunst. 


Triglyphenfries  gegeben  (Jahrb.  XI  227  f.).  Durch  die  Allseitigkeit  des  Architrav- 
gebälkes  wird  die  Lagerung  der  Deckbalken  etwas  umständlicher  und  mannig- 
faltiger, wodurch  jedoch  der  hier  gegebenen  Erklärung  keine  Schwierigkeit 
erwächst.  Die  der  Vorhalle  entsprechende  Hinterhalle  habe  ich  schon  früher 
mit  dem  Aufkommen  der  Peristasis  in  Zusammenhang  gebracht  (Jahrb.  XI  227). 
Das  Gesimse,  das  allein  unter  allen  Gebälkteilen  auch  schon  beim  Megaron 
eine  gewisse  Allseitigkeit  gehabt  haben  mufs,  bedurfte  jetzt  nur  insofern  einer 


9 

Abb.  Vtn   EnrwicKiiLUicoiiTcrsii  dbi  TaioiirrBnrkiBSM  Vbib  dkü  ABcmrKATn. 


Änderung,  als  es  auf  allen  vier  Seiten  die  gleiche  Konstruktion  der  weit  vor- 
ragenden Bohlenlagen  (vgl.  Perrot  ^^  7 14  f.)  zeigen  mufste. 

Die  Umwandlung  in  Stein  hat,  von  einer  bestimmten,  unvermeidlichen 
Stilisierung  abgesehen,  an  der  allgemeinen  Erscheinung  des  Gesimses  und  seiner 
Nagelplatten,  des  Triglyphenfrieses  und  des  Architraves  wohl  kaum  etwas  ge- 
ändert. Ist  man  doch  so  konservativ  gewesen,  sogar  die  Terrakottaverkleidungen, 
die  nur  am  Holzgesimse  aufgekommen  sein  können,  am  steinernen  Geison  bei- 
zubehalten; das  setzt  eine  sehr  feste,  andauernde  Gewöhnung  voraus.  Und  so 
schnell  gewöhnte  man  sich,  am  Steinbau  Tropfenregula,  Triglyph  und  Nagel- 
platte (via)  übereinander  als  etwas  Zusammengehöriges  zu  empfinden,  dafs  man 
da,  wo  die  Triglyphen  wegfielen,  wie  z.  B.  an  den  geschlossenen  Seitenwänden 
(Schatzhaus  von  Megara  in  Olympia)  und  im  Giebelfeld,  auch  die  viae  an  der 
Unterkante  des  Geisons  nicht  sehen  wollte  und  sie  deshalb  fortliefs.  Freilich 
lief«  man  sich  dabei  von  einem  sehr  äufserlichen  Eindruck  leiten,  aber  man 


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666 


rergais  fiberhAnpi  wAi  adhnell  die  konstruktive  Bedeutung  der  einiwliiwi 
0]i«der.  Ihr  Anhitnt  «rftllte  aeine  ■Ifte  Aufgabe  nudi  im  Steinban  weiter; 
aber  ee  ist  aelioii  «ne  Ammluae,  wenn  die  SopHeisle  D  (UniA)  deeielbeii 

noch  als  selbständig  gearbeitetes  Olied  darüber  gelegt  wird  (T)emetertempel  in 
Paestum,  Tempel  der  Alkmaeooiden  in  Delphi  [Bull,  de  corr.  hell.  XX 1896, 647]).  . 
Der  TriglyphenfTie.s  erfüllt  zwar  noch  ebenso  wie  der  Alabaskrfries  von  Tiryns 
seinen  dekorativen  Zweck.  Aber  die  Metopen  sind  nicht  mehr  immer  die 
zwischen  den  Triglyphen  f  innres chobenen,  dünneren  Platten,  sondern  sind  häufig, 
die  Trigljphen  so  gut  wie  immer,  stiU'ke  Blöcke,  die  dem  weiteren  Zwecke 
dienen,  ^  GeieonblSek»  tngen  wa  helfen.  Nor  die  Art,  wie  am  Demeln<- 
iempel  Ton  Fteelom  die  Triglyphenplatten  einst  durch  dae  über  ihnen  vor- 
fangende  Hianp^eainiee  gehaltai  waren  (Dunn,  Bank.  d.  Gr.*  119,  Fig.  90), 
erinnert  an  die  Befestigung  des  Frieeee  JOD.  Tiryns;  doch  mag  das  Zufall  sein. 
Hinter  dem  Trigljriihenfries  aber  liegen,  wie  bekannt,  die  Deckbalken  nicht 
mehr.  Durch  eine  Reihe  glatter  Platten  von  verschiedenartigster  Schichtung  {E) 
ist  er  nach  innen  abgeschlossen;  einmal,  am  Nemesistempel  7ii  Khamnus 
(Mauch  Burrmann,  Archit.  Ordn.  Taf.  10),  sind  unter  der  inneren  Kopfleiste  des 
Architravs  sogar  Tropfenregulae  angebracht,  das  stärkste  Zeichen  der  Erstarrung 
einer  ISnget  nidit  mehr  ▼enteudenen  Form.  Dan  WiehÜgste  an  dieeem,  auf 
ieinen  wahren  Grand  bis  jetat  noeh  nicht  anrficl^eftthrtai  Proaeb  ie^  dafii  eret 
dnreh  das  Höherlegm  der  Decke  (J^)  swiichen  den*  alten  Metopen- 
stücken  (b.  o.)  über  dem  Architrav  dor  Yorhalle  auch  die  Stelle  der  alten 
Balkenköpfe  wieder  frei  wird  {F)  und  wieder,  wie  einstmals  am  Megaron,  von 
Triglyphen  eingenommen  werden  kann:  am  dorischen  peripteralen  Steinbau 
wird  dem  vollständigen  Trigl3rphenfries  seine  ursprüngliche  Stelle  wieder  ein- 
geräumt. Gienau  ebenso  liegt  be;&üglich  der  Decke  die  Sache  an  den  Lang- 
seiten.  Weshalb  wird  aber  hier  der  Triglyphen&ies  nicht  auf  die  Cellawände 
abertragen,  nidkt  einmal  ala  Ddcoiation?  leh  denke,  wir  können  die  Antwort 
jetat  rieher  daranf  gehen:  weil  er  eich  an  der  geechloeeenen  Wand  niemalB 
aus  der  Konstruktion  ergeben  hatte  und  auch  schon  am  Megaron  niemals  an 
dieser  Stelle  gewesen  war.  Nur  die  Hinterhalle  kann  ihrem  Vorbild,  der  Vor- 
halle, hierin  folgen  (vgl.  die  ansehanliche  Durstellung  bei  Dnrm  a.  a.  0."  Fig.  114). 
Bekanntlich  liat  Mne.ii1<!e3  vir  finrum  über  die  Westwand  der  Pinakothek  den 
Triglyphenfries  setzen  kumieii,  weil  diese  Wand  der  offenen  Halle,  die  gegen- 
über beim  Nikepyrgos  projektiert  war,  möglichst  entsprechen  sollte,  —  Dio 
einaehM»  Teile  dw  Decke  beetanden,  ancli  ala  dieee  im  Bteinban  hllher  gelegt 
war,  anfia^ok  noeh  ana  Hok.  Dan  klannifirhii  Beiepiel  bentaen  wir  jetat  im 
Sehatdmua  von  M egara  in  Olympia  (Oljmpia  I  Ttf.  36  38).  Die  konatruktiTeii 
Elemente  sind  keine  anderm  ala  dantala,  ala  Deckbalken  nnd  Trigljphenbalkea 
noch  identisch  waren. 

Puchstein  hat,  auf  Omnd  neuer  Aufnahmen,  die  Koldcwey  von  dem  sehr 
altertümlichen  Apollon-  oder  Artemistempel  (vgl.  Husolt,  Gr.  Oe^rh.  I*  388,  2) 
auf  Ortygia  gemacht  hat,  Mie  MflgUchkeit  nicht  von  der  Hand  gewiesen,  dafs 
auch  die  Triglyphen  einstmals  den  dorischen  Architekten  unbekannt  gewesen 


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666 


F.  Noack:  Zur  Entwickelung  griecbischor  Baukunst. 


seien,  und  dafs  der  alte  Apollontcmpel  einen  glatten  oder  wenigstens  einen 
triglyphenlosen  Fries  gehabt  habe'  (Archäol.  Anz.  189Ü  S.  102).  Er  ist  dabei 
von  dem  Ergebnis  ausgegangen,  dafs  die  Achsweiten  der  Ecksäulen  nicht  enger 
sind  als  die  der  Qbrigen  Säulen,  und  hat,  da  er  mit  anderen  die  Überzeugung 
teilt,  dafs  die  engere  Stellung  der  Säulen  au  den  Ecken  der  Peristasis  durch 
den  Triglyphenfries  bedingt  war  (vgl.  Dürrn  a.  a.  0.'  124  flP.),  aus  der  gleichen 
Gröfse  der  Frontjoche  auf  das  Fehlen  des  Trigljphon  geschlossen.  Das  ist 
methodisch  unantastbar,  nicht  aber,  was  i'uchstein  daraus  weiter  folgern  zu 
sollen  glaubt.  Das  Artemision  soll  Zeuge  dafür  sein,  daHs  die  Triglyphen 
ursprünglich  an  dem  dorischen  Tempel  unbekannt  waren,  und  noch  gegen 
Ende  des  sechsten  Jahrhunderts  v.  Chr.  soll  *der  Kanon  des  fertigen  Dorismus' 
80  wenig  festgegründet  gewesen  sein,  dafs  z.  B.  am  Demetertempel  von  Paestum 
Tropfenregula  und  viae  und  sogar  das  horizontale  Geison  ausgelassen  werden 
konnten.  Wenn  ich  diese  Angaben  des  kurzen  Berichtes  richtig  verstehe,  so 
laufen  sie  auf  die  Auffassung  hinaus,  die  den  Gang  der  Entwickelung,  wie  er 
durch  das  Heraion  und  die  mykenische  Bauweise  heute  erst  zuverlässig  er- 
wiesen zu  sein  scheint,  umkehren  will:  der  Triglyphenfries  mit  seinen  Konse- 
quenzen für  die  Säulenstellung,  Tropfenregula  und  viae  seien  erst  am  Steinbau 
aufgekommen  und  erst  spät  zu  kanonischer  Geltung  gelangt.  Nach  allem,  was 
ich  oben  darzulegen  versucht  habe,  haben  wir  keinen  Grund,  dieser  Ansicht  uns 
anzuschliefsen. 

Der  Demetertempel  in  Paestum  weist  einzigartige  Eigentümlichkeiten 
auf,  die  in  gleicher  Verbindung  an  keinem  einzigen  anderen  Tempel  wieder- 
kehren. Neben  Zügen  hoher  Altertümlichkeit  (Durm  a.  a.  0.*  204)  treffen  wir 
andere,  die  weder  für  älteren  noch  für  jüngeren  Dorismus  bezeichnend  sind  — 
vor  allem  die  Kassettierung  der  Giebelgeisa  — ,  so  dals  schon  der  erste  Heraus- 
geber, Delargadette,  dieselben  durch  eine  Restauration  in  römischer  Zeit  er- 
klären wollte  (vgl.  Brunn,  Griech.  Kunstgesch.  U  34),  was  ich  jedoch  nicht  für 
notwendig  halte  (s.  u.).  Ob  jedoch  zu  den  Abnormitäten  des  Tempels  auch 
das  Fehlen  des  Horizontalgeisons  gerechnet  werden  darf,  möchte  ich  bezweifeln, 
nachdem  ich  die  Ruinen  selbst  gesehen  habe.  Über  dem  Triglyphenfries  zieht 
sich  eine  zweifache  Schicht  mächtiger  Platten  hin,  die  aus  dem  weicheren 
Materiale  bestehen,  aus  dem  auch  die  Gesimsleiste  des  Architravs  darunter  und 
desjenigen  der  'Basilika'  hergestellt  ist.  Es  ist  der  Verwitterung  unter  allen 
Teilen  der  Tempel  am  stärksten  ausgesetzt  gewesen.  Trotz  der  kolossalen 
Verwitterung  ragen  aber  noch  jetzt  einzelne  jener  Platten  sowohl  über  die 
Flucht  des  Tympanons  wie  über  die  der  Metopen  hervor,  ein  horizontales 
Gesimse  über  dem  Fries  war  also  auf  jeden  Fall  vorhanden;  ihm  die  Aus- 
dehnung der  weit  überhängenden  Geisonplatten  abzusprechen,  haben  wir  im 
Hinblick  auf  die  Verwitterung  schwerlich  das  Recht. 

Aul'serdem  weist  Puchstein  für  die  ThatHuche,  dafs  'der  archaische  Dorismns 
sich  gegen  die  Verengerung  der  Eckinterkolumnien  so  spröde  verhalten  habe* 
(Jahrb.  XI  70),  auf  seine  und  Koldeweys  Untersuchungen  der  Tempel  von 
Seliuus  hin  (Archäol.  Anz.  1^<J2  S.  12),  nach  denen  'die  sämtlichen  Joche  cut- 


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F.  NoadE:  Zur  Eniwicktlniv  gri«diiMli«r  Bankonitw 


667 


weder  Üifttsächlich  gleich  grols  oder  doch  augenscheinlich  als  gleich  groCs 
beftbaicht^  waren*.  Und  doch  ist  an  denselben  Tempeln  der  ausbildete 
TrigljphenfiriM  achon  da;  am  Oebük  des  Ttanpels  C  herrseht  nicht  die  geringste 
ünaidierHeit  in  der  Verwendung  seiner  einselnen  Teile  (R^ula,  Triglyph, 
viae  etc.),  die  in  ihrer  Aufeinanderfolge  schon  genau  bo  fest  normiert  erscheinen 
wie  etwa  am  olympischen  Zeustempel.  Wenn  das  nm  (300  in\  dfinselbcn  Ge- 
bä'ule  ni'v^lirh  wnv,  so  verbietet  sich  damit  von  seilest,  blols  aus  der  gleichen 
Grollt'  der  Achsweiteii  am  Arteiuisioii  /,u  folgern,  dal'.s  die  l'rigl yplien  dem 
Architekten  desselben  unbekannt  gewesen  »eleu.    Zulässig  ist  zunüchHt  ducb 

nur  der  Sdünfs,  dab  an  den  iltestm  nmliedimi  Tempeln  Won  dem  Einflnlb 
des  Trigljphenfrieaes  anf  die  Stdlnng  der  Sinlen  nichta  zu  merk«i  iai*,  and 
dab  m6|^cherweiBe  das  Artemiaioii  einen  gibtten  Frtea  gehabt  hat  Aber  ich 
sehe  nicht  ein,  dab  damit  für  die  allgemeine  Entwickelung^echichte  der 
Tempel  viel  gewonnen  ist.  Wir  lernen  dadurch  immer  mir  etwas  von  der 
griechischen  Baukunst  auf  Sizilien.  Die  sizilischen  Architekten,  die  in  Hinsicht 
des  ('eüntrrnndrisses  gerade  anfänglich  ihre  eigenen  Wege  gingen,  können 
ebensogut  auch  bei  der  Anordnung  der  Peristasis  eigene  Versuche  gemacht 
haben  j  die  wesentliche  Gestaltung  des  Trigljphons  selbst  war,  wie  Seiinuit  C 
beweiat,  ichon  im  aiebenten  Jahrhundert  festgelegt.  Wie  weit  aoI<^e  Ver- 
ancibe  gingen,  ist  kaum  in  aagen.  lat  es  doch,  nicht  mehr  als  eine  M9|^ichiknit^ 
dab  aber  den  gleidhweit  stehenden  Silulen  der  Pwistasia  Trigljpheiifrieee  nicht 
gelegen  hätten;  für  ebenso  gut  denkbar  halte  ich  es,  dafs  man  nur  sich  um 
dieselben  nicht  zu  kilmmem  wagte.  Angenommen  aber,  das  Artemision  habe 
wirklich  einen  triglyphenlosen  Fries  geimbt,  so  ist  dafür  auch  die  Erklrirnng 
denkbar,  dafs  es  der  Einflufs  frühionischer  Bauten  war,  der  den  bizilischen 
Architekten  zeigte,  dafs  man  mit  Hilfe  des  glatten,  d.  h.  triglyphenlosen  Frieses 
jenem  Konflikt  mit  den  Ecksäulen  am  leichtesten  entguig.  Zeigt  sich  im  Auf- 
kommen der  offenen  Hinterhalle  an  jttngeren  aiulisdien  Tempeln,  vom  Ende 
des  sechsten  JahrltundertB  ab,  eine  atKrkwe  Einwirknng  eigenüich  grieduscher 
Tempelfbrm,  so  verbindet  sich  damit  Torzüglich  die  Beobachtung  Koldeveys, 
dafs  auch  die  Rücksicht  der  Achsweiten  auf  daa  Triglyphon  sich  erst  an  den 
jüngeren  Tempeln  in  Selinus  (ebenso  T.  in  Segest«)  bemo  kbar  machte. 

In  Griechenland  selbst  her.ougt  der  Tempel  von  Koritith,  dafs  die  allmähliche 
Abnahme  der  Achsweiten  nach  den  Ecken,  die  man  in  Selinus  erst  am  jüngsten 
Tempel  kennt,  schon  lange  vorher,  zur  Zeit  von  Tempel  C  und  D,  in  der 
eigentlichen  Heimat  des  dorischen  Stiles  bekannt  war  (Athra.  Mti  XI  Taf.  VII). 
Denn  dar  korinthische  Tempel  steht  an  Altertümlichkeit  weder  dem  Tempel  0 
(SSnlenproportionen)  noch  dem  athenischen  Hekatompedos  (Teilung  der  GeUa) 
nach.  Den  xweiten  festen  Anhaltspunkt  bietet  das  Heraion  von  Olympia.  Die 
Frontjoche  der  unter  dem  alten  Holzgebalk  nach  und  nach  eingesetaten  Stein- 
süulen  (3,63  m  bis  3,50  m  bis  3,32  m,  8.  Olympia  I  S.  28  ff.)  können  bei  den 
ursprünglichen  Holzsäulen  nicht  wesentlich  andere  Verhriltnisse  gehabt  haben. 
Hierfür  ist  ein  Triglyphenschema  am  Holzge])iilk  die  unbestreitbare  Voraus- 
setzung.  Und  ist  es  von  vornherein  einleuchtend,  dais  die  Wechselbeziehung 


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668 


F.  Homeki  Zw  BotidelceliiBg  grieohiiclwr  Banknnit. 


uriwh«!!  TriglyphenlNdk«!!  und  SaalmudiMii  «ofkam,  als  d«r  koutrikliTe  Ge- 
dioke  noeh  lebendig  war  nnd  nuui  die  Lert  der  Decke  Temiitteb  des  Deck- 
balkens  in  erster  Linie  auf  die  Stellen  übertrug,  wo  als  anftbebender  ^nlger 
die  Säule  ihr  entgegMdum,  und  erst  awischen  diesen  wichtigsten  Deckbalken 

d»^Ti  flbrigen,  in  gewissem  Sinne  also  sekundären  Balken  Ober  den  Int-er- 
külumnien  auf  dem  Architrav  eine  symmetrische  Verteilung  gab,  also  beim 
hölzernen  Gebälk,  —  so  wird  d»ö  jetat  im  üinblick  aul"  das  Ueraion  so  gat 
wie  S5ur  (iewÜBheit. 

Die  Entwiekelm^  die  eiob  an  derartige  alte  Beaten  anlmapft  nnd  flir  die 
wir  in  der  Argidie  dem  Aneg^gspnnkfc  glaaben  enohen  m  sollen,  iefc  in  Oriecben- 
land  selbst  am  gradlin^ton  Terhnlen;  au  trenesien  ist  liier  die  Uiere  Sf* 
■dieinnng  im  Steine  festgehalten  worden,  dabei  auch  genug  Einzelheiten,  für 
die  es  keine  konsfcrakkiTe  Begründung  mehr  gab;  die  Verschiedenheit  der  Front- 
joche gehört  dazu;  sie  war  am  Steinbau  nur  eine  Last,  aber  man  hielt  sie  fest. 
Mochte  mau  d:ui  Innere  der  Uelia  einteilen,  wie  man  es  für  nötig  hielt,  mochte 
man  die  Deckeukonstruktion  geradezu  sinnlos  zerstören,  an  dem  äufseren  Bilde 
hielt  mau  mit  einer  oft  kleinlich  wirkenden  Pietät  fest,  die  uns  verständlicher 
eneheint,  wenn  wir  bedenken,  dafo  ee  in  der  Heimai  den  tnlbm  Tempeln 
geschah. 

Die  Tradition,  die  die  grieehiechen  EoloBieten  nui  nach  dem  Westen 
nahmen,  war  auch  schon  eine  recht  feste.  Daa  sagt  ona  daa  Triglyphon  des  Selinunter 
Tempels  C  deutlich  genug.  Aber,  fem  von  dem  älteren  Vorbild,  war  sie  doch 
soweit  gelockert,  dafs  man  versuchen  konnte,  einzelne,  nicht  mehr  motiviert© 
Züge  zu  überwinden.  Dazu  rechne  ich  jene  von  Puchstein  und  Koldewey  fest- 
gestellten Einzelheiten.^)  Lokule  Unterschiede  haben  sich  auch  hier  bald 
geltend  gemacht  und  vielleicht  auch  vereinzelt  weiter  gewirkt  (Grondrils  der 
Oella).  Aber  eine  wirklich  neue  Sehdpfung  ist  nieht  daiana  entatanden,  an 
dafe  die  Form,  an  der  tnawieohm  der  dorische  Ban  in  Griechenland  adbafc  sieh 
abgeklärt  hatte  und  in  gewissem  Sinne  auch  erstarrt  war,  vom  Ende  den 
sechsten  Jahrhunderts  ab  im  Westen  keinen  Widerstand  findet.  Wir  sehen  es 
an  der  Hinterhalle  der  Gellen  und  der  Räulenstellung  sogar  an  den  Tempeln 
des  durch  lokale  arehitektonische  Versuche  ausgezeichneten  Selinus.  Eine  der- 
artige Auffassung  der  Kntwukeiung  scheint  einerseits  durch  den  Charakter  der 
einzelnen  Denkmäler  und  Denkmülergruppen  geboten  und  giebt  anderseits 
eine  befriedigende  Möglichkeit,  Fragen,  wie  sie  so  eigentttmUche  Bauten  wie 
die  SeUnnnter  Tempel  stellen,  gerecht  zu  werden. 

•}  Vereinzelt  kam  daa  mich  m  Oriechenlaiul  und  soiiBt  vor,  wpnn  ?..  B.  die  Tropfen- 
regula fortgelftMeu  ist  in  Cadaccbio,  Korinth,  Asao»,  oder  das  Ucloerschatzhaus  in  Olympia 
kfliae  Tropfen  nnter  ngiila  und  via  leigt. 


I 


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ÜB£K  DAS  VOJääPIEL  AUF  DEM  TUEATEB  ZU  GOETHES  F^UST. 

Tob  Thbodo«  YooaL. 

Der  kMUdw  SentenseiMdiatB  des  VoiipielB  wird  iKngvfc  nadi  Gebfllir  voii 
allen  gewllirdigt,  die  ftr  DmurtigeB  flberhatipt  Sinn  und  Yerettndms  beben. 
Ob  andi  dae  Vonpiel  als  Ganses,  im  Zusammenhange  nut  der  nachfolgenden 

Faustdichtung  wie  anderseits  mit  Goethes  Innenleben,  ist  eine  andere  Frage. 
Der  Nestor  der  Goetheausleger  H.  Düntzer  vermifst  in  '^der  jetzigen  Gestalt 
des  Vorspiels'  Einheit  und  neigt  augenscheinlich  zu  der  Annahme,  in  der  rasch 
hingeworfenen  Ausarbeitung  sei  manche  w^ünschenswerte  'Ausgleichung'  nach- 
träglich unterblieben.  Die  Mehrzahl  der  anderen  Ausleger  zieht  es  vor,  beim 
Einaelnoi  lieberoU  an  verweilen^  anatatt  Uber  das  Ganae  aidi  aoflaalaasen. 

Bei  dieaer  Sachlage  ist  ea  woU,  anch  vom  wiaieoacbaillieben-  Sfcandpnnkfee 
ana^  der  Milbe  wnty  dem  ZwecAc  und  Knn  dea  Yorapiela  nllcbtem  nadhangeben. 

Den  Ausgang  hat  selbstverständlich  die  Frage  nach  der  Entstehungszeit 
zu  bilden,  da  angesichts  der  hohen  Bedeutung  der  im  Dreigespräch  erörterten 
ästhetischen  Fragen  es  von  besonderem  Werte  ia^  zu  wiaaen,  wazm  Goethe  Aniafe 
gefunden  hat,  sich  so  zu  äufsern. 

Die  'Zueignung  au  Faust'  ist  nach  den  Tagebüchern  am  24.  Juni  1797 
gedichtet  Nach  eben  diesen  wurden  die  fertigen  Prologe  zum  Faust  am 
9.  Angnafc  1799  abgescbrieben.  Die  Entatebnng  des  Prologa  im  ffimmel  weiat 
Dfintaer  dem  Sommor  1797  m,  nnaerea  Wiaaena  nur  im  AnarJihiaae  an  die 
'Chronologie  snr  Bniatehung  Goetiieacher  Schriften'  am  Schlnaae  der  alteren 
(Gesamtausgaben.  Da  eine  Beschäftigung  dea  Diehtera  mit  den  Eingangspartien 
zu  Faust  für  1709  nicht  bezeugt  ist,  erscheint  darnach  unzweifelhaft,  dafs  das 
Vorspiel  1707  oH»»r  1708  die  Gestalt  erhalten  hat,  in  der  es  uns  vorliegt.  Für 
das  crstere  Jahr  siiru  ht  einigermafsen  der  Umstand,  dafs  der  Theaterdicht-er 
sich  mit  Stanzen  eiuluiiri,  die  metrisch  und  inhaltlich  stark  an  die  Zueignung 
an  Fanat  gemahnen. 

Steht  dieee  nngefahre  Zeitbeatönmung  fest,  eo  iat  Idar,  dafo  der  Diehter 
dea  Yorqpiela  in  der  HaiqilMche  nur  Fboat  I  ala  daa  Ton  jenem  einaaleitende 
Stück  im  Auge  gehabt  haben  kann. 

Y<mk  aweiten  Teile  lag  1798  —  abgesehen  yon  einzelnen  Ansätsen  zur 
Helptif»  —  30  gut  wie  nichts  vor.  Das  am  23.  Juni  1707  nach  den  Tagebüchern 
eutstatuieno  nnsfnhrlichere  Schema  zum  Faust  (identisch  mit  Paralip.  1  V)  hat 
ohne  Zweifel  schon  einige  Anbaltepunkte  auch  für  Faust  II  geboten.  Die  Aus- 
führung lag  aber  damals  noch  iu  weiter  Feme.  Zunächst  galt  es,  die  grolae 
IfawlibMahOT.  IM.  l;  45 


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670 


Tk.  Vogel:  über  dmt  Tonpid  Bvf  tlem  The»ter  lo  OoeÜiee  FmwL 


Lücke  zwischen  dem  ersten  Monolog»  und  der  ersten  Begegirn  ti  Fansts  mit 
Mephisto  auszufüllen,  sodann  die  üietcliertra^adie,  die  im  Hrii'  li-t  i' ke  von 

1790  mit  der  Domscene  oudigte,  zum  Abschlufs  xu  bringen.  Jsmh  aUedem 
ist  das  VorBpiel  lediglidi  «nftufaneii  ■!■  littennBoher  Eingang  zu  Faiut  L 
Will  man  in  den  Scbluftworten  des  Theaterdurekton  'Tom  Himmel  durch  die 
Welt  nur  Hdlle'  mehr  «dien  ab  ein&che  Beseicfanimg  der  drei  Beiehe,  ao 
würden  sie  ganz  doch  auch  nur  auf  Faust  I  paaaeii,  dessen  Sdilnfa  mit  seinem 
*Her  zu  mir!'  den  Weg  zur  Holle  andeutet. 

Ala  GiR'the  iro  Sommer  1707,  vornehmlich  von  Schiller  dazu  angeregt 
(s.  u.  a.  den  Brief  vom  'Jil  Nov.  1794^,  zu  dem  ersten  Entschlüsse,  das  Paket 
anfxnschnüren ,  das  den  Faust  gefangen  hielt,  noch  den  weiteren  f'afste,  mit 
diesem  Tragelaphen  sich  i'urtan  eingehend  wieder  zu  beschäftigen,  war  er  gegen 
48  Jahre  alt,  innerlich  nodi  roa  nnv(»wfiai]icher  Lebenau  nnd  Sdiaffeoakral^ 
naeh  laadttlnfiger  Anlbaanng  aber  dodi  bereitB  ein  alt«:  Heir,  wie  die  Inatige 
Peraon  im  Yorapiel  den  Theaterdichter  nennt 

Jeder  Gedanke  daran,  das  Fragment  Ton  1790  zu  einem  wirkungsvollen 
Bühnenstficke  auszugestalten,  lag  dem  Dichter  völlig  fern.  Mit  der  Möglich- 
keit einer  AufTührung  beschäftigte  sich  dieser  bekanntlich  erst  seit  1808,  als 
der  1.  Teil  fertig  vorlag,  imd  auch  in  dieser  späteren  Zeit  mehr  widerstrebend, 
auf  anderer  Zureden  hin  als  angelegentlich.  Das  1797  Vorliegende  war  doch 
eben  nur  der  Torso  eines  Dramas,  nicht  einmal  annähernd  bis  zur  Katastrophe 
geführt,  voraehmlich  aber  mit  einer  schwer  auaroftUlenden,  Uaflimden  Lfl^e 
im  Eingänge.  Wenn  Ckietfae  es  ftber  sich  gewann  au  Yenracheni  ob  es  ihm 
gelingen  werd%  die  schwankenden  Gestalten  Miner  jngendlichen  Entwürfe  fest- 
zuhalten, wenn  er  weiterhin,  ennntigt  durch  das  Gelingen  dea  Versnehee^  1797 
und  1 798  nicht  nur  Wesentliches  zu  dem  Vorhandenen  hinzudichtete,  sondern 
den  tiefsinnigen  Plan  der  Erweiterung  des  Fra),rments  zu  einer  Faustdiehtung 
gröfsten  Stils  entwarf,  so  war  es  ihm  dabei  nicht  im  entlerntesten  um  den 
Beifall  einer  'unbekannten  Menge*  zu  thun;  wie  die  Zueignung  und  die  erste 
Bede  dea  Diehtero  im  Vorspiel  beaei^,  hatte  der  Gedante  an  jene  fDr  ihn 
sogar  etwas  Abschreiendes.  Er  bttfriedigte  ledii^eh  sein  hfinstlerischea  Be- 
dttrfiiifi^  indem  er  sich  daran  machte^  das  im  kecken  Jngendmnt  fragmentarisdi 
ffingeworlene  zu  erganzen  und  zu  etwas  Einheit! i die m  auszugestalten.  Etwas 
anderes  hatte  such  Schiller  nicht  beabsichtigt  durch  seine  wiederholte  mahnende 
Erinnerung  an  den  Torso  des  Herkules. 

Daraus  erhellt,  dafs  bei  dem  (iLspriiche  dos  Schanapieidirektors  mit  seinen 
beiden  Uehilfen  nicht  emstlich  an  die  Wirkung  zu  denken  ist,  die  Faust  als 
Bühnenstück  etwa  ausüben  konnte  oder  sollte.    Kalidasas  Sakuntula,  die  Got-the 

1791  in  Försters  Übersetasung  kennen  gekmt  hatte,  beginnt  mit  tinet  Wechsel« 
rede  awischen  dem  Theaterdirektor  nnd  einer  Sehaospieierin,  ein  Vorspiel  dea 
BfaaTabhnti  mit  einer  ahnlichen,  in  der  ganz  direkt  tob  den  Eägenschaflen 

eines  Dramas  gehandelt  wird.  Ahnliche  Auseinandersetzungen  zwischen  Dichter 
und  Pubhkum  vor  Beginn  der  eigenthchen  Handlung  kennt  auch  daa  apaniaehe 
und  itaUenische  Theater.  Um  eine  solche  war  es  angensebeinlich  auch  unserem 


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Tli.  Vogd:  Über  du  Yonpi«!  waf  Atm  TliMiar  ra  Ooethw  Fatict 


671 


Difhter  zu  thuii.  In  welchem  Sinne  aber,  da  alles  auf  die  Bühnenwirkung 
Bezügliche,  weil  für  den  vorliegenden  Fall  belanglos,  nur  in  der  einmal  ge- 
wihltflii  dicliterigchen  Einkleidung  seine  Erklärung  finden  kann?  Worfiber 
konnte  Goeflie  das  Bedfirfion  f&hlen,  praelndendo  ndi  mit  einrai  LeBepoblikuin 
m  TentSndigen? 

Fafst  man  die  Sache  plump-iLuberlicb  auf,  so  kSimto  es  scheinen,  als  be- 
kennte sich  Goethe  im  Vorspiel  zu  einem  notgedrungenen  Abfalle  von  seiner 
eigensten  Art,  soinen  Gnindaaty.fn  unter  <lem  Drucke  seiner  nächsten  Unigeljuup 
und  des  üblen  Zeit^schmackes.  Dafs  der  aiifanjra  so  widerstrebende  Theater- 
dichter schliefeilicb  ganz  verstnmint.  anscheinend  in  Unvermeidliches  nich  er- 
gebend, findet  Diiutzer  daher  geradezu  unstöfsig,  indem  er  hierin  eine  Schwäche 
der  AoefCOinug  eiehi 

Des  Lrrige  seiner  Anf&SBiing  liegt  wohl  darin,  daüi  er  in  dem  Tbeater- 
dichter  ebne  miteree  eine  Selbstdantellnng  Goethes,  in  den  beiden  andefen 
aber  nur  VeiflUirer  zun  Si^echten  sieht.  So  liegt  die  Sache  aber  doch  niehi 
Selbst  der  überwiegend  banausinche  Direktor  spricht  neben  Unachonem  auch 
einzelnes  Beber7igpnswerte  ans,  die  lustige  Person  aber  eine  ganze  Reihe  hoch- 
beachtlicher, ebenso  frischer  als  wahrer  Sätze,  indem  sie  dem  weltschouen,  am 
liebsten  in  seiner  stillen  Himmelsenge  weilenden  Dichter  widerspricht.  Es 
wiederholt  sich  augenscheinlich  auch  hier,  was  von  den  meisten  gröfseren 
Diditnngen,  nunal  den  Goetheachen,  gilt.  Keine  der  gezeiohneten  Geatalten 
spiegelt  nUein  des  Dichtwa  Art  nnd  DenkweiBe  wieder.  WeielingMi  ist  ein 
Stflek  Goethe  so  gut  wie  Gftta,  Antcmio  wie  Tima,  Hephistopheles  wie  Faost; 
kein  Wunder  bei  einem  Dickter,  der  swei  Seelen  verschiedenster  Artung  in 
seiner  Brust  wohnen  fühlte.   Sehen  wir  uns  daraufhin  einmal  das  Vorspiel  an. 

Indem  sich  Goethe  vorsetzte,  die  aus  einer  längst  ver«c]iwundenen ,  in 
Freude  und  Schmerz  tiel bewegten  Jugendzeit  stammenden,  vergübtea  Faust- 
entwürfe nach  einem  neuen,  gegen  früher  wesentlich  erweiterten  und  verinner- 
liehten  Plane  auszudichten,  muTsie  er  seiner  innersten  Natur  Gewdt  anthnn. 
Jede  Seeae  dea  üzftnat  war  ein  Niedenchlag  ron  Sdhatdorddeblem  geweaen, 
dasa  dem  Diditer  geweiht  dnrbh  erate  Lieb'  nnd  Frenndschaft,  deren  liebe 
Schatten  mit  ihr  in  seiner  Erinnmmng  heraoAtiegen.  Das  Weiterspinnen  der 
danuüe  Abgerissenen  F&den  bei  völlig  veränderter  LebensUge  nnd  Lebens^ 
auffaasiing  mufste  ihm.  wie  er  damals  noch  war,  flauer  ankommen,  noch  mehr 
das  Hineinarbeiten  eines  neuen,  schweren  Gedankeninhalts  in  die  so  anspruchs- 
los-schlichte, wenn  auch  ürtJlstes  und  llticlistes  allerort-en  streifende  Jugend- 
dichtung. Zwei  hin  drei  Jahrzehnte  später  hätte  Goethe  eine  solche  Zumutung 
als  drttckend  nieht  mehr  ^rapfnndMi}  hatte  er  docAi  in  der  ZwisdMnsett  gelernt^ 
die  Poesie  an  kommandieren,  soweit  es  aar  gewissenhaften  DnrdifQhmng  einmal 
ge&bter  poetischer  Yorsfttie  nOtig  war.  In  dem  Jahre  aber,  in  Aem  die  Braut 
von  Korinth,  der  Gott  nnd  die  Bajadere^  die  Metamorphose  der  Pflanzen  u.  a.  ent- 
stand und  Ib'iiaaiin  und  Dorothea  zum  Abschlufs  gelangte,  mufste  das  pflicht- 
getreue Weiterarbeiten  an  einem  Werke,  das  aus  der  augenldicklichen  Stimmung 
nicht  mehr  ungezwungen  herauswuchs,  ihm  als  eine  pemliche  Leistung  er- 

46* 


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Tk  Togal:  Über  dM  VonpA  mS  dem  ThMter  ta  Ooetim  Twutt 


icheinen.  Darnach  geben  die  kSstüchen  Worte,  die  CK)ethe  dem  Theaterdiekier 
in  den  Hund  gelegt  hat^  maweifelliaft  eig<.  n8te  Empfindungen  wieder. - 

Aber  der  Toreo  sollte  «r^sat,  ein  gewieecnr  Abeehlnfo  wenigsfeeiui  der 

Gretchentntgödie  beldtiiimliclist  erreicht  werden.  Da  blieb  wohl  nichts  Qbr^ 
als  deinen  Tag  verpassen,  das  Mögliche  beherzt  sogleich  beim  Schöpfe  fassen*. 
Kein  TLcaterdiruktor,  kein  Verleger,  kein  Massen  verlangen  des  Publikums 
drängte  dazu,  Hoiidern  lediglich  des  Dichters  eigener  Vorsatz.')  Das  hinderte 
aber  nicht,  dafs  dieses  Vorsatzes  AusfUhnmg  ihm  innerlich  Opfer  auferlegte, 
die  zu  bringen  ihm  schwer  fieL 

Gesellte  sieh  doch  so  der  imwillkomxnenen  Nötigung,  viei&eh  nur  *Ge> 
dachtes*  dichterisch  danostellen,  infolge  des  neugeschaffenen  ArbeitsplaneB  noch 
die  weitere,  auf  EinheiHichkeit  des  Tonei^  der  Kunstart  wie  der  Handlang  bis 
zu  einem  hohen  Grade  zu  Yersichten.  Aus  dem  in  Hans  Sadulscher  Schlicht- 
heit einheitlich  gedichteten  Urfoost  war  eine  'Symbol-,  Ideen-  und  Nebelwelt* 
geworden  (an  Sohilirr,  den  24.  Juni  1797),  für  deren  hochaufquellende  Masse 
selbst  Schülers  kühne  .Schöpferkraft  keinen  poetischen  iieif  wufste,  sie  zusammen- 
zuhalt*}n  (an  tioethe,  den  26.  Junij.  Eine  Wette  im  Himmel  um  Fausta 
Seeleuheil,  so  zu  sagen,  war  in  Aussicht  genommen,  der  eine  zweite,  irdische 
folgra  sollte.  Zun  Austrag  beider  w»r  njHdg,  d<»i  Helden  dnrdi  fladie  Un* 
bedentendheit  wie  durch  daa  wilde  Leben  an  schleppen,  alle  Tribake  dsa  Lebena- 
gennsBes,  des  gewöhnlichen  wie  des  hdhereOy  ihm  ansnbielen  auf  den  Yersudi 
hin, »ob  einer. dauernd  erquicken  werde  Alles  das  war  undarstellbar,  sollt^'u 
die  drei  Einheiten,  sollte  auch  nur  die  Gleichartigkeit  des  Tones  einigermafsen 
gewahrt  bleiben.  Es  half  nichts,  ein  kuViner  Kift  mufste  gewagt  werden  in 
das  romantische  Land,  es  luafste  von  den  genialen  Zumutungen  an  die  PhanUitie 
und  den  Geschmack  Gebrauch  gemacht  werden,  an  welche  eben  um  diese 
Zeit  die  Bahnbrecher  der  Romantik  das  deutsche  Lesepublikum  zu  gewohnen 
angefangen  hatten. 

Die  gewihlte  dramatische  BinUeidung  bringt  es  mit  «ich,  dafs  der  Direktor 
wie  die  Instige  Person  das  Abgehen  von  der  Norm  des  strengen  KTaswiaismus 
mit  dem  BSnwnse  auf  die  Bedfirfiiisse  und  Neigungen  des  Theateraudi  toriums 

begründen.  Das  ist  aber  eben  nur  Einkleidung.  Das  Wesentliche  ist  ihre 
Mahnung  zum  kecken  Mut,  zum  frischen  Hineingreifen  ins  yoWp  Menschen- 
leben, zum  Fernhalten  aller  engen  ästhetischen  Bedeuklichkei t^^'u  gegen  bunte 
Bilder  mit  vielen  Farben  und  ein  Fünkchen  Wahrheit*,  gegen  die  Beimischung 
TOD  etwas  Narrheit  in  das  ernste  Werk. 

Zu  allem  diesem  hatte  sieh  Goe&^  sicher  nicht  ohne  inneres  Widerstrebeo, 
entschlossen;  die«  offen  ansndenten,  ist  unserer  Anrieht  nach  der  eigenäidie 
Zweck  des  Vorspiels.  Der  Dichter  beharrt,  das  sagt  es  ons  dentlichy  in  seinem 
Innersten  bei  seinen  im  Verkehre  mit  Schilh  r  des  weiteren  befestigten  strengen 
Anforderungen  an  ein  Kunstwerk  höhejK)n  Stils.   £r  erkennt  aber  die  Not- 


Vor^ipifl:  Trul  wirlcit  weiter,  weil  er  imirs '    Hierher  gehOft  SUCh:  'Nscb  einett 
selbstgesteckten  ^iel  mit  holdem  Irren  hin  zu  schweifeo.* 


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Th.  Yogel:  Ob«r  dM  Yonpid  wat  Aem  ThMtar  lo  GoethM  Fttosk.  678 


wendigkeit  au,  bei  einer  eiuzigarÜgeu  Diciituug  luit  bedeutenilem,  gymbolisch- 
philoiopliiieh«in  ffintergnmde  neh  in  Mm»,  srine  G«iliiliiuigslcntft  nidtt  bt- 

Wie  tiif  BoMm  sehoo  im  Jahn  1707  tos  dsa  GedBiik«n  d«r  jungen 

Romantik  bei  aller  seiner  um  dieselbe  Zeit  glänzend  nrwieseneti  Begeisterung 
fQr  das  Ideal  der  Klassizität  ergriffen  war,  beweist  die  Thataache,  dafs  er  sein 
Oberwiegend  nur  Tagesintereasen  streifendes  lntenn("/,7.c)  Oberons  und  Titanias 
goldne  Hochzeit  noch  vor  Ende  des  Jahres  (an  Sehiller,  den  20.  De?;.)  seinem 
Faust  als  entremese  einzufügen  entschlossen  war.  Die  1788/9  entstandenen 
Faustszenen  —  Hexenküche,  Wald  und  Höhle  —  hatten  im  wesentlichen  doch 
noch  den  Geist  dee  Uiftnele  jge»fnMt,  wenn  nndi  mit  betnditlulian  AbwiBd- 
Inngen  des  Geistes  wie  T<mes.  Hit  der  Einlegnng  jenes  die  Hsndlimg  dee 
Fmui  gar  nicht  bertthrenden  Ini^memo  hat  der  Dichter  aber  einen  Weg  be- 
treten, der  später  auch  für  diß  Ausführung  von  Faust  U,  nicht  zu  deren  Vor- 
teil, verliilngnisvoll  werden  sollte.  In  ungleich  geringerem  Grade  gilt  das  von 
der  1800  1  entstandenen  Walpurgisnuobt,  obscbon  auch  sie  bei  wesentlichem 
ZuHummenhiing  mit  der  Haupthandlung  einzelne  Satjrhiebe  an  Zeitgenossen 
stilwidrig  mit  austeilt. 

Da  wir  es  nnr  mit  dem  Vorqiiel  an  thnn  haben,  genüge  die  Featatallnng, 
dab  der  Fanstdiehter  Ton  1797/98  den  nnerbittlich  jede  Abweiehnng  Ton  den 
Forderungen  strenger  KUssizit&t  abweisenden  Standpunkt  des  Theaterdichters 
keineswegs  teilte,  wenigätens  nur  insoweit,  dafs  daneben  anch  itt  dem  TOn  der 
lustigen  Person,  dem  Mephisto  des  Vorspiels,  Ausgesprochenen  die  innere 
Stellung  Goethes  d^r  Faustiufgabe  gegenüber  zum  Ausdrucke  kommt.  Das 
schliefsliche  Verstummen  des  Theaterdichters  ist  daher  nicht  auffällig,  sondern 
nur  der  wahren  Sachlage  entsprechend  In  der  Faustdichtung,  und  üwar  bereits 
in  deren  erstem  Teile,  soUte  der  ganze  Kreis  der  Schöpfung  vom  Himmel  durch 
die  Welt  zur  Hölle  anageeehfitten  werden,  wobei  Prospekte  nicht  und  nicht 
Ifosdiinen  geschont  weiden  konnten,  wie  der  Dirdctor  von  seinem  engen  Stand- 
punkte aus  es  gewflnsdit  hatte.  NiramOTneihr  konnte  dies  geleistet  werden 
TOn  einem  Poeten,  dem  es  nur  um  den  Einklang,  der  aus  dem  Busen  dringt^ 
und  die  gteichmäfsige  rhythmische  Bewegung  der  immer  stetig  dahinfliefsenden 
Gedankenreihe  zu  thun  war.  Will  raaTt  somit  durchaus  feststellen,  auf  vn  Irher 
Seite  der  Dichter  des  Vorspiels  vornehmlich  stand,  so  wird  man  (abgeseiien 
von  der  Form  der  Einkleidung  im  einzelnen)  mehr  auf  die  lustige  Person  als 
auf  den  Theaterdichter  zukommen  müssen.  Jene  spricht  es,  worauf  besonders 
Gewicht  zu  legen  ist,  Uar  ans,  was  ein  alternder  Dichter  nodi  leisten  kSnn^ 
dafem  er  nnr  wolle,  and  dieee  ihre  Ansftthrung  bleibt  nnwideraprodien.  Auch 
in  dem  vorher  von  ihr  Gesagten  wird  jeder  Kenner  Goetheechen  Grund- 
anschauungen  auf  Schritt  und  Tritt  begegnen. 

Haben  wir  im  Vorspiel  ein  gewisses  Einlenken  aus  den  strengeren  Bahnen 
des  Klassizismus  in  die  freieren  der  jungen  Romantiker  festgestellt,  so  kon- 
struieren wir  damit "  keineswegs  den  Anfang  eines  ästhetisehcn  Gegensatzes 
zwischen  Goethe  und  Schiller.    Der  letztere  hatte  klar  erkannt,  dafs  es  eines 


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674  Th.  Vogel:  über  das  Vorspiel  auf  dem  Theater  zu  Goethes  Faust. 

ganz  absonderlichen  pootiachen  Reifens  bedürfe,  um  die  Ideen-  und  Gestalten- 
masse  der  geplanten  Faustdicbtung  zusammenzuhalten,  der  erstere  aber  hat  sich 
auch  nachträglich  noch  genugsam  in  den  Formen  klassischer  Kunst  bewegt. 
Erst  von  1803  ab  fangen  die  Romantiker,  die  1798 — 1800  im  Athenäum  eine 
neue  Programmrichtung  entwickelt  hatten,  ernstlich  an,  gegen  die  gefeierten 
Meister  der  neuesten  deutschen  Dichtung  kritisch  zu  werden.  Um  1798  herum 
hatten  diese  Neuerer  noch  genugsam  damit  zu  thun,  für  sich  selbst  erst 
Duldung  zu  erlangen  und  eine  Stellung  sich  zu  erobern.  Bemerkt  sei  nur, 
dafs  L.  Tieck  in  seinem  Ritter  Blaubart  (1796)  und  Gestiefelten  Kater  (1797) 
ganz  abgesehen  von  Jean  Pauls  in  jene  Zeit  fallenden  Romanen  ein  beacht- 
liches Vorbild  für  eine  genial -rücksichtslose,  bis  zur  Zerstörung  aller  Ein- 
heit und  Illusion  sich  versteigende  schriftstellerische  Willkür  gegeben  hatte. 
Goethes  Genius  hat  sich  zum  völligen  Herausfallen  aus  der  Handlung  ja  leider 
auch  in  einzelnen  Einlagen  zum  Faust  verleiten  lassen.  Die  beiden  meister- 
haft geschriebenen  Prologe  stehen  ja  jedenfalls  mit  der  nachfolgenden  Dichtung 
im  innerlichsten  Zusammenhang,  der  eine  die  gewählte  Form  rechtfertigend, 
der  andere  den  Grundgedanken  der  Fausttragödie  enthüllend.  Beachtlich  bleibt 
aber  immerhin,  dafs  bereits  im  Balladenjahre  eine  Einlage  in  den  Faust  (der 
Walpurgistraiun)  entstand,  nur  *fi}r  den  Augenblick  geboren',  geeignet  'die 
Menschen  zu  zerstreuen,  zu  verwirren',  als  sei  es  dem  Dichter  zu  thun  ge- 
wesen um  die  Erfüllung  des  vom  Theaterdirektor  geäufserten  Wunsches,  vieles 
zu  bringen  und  ungcscheut  ein  Stück  gleich  in  Stücken  zu  geben.  Die  dritte 
Schweizerreise  (1797)  leitet  bekanntlich  eine  neue  Epoche  in  Goethes  innerer 
Entwickelung  ein.  Der  Dichter  wird  'feierlich',  wie  K.  August  am  23.  Sept. 
dieses  Jahres  an  Knebel  schreibt,  er  fühlt  den  Drang,  seine  Weltkenntnis  nach 
allen  Seiten  zu  erweitem,  seine  Gedanken  um  neue,  grofse  Gesichtspunkte  auf 
Grund  eines  wohl  gesichteten  Erfahrungsmaterials  zu  gruppieren,  kurz  —  sich 
für  das  Alter  einzurichten.  Er  fängt  an,  in  die  Breite  zu  gehen.  Das  ist  bei 
Beurteilung  jener  Einlage  zu  berücksichtigen. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  einer  kleinlichen  Einwendung  gegen  das  Vorspiel 
begegnet,  die  u.  a.  Düntzer  erhebt.  Man  hat  es  anstöfsig  gefunden,  dafs  der 
Direktor  für  eine  Theatervorstellung,  zu  der  die  Hörerschaft  bereits  versammelt 
ist,  ein  oben  erst  zu.  schaffendes  Stück  von  absonderlicher  Zugkraft  verlangt. 
Kann  das  stören  bei  einem  ganz  in  der  Luft  schwebenden  humoristisch -phan- 
tastischen Gewebe?  Angedeutet  sollte  werden,  warum  der  Dichter  seiner  Faust- 
dichtung die  Gestalt  gegeben,  in  der  sie  vorliegt,  in  der  Form  eines  Vor- 
spiels zu  einer  gedachten  Aufführung  derselben.  Das  war  nicht  möglich,  ohne 
dafs  die  Zauberin  Phantasie  das  in  der  Wirklichkeit  auseinander  Liegende  zu- 
sammenrückte, die  Zwischenzeit  übersprang,  die  zwischen  der  Feststellung  des 
Arbeitsplanes  und  dessen  vollendeter  Durchfuhrung  liegen  mufste.  Man  mühe 
sich  daher  nicht,  über  das  'heute,  an  diesem  Tage'  durch  Deuteleien  sich 
hinwegzuhelfen,  indem  man  ein  humoristisches  Phantasiegebilde  unter  die  Lupe 
der  gemeinen  Wirklichkeit  nimmt. 


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£MANU£L  QKIBEL  ALS  POUTISCHEE  DICKTEIL 


Ton  Paul  Lobbhtx. 

Die  Zeit  des  Bingens  tun  die  nationale  Einheit  DeatsdilHnds  swischen 
1840  und  1871  findet  bei  einem  nneerer  reiehaten  neaeren  Ljriker,  Emannel 

Geibel,  eine  geradezu  tj])i><che  Wiederspiegelung.  Wae  dieie  politiaelien 
Dichtungen  Geibels,  der  ein  Herold  des  nationalen  Gcdankena  gewesen  ist,  um 
80  wertvoller  macht,  ist  der  ümstimd.  dafs  in  ihnen  alle  die  von  dem  Dichter 
selbst  durchlebten  Wandehingen  der  Idee  der  nationalen  .Kiiii^iin|r  zum  Aus- 
dnick  gelangen,  von  dem  verschwommenen  romantisoh -mittelalterlichen  Ideal 
bis  KU  der  klaren  Erkenntnis,  dafs  der  von  dem  genialen  Schöpfer  des  Reichs 
eingeeddagene  Weg,  weil  der  einzig  mögliche,  so  auch  der  allein  richtige  sei. 
Zadttn  reflektiert  die  Geibeleche  Dichtung  nicht  nur  die  politische,  sondern 
'  flberhanpt  die  Enltnreiitwickeluttg  Dentichfamds  in  dem  genannten  Zdtmom 
nnd  snm  Teil  darüber  hinaus.^) 

Es  entspricht  den  romantischen  Anfangen,  aus  denen  Geibcls  Dichtung 
li'-rvorgevrachsen  ist,  wenn  er  in  der  ersten  GedichtsnTninlung  vom  Jahre  lR40die 
bchuHutht  nach  der  Auferweckung  der  versunkenen  iicrrlichkeit  des  deutschen 
lleiches  an  die  Sage  von  der  Verzauberung  Kaiser  Friedrichs  des  Hotbarts 
anknüpft: 

Tief  in  Schofise  d«s  Kynamm^ 

Bei  der  Ampel  rotem  Schein, 

Sitit  der  alte  Kaiser  Friedrii  li 

An  dem  lisch  von  Marmorstein.  (I  91.)*) 

Ganz  im  Stile  der  Romantik  ist  es,  wenn  in  diesem  Gedicht  unter  den  Hittem 
in  der  Umgebung  dea  Kaisers  ."^icli  'Heinrich  auch  der  Ofterdinger'  lietindot, 
'mit  den  liederreichen  Lippen,  mit  dem  hl(»ndgelockten  Haar'.  Stumm  zwar 
ruht  dem  Sänger  die  Harfe  im  Arm,  aber  'auf  seiner  hohen  Stime  schläft  ein 
kOnftiger  Gesang*.  Eigentlidi  politische  LiedM:  bringen  erst  die  'Zeitstimmen* 
vom  Jahre  1841.  Anch  hier  frird  annichst  wieder  an  jene  TOn  Bfickert  anerst 
auf  Barbarossa  besogene  Sage  Ton  der  Versaubernng  des  Kaisers  im  EyffhSiuer 

')  Die  einzige  Sdmlausgnbc  Gcibciscber  Godicbto,  die  von  Nietzku  (Stuttgart  1890, 
Cotta),  bietet  vi«  fBr  de«  Diebten  Lebeo,  Mia  yerhilhii«  su  Natur,  Gott  und  Lieb«,  com 
Altertum,  zu  ethischen  und  äBthetischen  Frapen,  so  auch  für  «eine  nationale  Poesie  eine 
gute  Answnhl,  die  man  nur  dnrob  einige  für  die  Zeit  von  — 1B60  besonders  chaiak- 
teristiBcbe  Gedichte  vermehrt  »oben  mOchte. 

*)  Citiert  wird  naeh  d«r  Awfabe  der  OeewnneUea  Werke  in  a  Bdn.  (Stattgart  I89S) 
und  den  Gediehten  ans  dem  KachlaTe  (ebd.  l&M). 


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676  ,  P-  LorentR:  Emaatiel  CMbel      politiidier  Diehter. 

angeknüpft  in  'Barbarossas  Erwachen'  (I  204  ff.\    In  dramatischer  Lebendig- 
keit crhnlten  wir  eine  Schilderung  davon,  wie  der  Dichter  selbst  hinabgestiegen 
ist,  um  dem  schlafenden  Kaiser  Kunde  zu  bringen  von  der  traurigen  Gegen- 
wart mi  deutschen  Vaterlaude.  Wenn  wir  da  hören,  wie  überall  'in  siiudlicher 
WiUbiiB  Nadit  und  EUtriieit,  Lüg'  und  Waltrhsil^  Beehi  und  IVenl  vummmaa- 
gemiadtt'  find,  so  steigt  jene  Zeit  trflbster  Cttning  vor  «Bsern  Augen  «n^  wie 
rie  den  SO  er  und  40er  Jahren  nnaeres  Jalirinmderte  tbr  G^oftge  gab.  Die 
Vertreter  der  Reaktion  sind  es  einerseits,  nuf  die  die  Worte  gehen:  *Sie  sfcfitMil 
und  halten,  halten  das  Qute,  halten  das  Schlimme,  sie  hören  nicht  die  Gottes- 
stimmc,  die  nachtlich  durch  das  Land  sich  schwingt.'    Aber  anderseits  wird 
auch  jenes  junge  Deutschland  getroffen,  da»  ^alles  Bestehcndt^,  wo  es  mit  den 
neuen  Ideen  der  Zeit  in  Widerspruch  zu  stehen  schien,  auf  das  heftigste  an- 
griff; das  im  VerhSltnia  des  Staates  nun  Volke  die  Demokratie,  im  Verhältois 
des  Mannes  mm  Weibe  die  frsie  loebe,  im  Yerbiltnis  der  Nationen  unter- 
einander die  allgemeine  Brfflderiidikeit  nnd  im  YeriiilfaiiB  der  Beligionen  eine 
Duldsamkeit  predigte,  die  im  Grunde  GleichgOltigkett  war'.*)    Dies  junge 
Deutschland  ist  gemeint,  wenn  Barbarossa  von  den  kecken  Zungen  hören 
mufs,  die  arhelten  und  meistern:  'Nichts  ist  ihnen  recht,  alles  soll  ander? 
werden  im  Himmel  vv.i^  auf  Erden,  und  wer  nicht  mit  «pbreit,  heifst  ein  Knecht; 
sie  möchten  das  Hociiate  zu  unterst  kehren,  um   -ilii.-t   zu  herrschen  nach 
eignem  Begehren.    Nach  Freiheit  rufen  «ie  männiglich  und  sind  der  eignen 
Lfiste  Knechte,  sie  reden  Tom  ewigen  Hraschenreekte  nnd  meinen  doch  ntor 
ihr  Ueines  Ich.'  Die  ZSeit^  mit  dem  Schwerte  eine  LSsnng  dieser  Wirren  her- 
beiiofllbren,  sieht  Barbarossa,  ist  noch  nicht  gekommen,  aber  dem  tiiatsn- 
dnrst^en  Jünglinge,    den  die  Last  sehier  niederpressen  will,  giebt  er  die 
Weisung,  seine  Sorge  auf  den  zu  werfen,  der  droben  auf  ewigem  Stuhl  ist  ge- 
sessen, selbst  aber  zu  pflegen  *der  Gabe,  die  er  gniidig  dir  l)eschicd,  in  That 
und  Lied'.    Wie  treu  der  Dichter  dieser  Mahnung  gefolgt  ist,  zeigt  er  alsbald 
in  einem  Liede,  als  er  auf  seiner  Wanderschaft  durch  deutsche  Gauen  zum 
alten  ^Yater  Rhein'  gelaugt  ist  (I  207  fif.).    Da,  wie  er  zum  erstenmale  an 
seinen  burggekronten  nnd  rebennrnkrimaten  Hl^ehi  Twübeifahrt,  ergeht  aeine 
Anfforderang,  snsammensahalten  *ao  weit  das  dentseke  Wort  erUingl^  so  weit 
man  trinkt  des  deutschen  Weins',    Doch  nicht  wie  ein  bnntgeflidcter  Bettler- 
mantel soll  das  Reich  zusammenhalten,  nein,  *einem  Bsmier  sei  es  gleich,  in 
30  Farben   froh  gestickt'.    Fürsten   und  Adel,  Bürger  und  Bauer  sollen  das 
Tüchtigste  ihres  Wesens  hervorkehren,  and  die  deutschen  Dichter  sollen  zeigen, 
dafs  die  echte  deutsche  Poesie  noch  lange  nicht  tot  sei,  wie  viele  glauben, 
sollen  es  zeigen  dadurch,  dafä  sie  der  neuen  Zeit  vorauschreiten  ^wie  vor  dem 
blntenToUen  Iiens  als  Herold  sieht  die  KaebügaU'.   Und  Geibel  hatte  andi 
bald  Gelegenheit,  seine  ideale  Ansdtaaung  von  der  Anfgabe  des  SSngers  in 
jenen  wildbewegten  Zeiten  persSnlidh  an  terteidigen.   Ab  er  tou  Herweg 
wegen  des  TOn  Friedrieh  Wilhelm  IV.  ihm  aoagesetiten  Ueinen  Jahrgebaltes 


>)  FienoB,  Fnobiiohe  GeMhichte  ü  SOS. 


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P.  Lofenti;  Knutmel  G«ibel  sb  poUtiidimr  Dichter. 


677 


in  grSblielier  Weise  ab  Ffinleiikiieclit  gebrandmarkt  wurde,  weist  er  bei  allior 
Anerkfiimung  der  echt  diehteriselien  Ader,  die  in  Herweghs  *G«liehieii  eine« 
Lebendigen'  pnbiert^  mit  einer  flür  den  27jShrigen  Jüngling  hSdiBt  ehren- 
werten,  rnftfirrollen  Besonnenhdt,  aber  deutlichster  Entschiedenheit  die  revo- 
lutionäre Tendenz  des  VerfasserB  zniüdc:  *An  Ö.  Herwegh.  Februar  1842*  (I  218). 
Auch  Oeihol  ist  der  Einflufs  des  nissischon  Znren  mif  die  dtnitschc  Politik 
innigst  verhafst,  *des  Raschkiron,  dos  Untfi-jochcrs  der  Godiinkon',  Auch  er 
will,  dafs  das  freie  Wort  durch  alle  Lüfte  möge  fluten.  Aber  nicht  durch 
Ströme  von  Bürgerblut  will  er  daa  erreichen.  Als  ein  lütter  des  Geistes,  der 
mit  Lnther  einst  gefochten,  des  Geistes,  *der  stärker  ist  als  aUe  Klingen',  will 
er  die  neae  Zeit  heronlRttiien  helfen,  *nicht  ohne  Kamp^  doch  ohne  Schlaeht*. 
In  dem  bloften  Niederreifken  kann  er  nur  eine  Thai  der  Verblendung  sehen. 
Wie  er  in  Men  Aofgeregten'  (I  153)  vor  Kriegen  im  Innern  warnt,  damit 
nicht,  wenn  die  Besten  anf  der  Walstatt  geblieben,  der  Slawe  zuletzt  das 
Reich  erwirbt,  mit  seinen  Prophetenworten  aber  gleich  Kai^^andra  k»'fnen 
Glanben  findet,  so  schwimmt  er  auch  weiter  unermüdlich  'gegen  den  »"^troiu* 
fl  153):  dem  grimmen  Wüten  gegen  die  Despoten  setzt  er  seine  ganze  Ver- 
achtung der  Herrschaft  des  Pöbel«  eutgegeu,  'der  sich  den  roten,  zerfetzten 
Konigsmantel  omgesdilagen',  nnd  erinnert  an  Arislides  und  Dante,  die  auch 
einst  der  Wnt  des  PSbels  weichen  mnftten,  *weil  es  Sünde  ward,  ans  dem 
Sehwarm  sn  ragen*.  Und  gegw  die  Zerstomr  anf  dem  Gebiet  des  Geistes 
wendet  der  Dichter  sich  anah.  Wir  werden  etwa  an  den  Geist  erinnert,  der 
seit  1838  in  den  *Hallischen  Jahrbüchern'  wehte,  oder  an  die  Wirkungen,  die 
das  1^35  erH(liienen(<  Leben  Jesn  von  StrauDa  hervorrief,  wenn  Geibel  *den 
Verneinenden'  (I  1  '5)  zuruft: 

Zu  eurer  Höhe  kann  ich  mich  nicht  schrauben, 
Wo  statt  der  Sonne  frost'ge  Sterne  scheinen; 
Idi  kann  ludit  hassen  blob  nnd  blob  verneinen; 
Dies  Hen  bedsif's  zu  lieben  nnd  in  glanben. 

Das  Treiben  der  'modernen  Heiden*  dfinki  dem  Dichter  insofern  gar  nicht 
einmal  von  wirklich  heidnischem  Geiste  gefcn^n,  als  die  echten  Heiden  doch 
den  Gott  im  Sturm  der  Meere,  im  Donner  und  im  Sonnenwagen  sahen,  die 
mod erneu  aber  *frech  mit  erznem  Speere  in  TrOmmer  jedes  Götterbild  zer- 
schlagen': 

So  bleibt  encfa  niehts  demi  als  die  gro^  Leere. 
Dem  Behnen  asines  Volkes  nach  einem  kraftvollen  Einiger  giobt  Geibel 
poetisehen  Anadmck  in  seinem  ^Gesicht  im  Walde*.    In  emer  orgreiflBinden 
Vision  führt  er  uns  in  eine  von  Domen  und  Buschwerk  dicht  mnnmkte 

Schmiede,  wo  drei  gewaltige  Riesen  an  dem  Konigsschwerte  schmieden  mit 
dem  kreuzgestalteten  Griff  und  der  feuersprühendcn  Klinge.  Der  lang^ehnte 
Held  werde  trotz  allem  Blendwerk  des  Feindes,  der  mit  dem  eisernen  Kolofa 
auf  tönernen  Füfsen  verglichen  wird  —  einem  damals  für  Hufsland  viel  ge- 
brauchten Bilde  — ,  sein  Banner  siegreich  ein?t  entrollen.  Und  als  CJeihel  im 
Jahre  1843  wieder  am  Rheine  weilt,  zusammeu  mit  Jrruiiigrath  in  5t.  Goar  uin 


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678 


P.  Lorants:  Enuura«!  6eib«l  ala  politaiehMr  IKditer. 


«nTer^eichlicheB  Poeienleben  fOlireBd,  da  bringt  er  in  seinem  'Lied  un  Bhein* 
(H  80)  auf  dem  Dnchenfela  dem  deataclien  Volke  und  dem  deutwhen  Geiaiie 

sein  volles  Glas  dar.  Denn  Freude  bewegt  sein  Hers  darüber,  dafs  die  Spmen 
deutschen  Nationalgef&hla  doch  endlich  deutlicher  hervortreten  —  1840  hatte 

Beckers  Ehoiiilifl  unerwartete  Wirkung  in  Frankreich  geübt,  1842  war  bei 
dem  gror^cu  Brande  Hamburgs  in  der  That  im  ganzen  deutschen  Vaterlande 
die  werkthatigate  Bruderliebe  entzündet  worden: 

Was  kümmert's  mirli,  auf  Stein  und  H0I2 
Wie  deiner  Wappen  Farben  streitenl 
Ich  meine  dich,  das  Jttngst  noch  stob 
In  l^uoburgs  Brand  xmammensdunoU 
KorittÜiiseh  En  für  alle  Zeiten. 

Und  dann  lansdit  der  Didiler  dem  *Liede  des  Alten  im  Bart'  (II  13), 
der  TOn  dem  mäditigen  Bransen  «ingt,  Tom  Zieim  der  Wolken  und  der  Adler 

Rauschen,  von  Deutsdiland,  der  schdn  geschmflckten  Brant,  die  gleich  Dom- 
röschen in  Schlaf  versunken  ist,  bis  der  Held  sie  erl?>seTi  kommt:  'Wann 
wockat  du  sie  mit  Drnmmetenla'wt,  wann  fiihrst  du  sie  heim,  mein  Kaiser?* 
Als  es  aber  noch  immer  nicht  Zeit  ist,  auf  diese  Frage  zu  antworten,  ala  der 
politische  Horizont  nur  immer  trüber  und  trüber  wird,  da  stimmt  auch  Geibel 
dmo  Reihe  von  zornigen  und  strafenden  ^Deutschen  Klagen'  (I  S31 — S36) 
1844^)  an.  Wie  in  den  Tagen  Napoleons  I.  Bttckert  in  geliaRiiaeliten  Sonetten 
gddagt,  geetrafb  nnd  ermutigt  hatte,  so  drfickt  in  derselben  Diebtongsform 
jetzt  Geibel  aus,  was  ihn  bewegt  im  Jammer  der  40er  Jahro.  Zum  Heere 
flüchtet  der  Dichter,  um  in  dessen  tosender  Brandung  seinen  Schmerz  aos- 
zutoben.  Bei  dem  Ernst  der  Zeit  dünkt  dem  ehrlicli  um  die  Zukunft  feines 
Vaterlandes  Bekümmerten  alles,  was  sonst  der  Jugend  berechtigte  Freude 
macht,  Lenz  nnd  liiebesleben ,  verbotener  Genufs:  'Ist  jede  Lust  doch  eine 
halbe  Lüge,  wenn  Wetter  so  wie  jetzt  am  Himmel  schweben.*  Wie  schlimm 
mnfs  es  nm  eine  Zeit  steheiii  ireim  Hlnnorthribien  so  bereditigt  sind,  wie  viel- 
leidit  noch  niet  Durfte  ein  Achill  schon  weinen  am  Meeresstraode,  wo  ee 
seine  Liehe  nnd  Ehre  galt^  nm  wie  vid  herechtigter  ein  Dentsdier  jener  Tage! 
Mufste  er  doch  gerade  '1^  so  besonders  schmenlich  empfinden,  dafs  ihm  zum 
Handeln  die  Hände  gebunden  waren  und  dafs,  wo  er  sich  Thaten  Luft  machen 
sah,  er  mit  deren  demokratischen  Zielen  nicht  einverstanden  sein  konnte,  wollte 
er  nicht  die  Zukunft  des  Vaterlandes  aufs  Spiel  setzten.  Damm  fleht  der 
Dichter  im  5.  jener  Sonette  um  Kraft  und  Be8onnenh(  it.  Mafs  er  die  Lebens- 
sonne, die  heiige  Freiheit,  nie  mit  jenem  Weibe  im  blutgen  aufgesdiflnten 
Kleid  Terdamme*.  Zn  quälendem  Schweigen  sidit  sich  da  der  Sdle  Terdamm^ 
damit,  wenn  er  von  fVeiheit  sing^  seine  Worte  nidit  ttbler  Dentnng  ani^eselrt 
seien:  'Und  hat  ein  Wort  schon  mandim  Mann  erschlagen,  der  hoch  war  >vie 
die  Geder  fiherm  Staube.*  Es  t5nt  aus  solchen  Klagen  Temdmilich  die  Stim- 

')  Es  ist  das  Jahr  de«  ersten  Attentates  aui'  Friedrich  Wühehn  IV.  und  da*  Jahr  de« 
An&taiid«!  d«r  flchleiifehan  Weber. 


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P.  LoMnte:  Emanual  Geib«!  ali  politiieher  Dichter. 


679 


mung  wieder,  wie  sie  die  von  wahrhaft  iVeimütigem  Geiste  getragene  Broschüre 
des  Präsidenten  v.  Schon  *Woher  und  Wohin'  erzeugte,  die  die  Erteilung  einer 
koDStitatioiielkii  Yer&sBung  1841  fttr  Preufsen  bIb  politisehe  Notwendigkeit 
hingMteUt  liatte.  Aber  es  weht  uns  ans  jenen  Soneltnn  auch,  aehon  die  bSee 
Ahnung  sdcher  ttneeligen  Folgen  en^egm,  wie  lie  die  *Ym  Fragen'  jenes 
andern  ostpretllbischen  Liberalen,  Johann  Jaeoby,  sehr  bald  hervorrufen  sollten. 
Und  als  immer  von  neuem  die  Hoffniinii  fiiif  eine  freiere  Verfassung  im  zweit- 
prnrsten  deutschen  Bimdesstaatt-  (^otäuscht  wurde,  rla  rinp;t  n\c]>  nus  der  Brust 
<les  Dichters,  der  hier  wie  nur  je  der  Mund  der  Edelsten  seiner  Nation  war, 
jenes  herzerschütternde  Gebet  hervor,  das  der  Säugling,  der  zu  stammeln  kaum 
begonnen,  das  der  Greis  noch  beten  solle  an  des  Grabes  Pforte: 

0  Schicksal,  gieb  uns  tinen,  einen  Mann! 

Was  frommt  uns  aller  Witz  der  Zeitungskenner, 

Was  aller  Dichter  wohlgereimt  Geplänkel 

Vom  Sand  der  Nordsee  bis  zum  wald'gen  Brenner! 

£in  Mann  ist  not,  ein  Nibelungenenkel,  » 

Dafo  er  die  Zmt,  den  toUgeword'nen  Renner, 

Mt  eh'mer  Faust  beberrsch'  und  eb'mem  ScbenkeL 

Und  es  sehien  im  Ji^hre  1846,  als  habe  des  Schicfcaal  dnreh  die  Aufrollung 
der  Sehleswig-Holeteinisdien  Frage  dem  dentschen  Totke  eine  Gdegenheit  be- 
sohieden,  dnreh  gemeinsames  Einstdien  für  geOhrdete  Glieder  des  Reichs- 
fcSrpers  auch  zur  Klärung  der  inneren  Wirren  Raum  zu  finden.  Dieser  Hoff- 
nung gab  sich  mit  freudiger  Zuversicht  auch  Geibel  Inn  in  den  '12  Sonettrn 
für  Schleswig- Holstein'  (T  SHT— 244\  Vorher  schon  iiatte  er  foin  Prott  stIi.>d 
(II  84)  jijedichtet:  ^Es  hat  der  Fürst  vom  Inselreich  uns  einen  Brief  i;e-^emlit', 
das  vüu  dem  trotzigen,  von  Nationalj^pfühl  geschwellten  Refrain  getragen  wird: 
*Wir  wollen  keine  Dänen  sein,  wir  wollen  Deutsche  bleiben.'  Jetzt,  in  den 
Sonetten,  gknbt  er  den  Geist  der  Sintraeht  in  dem  bishu'  lerriseenen  Dentsefa- 
hnd  m  spOren,  jelvt,  wo  es  gilt,  das  Sehwert  nm  die  Lenden  gegürtet,  die 
Ehre  an  retten,  die  diese  fremden  Zwei^  anantasten  sich  getraut.  Wie  die 
Troer  vor  dem  Ruf  de«  Achill,  noch  eh'  er  sieli  «^orüstet,  flohen,  so,  meint  der 
Dichter,  müfsten  vor  des  deutschen  Zornes  Loben  die  Eindringlinge  entweichen. 
Und  frendig  hört  er  den  Kampfesnif  wiederhallen  *vom  Gau  her,  wo  der  Eider 
Fluten  münden',  bis  ztira  Harz  und  Fichtclberfje,  ja  bis  zu  den  Alpen,  die  ilin 
weiter  zu  Rheni  und  Dunau  foiipflanzen.  Die  Gefahr,  in  der  die  Nurdinurk 
dea  Rdehes  steht,  ruft  die  schmerzliche  Erinnerung  waeh  an  die  dnreh  der 
T&ter  Schuld  verlorene  Westmark,  das  ElsaTs.  Darum  legt  er  dem  Glocken- 
Idange  dee  Stoafobnrger  Mflnaters  die  Frage  an  das  Sehiehsal  wegen  seiner 
eignen  Zukunft  unter;  daran,  ob  es  der  deutschen  Kraft  gelingen  werde, 
Schleswig-Holstein  dem  Deutschtum  zu  erhalten,  will  er  erkennen,  ob  die  Tage 
auch  seiner  Knechtschaft  bald  ein  Ende  finden  dürfen.  Um  die  Einmütigkeit 
Deutschlands  in  der  Schleswig-Ilolsteinisehen  Frage  als  besonders  notwenditr 
hinzosteilen,  erinnert  Geibel  daran,  dafs  gerade  das  in  jenen  Provinzen  auf  dem 


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680 


F.  LoTttitc:  EtaaanA  QfSMl  ab  poUtiielnr  Dichter. 


Spiele  stehe,  was  bisher  überhaupt  als  das  einzige  gumeinsame  Band  aller 
deatsdieii  Stibume  gelten  konnte,  die  dentsdie  E^nradia;  und  er  findet,  in» 
aeinerseit  Klopstoek,  sehr  g^fleUiche  Ansdrfldce  bei  der  GhanktorisiBntog 
unserw  Ifatteraprache,  wenn  er  sie,  der  einst  Luther  in  seiner  Bibelübersetzung 
zu  ungeahnter  Wirkaamkeit  verholfen,  auffordert,  auf  ihrom  Psalter  ein  wehr- 
haft Lied  au  grd&n,  sehmettemd  wie  Kriegsposaunen: 

0  Huttenpraehe,  reiohste  sller  Zungen^ 

Wie  Lenzwiüd  s(  luiir'ichelnd,  stark  wie  WetteidrObnePf 

In  deren  drciiniil  benedeiten  Tönen 

Zuerst  erfrischt  das  Wort  des  Herrn  erklungen. 

Mit  strafendem  Zorne  ruft  der  Diehter  dem  Volk  und  seinen  Fürsten  ins  Ge- 
dächtnis jene  schlimmen  Zeiten  des  ersten  Napoleon,  da  der  Herr  an  uns  ge- 
Hprnrlion  *in  Krieges  Lohen',  um  uns  die  Notwendigkeit  des  Zusammenstehens 
•zu  leliren.  Sollten  sie  auch  jetzt  die  Stunde  der  Heimsuchung  xnehf.  r-rkenncn, 
so  niüfste  er  sio  gleich  spröden  Erzen  zerbrechen  oder  neu  znsHmiiienächmieden 
'im  Feuer  seines  Zorns  und  ihrer  Schmerzen'.  In  dichterisch  anschaulichem 
Bilde  zeigt  er  uns  im  12.  tSonette  die  Zeit  am  grofsen  Webatalile,  wie  sie  im 
Begriff  ist,  in  den  Teppidi  der  Geschichte  dn  Bild  an  weben;  Deutschland 
habe  an  entseheideo,  ob  es  auf  diesem  *strs]i]end  in  stembeloinstem  Ruhme' 
für  die  Nachwelt  prangen  oder  ah  ein  Schmachbild  weiter  leben  wolle,  'ein 
Hohn  den  Völkern  bis  ans  ftinste  Thüle': 

Thn  ddnen  Spracht  Es  harrt  die  Weltgesohiehte. 

Leider  aber  war  auch  Geibel  nicht,  wie  er  es  einmal  in  jenen  Sonetten 
wünscht,  im  stände  gewesen,  statt  der  Lieder  Drachenzähue  zu  »äen,  draus  ein 
Geschlecht  Ton  Ejriegern  wachsen  mttfisto,  *im  Waffientanz  zu  rühren  Eisen- 
glieder*.  Die  prenfsischen  Truppen  unter  Wrangel  haben  seinen  Wunsch  wobl 
erlttllt,  aber,  wogegen  der  Dichter  sdon  1844  warnend  seine  Stimme  erhoben 
hatte,  die  Sinmischnng  der  fremden  HXdite  ftthrte  au  dem  fiinlen  FHeden 
von  Malmö. 

Welch  eiiK^  verhanpaisvolle  Wendung  die  Wirren  in  Dei^t^ililand  nebnip»i 
könnten  —  wir  stellen  in  iiiichnter  Nähe  des  toÜPii  Jahres  184«  — ,  spricht 
das  '^Menetekel'  (II  91)  von  1>*4G  aus.  Dem  gottlosen  Treiben  boim  letzten 
Mahle  Bekioars  werden  die  Zustände  der  Gegenwart  verglichen.  Durch  die 
durchscheinende  Wand  des  Saales  sieht  der  Dichter,  wie  *im  Gewilil  mit 
ries'gem  Leib  hersehrntet  kampfgesddlxat  ein  Weib  mit  blutrot  flattonder 
Fahne*. 

Und  in  der  *Jnngen  Zeit*  (II  52)  von  1847  führt  er  uns  alles  das  vor 

Augen,  was  auf  dem  Gebiet  der  Industrie  und  Wissensdiaft  Staunenswertes 

ifpleistet  werde.  Stolz  schwillt  auch  ihm  die  Brust,  wenn  er  die  nnpfeahnten 
Fortschritte  sieht,  die  der  Dampf,  der  wilde  Rieae.  zuwege  gebracht  hat  — 
man  erinnere  sich,  dafs  F'^4t)  der  'Verein  deutscher  Eisenbahn verwaltunj»en' 
gegründet  werden  konnte,  uachdem  1835,  1837,  1838  die  ersten  deutschen 


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P.  Lor«atB:  Emaiittel  Gdbel  tli  poUtiadiBr  DicU^r.  681 

Balinen  überhaupt  eröffuet  worden  waren  — ,  wenn  er  weiter  beobachtet,  wie 
dftiitBchea  OcMMtolmi  »neb  die  getreimttB  Braclflrsttiiime  allmililicli  ]i£li«ri 
Aber  er  fibrehtel^  bei  dem  Unmafi»  und  der  ZOgellougkeit  im  VtnrwSrlaitltrmen 
kSmie  der  da  dioben,  den  man  eo  lang  vergeewn,  im  Gewitter  bwabfabren, 
mn,  «H  die  jnnge  Zeit  gebnnti  rasoh  m  aeraplitteni,  wie  jenen  Torrn  Yon 
Bnbylon. 

Und  als  die  Revolution  ihr  Haupt  erhoben  —  man  denke  daran,  wie  z.  B. 
anch  der  Verfasser  der  'Gedichte  eines  Lebendigen'  an  der  Spitze  einer  deutsch- 
französischen  Arbeiterkolonne  in  Baden  eingefalleu  und,  ohne  auch  nur  persön- 
lichen Mut  zu  zeigen,  schmachToll  unierlegen  war  — ,  als  ein  wichtiger  Teil 
der  YolkaCreiheit,  die  konstitotionelle  TerlaMoag,  in  vielen  dentadien  Staaten 
auf  bhitige  Weise  ertrotat  worden  war,  da  giebt  Geibel  der  quilenden  Stim- 
mung^ die  ihn  beliemebiy  Ausdruck  in  den  Worten:  'Daa  aUertiefiite  Weh  war 
mir  geschehen,  denn  meiner  Sehnsucht  Bild,  nun  war's  gekommen,  doch  wflst 
verzerrt,  ein  Greuel  anzusehen'  (III  37).  In  der  Zeit,  'wo  weise  Lippe  Thor- 
heit  spricht,  wo  dentsche  Treu  zerbricht  wi  '  OIhs',  hat  der  sonst  so  uatur- 
begeisterte  Sänger  keine  Freude  an  dem  Itauschen  des  Waldes.  Denn  dieser 
trägt  wohl  sein  grünes  Kleid  wie  in  alter  Zeit,  aber  das  (irün  der  Hoifnung, 
die  den  Dichter  erf&llte  för  das  Entstehen  eines  neuen,  freibeiÜiehen  politisdhen 
Lebens  ohne  gewalttfaitige  Yerletaung  bestehender  Rechte,  war  gar  vaaeh  ^w- 
blfihi  Der  Weg,  auf  dem  die  AchtundvierDger  die  neue  Zeit  herauffUhrteD, 
wird  dentiieb  in  'Wanderers  Nachtlied'  (III  31)  bezeichnet:  'Sie  bftu'n  und 
legen  keinen  Grund,  sie  reekten  aonder  Mab  und  Huld  und  tilgen  Schuld 
mit  gröfserer  Schuld.' 

Dafs  Schuld  auf  beiden  Seiten,  der  der  liegierenden  wie  der  der  Regierten, 
die  Bewegung  von  184><  herbeigeführt  hat,  ist  Oeibei  völlig  klar.  In  den 
'Historischen  iStudieu'  (HI  eijueui  Zwiegespräch  i^wischen  Mephistopheles 
und  Faust,  giebt  er  soliden  Erwägungen  Ausdruck.  Aof  die  Frage  des  Hephiato- 
pheles^  warum  Faust  im  frflhlingafrischen  Walde  sich  mit  vOTgilbten  Schriften 
abgebe,  antwortet  dieaer,  daOi  gerade  der  Spiegel  der  Natur  ihn  das  Walten 
dea  groben  WeUgeeetzes  auch  in  der  Geschichte  Uar  «rbmnen  lasse,  wonach 
*in  ewigem  Reigen  die  Volker  sinken  oder  steigen  und  wechselnd  alles  Leben 
kommt  und  flieht*.  Unbeirrt  durch  die  Erwiderung  des  Mephistopheles,  dafa 
die  Summu  des  Da.Heins  heifse:  Was  lebt,  niuXs  sterben,  das  Wie  erfahre  man 
jedesfalls  zu  spät  und  versauuie  durüber  den  persönlichen  Genufs  des  Lebens, 
will  Faust  Geibel  nicht  ablassen,  aus  dem  Studium  der  Vergangenheit  Er- 
muntening,  Warnung,  Troat  und  Bat  fttr  die  Gegenwart  so  schöpfen.  Fruchtlos 
könne  nicht  sein,  *was  dm  Geist  vom  Druck  unsichW  Einsamkeit  errettet^ 
indem's  ihn  an  ein  reiches  Gestern  kettet  und  deutend  ihm  die  Bahn  ftr  morgen 
weist'.  Doch  gerade  die  Ereignisse  der  Gegenwart,  wirft  Mephiatopheles  «n, 
beweisen  deutlich,  dafs  noch  nie  'die  Einsicht  in  gewesene  Dinge  dem  wild- 
erregten  Augenbliek  gefrommt.  Wann  hat  ein  Fürst  durch  dafs,  was  einst  ge- 
schah, wann  hat  ein  Volk  sich  warnen  lassen?'  Ein  Zeichen  für  die  eigne 
Trostlosigkeit  ist  es,  wenn  der  Dichter  den  Mephistopheles  das  lotste  Wort 


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P.  LoMntsi  EiDMM«!  Geibel  ab  politiMli«r  Dichter. 


behalten  läfst,  der  von  Dauer  verheifsenden  neueu  Formen  nichts  wissen  will, 
der  im  Qrunde  nur  an  SteUe  der  früheren  Gewalt  einzelner  die  noch  gchliounere 
Gewalt  vieler  treten  sieht:  *Die  Namen  Sadem  aicl^  die  Dinge  nicbi'  Auf  die 
UmwiUniiig  der  dentsdien  YerbiltniMe,  die  da«  Jahr  1848  brachte^  geht  sveh 
mandiM  ans  den  *Tagebiichblattem*  des  NadUaaiea.  D»  heifst  ea  tob  dem 
schwer  bedifingten  Vaterlande  (S.  236): 

Denn  wie  Inn  Weib,  das,  wenn  die  Stande  kam, 
Da  sie  gebüren  soll,  in  Wehen  ächzt, 
Liegt  diese  umm  Mutter  nagend  da. 
In  ihren  Schläfen  pocht  des  Fiebers  Glut, 
Zmn  Bjrampf  wird  jede  Begong,  und  ihr  Hanpt 
Ist  iiT  und  wü£t  —  Qebet  und  Lästenug, 
Zerbrochiier  Rsalm  und  frecher  Bulilgemig 
Gehn  wild  verwirrt  aus  ihrem  Mund. 

Da  gleicht  die  Zeit  der  Weltenschlange,  die  sich  häuten  will;  da  ist  von  dem 
Traum  der  Zukunft  die  Rede,  den  ein  jeder  anders  deuten  will:  der  Dichter 
glaubt  doch  das  [rrixnc  Samenkorn  im  Moderdaft  zu  erkennen  und  den  Tag 
nach  einem  Murgen  blutigen  Leides. 

Dafs  Gtoibel  auch  während  der  Tage  des  ersten  deutschen  Parlamentee  in 
Frankfiirt  die  Eniwiekelung  der  natbnalen  Verhittnisse  mit  aufinerkaamem  Auge 
Terlblgfee^  davon  sengt  jenea  *Oebet'  (II  93)  aua  dem  Sepi  1848.  Es  ist  nnr  sn 
verstehen,  wenn  man  ee  im  Hinblick  auf  die  Excesse  des  Frankfurter  Pöbele  liea^ 
der  in  seinem  Preufsenhafs  die  beiden  Abgeordneten,  den  Fürsten  v.  Lichnowsky 
und  den  Ot^nerul  v.  Aucrswald,  in  Stiirk«-  rifa.  In  diesen  schweren,  dtlstem 
Zeiten,  wo  der  Erdball  kreifst,  wo  nur  dunkle  Willkür  äu  spielen  scheint,  fleht 
der  Dicht-er  zu  Oott,  ihm  den  Glauben  nicht  zu  nehmen,  dafa  er  an  verborg" neu 
Fäden  unseres  Volks  Geschicke  leuke.  Er  möchte  diu  Zuversicht  hegen  dürfen^ 
dals,  wenn  auch  jetzt  noch  kein  Anaw^  sichtbar  sei,  sieh  doch  einstmals 
seigen  werde,  *daft  seiner  Qnade  heil'gen  SchlQaaeii  aoeh  die  Tanfel  di^aen 
mflaeen,  wenn  sie  thnn  naeh  ihrer  Lnst\  Mit  Naohdrudc  beklmpft  Qetbd  in 
den  *Ti^bnchbIilttern'  den  Walin,  als  ob  die  detaillierte  Abgr^unng  der  Rechte 
von  Fürst  imd  Volk  schon  allein  das  Glück  des  Staates  verbürge.  Dem  leboi' 
digen  Organismus  ?..  B.  eines  Ehebundes  vergleicht  er  das  Staatengebilde.  Qegen 
die  Willkür  der  Kegiereuden  soll  gewifs  ein  Dumm  aufgeführt  werden, 

aber  das  Bt'ste 

Bchiieliseu  Brief  und  Siegel  nicht  ein,  das  lebt  in  den  Herzen. 
Keine  Fonnd  enwingt  das  OefDhI  glückseliger  Bintneht, 
Keine  den  Mnt,  todfieodig  sa  stehn  für  die  Bhxe  der  Heimat, 
Doch,  wo  das  uns  gebncht,  ist  das  ftbrige  Name  nnd  Schall  nur. 

(NachlaJs  S.  243.) 

Am  28.  Mürz  1849  ist  dann  die  Wahl  Friedrich  Wilhelms  IV.  zum  deutschen 
Kaiser  erfolgt  —  freilich  von  .588  Abgeordneten  hatten  248  ihre  Stimmen  über- 
haupt nicht  abgegeben.  Wie  hätte  Her  norddeutsche  Sänger  da  nicht  aufatmen 
sollen  und  glauben  dürfen,  dafs  er  sein  Sehnen  doch  als  gestillt  betrachten 


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P.  Lorente:  Enuura«!  OeTbel  ab  politisdier  Didiier. 


683 


könne?  In  soinom  '(jt^kTikblatt'  vom  Jahre  1851  (IV  201)  sthiMcit  fr  uns  den 
iiindl'uck,  den  (laiiüils  die  Nachrit  ht  von  der  Kaiserwakl  in  iliui  luTvorgLTutVu 
hatte.  Palmsonntag  ist  ea,  und  dem  am  Uter  dur  schÜfbelebt^n  Truve  lini- 
wMidiilBdiii  Dichtw  wird  von  einflin  befreimdetMi  IfiBler  die  frohe  Bdticittft 
gobrachi  Zur  Siadi  nrflckkelureiid  ndit  «r  auf  aUeii  Häusern  und  auf 
manchem  Schiff  im  Frfihlingawuide  frohe  Fahnen  wehen,  und  manchee  Auge, 
das  er  längst  im  Staub  der  Akten  oder  überm  Rechnungsbuch  verhärtet  ^uhte^ 
aicbt  er  freudonfeuclit.  Ihm  selbst  abtt,  der  alsbald  zu  Pferde  gestiegen  und 
in  den  hoflPnnngaj^rünen  Wald  hinausgcritten  ist,  kommt  die  Zeit  der  Kaiser- 
wahl Heinri(-h.s  des  Kinklers  in  Erinnerung,  des  blonden  äachseoheidou,  dem 
neidlos  die  andern  Fürsten  lüe  Krone  zuerkannt  hatten. 

Aber  die  ireudige  Zuversicht  sollte  bald  getrübt  werden.  Als  die  Hand, 
schon  anm  Ergreiftu  anage^awekt^  sich  plötalidi  schloXa  und  *dea  Beiehea  Apfel 
an  Boden  M'  —  am  3.  April  1849  hatte  der  preuftisehe  König  die  Annahme 
der  Krone  abgelehnt  — da  ist  es  wieder  Oeibel,  der  zur  'Geduhl'  (II  94) 
mahnt  und  'den  Dichtem'  (II  95)  bei  den  fortbe.stelienden  Zwistigkeiten  ihr 
Amt  als  Sühner  und  Mittler  in  Erinnerung  bringi  Im  Hinblick  auf  das  einst 
von  Freiligrath  geprägt*'  Wort,  der  Dichter  müsse  auf  einer  höheren  Warte 
stehen  als  auf  der  /ume  der  Partei,  sollen  sie  das  Volk  darüber  belehren, 
worin  die  rechte  Freiheit  bestehe,  und  ihm  geistige  Werte  schaffca,  an  denen 
es  sich  aufrichten  könne: 

Hinweg  drum  mil  deü  Grimmes  Falten, 

Mit  SoheUenUang  und  Bnuut  und  Lugl 

Wie  mag  der  Arm  die  Wage  halten. 
Der  mit  dem  Schwert  den  Bruder  schlug? 
Wie  mag  deu  Keleh  des  Segens  spenden. 
Wer  selbst  am  Mahl  der  8üude  zecht? 
Bnn  sollt  ihr  sein  an  Hers  und  Sbiden, 
.  Ihr  seid  ein  priesterlich  Qeschlecbt. 

In  einem  Gedicht  ans  dem  Jahre  1850,  das  er  selbst  'Mein  Friedensschlufs' 
(ni  37)  dberaehreibl^  hat  Geibel  seine  Niedergeschlagenheit  Aber  die  Bevolutiona- 
seit  und  ihre  unmittdbaren  Folgen  endgflltig  flberwunden.  Ihm,  dem  das 
Schickml  nicht  stumm  ist,  zu  dem  Gott  doch  aus  der  Weltgeschichte  ge- 
sprochen, ist  es  jetzt  kein  Zweifel  mehr,  da&  die  fiberstaudene  Epoche  ein  un- 
erfreulicher, aber  notwendiger  Vorbote  besserer  politischer  Zeiten  gewesen  war. 
Wie  die  Aufgabe  der  Vorwelt  «gewesen  sei  —  gemeint  sind  dort  die  Höhe- 
punkte der  bisherigen  Kultur,  wie  sie  sieh  im  klassischen  Altertum,  in  der 
Renaissance  und  zuletzt  in  der  Ilumumutsepoche  des  deutschen  Geisteslebens  im 
XVUI.  Jahrh.  manifestiert  hatten  ,  den  B^riff  der  Schönheit  lebendig  werden 
zu  lassen,  so  sei  der  Gegenwart  die  Aufj^be  zugefEdOlen,  den  Geist  der  poli- 
tischen IVeiheit  in  die  WirUidifceit  ttberanfilhren.  Aber  noch  freilich  sei  er 
nicht  in  seiner  Reinheit  und  Hoheit  erschienen.  Er  gleiche  vorläufig  noch 
einem  sphinxartigen  Götzenbildc,  dem  tausend  blutige  Opfbr  fallen.  I  )(»<  ]!  dOrÜB 
die  gewisse  Hoffiiung  gehegt  werden,  dala  er  in  immer  edlerer  und  erhabnerer 


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684 


P.  Lnmte:  Brnrnnwl  OnML      pdüudMr  Oiehter. 


(iestalt  sich  zeigen  werde,  hia  endlich  die  Freiheit^  gleich  der  schaumgeborenen 
QSttin,  aufsteige  ans  den  Schlacken. 

ÜDUchuIdig,  auf  der  Btini  den  Strahl  von  ob«D, 
Ln  Glanzgelock  ruht  statt  der  l&tme  Zaeken 
Der  Kiaia  ihr  von  des  Olbanms  fiUlMrlaabe^ 
Und  alle  W«lt  hengfc  fmaA  ihr  den  Nacken. 

Den  GUnbeik  an  diese  IdealgestaU  will  der  Dichter  ab  Sduld  sehwingen 
im  Kampfe  mit  dm  Larven,  die  ein  Zerrbild  jener  wahren  Freiheii  aind. 

Viele  seiner  Dichtungen  politischen  Inhalte  awischen  1849  und  1871  hat 
Geibel  unter  dem  Titel  'Heroldsrufe'  zusammengefofst  eraeheinen  laMMn 
(—  IV  103 — 2t)0).  Dioso  bilden  daher  die  Hauptquollu  für  s*m"ti>'  Stellung  zn 
den  Erpii,misHen  dieser  Epoche.  In  einer  lieihe  poetischer  Bilder  führt  er  da 
in  den  ' Husen  Trämuen'  (IV  108)  spiner  Zeit  den  Unsegen  der  politischen 
Zerrissenheit  der  Mitwelt  zu  Gemüte.  Erst  lüfst  er  sie  einen  verirrten  Bienen- 
■ehwann  edianen  ohne  Weieel  —  so  hatte  einst  anr  Zeit  des  Wabbtreita  nnch 
Heuaridia  VL  Tode  Weither  von  der  Vogelweide  aoniig  ansgeralini:  86  toi 
ditf  Uusdu»  mmge,  wie  ttH  din  ordemmget  dag  nA  diu  mSgge  «r  kmec  käi, 
und  da»  diu  Sre  also  zergdt',  dann  laTst  er  uns  Knaben  schaneo,  die  mit  Pfeilen 
spielen  und,  unverständig,  ihren  wahren  Gebrauch  zu  kennen,  sie  zerknicken 
oder  verlieren;  zuletzt  sehen  wir  einen  Karfunkel  verschmäht  am  Kreuzwege 
liegen,  von  Stöfs  und  iSehlag  hart  mitgenommen,  vom  Staube  schier  verdunkelt, 
einen  Edelstein,  geschafl'en,  'die  Krone  der  Welt  zu  schmücken':  nun  hascht 
nach  ihm  der  fremden  Raben  Gier. 

Dem  JammMT  der  kaiseriosen  deaiBcfaen  Oegmwatt  steUt  der  Diditer  ein 
aadennal  —  in  dem  epiaehen  Fhigment  *JnItan'  ans  dem  Än&ng  dar  öOer  Jahre — 
die  nüttdalterliche  KaiaerherrEdbkeit  entgegen,  die  tw  alkm  am  Bhainatnmi 
sich  entfiütet  hat  (II  24C  ff.).  Deutschen  Lebens  Rild  und  Zeuge  ist  ihm  über- 
haupt dieser  Strom,  'seit  von  süfsen  ^hren  auf  seinen  Höh'n  der  Rebstock 
feurig  schwillt'.  An  den  Ufern  des  Rheins  stand  ju  der  Thron  des  ersten 
deutaclien  Kiiisers.  Auf  der  grofsen  Rheinebene  zwischen  Mainz  und  Worms 
fand  die  auch  von  Uhland  verherrlichte  Königswahi  Konrads  Ii.  statt,  die  erste 
und  letzte  übrigens,  'die  wenigstens  äufserlieh  dem  Ideal  unserer  modernen 
Romantiker  entspridit''),  wo  *Konrad  das  Hanpt  vor  Koniad  bog,  eine  Krone 
mit  Laeheln  missend*.  Dae  wird  absichtlich  der  Eiferancht  der  Staaten  des 
alten  deutschen  Bnndee  entgegengerufen;  denn  eben  jetzt,  im  Mai  1860,  haMe 
die  Wiedereröfinung  des  verhafsten  Frankfurter  Bandestages  stattgefunden 
gegen  die  Mentscho  Union'  unter  Preufsens  Führung.  In  Mainz  fand  jenes 
Pfingstfest  1is4  statt,  wo  *der  im  roten  Bart'  nh  der  gröfstc  Lehnsherr  und 
erste  Ritter  des  Abendlandes  zur  Feier  der  Swertleite  meiner  beiden  ältesten 
Söhne  die  Rittersckaft  des  gesamten  Abendlandes  versammelte,  die  strahlende 
Sonnenhöhe  des  gesamten  Rittertums.')   Siegestranken,  meint  Geibel,  mochte 

*)  o  Knmiuel,  Der  Wodegang  des  deutschen  Tolkei  I  109. 

»;  Kbd.  ibl. 


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P.  LorMitB:  Emma»!  Geib«l  als  politiMlieir  Dichter. 


686 


Barbarossa  da  des  Rheines  Wirbeln  lauschen,  ^nicbi  ahnend,  dafs  idn  Tod 
bald  solches  Rauschen'.  Der  Rhein  auch  sah  in  erster  Linie  die  reich«  Stiidte- 
fcnltur  der  nächsten  Jfthrbimderte,  Sro  unterm  Erammiiiib  Bürgerfreilieit  eprofs', 
er  andi  den  Anbradi  der  neueii  Zeit: 

Denn  war's  m  ICaim  oidit,  m  in  stiller  Zelle 
Bin  andrer  Dldalnt  die  illlgel  goft, 

Die  stark  das  Wort  in  alle  Winde  tragen? 

.Ward  nicht  sa  Worms  die  Öeistesschlacht  geschlagen? 

Und  dem  gegenfiber  die  deutsche  Gegenwart  von  1B50!  Die  'Klage'  sagt's 
uns,  wie  es  darum  steht  196).  Im  Auslände  wird  der  deutaehe  Name  nur 
mit  Hohn  und  Spott  genannt,  und  der  Diclit«>r  darf  nicht  sagen,  dafs  man 
damit  Lüge  spricht.  Die  unselig  schwankende  Politik  Frifdricli  Wilhelms  IV. 
gegenüber  Osteireich,  die  Wurzel  dieses  Übels,  seine  Ahhiingigkeit  von  Rufs- 
lund,  wird  mit  Entrüstung  gegeiXseit.  Daa  deutaehe  Schwert,  'Uuä  scharf  ge- 
fegt, donsh  hnndett  Sdikehten  kttbn  wHi  Baihn  gehronhen',  es  zagt,  aua  der 
Scheide  sa  fthren,  *aol»ld  nnr  Moelrn»  Zar  die  Stini  in  Rumeln  legt'; 

es  starb  die  deutsche  Ehre  — 
Fragt  naeh  bei  Sdüevwig  xwisclien  Ueer  und  Heerel 
Dort  liegt  sie  eingescharrt;  die  Winde  gehn 
Hit  Pfeifen  drfiber  hin.   Wann  wird  sie  »uferstehnl 

Dea  Fflraten  Ton  Sehwanenbergi  der  unter  dem  Hettemiduchen  Begime 
beaondera  eifersüchtig  Preufsens  selbständiges  Vorgehen  in  der  deutschen  Frage 
flberwachte,  wird  von  Geibol  in  der  Toetischeu  Epistel'  an  seinen  fürstlichen 
Freund,  v.  Carolath-Beuthen,  Febr.  1851,  in  jener  seiner  undeutschen  Gesinnung 
gedacht  (IV  204).  Der  Dichter  erinnert  da  seinen  Freund  an  eine  gcmciusame 
Gebirgswanderung,  und  als  er  die  von  ihnen  erätiegenen  Berge  durchgeht^ 
Watzmann,  Herzog  Ernst^  Grofsglockner,  kommt  er  auch  in  einem  Anfluge  Ton 
fldmeidetideni  Humor  tu  dem  hdeheteii  Berg  in  Österreich,  den  sie  damals 
nicht  geaehen: 

Schwarzenberg  ist  der  geheilsen, 
Und  zur  Zeit  so  hoch  geworden, 
Date  er  seinen  kalten  Schatten 
Wirft  TOB  Wien  bis  in  die  Ostsee. 

In  diesem  Schatten  wüchsen  die  Zauberstiibe,  welche  jetzt  die  Welt  regierten 
und  die  äülche  Wunder  verrichteten,  dafs  ganz  unerhörte  Dinge  in  Geschichte 
und  Geographie  für  richtig  gelten  aollten.  Von  ihnen  lerne  man,  Mala  Slaven 
stets  und  Deutsche  sind  ein  Brnderrolk  gewesen,  dals  ein  Danenflufs  die  Eider 
und  dafs  Preufsen  liegt  —  im  Honde'I 

Leicht  war  es  Geibel  gewifs  nicht,  angesichts  der  sefamachvollen  Demütigung 
bei  Olmütz  am  29.  Nov.  1850  den  Glauben  an  die  ersehnte  Einitrunp^  des 
Reiches  unter  Preufsens  Führung  aufrecht  7.n  halten.  Aber  dennoch  will  er 
nicht  YRrzweifehi  und  ruft  seinem  Volke  erTuuligond  7.n:  'Unter  Trümmern 
noch  unverzagt  halt  im  Herzen  die  Hoffnung  fest!'  Lud  gegen  die  'Londoner 
Xm  f  akrUUhw,  im.  I.  M 


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686 


LoMDft:  Emttnnel  Oeibel  ata  poliliacihnr  IMehter. 


Konferans'  vom  8.  Mai  1852  QY  191),  Ha  den  Abeclilti&  der  Olrnfttser  Sehnuidi 
bildete^  wo  Preofaen  die  Union,  du  dentadie  Purlunent,  die  EnrheBseiif  die 
Sdüeswig-Holateiner  hatte  aufgeben  mÜBaen,  wendel  der  Dichtor  sidi  mit  den 

8atirischcn  Worten:  *Wo  Franzmann,  Brit*  und  Russe  nach  ihrem  Sinn  getagt^ 
da  xiemt's,  dafs  man  zum  Schlüsse  gehorsamst  Amen  sagt!    Was  gilt  denn 

auch  dfr  Bettel  von  Doiitschlaiirls  Ehr'  uiul  Ruhm,  j^lückt  nur  der  Küchen- 
zettel fürs  dän'sche  Königtum'.  Aber  eiiiöt  luiifs  ein  Sturmesbrausen  konunen, 
ruft  er  prophetisch  aus,  das  wird  die  Welt  iu  Fkiuxuen  setzen,  *bi8  jenes  Blatt 
der  Schande,  das  feig  ihr  unterschriebt,  verzehrt  vom  Riesenbrande  in  alle 
Winde  stiebt'. 

Doch  der  Dichter,  der  es  gewohnt  ut,  allaeitilg  denteehee  Leben  sn  b»- 
obaditen,  kann  und  will  sich  nicht  dagegen  ▼eradUiefaen,  dab  in  den  50er  Jahren 

auch  ein  rascher  Pulsschlag  sich  lebendig  rogt.  In  der  'Pause*  vom  Jahre  1856 
(lY  207)  heifst  es  'dafs  rings  ein  frischer  Geist  die  Welt  bewegt  nnd  die 
Gedanken  neue  FlQge  wagen': 

Die  Wisst'iisi  liaff  /••Hrümmert  ohne  Zagen 
Manrl-  'Inniptf^  Scliranke,  die  uns  einpohegt, 
Der  iJauiii  der  Freiheit,  der  schon  Blüten  trägt, 
Vcfheilist  dereniflt  uns  ^Idtte  Pmcht  zu  tra^n. 

Es  mag  dabei  z.  B.  au  die  elektro- magnetische  Telegraphie  gedacht  werdeu, 
die  in  das  moderne  lieben  so  umgesialtend  einsugreifm  begann  —  1853  hatten 
allein  die  pren&ischen  Tel^raphenlinien  eine  LSnge  von  1^7  Meilen,  nachdem 
am  1.  Jan.  1849  die  erste  Depesche  Deutschland  durchflogen  hatte.')  Es  mag 

daran  erinnert  werdoi,  dafs  das  Entstehungsjahr  jenes  Gedichtes,  1856,  die  erste 
Pariser  Weltausstellung  sah,  wo  die  Erzeugnisse  der  Kruppschen  Gufsstahl- 
werke  und  des  Borsigschcn  Maschini-ribiuif  s  rühmendes  Zengnif  von  deutschem 
Kunsttleifse  ablegten.*)  Die  industrielh'  Hcgsünikoit  des  Hhcinlandes  findet 
ihre  dichterische  Würdigung  in  jenem  ciiisciien  Fraginente  '^Julian'  ^^11  247): 

Welch  reich  Gewühl  umbraust  noch  heut 
Die  Kebenufer,  wo  vom  breiten  iiiüe  *• 
Die  Feste  droht,  und  weit  im  Thal  lentrent 

Die  Essen  zahllos  sprühnl    Hit  geUera  Pfiffe 
Durchkeucht  das  Dampfgespann  des  Doms  Gelint, 

Und  durch  r!if>  Fluten  wandeln  FeaerschiffOi 

Wie  schwar/.c  Ricsfiisrliwüiii'. 

Und  was  die  Geisteswisscnsphaftoii  mit  ihitr  bifreifiKlen  Wirkung  anlangt, 
m  mucbt  ein  Bück  aui'  diu  unter  Friedricii  Wilhelm  IV.  gröfstenteils  in 
Berlin  schaffenden  Pfadfinder  der  Sprachwissenschaft,  Naturforschimg,  Medizin, 
Geschidite  und  Geographie  begreiflich,  mit  welcher  ZuTersicht  Geibel  in  dieser 
Hinsicht  in  die  Zukunft  Deutschlands  bücken  konnte.  Derjenigm  WissenschafU 
die  gerade  in  Berlin  Tor  allen  andern  in  BlQte  stand,  der  Geschidite,  gedenkt 

')  Pierson  a.  a,  U.  II  271. 

*)  Aus  di«ier  Zeit  stammt  auch  GeibeU  hochpoetisdier  *]^7thns  vom  DampT  ÜI  i. 


e 


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P.  Lnnntc:  Emurad  Oeib«l  ab  politiidiflr  Diflhter. 


687 


Geibel,  wie  das  seinem  nacli  rackwärts  «nd  vorwärts  gewiiudtcn,  prophetischen 
Dichtergeist  nahe  lag,  noch  iu  eiueiu  besondereu  Gedichte,  'Geschichte  und 
Gegenwart'  (III  322).  Auch  hier  wieder  liegt  ihm  der  Hauptgewinn  der 
luBtoriiNlu»!  Foraehung  darin,  da&  sie  lelir^  ans  der  Vergangenheit  die  Gegm- 
wart  SU  Terttehen:  'Wir  apflren,  froh  des  holmi  Waltene,  dae  jedor  Zeit  ihr 
Ziel  verlieh'n,  den  heil'gen  Fortgang  dee  Entfaltens  im  Tag  auch,  der  uns  heut 
erschien.*  Ihm  ist,  denn  Geibel  findet  fast  überall  ein  glückliches  poetisches 
Bild  für  seine  Gedankfn.  die  Vergangeuhpit,  die  die  moderne  Forschung  immer 
richtiger  und  anschauiieher  gestaltet,  eine  Sphinx,  'die  tief  im  Schutt  bis  an 
die  Brüste,  das  Haupt  vom  Flugsand  überschneit',  lange  schweigend  dagelegen. 
Nun  aber  hebt  sich  allmählich  ai»  den  Tiefen  der  mit  Hieroglyphen  bedeckte 
Bieeenleib,  und  wihrend  bisher  nur  hie  nnd  da  ein  Zeichen  sichtbar  gewesen, 
kann  der  %in  jetst  im  Zusammenhang  besser  gedeutet  werden. 

Wer  wollte  femer  nicht  erwarten,  dafs  Geibel  auch  den  religiösen  Kämpfen 
seiner  Zeit^),  die  die  50er  Jahre  besonders  h^g  erregten,  Ausdruck  verliehen 
hätte!  Feuerbachs  Heidelberger  'Vorlesungen  über  daa  Weso-i  dfr  Religion' 
waren  1851  im  Druck  erschienen,  die  materialistische  PhiloHophie  eines 
Moleachott  und  Büchner  begann  ihre  Wirkungen  auszuüben.  Da  sehnt  der, 
der  sein  Dichtcramt  so  gern  alä  Friestertum  bezeichnete,  der  die  Wesens- 
Terwandteehall  Ton  Religion  nnd  Poesie  so  lAnfig  betont  hat,  eine  edite 
Reformation  herbeL  Dom  die  pietistischen  Bestrebungen  anf  der  Gegenseite 
konnten  unm^ieh  den  befriedigen,  der  im  ^ntie  des  Ooethischen  Wtnrtes: 
*ToIeranz  sollte  eigentlich  nur  eine  vorübergehende  Gesinnung  sein,  sie  mnls 
nur  Anerkennni^;  ftthren.   Dulden  heifst  beleidigen'  selbst  einmal  sagt: 

Wohl  mit  jedem  Bekenntnis  Tertiftgt  ein  frommes  Gemttt  sidi, 
Aber  das  fromme  Gemflt  hingt  vom  Bekenatnii  nidit  ab.  (Y  78.) 

Wir  denken  bei  dm  Worten  in  Oeibels  'Reformation'  (DI  SSO):  *AlIes  Wissen, 
oVs  den  Stoff  der  Welt  umfiUk^  bringt^  vom  Ew'gen  losgerissen,  kein  Genflge^ 
keine  Rast'  daran,  dafs  18.^5  Büchners  'Kraft  und  StofiT  erschienen  war.  Wir 
verstehen,  wie  die  Suchenden  und  Beschwerten  vlevitisdi  Schwertgezück'  und 
der  Spruch  der  Schriftgelehrten  hart  und  eng  in  flieh  zurikktreiben  nrifHtcn. 
Wir  begreifen  des  Dicht»  i  h  Kluge  über  'der  erstarrten  Lehre  Haft,  drin  der 
heil'ge  Geist  begraben'  und  sein  Gebet: 

Lafs  ihn  auf(Tst<-hn  in  Kraft! 

Lafs  ihn  ttbers  Rund  der  Erde 

Wieder  fluten  froh  und  frei, 

fiab  das  Glauben  Leben  werde, 

Und  die  That  Bekenntnis  atil  (m  221.) 

Aber  bei  .all  dem  frischen  Leben,  das  die  deutsche  Gegenwart  in  den 
50er  Jahren  sonst  zeigte,  bleibt  doch  immer  der  grofse  Mangel  in  nationale 
Htnsichiy  *da8  eigne  Daeh  und  Fach,  das  mit  yortrauen  die  ^st  erftlUy  und 

')  Vgl.  oben  S.  677. 

46* 


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68a 


P.  Lonnts:  Enuumel  Gdbd  als  politiMiMr  Siditer. 


drin  die  Baat  gedeflit*.  Dio  Lull  am  politiadieD  ffimmel  ist  indi  wie  tot 
aehwfil  und  drfickend.  Da  iife  dean  das  Qebet  um  ein  Gewitter,  das  die 
Lull  reinigey  wohl  Tentioxidlieh,  der  Wunach  entringt  aick  den  Lippen  dea 

Dichters,  dafa  'im  Donnerschlag,  in  Giifs  und  Sonnenblicken'  der  Auf- 
erstehungatag  des  Reiches  nahen  möge,  und  das  GefQhl  der  Ungeduld  macht 
sich  Ltift  in  jenern  Sehnsuchtaschrei:  'Wann  doch,  waiin  erscheint  der  Meister, 
der,  o  Deutschland,  dich  erbaut,  wie  dio  Sehnsucht  edler  Greister  ahnangsvoU 
dich  längst  geschaut?'  (IV  209.)  Er  ertönt  in  demselben  Jahre,  in  dem  Prinz 
Wilhelm  von  Prenfaen  die  Regentschaft  für  den  Bruder  endgültig  fiber- 
nalim,  1858. 

In  dem  kraftroUen  *Geaange  der  Pritorianer*  ftbrt  Qeibd  una  im  uichsiMi 
Jalire  im  Gbgensats  au  dem  ersehnten  dentachen  Kaiser  das  Bild  des  auf  dem 
französischen  Tlirone  sitzenden  Cäsaren  vor.  Zug  am  Zug  glichen  die  Kriege 
Napoleons  iJJ.  denen  der  alten  römischen,  von  ihren  Prätorianern  auf  den 
Thron  erhobenen  Cäsaren.  Nicht  zur  Abwehr  und  Verteidigung  wurden  sie 
geführt,  sondern  aus  Erobemng??lnat,  und  nicht  von  nationaler  Befrciüterung 
waren  seine  Krieger  getragen,  sondern  von  Durst  nach  Ruhm  und  Beute.  In 
überheblicher  WUlkür  bri<^t  «r  Verträge,  und  ob  ihn  die  BOrg»  sodi  baaaen: 
*£r  bangt  und  aehweigt,  daa  iat  genug;  der  PSbel  jnbelt  auf  dem  Gaaaen  ateta 
dem,  der  ihn  in  Ketten  achlug*, 

Dar  EaiasK  ist  aof  Erden  Oott^ 

Er  gifibt  uns  Qcli  und  Lotbeerreisar, 

Wir  geben  ihm  daAr  die  Welt!  (IV  811.) 

Daa  iat  eine  nicht  onsutreiflfonde  Charaktwistik  der  Mittel,  mit  denen  daa 
Napoleoniaehe  Preatige  aufrecht  erhalten  wurde.   Waa  der  Diditer  aber  von 

den  modernen  QaHiem  aeine  Nation,  die  eben  noch  keine  war,  lernen  lassen 
möchte,  das  ist  zwar  keineswegs  der  ^keltische  Kern',  von  dem  er  einmal  in 
den  Tagebucliblätteni  spricht  (S.  23(1),  der  immer  wieder  die  von  dem  Römer 
erlernte  Zucht  und  die  von  dem  Franken  erlernte  Ehre  als  blofse  anfsere 
UüUe  erkennen  lasse ,  wohl  aber  das,  was  jetzt  drüben  herische:  Autorität! 
Zwar  nicht  in  'Kirche,  Staat  und  Dichtung',  wie  sie  jenseits  des  Rheiuea 
herraeht,  wünadit  er  aie  emnem  Deutschen,  wohl  aber  im  Staate  allein.  Denn 
eben  der  IndiTidualiamna  der  Deutschen:  *Bei  uns  dttnkt  keiner  sich  an  Uein, 
er  hat  aeine  eigene  Richtung',  lafat  ea  jetat  zu  keinem  erfolgreichen  Handeln 

kommen.*) 

Am  10.  Nov.  1859  wurde  die  Feier  des  lCX)jahrigen  Geburtstages  Schillers 
überall,  wo  Deutsche  wohnten,  mit  der  ])egeistertston  Teihiahme  begangen.  Die 
Nation  wurde  gewahr,  welch  gewaltiges  Bmdemittel  sie  in  der  gemeinsamen 


')  Vgl.  in  den  Sprüchen  (III  198): 

Beiaer  bei  nns  irt  d«r  einMlne  Streiter; 

Wiifstcn  wir  nur  zusauimenzugehn ! 
Als  Masse  bringen  sie's  driibfu  weiter, 
Weil  sie  noch  zu  gehorchen  ven»t«hu. 


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P.  Lonots:  fimimid  Oribel  ala  poUtiMliw  IKditer. 


689 


Verehrung  dieses  Geistesiieroen  schon  l)esaf8.  Da  nimmt  auch  Gcibel  Gelegen- 
hbiif  dieaen  echten  Freiheits^nger  anzurufen,  er  möge  jeden  Bund  segnen,  in 
dem  iiah  deutsche  Ißbiner  kfilm  erheben  zn  hoher  Tha^  denn: 

Er  war  ein  Sohn  des  Volks  und  wollt'  es  sein, 
Und  wo  er  dichtend  Welt  und  Zeit  gemessen, 
Der  Freihdt  hat  w  mmnwnuehr  Tei^sett.  (V  11.) 

Winige  Jahre  später,  1862,  giebt  IJhlands  Tod  Anlafs,  dieses  Dichters  Wert 
und  Bedeutung  für  das  gesamte  Deutschtum  zu  feiern.  In  dem  Gedielit:  'Es 
ist  ein  hoher  Baum  gefallen,  ein  llaum  im  dcutsclien  Dichterwald'  charakterisiert 
Geibel  Uhlands  SchafiFen  als  Dickter  und  Forseher.  Als  j>ner  hat  er  die 
Herrlichkeit  verschollener  Tage  heraufgefuhrt  und  ist  der  Freiheit  ein  Vor- 
idbipfer  gewesen,  ak  diesw  hat  er  so  manchen  Sehati  naMonaler  Spracbe  nnd 
Dichtung  gdioben: 

Das  ist  au  uns  seb  grob  Yem&cbtnis, 

So  treu  nnd  deatscb  sn  sein  wie  er.  (Vm  17.) 

Um  diese  Zeit,  wo  es  *ewig  von  Gewittern  am  umwölkten  Ilmimel  braute', 
wird  waaai.  an  die  geographisobe  Lage  DentecUands  im  Heraen  Europas  an- 
gekndpft  und  die  Gefidir  geaeigl^  die  dem  ganzen  Organiemns  drolif^  wenn  das 
Hers  nicht  gesund  iei   Da  Uüngen  Töne  an  Ton  der  Bedeutung  deutschen 

Geisteslebens,  wie  es  einst  Fichte  in  seinen  *Reden  an  die  dentsdie  Nation' 
aufgewiesen,  für  Deutschland  nicht  allein,  sondern  für  die  gesamte  moderne 
Kultur.  'Macht  und  Freiheit,  Rechtr  und  8itte,  klarer  Geist  \mä  scharfer  Hieb', 
heifst  es  in  'Deutschlands  Beruf,  müssen  es  dahin  bringen  könn(>n,  dafn  'am 
deutschen  Wesen  einmal  noch  mag  die  Welt  genesen*  (IV  214).  Noch  freilich 
lasse  sich  die  Welt  regieren  von  der  Leun'  am  Seinestrom,  noch  lafst  sie  sich 
fangen  durch  die  Netze,  die  der  Fiscber  wirft  aus  Rom,  nodi  schreckt  mit 
seinen  Horden  sie  der  Eoloft  aus  Norden. 

Aber  ein  Ende  kann  dieser  bedrfic&eoden  BeUemmung  nur  gemacht  werden, 
Bamn  kann  Deutsehland  nur  geschafft  werden,  seinen  Beruf  anssuQben,  wenn 
ein  kraftvoll  und  energisch  gef&brter  Krieg  die  Verhältnisse  geUart  bat  Dur 

Sünger,  der  so  häufijr  nur  um  der  sanften,  romantischen  Klnnpe  seiner  Leier 
wegen  von  Mit  und  Nachwelt  ^'schätzt  wurde,  verkennt  nicht  das  Furchtbare 
dieses  Mittels,  aber  wo  da^  Lehen  seihst  auf  dem  Spiele  steht,  wird  mit  be- 
schwichtigenden Heilmitteln  nichts  ausgerichtet  Den  Segen  des  Krieges  spricht 
Getbet  in  den  TagebucfablUtem  (S.  241)  dahin  ans,  dafs  *er  aus  don  Bann  der 
Bleinlichkeit  die  Geister  Vkt  und  uns  die  echten  Qttter  des  Lebens  wieder  Uar 
crkeimMi  ISJbf.  Denn  in  Zeiten  trftger  Ruhe  Tcrsiedit  gar  au  leidii  nun 
Cheine  das  Wesen,  und  es  besteht  die  Gefahr,  dafs  die  Thatkraft,  gleich  'dem 
hochbrausenden  Waldstrom,  dem  ihr  den  Lauf  abdämmt,  sich  /erstörend  ein 
anderes  Bette  sucht*.  Zu  langer  Friede  unter  solchen  Umständen,  wie  am 
Anfang  der  60er  dahre,  gh  i'  lit  iler  alkulauge  anhaltenden  Sonnenglut:  wie 
diese  nur  dem  Ausbrüten  von  eklem  Gewünne  günstig  ist,  so  jeuer  der  £)r- 


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£190  Larenta:  Emanuel  Geibel  aU  poUtiBoher  Oioliter. 

TCgnng  iimeni  Zwistos.  Wie  in  dem  lebendigen  OrganiamiB,  wenn  die  Sifte 
etoctkeii,  eine  Entiflndiing  aneh  der  edleren  Teile  drolit,  eo  niehi  anders  im 

Staatakörper.  Wo  es  also  die  Wahl  gilt  zwischen  innerer  Gärung  und  Erie^ 
da  darf  kein  Schwankeu  shittliaben,  denn  'offener  Kampf,  wo's  gilt  um  Schwarz 
tmd  Weifs,  spannt  fortbegeisterml  jede  würd'ge  Kraft  des  Volkes  an  wie  eine« 
Bogeiis  Sehne,  doch  Bürgerhader  geht  in  Lng  und  weckt  den  Diimoii  auf  im 
MenHclien  uiid  Uaa  Tier'.  So  prägt  der  Dichter  in  immer  neuen  Bildern  die 
Sehnsucht  aus  nach  dem  'geschlenderten  Blitotrahl  einer  aieg^fireudigen  Thaf 
(NacUab  237). 

Endlich  beginnt  eich  das  GewSIk  am  nmdflelerlMi  ffimmel  an  ent- 
laden.  Wie  Geibel  1846  in  den  Sonetten  fllr  Schleswig -Holstein  die  Lösung 
der  deutschen  Frage  betont  hatte,  so  bognlfst  er  18G4  den  ersten  nieder- 
prasselnden Feiierregen  naeli  der  drückenden  Gewitterschwüle  aufs  freudigst«?: 
*Eh  i^prieht  die  That,  wo  Worte  nichts  verfingen.'  Jetzt  stimmt  er  sein  'Lied 
von  Düppel'  an,  das  in  iilk'r  Munde  lebt:  'Was  klingt  aus  den  Städt<?n  wie 
helles  Festgelüut?'  und  das  mit  dem  Siegesjubel  schliefst:  'Der  Feind  ist  ge- 
ichlagen  nnd  Sdileiwig  iet  frei!  Sprecht  nichts  von  Verti^en,  nun  bleibt  ee 
dabei!'  (lY  216.)  Non  war  die  geeehSndete  deuteehe  Ehre  dmch  Bineetran 
der  preuDnedieii  wieder  hergeatelli  Aber  führ  die  endgBltige  Bntwirmng  der 
innem  deutschen  Verhältnisse  war  bei  der  fortbestehenden  und  sich  immer 
mehr  yerschärfenden  Rivalität  Preufsens  und  Österreichs  noch  nicht  viel  ge- 
wonnen. Darum  warnt  Geihel  hei  Gelegenheit  eines  'Musikfestes'  flV  217)  im 
Sommer  1864  davor,  durch  zu  lauten  Jubel  sich  übertäuben  zu  wollen:  noch 
schaut  diü  Zukunft  immer  mit  Meduseubiicken  drein!  Noch  hatte  Preufsen  die 
schwere  Krisis  der  Konfliktszeit  nicht  überwunden.  Diese  mufste  für  einen 
objekfciTen  Beobachter  preaftischer  YerhiltniMe,  wie  es  der  Ibneeate  Geibel 
war,  dadorch  eo  peinigend  sein,  dalb  er  im  innersten  Henen  von  keiner  der 
beiden  grofeen  Parteien  im  prenlbiedien  Landtage  Heilsamee  erwarten  konnte^ 
weder  von  der  konservativen  noch  Ten  der  liberalen.  Die  Qual,  welche  der 
Anblick  des  Kampfes  des  zielbewufsten  preufsischen  Ministeriums  mit  dem 
Landtage  darbot,  kommt  bei  dem  Dichter  zu  vielfachem,  oft  vollendet  poetischem 
Ausdruck.  Zornitr  klagt  er  'In  den  Tagen  des  Konflikts'  (IV  218}  1865  Über 
die  von  Tag  zu  läge  sich  mehr  vertiefende  Kluft  und  dafs  ^überm  Hader  der 
Parteien  ht&aet  mehr  denkt  am  Tafterland'.  Er  empfindet  sehr  fein  den  Unter- 
schied, den  es  ausmache,  ob  ein  Dichter  in  Zeiten  der  Not  gegen  den  anÜNm 
Feind  energisch  Partei  ergreife  oder  in  soldien  inner-politiBdiMi  Konflikten 
der  Fartefleidenschaft  huldige.  Dort  mflsse  nnd  werde,  eisern  wie  ein  ge- 
schwungenes Schwert,  sein  Hymnus  ertönen  —  er  hatte  es  eben  erst  selbst 
in  den  Tagen  von  Düppel  bewährt  — ,  aber  'wo  mit  Gewalt  und  List  Haupt 
feindselig  und  Glieder  sich  befehden  im  iunern  Zwist,  da  verstummen  die 
Lieder*.  Darum  fafst  auch  er  den  Entschlufs:  'Eh'  sie  diente  der  Volks- 
parttii'u  Zwietracht  weiterzutrageu,  lieber  am  nächsten  Stein  will  ich  die  Harfe 
lerschlagen.*  So  hatte  andi  DUand,  dnr  selbst  persflnlidi  Fartei  ttgreifbn  mnlUe 
in  den  YerfiMSungekunpfen  seines  engeren  Yaterlandss,  nie  seine  Diditnng  in 


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P.  Lmre&te:  Enuura«!  Oeibd  alt  polilitoli«r  Dichter.  691 

daran  Dienifc  geflelÜ  Eni  naoli  Beendigung  dea  Zwiespslhea  holt  er  seine 
Leier  her?or  and  mm  zu  TSneo,  die  die  YenShnimg  feieni. 

Was  0eibel  einst  1844  in  sinnen  *Deat8ehen  £Ugen'  mit  aller  Inbrunst 
erbeten  hatte:  0  Schicksal,  gieb  uns  einen,  einen  ^lamil . . .  Em  Mann  ist  not, 
ein  Nibdnngenenke]!^)  jetzt  war  es  in  Erfnilung  g^pmgen;  seit  1862  stand 
Bismarck  an  der  Spitze  des  preufsischen  Ministeriums.  Die  poetischen  Tü<fo 
bucliblätter  beweisen  Geibels  kraftvolles  Eintreten  und  voUei*  Verständnis  t'iir 
die  Politik  dm  Mauues,  der  das  Wort  gesprochen  hatt«,  dafs  die  deutsche 
Frage  nie  durch  Parlamentsbescblüsse,  sondern  nur  durch  Blut  und  Eisen  gelost 
werden  k5nne  (30.  Sept.  1862).  Er  ist  es,  von  dem  es  heifst,  dafs  bei  ihm 
aDdn  in  j&aier  Zdt  ^hinter  jedem  Wort  die  That  gestaodea'  er  ist  ee,  der  Tor- 
warts ftflt  nnd  unTerrfickt  anfs  Ziel  geht;  und  ^mogen,  die's  nieht  feasen, 
sdunälen,  der  Kraft  wird  nie  zuletzt  die  Achtun»^  fehlen,  und  wer  getreu  sieh 
bleibt,  hat  halbgewonnen  Spiel'  fS.  238).  Bismarck  ist  da,  'der  Starke,  der  das 
Steuer  fafst  und  bringt  durch  fcitunn  und  Wellen  mit  uneischrocknem  Mut  die 
Fahrt  ans  Ziel'.  Sein  Auftreten  bewies  endlich  deutlich:  'Der  allein  gilt 
wiederum  als  Manu,  der  etwas  kann!'  (S.  239.) 

Aber  das  Ziel  war  nicht  so  nahe^  als  es  anfangs  scheinen  konnte.  Als 
eine  'eiserne  Zeit'  besetchnet  auch  Geibel  die  Qegenwar^  wenn  er  ein  Gedicht 
Tom  Dezember  1865  so  überschreibt  (lY  219).  Voll  Traner  mnfii  er  darfiber 
klagen,  dafs  Mie  jüngst  nodi  Kampfgesellen,  jet7i  Trotz  im  Auge,  Groll  im 
Unnde  stehn'.  Vor  zwei  Jahren  schon  hatte  er  bei  der  50jährigen  Feier  der 
Leipziger  Schlacht  das  Verhältnis  Preufsens  und  Österreichs  rw  einander  mit 
dem  zwischen  Athen  und  Sparta  virglichen  (V  65).  Und  er  hatte  dazu  auf- 
gefordert, im  Freudenfeuer  der  Leipziger  Sit  p;(  siüier  deu  alten  Hader  zu  ver- 
brennen, damit  Deutschland  der  Weg  nach  Chaeronea*)  erspart  bleibe. 

Und  nun  wurde  *der  alte  Drache  vielköpfiger  Eifetsacht^  der  am  Baum 
des  Lebens  Wadie  hielt  und  ans  die  Fradit  weigerte',  von  dem  nenen  Bitter 
Oeorg  geworfen.  Die  glorreichen  S&n^  selbflt  der  unTergldehlidiea  Sieges- 
woche  im  Sommer  1806  kann  Geibel  nicht  durch  Lieder  verherrlichen,  das 
durften  nur  national- preufsische  Dichter.  Aber  wie  sehr  die  endliche  Ent- 
scheidung zu  Gunsten  Preufsens  nach  seinetn  Herzen  war,  zeigt  er  'Am  Jahres- 
schlufs  von  isCjir  iIV  223).  Endlich,  das  ist  seine  Überzeugung,  hat  doch 
^aliversüindlich  das  Schicksal  äüinen  Sprncli  gethan'.  Die  Freude  über  die 
preufsischen  Waffenerfolge  will  er  unbedingt  teilen,  dann  aber  tritt  er  sofort 
für  das  ein,  was  Bismardi  die  moralische  Eroberong  der  sflddeatschen  Staaten 
genannt  hai  Die  Fnrcht  TOr  der  'Yerpreufsong*,  in  welche  jetat  die  unghmb- 
liche  Verblendung  Tor  der  Entscheidung  in  Süddeutschland  umgeschlagen  war, 
hat  Geibel  keineswegs  geteilt.  Aber  er  kannte  beides  ans  eigener  Anschauung 
durch  seinen  Münehener  Anfentlialt  seit  1^^52.  T'^nd  wenn  er  auch  seit  dem 
Tode  des  Königs  Max  1864  nur  selten  noch  in  Bayern  weilte  und  seit  1867 

')  S.  obpu  S  CTa 

*)  Vgl.  auch  in  den  Gedichten  und  Gcdenkblüttom  von  1864  Auf  Chaeronea«  Heide 

(m  189). 


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092  P'  Loreafat:  Emonoel  Odbel  «Ib  politiMher  Dichter. 

wieder  danerod  Mine  Hetmaietadt  LObeck  bewolmte,  so  widmet  er  dodi  nach 
den  entscheidenden  Ereignisien  von  1866  »eine  Lei«:  vor  allem  dar  YereShming 
von  Nord  und  Süd.  Mit  Vorliebe  knflpft  er  in  den  Gediditen  dieeer  Jahre  an 

das  Bild  vom  Ausbauen  eines  Hauses  an.  Man  denkt  an  Bismarcks  Wort  ans 
dem  Jahre  1868:  'Wir  tragen  alle  die  nationale  Einigung  im  Herzen,  aber  für  den 
rechnoTiHen  Politiker  kommt  zuerst  das  Notwendir^  und  dann  das  Wünschens- 
werte, also  zuerst  der  AiiHl)au  des  Hauses  und  dann  dessen  Erweiterung.*  So 
mahnt  Geibel  bei  der  Erötfnuug  de»  ersUiu  uurddeutachen  Parlaments,  24.  Febr. 
1867  (lY  226),  vor  allem  für  einen  Turm  mit  starken  Mauern  und  festen 
Balken  zu  sorgen,  die  uns  gegen  die  StOrme  Ton  aiiben  her  zu  schUtien  ver- 
mdgen: 

Aber  jetzt  versäumt  die  Frist 
Nicht  mit  Glanzentwtlrfea, 
Und  vor  dem,  was  lieblich  ist, 
Schafft,  was  wir  bedflrfenl 

Wann  verbraust  der  HageJschlag 
An  den  nackten  Wänden, 
Mttgt  ihr  firoh  am  heitMH  Tag, 
Was  sie  schmflckt,  volleaden. 

Der  erste  Frflhling  des  nenen  norddeutsehen  Bundes  findet  den  Dichter  in  be- 
sonders hoffnungsfreudiger  Stimmung.  An  das  Bild  der  tausendjährigen  Eiche 
anknüpfend,  aus  der  die  jungen  Knospen  frisch  hervordringen,  fallt  ihm  im 

Süden  ein  stark  bemooster  Ast  auf,  der  noch  zaudert  mitzublflhen,  und  er  ruft 
den  Himmel  an,  den  Strom  der  Lebenssäfte  bis  ins  letzte  Reis  hineinzutreiben 
flV  226).  Die  'Brücke  über  den  Main'  mufste  eben  nocli  geschlagen  werden. 
Zwar  das  'Haus  am  Main',  der  Sitz  des  alten  deutschen  Bundestages,  'ohn- 
macht'ger  Zwietracht  Herd',  ist  glUcUich  aertrOmmert  Und  ist  audi  mit  ihm 
manch  alter  Schmuck  verloren  gegai^n,  *dran  nnser  Hers  noch  hingt*,  er 
muAte  als  OpiSsr  dargebradit  werden  auf  dem  Altar  des  Yaterlattdes.  Darob 
Krieg  nur  konnte  die  neue  Ordnung  der  Dinge  herbeigeführt  werden,  nnn  gilt 
es,  beim  friedlichen  Ausbau  des  neuen  Hauses  nicht  nach  zu  engen  Formeln 
zu  verfahren.  Dadurch  erleichtem  wir  es  nur  den  Brüdern  jenseits  des  Mains, 
das  ist  Geibels  wohl  begründete  Mahnung,  den  We^  über  die  Mainbrücke  zu 
uns  zu  finden.  Mit  herzgewinnenden  Worten  fordert  der  Dichter  diese  alle, 
ihre  Stammeseigentümlichkeiien  trefflich  charakterisierend,  auf,  in  den  neuen 
Bund  einzutreten  in  dem  *Rnf  Aber  den  Main*  (IV  234).  Die  raachen  Alemannen 
Tom  Schwanswald,  die  Sdiwaben,  Vorkftmpfer  einst  im  Beich,  die  ISwen- 
hen^gen  Baywn,  die  Franhnn,  Idug  und  kOhn-,  sie  alle  sollen  dem  hochhenigen 
Beispiel  des  alten  Grafen  Eberhard  folgen,  'der  einst  dem  Reich  zum  Frommen, 
die  Krone,  die  er  selbst  begehrt,  des  Nordens  starkem  Sohne  darbot  am  Vogel- 
herd', und  auch  jetzt  dem  Haupt,  das  Gott  selbst  erkoren,  die  Kaiserkrone  dar- 
bringen. In  seiner  eigenen  Heimat,  in  Liil)eck,  begrüfst  Geibel  freudig  im 
^Hanseatischen  Ftötliede'  das  Aufziehen  des  neuen  schwarz-weifs-roten  Huiuies- 
banners  (IT  230).    Und  das  unter  dem  Schatze  dieses  Banners  kräftig  sich 


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P.  LonnU:  Em&mwl  Geibel  als  poUtiidier  Diditer. 


693 


entfaltende  *Deut8che  Leben*  weifs  er  zu  würdigen,  wie  nnr  einer.  Dsmin 
liilt  er  es  ftr  T5]Iig  nnberechtigt,  Uber  die  Wendung,  wdehe  die  Dinge  ge- 
nomm»),  ni  grollen,  weil  mancher  sie  ridi  andnrs  gedaebt  hatte.  Das  waa 

den  Eem  deutschen  Lebens  ausmacht,  ist  doroh  die  jetst  gescbaffene  Form  in 
seiner  fruchtbaren  Entwickehmg  mit  nichten  gehemmt:  'Noch  waltet  am  er- 
erbten TTerde  der  floutsche  Bauer  schlicht  und  stark',  'noch  Arüchst  nnf  lioliem 
Schlofs  marr^i  kühner  Sprofs  7Aim  Rrttprtumo  dos  Geistesi  und  des  Schwert)^ 
heran',  'noch  Idillit  ijesepirt  in  der  Kunde  der  Städte  Wandel,  Kunst  und 
FleiTs',  'noch  läfst  zu  niiimurmüdem  Streben  die  Forschung  ihre  Fackel 
Wehn'  (IV  231).  Aber  aomig  warnt  derselbe  Diehter  dann  wieder  in  den 
*Salabaiger  Tkgen*  von  1867  (IV  233)  vor  dem  'Locbnf  dee  Sehknen  mit  der 
eingeEOgenen  Slaue*,  ala  Napoleon  mit  österreicb  einen  Anedilnra  der  sfld- 
deutschen  Staaten  an  Frankreich  vermitteln  wollte.  AIh  Antwort  auf  diese 
'leise  buhlende  Sirenenweise,  die  so  lind  sich  wiegt  im  West',  sollte  Deutsch- 
land mit  seinon  Glocken  das  Könitr^fest  seine««  Schirmvojrts  einläuten  l:iKi»en. 
Geibel,  der  im  Grunde  seine»  We^enn  niclit  eine  kriegerische  Natur  ist, 
empfindet  es  schmerzlich,  seiner  Leier  noch  immer  nicht  sanftere  Weisen  ent- 
locken zu  dflrfen,  aber  ehe  nicht  seines  Volkes  ganzes  Sehnen  gestillt  ist,  darf 
er  andere  Saiten  nicht  stimmen: 

Bern  Gott  gehorohend,  der  die  Lejer 

Dir  weihte,  harr'  in  Treuen  ans! 

Es  folgen  Wochen  goldner  Feier 

Der  Zeit  des  Baus.  (IV  237.) 

Harr'  nm^.  So  hatte  Geibel  selbst  das  Gedieht  vom  Dezember  1867  fiber- 
echripben,  dem  die  nbiireu  Verse  entnommen  sind.  Und  im  Frühlinif  des 
nächsteu  Jahres  ist  wieder  ein  bedeutsamer  Schritt  für  das  Zusammenscliliefsen 
der  deutschen  Stibnme  gethan:  am  28.  März  1868  hatte  die  erste  Taguug  des 
deataehen  Zollparlamenta  stattgefunden,  dem  Vertreter  aller  deutseben  Staaten 
ai^jel^rten.  Der  Frflhling  dieses  Jahn»  findet  den  Diehter  wieder  w£  einer 
*Dentschen  Wandersehaft'  am  Rhein  (IV  238).  Hatte  er  früher  —  In  seinem 
Fragment  *Jniian'  —  den  deutschen  Strom  als  deutschen  Lebens  Bild  auch 
darin  nnfohcn  müssen,  dafs  er  Tiulet/t  ruhmlos  im  Sande  verliinft,  so  kann  er 
ihn  jetzt  voi  riner  andern  Soite  betrachten.  Hatto  sein  Laut  früher  trennend 
gewirkt,  so  rückt  jetzt  die  lloffnuntr  ihrer  Erfüllunj^  immer  näher,  dsA»  man 
aus  seinen  Trauben  den  Wein  zum  Kaiserfeste  pressen  wird.  Und  als  am 
13.  September  dea  Jahres  König  Wilhelm  in  Lflbeck  weilte,  begrflfst  ihn 
Qeibel  als  den,  der  xom,  waa  not,  gegeben^  *den  Glauben  an  ein  Vaterland,  das 
schdne  Beehtj  uns  selbst  au  achten,  das  uns  dm  Auslands  Hohn  Terschlang* 
(TV  240),  eine  aufserordentlieh  antreffende  Bezeichnung;  dessen,  was  unter 
Konig  Wilhelms  I.  Regierung  schon  vor  1870  für  das  deutsche  National- 
bewufstsein  geleistet  war.  Und  es  war  eine  gleichfalls  würdige  Antwort 
hierauf,  wenn  dem  Dichter  für  die  Stellung,  die  in  München  nicht  zuletzt  um 
seiner  norddeutschen  Sympathien  willen  unhaltbar  geworden  war,  ein  preufsisches 
Jahrgehaltjzu  teil  wurde. 


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P.  Lorentc:  Bnimiel  Ctoibel  als  poUtiidier  Dichter. 


Endlieb  nahf»  das  grofte  Jahr  1870.  Waa  Geibal  1859  prophetiach  aus- 
gerafen;  ^Einat  geadiiaht's,  da  wird  die  Schmaeh  aeinea  Vonn  der  Herr  aei^ 

brechen;  der  auf  Leipzigs  Feldern  sprach,  wird  im  Donner  wieder  sprediea', 
jetzt  ging  es  in  Erfüllung.  *Deinen  alten  Bruderzwist  wird  das  Wetter  dann 
verzehren,  Thaten  wird  zu  dieser  Frist,  Helden  dir  die  Not  gebriren'  flY  213), 
jetzt  wurde  es  Wahrheit.  Wer  wie  Geibel  mit  Hein«»m  Volke  gehofft  und  ge- 
zagt, wer  wie  er  es  gestraft  und  emutigt  hatte,  war  berufen  wie  keiner,  jetzt 
in  dem  letzten  Eutächeidungskampfe  »eine  Dichtung  iu  deu  Dienst  der  naiionaleu 
Idee  m  atellen.  Jefafc  entatehen  alle  jene  Lieder,  die,  weil  aie  Mnen  adäquaten 
diclitonacben  Anadmek  fttr  das  gefunden  haben,  was  unser  Volk  damals  be- 
seelte, weil  aie  Tiel&di  sub  specie  aetornitatia  den  €klialt  jener  Tage  aus- 
sprechen, nur  mit  dem  Ruhm  jener  grofsen  Zeit  selbst  wieder  verschwinden 
können.  Es  ist  Geibel  in  der  That  gelungen,  'grofser  That  ruhmvoll  Gedächtnis 
dauernd  in  feste  Gestalt  zu  bannen'  (V  68).  Da  ruft  er  in  dem  'Kriegsliede' 
vom  Juli  18*0  (IV  243)  sein  Volk  zum  Streit  in  den  gereiditen  Krieg:  *Empor 
mein  Volk!  Das  Schwert  zur  Hand!  Und  brich  hervor  in  Haufen!'  Da 
prophezeit  er  in  dem  Tsalm  wider  BabeP  (IV  244)  der  ongerechten  Sache  die 
Niederlage:  *Lobsingfe  nur  eurem  GObnn  in  irechem  Gaukelspiel!  Der  Herr 
wird  kommen  und  aetzen  dem  wflsten  Bausch  ein  Ziel'  Da  achOderl  er 
markig  und  anschaulich  in  grofaen  Zflgen  die  gewaltigen  Augustschlachten 
(IV  247  249):  *Habt  ihr  in  hohen  Lüften  den  Donnerton  gehört  von  Forbach 
in  den  Klüften,  von  Weifsenburg  und  Wörth?'  und  weiter  die  Sehhiehtert 
wun(h'r,  die  vereinte  deutsche  Hcldenlcraft  zu  Murs  hi  Tour  und  (Jravelotte 
vollbracht.  Uud  am  i).  September  steigt  aus  seiner  Brust  jener  Hymnus  zum 
Herrn  der  Heerscharen  empor,  der  die  Bedeutuug  des  1.  Septembers  als  die 
eines  Weltgerichts  aiuspricht:  "^un  labi  die  Glocken  von  Turm  an  Torrn 
durchs  Land  frohlocken  im  Jnbelsturml*  (ebd.  260.)  Dann  aber  achl^t  er 
auch  welÜidiere  TSne  an,  giebt  s.  R  in  aeinem  *Ulan*  (ebd.  253)  vom  Oktober 
dieaes  Jahres  ein  prächtiges,  frisches  Bild  aus  dem  Reitcrleben  des  deutseh* 
französischen  Krieges,  das  ein  hübaches  Gegenstuck  zu  dem  Schilleraehen 
Reiterliede  a\is  dem  30jährigen  Kriege  bildet.  Oder  er  bringt  in  seinem 
'Trinkspruch'  (ebd.  252)  ein  Hoch  auf  Land  Mecklenburg  aus.  weil  uns 
jene  Ferle  der  Frauen  fxab,  Mie  hohe  Königin  Luine,  die  Deutschlands  starken 
Hort  gebar',  die  einat  'zur  Zeit  der  Schmach  und  Schmei-zen  der  Engel  ihres 
Volkes  war*;  und  weil  es  uns  auch  |^b  ^jenea  Paar  mit  greisen  Brauen,  daa 
nnares  Ruhmea  Schladiten  schlttg*,  den  alten  Marschall  Vorwirls,  'das  blankste 
Schwert  des  Vaterknda*  und  dann  joien  Alten,  *dee  Eriegsgotte  Wagenlenker, 
den  ktthnon  Schlachtcndenker,  den  Schweiger  Moltke,  Parchims  Sohn*. 
Der  Dichter,  der  einmal  aelbst  von  sich  sagt: 

Li  der  ZerstOcikelang  Zeit  daa  Faaier  anfwerfead  der  Hoihung 
Dreifiag  Jahre  getreu  rief  ick  nadb  Kaiser  und  Bäck, 

aah  endlich  mn  18.  Januar  1871  aeine  8ehnauc]it  erfüllt  Bei  der  BegrObung 
dieses  Tages  wendet  er  sich  "an  Deutschlaiul'  (ebd.  255)  mit  j«iem  F^uden- 


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P.  Lotents:  EatumA  CMbd  als  politiidier  Diditer.  695 

rnfe:  ^nn  wirf  binweg  den  Witwenaehlmw,  nun  gürte  didi  snr  Hochwilsfeieri 
o  Deatselilaiid,  hohe  Siegennl*  In  gralbfni  Zügen  entwirft  er  dann  rflck- 
blieksnd  noch  einmal  ein  Bild  Ton  dem  ehemaligen  Jammer  der  Zerriuenheii 
Aber  'unter  Thränen  wuchs  im  stillen  die  Sehnsucht  dir  zum  heil'gen  Willen, 
der  Wille  dir  zur  Kraft  der  That'.  Und  Torblickend  knüpft  er  daran  die  Aua- 
sicht auf  das  Bild  künftiger  Grofsp,  wo  das  deutsche  Reich,  'vom  Fels  zum 
Meere  waltend,  des  Geistes  Bauner  hoch  entfaltend,  die  Hüterin  des  Friedens' 
sein  werde. 

Bei  der  Friedeusfeier  fehlt  auch  Gcibel  nicht  mit  seinem  Liede.  Im 
Man  1871  xanSchat  aneht  er  meder  den  alten  Vater  Khein  auf.  Znm  eraten- 
male  kann  ea  jetit  heÜ^:  *Nan  grflili'  dich  Gtott,  du  deataehea  Land  zur 
Rediten  nnd  rar  Linkenl'  (IV  III.)   Don  Strabburger  Münstertorm  ruft  er 

zu,  nicht  80  trüb  hcrniederzuschauen :  *Die  Wunden,  die  die  Liebe  schlug,  die 
Liebe  heilt  sie  wieder.'  Jetzt  sieht  er  am  Main  *die  Brücke  zwischen  Süd  und 
Nord,  dpr  Eintracht  Mal,  gezogfin',  und  n!s  er  dann  am  Königsstuhl  zu  Rhense 
ein  Flügelrauschen  zu  vernehmen  glaubt,  da  weifs  er:  'Das  ist  der  Flügelschlag 
des  Adlers  vom  Kyfl'hauser.'  Dann,  am  22.  März  1871,  dem  ersten  Geburts- 
tage Küuig  Wilhelms  als  deutschen  Kaisers,  dichtet  Geibel  einen  'Prolog  zur 
Friedenafeier'  (Vm  19  ff.).  Ala  eine  Liuterungsglat  wiU  er  darin  die  Zeit  der 
schweren  Not  anfbaaen,  die  jeiat  beendet  iat  Der  Geiat  d«  Znreraicht  zieht 
jetzt  ein;  auf  allen  Gebieten  deutschen  Ijebena  aoU  der  dentaehe  Geiat  Ton 
jetrt  ab  aein  hohea  Tagewerk  beginnen: 

In  Kirch'  und  Staat,  in  Wissenschaft  nnd  Knast 
ErlQst  Tom  Bann  des  Fremden  sucht  er  sieh 

Die  eigne  Bahn  und  8cha£Pt  sich  selbst  die  Form. 

Die  Satzung  heimatlosen  Prif-stortums 
Durphhrirht.  ilt  r  Oi-nker,  dafs  i^ii-h  Glauben  wieder 
Und  Leben  sühne;  freudig  ziebn  die  Boten 

Des  Bekiba  dahin,  nm  anf  dem  Fels  der  Madit 
Der  Freiheit  Hans  in  Tranen  ansnbann. 

Und  (las  neue  deutsche  Reich  ist  auch  seinem  Wesen  nach  ein  anderes 
als  das  uiitteialterliche  heilige  römische  Reich,  dessen  Wiedererrichtung  wohl 
der  jugendliche  Romantiker  hatte  ersehnen  können.  Dieses  *ist  dahin  auf  ewig, 
nnd  daa  Begrabne  wecken  wir  nicht  auf*. 

Endlich  gedenkt  Geibel  6ieft  Bedeutung,  die  der  lelate  Krieg  gehabt  hai^ 
auch  am  Tage  des  Einzugs  der  Truppen  in  Berlin,  den  16.  Juni  1871  (IV  258). 
*Seit  am  vereinten  Werke  des  Südens  Flügelkraft,  des  Nordens  klare  Starke 
wetteifernd  ringt  nnd  schafft',  ist  die  Friedonszeit  angebrochen,  in  der  das 
Banner  "deutscher  Ehre  in  junger  Majestät  prangt.  Doch  nun  gilt  es  auch  zu 
flehen  *um  die  Kraft  zum  letzten  Siege,  die  Kraft,  ancli  ans  dem  Herzen  der 
Lüge  hustre  Saat,  das  Welschtum  auszumerzen  in  Glauben,  Wort  und  That'. 
So  betet  ein  Diditer,  der  seinen  Bemf  als  Prieateramt  auf&fsty  hei  der  Feier 
bisher  unfirhSrter  ^affenerfolge  aelnea  «ndlich  national  geeinten  Yolkea: 


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696 


F.  Lorentej  EmaDuel  Q«ibel  als  politucher  IHcliter. 


Zi«h'  ein  m  atten  Tboreitf 
Da  «(axicer,  deutscher  Geist, 
Der  aus  dem  Licht  geboren 
Den  Pfad  ins  Licht  uns  weisL 
Und  gründ'  ia  unsrer  Mitte, 
Wehiliaft  uibi  fromm  zugleich, 
Ia  FnÜMit,  Znebt  nnd  Bitte 
Dein  tatttendjShrig  Beichl 

Aber  mit  der  Beendigimg  des  fransSBiechen  Kriegee  und  der  Anftfatehung 

dea  Reiches  iet  Geibels  Wirksamkeit  als  eines  politischen  Dichters  nicht  auch 
beendet.  Im  ganzen  ist  er  noch  13  Jahre  lang  in  seinen  Dichtungen  mit 
regem  Anteil  der  Entwickelung  unseres  Volkes  gefolgt.  Die  dankbare  Erinne- 
rung an  dif  «^ofse  Zeit  taucht  immer  wieder  empor.  Im  Jahre  1873,  wo  er  bei 
seinem  immer  heftin;er  auftretenden  Leiden  sich  wohl  dem  Ziele  seines  Lebens 
nahe  glauben  konnte,  zieht  er  die  Summe  seines  Lebensgewinnes,  und  da  ge- 
bSren  denn  zu  den  Preoden,  die  ihm  noch  geworden,  beeondera  swei,  eine  im 
61fenÜichen^  eine  im  Privatlebeii: 

Ich  sab  mit  Augen  noch  die  ^ege 

Des  deutschen  Volks  und  sali  das  Betch, 

Und  legt'  auf  eines  Enkels  Wiege 

Den  frisch  erkämpften  Eichenzweig.  (IV  112.) 

Der  geräuschlosen  und  doch  tief  wirkenden  Frieden sthätigkeit  des  alten 
Kaisers  ctedenkt  er  im  Anblick  seiner  LiebUnfjsMnnic.  Wie  die  Kornblume 
als  ein  Sinnbild  ländlichen  OlOcks  zwischen  den  Aliren  erMfjht,  so  thue  sie 
dem  Volke  kund,  diifs  höher  als  alle  Triumphe  ihn  das  stille  Gedeihen  fri^d- 
iicben  Segens  erfreut  (Y  46).  Überwältigende  Trauer  ergreüt  ihn  bei  den 
Attentaten  im  Joni  1878.  Den  Stolz,  den  frohen  Stolz  ao&  Vaterland,  der 
ihn  in  «einem  schweren  IcStperlichen  Leiden  biahmr  aufrecht  erhalten  ha^  flthlt 
er  Bchwinden,  nachdem  ihn  die  Freude  am  Frfihling  und  die  alte  Lust  am 
Wein  schon  lange  verlassen  und  auch  die  Poesie  TOn  ihm  weichen  will:  *So 
wird  es  Zeit  zum  Sterben  sein  '    (Nachlafs  170.) 

Neben  der  ehrwürdigen  Gestalt  des  greisen  Kaisers  aber  ist  es  —  nach 
dem,  wie  wir  Geibel  als  politischen  Dichter  kennen  gelernt  haben,  mufs  es 
heifsen,  selbstverständlich  —  noch  eine  andere,  deren  Schöpferkraft  im  neuen 
Reiche  Ton  Geibel  TerstindnisToll  gewürdigt  wird.  Wer  wie  er  lebendigen 
Sinn  för  geniale  GrÖfse  hattej,  konnte  die  an  hnroiBche  Heldenideale  gemahnende 
Gestalt  des  eisernen  EaazierB  in  ihrer  Bedentang  f&r  das  dentsche  Yolk  nicht 
yerkennen.  Wir  sahen  schon,  wie  sympathisch  Geibel  das  Auftreten  Bismarcks 
in  der  Konfliktszeit  begrtt&te.  Denn  da  bewahrte  dieser  sich  als  der  Genius, 
von  dem  unser  Dichter  einmal  saj^t,  dafs  der  Gott  ihm  znr  Sebwester  dio 
Kühnheit  gegeben  (IT  214',  als  der  Schiffer,  der,  wo  Miesehräiikttrer  Sinn 
8eheu  bebt  vor  stürmischer  Meerfalirt,  weil  er  im  Wetter  sich  nicht  kräftig 
zu  steuern  getraut,  .  .  durch  Kiippeu  uud  Sturm  führet  zum  Hafen  das 
Schiff*  (ebd.).  Er  i8l>  wie  es  «in  andermal  heifiit^  der  Steuermann,  der  auf  der 


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P.  Lorenta;  finumifll  Q«ibel  all  poUtiiehcr  Diohlar. 


697 


Fahrt  nach  grofi^m  Ziel  am  Siener  ruhig  zu  sitzen  versteht  'unbekümmert, 
wenn  am  Kiel  Lob  und  Tadel  hochaufspritzen'  CIY  90;.  Das  Wesen  BismarekiadMnr 
Staatskiinat  im  GegenaatB  xu  der  bisher  in  PrevfiMo  und  fiberhaupt  in  Dentseh- 
land  hflirsdimden  Politik,  die  niemalB  den  gemdeaten  Weg  vagbe,  stete  mit 
kleinlichen  Mitteln  hantierte,  apicgclt  sieh  llberh»apt  in  einer  Reihe  von 
Sprachen  in  d«i  ^Spätherbetblittem'  wieder,  so  wenn  einer  lantet: 

Dehi  Js  sei  Ja,  dein  Nein  sei  Nein 

Und  scharf  das  Schwert  an  deiner  Lende; 
Die  beste  Staatskunst  bleibt's  am  Ende 
Doch,  tapfer  und  gerocht  2u  sein.  |^IV 

Und  ein  anderer: 

Nicht  wer  Stuatätbeurien  doziert,  ein  Politiker  i^t  nur, 
Wer  im  gegebenen  Fsll  riditig  das  HögUche  schafft  (IT  157.) 

Wie  unzweifelhaft  bei  vielen  das  Wesen  des  Oenies  treffend  bezeichnenden 
Aussprüchen  Qeibel  die  Gestalt  Bismarcks  vorgeschwebt  hat,  so  wird  er  auch 
in  mtter  Linie  ihn  gemeint  haben,  wenn  er  dem  Goethischen  Gedanken,  dalli 
es  gegen  die  Vonflge  grofeer  Naturen  kern  anderes  Bettungemittel  gebe  als 
die  Liebei,  in  den  Worten  Ausdruck  verleiht: 

Alias  OroAte  beklemmt,  wie  es  naht,  und  du  fBhM  dich  nidit  eher 
Wieder  befreit  un  Qemttt,  bis  du  es  lieben  gslemi  (NaehL  273.) 

Geibel  ist  viel  au  objektiT,  um  nieht  au  leugnen,  da&  grobe  Männer  nur 
groGie  Seiten  haben.  Aber  er  wird  nicht  mflde,  einanacAiftrfen,  dab  es  porfide 
ist,  an  der  Sonne  nur  die  Flecken  sehen  sn  wollen: 

Stets  sweisohaetdig  ist  grobe  Kraft; 
Willst  du  sie  fesseln  deswegen? 
Lieber  was  sie  dir  Übles  sdiaffl, 
H'mm  in  den  Kauf  xom  Segen.  (IV  91.) 

Und  wieder: 

Tadle  nur  einzelnes  nicht  an  grolsen  Naturen.    Der  Fittich, 
Der  im  Sdirsiten  sie  hemmt,  trSgt  sie  zu  liimmlischem  Flug.  (V  76.) 

Von  einem  uuverjährten  Recht  de»  Dichters  Gebrauch  machend,  v  crauächau- 
lioht  Geibel  uns  die  Gestalt  Bismarcks  durdh  mythologische  Bilder: 

Wie  aus  Jupiters  Stirn  einst  Pallas  Athene,  so  sprang  aus 
Bismareks  Hiaupte  das  Beich  waffengerttstet  hervor. 

Dann  aber,  an  den  Friedenszweck  des  mnien  ReicliLs  t'i  innemd,  fügt  der  Dichter, 
die  Anspielung  auf  iIlu  ^lythos  von  ehr  (iiburt  der  Athene  fortsetzend,  hinzu: 

Thu  es  der  Göttin  gleich,  (iermaiüa!    Pflanzo  den  ülhaum, 

Sei  dem  Gedanken  ein  ilort,  bleibe  gewalfuet  vviu  äiul  {l\  lö6.) 

Und  wenn  or  an  die  gewaltifte  hmt  der  Verantwortlichkeit  denkt,  die  auf  dem 
erst(  ti  KtiiizUr  des  deutschen  Kelches  lag,  so  findet  Geibel  keinen  treffenderen 
Vergleich  als  den  ^it  Atlas: 


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698 


F.  LoMDtt:  Bniuii«!  Q«ibel  «1«  poUtnehcv  IMditer. 


Ruhig,  sicher  und  fetit,  wie  daä  Uiumiblsgewölbe  der  Atlas, 
Auf  den  fiehnltani  tob  En  trigst  da  di«  S&nlea  dM  Beidn. 

MOge  der  Tag  fem  sein,  der  einst  von  der  Bflrde  dich  abmft, 
Denn  kein  Zweiter  fBrwabr  lebt,  dw  n»  trSge,  wie  da.  (IV  157.) 

In  einem  völlig  darcfageHBliiien  Vergleich  mit  Herkolee  (NteUil«  248) 
hSran  wir  Ton  dem  ^roen,  der  am  Maine  die  Hjdn  der  Zwietracht  bezwang, 
der  am  Rhein  den  msenJcti  Löwen  in  den  Staub  gerungen.  Der  kämpft  auch 
jetzt  *wider  des  römischen  Huiiipfs  lichtscheues  Geflügel',  wo  ea  gilt,  die  junge 
Schöpfung  des  Reiches  gegen  die  Übergriffe  der  Ultramontanen  zu  schützen. 
Derselbe  Herkules,  der  den  Stall  deä  Augias,  die  alte  deutsche  Bundesverfassung, 
Ton  anendlichem  Waste  gesäubert,  er  wird  aneh,  so  mft  der  Dichter  xa- 
veniehtUdi  aas,  im  stände  sein,  den  dreiköpfigen  Oerberos,  der  ihm  als 
'polnischer  Trot^  jesoitisehe  Wa^  altidreUicher  Hodmiuf  enl^egenheihi,  sieg- 
rrich  sn  bestehen.  Anf  die  schwere  innere  Gefahr,  die  gleich  nach  Beendigung 
des  grofaen  Krieges  dem  kaum  geeinten  Volke  drohte,  kommt  Geibel  in  sehr 
scliarfon  Versen  wiederholt  zu  sprechen.  Da  fordert  er  den  deutschen  Geist, 
ihn  dem  Adler  vergleichend,  aiil",  sein  Gefieder  zum  Flug  wider  die  Unheil 
krächzenden  Raben  zu  schütteln,  die  dem  Vatikan  entflogen  (Nachl  245).  Und 
dem  Empfang  Agamemnons  durch  die  heimtückische  Kl^tümneatra  vergleicht 
er  den  Empfang  der  si^reidi  snrOokkehrenden  Deotedieii  doreh  die  tob  Rom 
bereiteten  Schwierigkeiten  (ebd.  246).  Der  kfilf^ch  gescheitste  Versnoh  der 
deutBchen  Bischöfe,  bei  den  Besehlflssen  des  Vatikanischen  Komdls  eine  sdb- 
sündige  Hetnong  m  wahrrai,  wird  Tcrspottet  mit  dm  Worten: 

*Boim  bat  geqnochen',  da  bSrat    Bo  ergieb  didi  in  Schweigen  nnd  glaobe, 

Was  du  noch  eben  als  falsch,  was  du  als  schädlich  bekimpfirii; 
Also  pehout  es  die  Bisehofspflicht;  und  jeden  als  Ketzer 

Tlni  in  den  Bann,  der  heut  denkt,  wie  du  gestern  gedacht.   (Ebd.  249.) 

Über  die  der  Verkflndigang  des  Unfehlbarkeitsdogmas  zu  Grande  liegenden 
hierarchischen  Bestrebungen  wird  die  vcdle  Schale  des  Hohnes  ausfjjegossen : 
*Kommt,  ihr  Treuen  nach  Rom!  Wir  brauchen  ein  Dogma  und  haben's  bei 
dem  heiligen  Geist,  wie  wir  es  wünschen,  bestellt'  (ebd.).  Aber  der  Dichter 
ist  ein  Feind  alier  Finsterlinge,  wie  Hutten,  dessen  Geist  er  anruft^  'im  Spiegel 
anf *s  neu  das  Gebahren  der  finsteren  Sippschaft  m.  aeigen,  sei  sie  an  Born  und 
am  Bhein  oder  in  Pommern  an  Hans*.  Wenn  Geibel  so  sdiaif  in  dem  Ksmpf 
gegen  die  CMhodozie  der  rämischen  wie  der  erangeUsehen  Kirdie  vorgeht,  so 
ist  er  sich  wohl  bewols^  damit  nur  gegen  faiefarchiflche  Gelttste  ni  kämpfen: 

Wider  des  Heilige  Ubnpfeo  wir  an?  Nem,  wider  den  Hifiibnndi, 

Den  schamloser  als  je  ihr  mit  dem  Heili<.,'en  treibt, 
Wenn  zur  Sache  der  Religion  ihr  din  ricreno  Herrni  h.su(  ht 

Lügt  und  im  Priedensgewand  weltlichen  Hader  entfacht.  (Ebd.  250.) 

Geib«d.  der  e.s  .«elhst  einmal  ausgesproehcn:  *Das  ist  das  Ende  der  ]*hilo- 
sophie,  zu  wissen,  dafs  wir  glauben  müssen',  bmncht  gegen  den  Vorwurf  der 
Irreligiosität  nicht  in  Schutz  genommen  su  werden.   Was  er  erstrebt,  ist,  die 


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f.  LoraitE:  Emanii«!  OuImI  ak  polilMMiMr  Diditar. 


699 


Schranken,  die  Dogma  und  Kirche  auffrt^richtet  haben,  zu  beseitigen,  den  Unter- 
schied zwischen  UehgH>n  and  Theologie' j,  zwiichen  dem  Leben  im  Ohraben 
und  dem  blofsen  Bekeimen  wieder  als  wmenftidi  snr  Anerkennung  zu  bringen: 

Dai8  seit  Jahrea  der  Strom  des  uatüriiclieri  Lebens  und  Denkens 
Fremd,  in  gesonderter  Balm,  neben  dem  geisüidien  fliefet, 

Daran  kranken  wir  alle;  nnd  wir  werden  nicht  wieder  gesunden, 
Bis  im  vereinigten  Bett  Woge  mit  Woge  sieh  mischt  (Naobl.  260.) 

Gebt  ilur  dem  GSttlidien  irdische  Form,  wie  wollt  ihr  es  bindeni, 

Dafs  sie  das  irdische  Los  alles  Vergänglichen  teilt? 
Alternd  erstan-t  sie  zrilctzt  und  im  Druck  verkilnmiprt  der  hohe 

Inhalt,  oder  zersprengt,  sich  zu  betrei'n,  das  GefaDs.  (IV  169.) 

Daher  die  häufigen  Mahnungen,  veraltete  Fonncn  zu  ändern  (IV  169  91).  Aber 
recht  aoagerflstei  mols  man  sein  in  diesem  Kampfe.  Wer  ihn  wagl^ 

Trag*  in  opferfreudiger  Brust  des  Glaubens 
Bicheni  Ilorf,  thnin  ninuner  bezwingt  den  lü£»braach 
Bloise  Vemeinungl  (NachL  252.) 

Unter  dieser  VoransaetBung  kann  man  furclitlos  in  die  verdumpften  Räume 
des  Heiligtums  trctt  n,  um  sie  von  tausendjährigem  Wust  menschlicher  Willkür 
zu  säubern,  niclit  iiclitcnd  des  Wiitgekreisches  aufscliwirreiuler  Fledermäuse, 
doch  sich  hütend  vor  tlem  BÜ's  der  tückisch  bäununden  Natter.  Der  Stur» 
dea  Tempels  selber  ist  nicht  zu  fürchten,  wie  kleingläubige  Freunde  wohl 
meinen.')  Und  als  —  ein  AusfluTs  des  kirchlich-fanatisdwn  Hasse«  —  gegen 
Bisman^  mh.  die  Mdrderhand  erhob,  am  13.  Jnli  1874  in  Eissingen,  giebt 
Oeibel  mit  wuehtigem  Worten  seiner  Entritotnng  Ansdnu^  die  sogleich  Wesen 
und  Bedeutung  des  eieemen  EamderB  treffend  aasqpredien.  Wie  Siegfried 
«allte  der  Held  am  Bninnen,  wo  er  sidi,  Labung  schlürfte  sorgen-  nnd  waffenlos, 
vom  tödlichen  Gcschofs  getroffen  werden.  Doch  rein  blieb  von  solchem  Greuel 
der  Saale  Flut,  und  dankbar  jubelt  Deutschland,  dafs  ihm  das  teuerste  Haupt 
gerettet.    (VIII  2ö.) 

Der  Wunsch  müsse  jeder  deutschen  Lippe  sich  entringen,  dieser  Held  möge 
T^Ongt  wie  ein  Adler  in  den  Kampf  zurückkehren,  er  ^Europas  Friedsnriiort 
nnd  Deutschlands  m&chtiger  Pfeiler,  6ßr  Ifann  der  Männer'.  Wenn  das  künftige 
Bismarckdenkmal  vor  dem  Beiehst^isgeHude  auJser  dem  blofsen  NamMi  dessen, 
den  es  darstellt,  noch  eine  Sm  charakterisierende  Inschrift  brauchte,  hier  fände 
es  eine.  Geibcl,  der  so  oft  Gelegenheit  nimmt,  die  überragende  Gröfse  Bisman^ 
dem  Yorstiindnis  der  Mitwelt  nahe  zu  brinji;en,  brielit,  nh  die  Pygmäen  wieder 
eiomal  dem  liieseu  allzuheftig  ansetzten,  in  die  zornigen  Worte  aus: 

Was  habt  ihr  denn,  ihr  neunmal  Weisen, 
Mit  eurem  Witz  pehracht  zu  stand, 
  Eh'  euch  der  Hold  mit  Blut  und  £isen 

')  Vgl,  lY  92. 

*i  Vgl.  oben  S.  687  und  im  Nachlab  S.  261—265  S69  u.  dfter. 


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700 


F.  Loreutx:  Enianuel  Qeibel  als  politischer  Dichter. 


Gewaltig  schuf  ein  Vaterland? 

Und  jetzt,  nachdem  er  i>!in''  Wanken 

Zum  ilafea  euer  Öchili  ^oleukt» 

Nun  woUt  ihr  kritteln,  aabaMafu  und  nnkan, 

Statt  Gott  auf  euren  Ktdefn  sa  dnnlnii, 

Dab  er  «ach  nlchen  Uaan  geschenkt?  ^ndiL  351.) 

Gleiok  dem  gro&en  politieehen  SSnger  des  Mittelaltera  iBlittn  wir  0«ibel 

Jaiirzelmte  hindurch  im  Kampf  für  Kaiser  und  Ileich,  im  Kampf  gegeu  äuTaere 
und  innere  Feiude,  gleich  Walther  von  der  V'ogelweide  auch  besonders  be- 
fehdend (hf  Herrschgelüste  «Icr  Kirdic.    Unter  Witlthors  Liedern  ist  eins,  das 
man   wohl  als  das  mittelalt^rlitlu-  'Deutschland  über  alles'  bezeichnen  kann: 
Ich  Juin  Uindc  vil  (je^rlien  u.     \v.   Darin  begründet  der  Dichter  seinen  Wunsch: 
lange  müese  wh  leben  dar  inm  damit,  dais  er  die  uuiicialtcrlichea  Ideale  der 
äukt,  der  iugeiU  tmd       reinen  nmne  nirgend  so  verkörpert  gefunden  habe  als 
in  deuiadien  Miniieni  and  Franen.  Der  nationale  ^nger  des  XÜL  JahrL  kennt 
die  weltbewegrade  Entwiekelnng  deutsehen  Qeistealebena,  wie  es  wuraelt  in  der 
Befreiungsthat  der  Reformation,  wie  es  seinen  Höhepunkt  erreicht  in  der 
Humanitiitsepoche  des  XVIU.  Jaluh.,  wie  es  den  das  XIX.  Jahrh.  mächtig  be- 
herrschenden (Jcdankcn  der  'Entwickelung'  zuerst  gefafst  hat.   Da  spricht  auch 
er  typische  Züge  deutscheu  Wesens  —  in  seinem  Mnliau'  i  Ii  264)  —  aus.  Än- 
knüpleud  an  den  urdeutschen  Wandertrieb  betont  er  uuücre  Fähigkeit,  Vorzüge 
iremdlilndischer  Kulturerrungenschaften  zu  eigenen  neuen  Werten  umzugestalten, 
rfihmt  er  *die  eehoieiehe  Brust',  die  uns  zu  teil  geworden:  *Des  Grieehea 
Sdiönheitslust,  des  Börners  Hoehsinn,  den  Humor  des  Briten,  des  Spanien 
Andaehtflglut  und  £hrenblus(^  des  Fransmanns  Wita  nnd  leichtgef2Ii'ge  Sitten, 
des  Patriarchen  Glück,  der  in  den  Landen  des  Aufgange  sehweiflj,  —  wer  hat's 
wie  wir  verstanden?'    Und  wenn   derselbe  Sänger  auch  an  der  nationalen 
Errnntjenseliaft  der  Deutschen  des  XIX.  Jahrh.  niitjjearheitct  bat,  so  wird  er 
uns  überhaupt  ein  zuverlässiger  Verkünder  der  Güter  sein,  die  die  dauernde 
und  fruchtbare  Weiterentwickelung  deutschen  Wesens  bedingen.    Er  drückt 
sie  durch  diese  'Mahnung'  in  seinem  dichterischen  Nachlafs  aus  (S.  157  f.): 

Mut  und  Treue  sonder  Fehle, 
Einfalt,  die  vom  Uoneu  klingt. 
Und  den  tiefen  Zug  dw  Seele, 

Der  nuili  solncin  fiutie  riagtj 
Walirst  du  die,  wohlan,  so  wage 
Jeil(>n  Kanipt'  voll  Siegeslust! 
Denn  du  ti'ägät  s^uküuit  ger  Tage 
IVohe  Bltargiehafib  in  der  Bmsi 


I 


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REGISTER 

DER  IM  JAHRGANG  1898  BESPROCHENEN  SCmUFTEN. 

Seite 


Aua  dem  klansischen  Süden  (Lübeck  IH'JG)   lüa 

Bacchylides  cd.  hy  F.  G.  Kenyon  (London  1HS)7)   g'jfi 

E.  Brnndenlmrg,  Moritz  von  Sachsen  L    (Leipzig  1898;   ü'jr» 

J.  W.  hruinier,  Der  urspr.  Plan  von  Goethes  Faust  u.  seine  Geschichte  i  München  1S98)  61C 

L  Brunn,  Die  Persönlichkeit  in  der  Oo8chicht*f8clireibung  der  Alten  (Berlin  18U8)  .   .  62h 

C.  Bulle,  Ovids  Verwandlungen  in  Stanzen  übersetzt  (Hremen  1898)   22a 

Ä".  Burewh,  Au«  Lydien.    Herausg.  von  O.  Hibl>eck  (Leipzig  18'J«)   470 

P.  ('(/rsnett.  Die  Antigene  des  Sophokles,  ihre  theatral.  u.  sittl.  Wirkung  i  Berlin  189«)  47k 

B.  JMi'idsohn,  Korschangen  zur  älteren  (iesch.  von  Florenz  (Berlin  1896)   211i 

B.  Dand>t(Jtn,  Geuch.  von  Florenz  L    (Berlin  1896)   21K 

Forschungen  zur  neueren  Littoruturgcsch.    HerauHg.  v.  F.  Muncker  (München  1896  ff.)  aiü 

IL  (lerdts,  Gesch.  d.  deutschen  Volkes  u.  seiner  Kultur  im  Mittelalter  II.  (Leipzig  1898)  afiö 

Ed.  Herriot,  Philon  le  Juif  i  Paris  1898)   iiU 

Hislorist'he  Bibliothek.    Herausg.  von  d.  Red.  d.  bist.  Zeitschr.  (München  1897  f.)  ,  . 

O.  lloffmanu.  Die  griech.  Dialekte  III.    (Göttingon  1898)   üül 

Hohenzollern-Jahrbuch.    Herausg.  von  B.  Seidel  L  (Berlin-Leipzig  1897)   212 

L.  Jwubi,  Das  Römerkastcll  Saalburg.    2  Bde.    (Homburg  1897)   2M 

J.  Juxtruic  u.  G.  Winter,  Deutsche  Gesch.  im  Zeitalter  d.  Hohenstaufen  L  ^Stuttgart  1897)  afil 

G.  Kaibel,  De  Sophoclis  Antigona  (Güttingen  189")   248 

G.  Kaibel,  Wissenschaft  und  Unterricht  (Göttingen  1898)   älL 

A.  Klette,  Die  Selbständigkeit  de«  bibliothckar.  Berufes  in  Deutechl.  (Marburg  1897).  älü 
G.  Koepper,  Litteraturgesch.  des  rheinisch-westfälischen  Landes  (Klberfeld  1898).   .  .  fiCx 

B.  Kögel,  Gesch.  d.  deutschen  Littenitur  bis  zum  Ausgange  des  Mittelalters  L  (Strafs- 

burg 1894—97)   lüli 

B.  Krauß,  Schwäbische  Littcraturgesch.  L   i  Freiburg  1897;.  

Luthers  Werke.    Kritische  Gesamtausg.  (Weimar  1883  tf.  t   üfiä 

A.  Meitzen,  Wanderungen,  Anbau  und  Agrarrecht  der  Volker  Euroiias  nördl.  d. 

Alpen  II.    (Berlin  1895)   Mü 

Monographien  zur  Weltgeschichte.  Herausg.  von  A'.  Heyck  (Bielefeld  1897  f)  .... 
J.  W.  Xagl  und  J.  Zeidler,  Deutsch-Österreich.  Littcraturgesch.   1  Halbb.   (Wien  1897) 

K.  Xordett,  Die  antike  Kunstprosa  i  Lcipzig  1898)   fiSS 

M.  I'hilippson,  Der  (frofae  Kurfürst  Friedrich  Wilhelm  v.  Brandenburg.  L  (Berlin  1897)  541 
Prosopographia  Imperii  Romani  saec.  L  H.  III.    Pars  I  ed.  F.  Kleba.    Pars  II  ed. 

iL  Dejimu  (Beriin  1897j   Sa 

G.  Bichter,  Annale»  d.  deutschen  Gesch.  im  Mittelalter  III.  Abt    2.  Bd.   (Halle  1898)  ülü 

M.  ,St  h neide >ciu,  Die  antike  Humanität  (Berlin  1897  i   1 

Fd.  <).  Schulze,  Die  Kolonisierung  und  Germauisierung  der  Gebiete  zwischen  Saale  und 

Klbe  (Leipzig  1896)  

F.  Hudmayr,  Goethe  u.  d.  klass.  Altertum  (Leipzig  1897)  äl  22A 

IL  f.  Treitfchke,  Politik  L   iLeipzig  1897)   Aüil 

F.  Vogt  und  JL  Koch,  Geech  d.  deutschen  Litteratur  (Leipzig  und  Wien  1897).  .  .  132 

J.  Volkelt,  Ästhetik  des  Tragischen  (München  1897 y   2M 

J.  F.  Wackernell,  Altdeutsche  Passionsspiele  aus  Tirol  (Graz  1896)   221 

L.  f.  Wilumotcilz- MöUendortf ,  Goethes  Pandora  (Goethe-Jahrbuch  XIX  1898)   ....  IM 


Keu«  JahrbOcher.    18U8.  I. 


41 


SACHREGISTER. 


AchiliHche  Spracbform  f<og  f. 
Adel  IM 
Adelung  äfi  ff. 

Afrika,  römische«  Iii  ff .  fiäg  ff . 
Agon  aiii 

A^areeBchicht«  311  ff.  ü2&  ff. 
Aias  des  Sophokles  llß 
Akademie,  rlatooicche  21i9  f., 

484.  prcursiacbe      f.  äl£ 
Akrago«  IM 
Alabarch  b21 

Alethia  des  Marius  Victor  411 

Alexander  d.  Chr.,  Tod  202  f. 

Alcxanderschlacht  -iKO 

Alexaudria,  Juden  in  »lA  ff. 

allegorische  Bibclerklilrung 
Sil  &2fi  f .  032  f 

AlUlre  in  Rom  'iä! 

AltertunisBtudiuni  in  d.  Gegen- 
wart öfi  f  32h  f. 

Amorgos  504  ff. 

Annaion  d.  deutsch.  Ge«ch.  '^7<> 

anntus  magnu»  100  ff. 

Aiitenoriden  des  Bakchvlide» 
äüü  f. 

Anthologia  Latina  4111  ff. 
Antigonc  dos  Sophokles  lila  ff. 

4IA  ff.  Ha  ff. 
&no%aTdaxaaii    der  Stoiker 

lO'J  ff. 

Apologetik,  altchristl.  4M  tf. 
Archermos  'isÜ  ff. 
ArchilocbuK  &Üit  f. 
Ariadne,  Terrakotten  SM  f. 
pH.-Arist^^as  fi>il  f. 
Ps.-Aristobul  äÄi  ff. 
AriHtophaues,  Ekklesiaznscn 

2a  ai  ff. 
Asinius  Pollio  lüä  ff.  Söhne 

lllÄ  ff. 
Äsop  3or>  ff. 

Xsthetik  des  Tragischen  SM  ff. 
Astronomie,  G«flch.  der  äfiö  ff. 
Athcna  Nike,  Tempel  auf  der 

Akropoli«  Ji2ö 
Athena  Partbenos  des  Phidias 

m  f. 
Atlantis  <Ü  ff.  4^ 
Augustinus  411  4lrt  f. 

Babrius  mit.  ailü  ff. 

Bakchylidc«  Sifi  ff. 

Baukunst,  Entwickeluug  der 
griech.  öfiU  ff.  ilih  ff.  griech. 
des  Westens  131  ff. 

Befestigungen,  griech.  lüü  f., 
in  Karthago  143.  in  .Sizilien 
32ä  f ,  in  Lucanien  324,  im 
Lande  d.  Aequer  325.  in 
Umbrien  3'J6 ,  römische  in 
Germanien  äfia  ff. 


Bibelerklärung  Philos  bll. 
ä2fi  f. 

Bibelübersetzung  der  Septua- 

ginta  m  f        &aü  ff . 
Bibliothek  deutsch.  Gesch.  Ml 
Bibliotheken  313  f. 
Bismarck  bei  Geibel  ßilfi  ff. 
Brunhild       ff.  434 
Bur(  khanlt,  Jac.  ÜÄ  Iii  ff. 
Buresch,  K.  Hü  ff. 

Carlowitz,  G.  v.  QM  ff. 
Castol    del    Monte,  Apulien 

lifi  f. 
causa  Curtnnn  Ii 
Chronologie  römischer  Kaiser 

4fi  ff. 

Cicero,  Vortreter  d.  Humanität 
a  ff  ,  Rhetorik  QAl  ff. ,  Ehe 
mit  Terentia  114  ff. 

Civitii  Alba  3211  f.  334  ff. 

llenietrios  Poliorkete«  4äü  f. 
Domosthenes,  Harpalischor 

Prozefs  mi  ff. 
Deutjich-franz.  Krieg  bei  Geibel 

GäA  ff. 

Dialekte,  öriech.  äül  ff.,  I).  des 

Bakchylides  24ü  f. 
dtüvoi«  ».  QIITÖV 

Dichtcrsprache,  ionische  i'iOl  ff. 
Dietrich  von  Bern  444 
(Ii  indigeU»   und  novcnidde» 
103  ff. 

Ps. -Dionysius  v  Halikornaf!«, 

Rhetorik  Uli  ff. 
Dithyrambus  244  f. 
Diu»'  Fidius  Ififi 
Domäaenordnung.  röm.  fi'2H  ff 
Dorfformen  der  Slawen  34ü  f. 
dorischer  Stil  574  576  ff. 
Dreifsiitaähriger  Krieg  ü43  ff. 
'Dreifsi^    'J\Taunon'  imter 

ValenanuB  u.  Gallienus  41t  ff. 

Eberhard,  deutsche  Wort- 
forschung 5fi  ff. 

Kdda  fiil  ff.  434 

Ele^e,  ionische  M3  ff. 

emhaenitica  332  f. 

Kmpedokle«,  Scbilderuug  der 
Urzeit  24 

Erdgeist  in  (toethes  Faust 
£11  ff. 

Eros  311t  3äl  3aa  4112 

Eryx  141 

EssOcr  OIÜ  f 

Etrusker  bei  Theopomp  SiS  f., 

Sprache  4111 
Euenos  v.  Paros  f»io  f. 
Euhemerus  lüfi  ff. 


Fabel,  äsopische  3illi  ff. 
Faunus  112  f 

Faustdichtimg  de«  XVTll.  und 
XIX.  Jahrb.  371,  Goethes  F. 
Sil  ff.  ßfill  ff. 

Fixsterne,  Auf-  u.  Cntergänge 
3&h  ff 

Flümlinge  ^  34!i 

Florenz,  Geschichte  im  Mittel- 
alter 210.  ff. 

Flflgelgestalten  3M  ff- 

Frauen,  im  Altert.  10,  römische 
17G.  Emanzipation  4ä4  f. 

FröBiihvOrlcr  Iii» 

FreytUjg,  Gust.  448  450  ff 

Friedrich  Wilhelm,  Kurfflrst 
541  ff. 

Fundberichte,  italien.  ää3  ff  , 
der  ReichslimeskonimisKioo 
2fi3 

Cialenus,  Chronologie  4ä 
Gallierkampf,  Terrakotten 

334  ff. 
Geibel,  Em.  fili  ff. 
yivt^Xittnol  ioyiM,  Vorschriftcu 

für  die  Abfassung  Uli  ff. 
gcnethliacoH  107  ff. 
Genius  1^ 

geographische  Lehrdichtung, 
Hpätrömischc  414  f 

Germanen  in  Nordafrika  62'J 

Geschichte  und  .Sprachwissen- 
schaft 4öä  f 

GeschichtsaulTassung,  indi- 
vidualist.  und  kollektivist. 
4äfi  ff  IfiÜ  f  . 

Geschichtsschreibung,  antike 
fi3ii  f. 

(loethe,  (Jöttcr,  Helden  u. 
Wieland  224  375.  Faust 
an  ff  fißa  ff.,  Pändora  4M. 
als  Dramatiker  äüf,  Verh. 
zum  klass.  Altertum  iü.  ff., 
Sophokleskritik  241»  f.  475 ff., 
Plutarchstudium  353.  Verh. 
zur  Romantik  fiI2  ff 

(«oethcgcsellvchaft  4ä4 

Goldnes  Zeitalter  24  ff.  äS 
llü  ff. 

Gorgia«  640  ff. 

(KUterbilder,  römische  IIU  ff. 

Göttermythus,  germanischer 
fiü  ff.  434 

Grilbcr,  in  Sizilien  131  f  32fl  f 
320  ff  ,  in  Etruricn  321  f., 
bei  Palestrina  328  f.  in 
Tareut  320^  bei  d.  Saal- 
burg 2111 

Gracitüt,  'neutestamentliche' 
531>  f. 


Sachrejfirtter. 


(iramtuatik,  nliit.  Iii  tf. 
(»rimni,   Jac.  M  ff   IfiU  Ali! 
lai  497,  W.  fiü  442 

Hufenanlugcn,  ^iech.  512  f. 
Hullt'iil/auU'n,  ffriech.  671 
Hantlluicber  für  ffriech.  Uhe- 

toreuHchulen  SÜÜ  312  ff 
HandHchriften.  f^riech.  Fubeln 

an  f ,  des  Philu  ÄlA  f. 
HarpiiliRi  her  Prozefs  3M  ff. 
Hauptiuiinn.  (ierhart  aiiJ  f. 
Heinrich  I,  doutachcr  Köuie:  IUI 
HekuUius  von  Teos  lilä  f. 
Heldentlichtuof;,  ^germanische 

fih  ff.  IM  f .  laa  f . 

Helleniiimue  r»lA  ff. 
hf^llenistiHche  Liiteratur- 

Bprache  [iM  ff. 
Hcruklefl  bei  Bakcbylidc8  240f. 
Heraklcstonio  aus  Tarent  3h2.f. 
Merodes,  Judenkönig  in  Rom 

124.  T.  Claudius  Atticus  U  f. 
Herodot,  Bezieh,  zu  Sophokles 

2üli  2111  f.  ila 
Hcsiod,  Werke  u.  Tage  2fi 
Hieron  von  Syrakus  232  ff. 
historische  Lehrdichtung, 

B)Mltrömi9chc  412  f. 
HobenstAufen  ä£I  f. 
HobenzoUern-Jahrbuch  212  ff. 
Homer,  Dialekt  üül  ff..  Ver- 
bind, mit  mvken.  Kultur  ^7f>. 

Oocthe«  Ve'rhältn.  zu  M  ff. 
Homer,  IdealHtaat  2ü  f. 
Humanitilt,  antike  1  ff. 
Hürnen  Sejfrid,  Gedicht  vom 

II  ff. 

Hy)K)kaustuni,  römische«  älüf. 

lambcu  des  8cmonidc34  f. 

lambuloH  ULi  ff. 

lanus  1 7 1  ff. 

luftpiter  fictUiji  IM  1" 

iberischer  Sprachstamm  49»  f. 

Idoenlehro,  Platonische  ö'JQ  f. 

Indogermanisch  iäl  ff- 

Inschriften,  ion.  Elegien  auf 
508.  aus  Lydien  AU  ff., 
römische  331  ff  &>>i  ff.,  Zeug- 
nisse für  röm.  Namen  13  If. 

Tonisch  Ml  ff, 

Ironie  ilü  ff. 

Isidorus  All!  f. 

Isokrates  ülü  tf. 

Italien,  badische  Studienreise 
nach  laa  ff.,  Fundberichte 
aus  aSit  ff. 

Jacobi.  V.,  Agrarhist  :^4«  f 
Jahn,  Fr  Ludw.  äfi  ff. 
Johann    Friedrich ,  Kurfürst 
liüü  ff. 

Judentum  LheIleniKt.Zeitöl4  ff. 
jüdischer  Einflulsb  Virgil  llUff. 
Junges  Deutschland  f. 


Kabiren  Sül» 
Kallinos  M(ä  f. 
Karl  V.  fita  f  fiilA  eiifi  tf 
Karthago  lü  ff. 
Kastell,  rßmisches  212  ff. 
Kelten  in  Deutschi  4M2 
Klientenpoesie,  römische  Hl 
Knielaufschcma  3hl  f. 
Kolonisation,  mittelalterl.  in 

Deutschi  Ml  ff. 
KomnuHsion  f.  Oesch.,  Kgl. 

silchs.  > 
Komödie,  attische  22  tf. 
KonHikt«zeit  in  Prcufsen  JUiö 
Königsstandartc  bei  d.  Persem 

4H» 

nolvr'i  bei  Philo  m  tf. 
Kreon  l»ei  Sophokles  2AÄ  ff. 

llfi  Aia  tf 
Kronos,  Reich  des  5>ä  ff.  M  f . 

iliJ  ff. 
Kulturgeschichte  iAü  ff. 
Kunstprosa,  antike  fiSl  ff. 
Kurfürst,  d.  Grofsc  611  ff. 
Kyme  m  f. 

I^chmanii,  C.  deutsche  Philol. 

•il  f.,  Verh.  z.  Rumantik  fifl 
Lagerstadt,  römische  Jilfi  tf. 
Laren  Uli 
hirtidim  177,  1 
Lautgesetz  AÜli  f. 
Lectisternien  Uü  f. 
Legionssoldaten,  Thätigkeit 

der  2Iil  ff. 
Lehrdichtrmg,  snätrömische 

404  tf,,  altohristliche  Alla  ff. 
Lex  Manciana  028  tf. 
ligurischer  S]»rach8tamm  Aäöf 
Limes,  oburgermanischer  äfiii  tf. 
Littcraturgescbichten, deutsch. 

Aä2  ff.  üfiM 
Livius  fiaü  f. 
Logosichre  53ft  f. 
Louise  Henriette  von  Oranien 

äia 

Luther,  Ausgaben  5fi&ff,,  Hand- 
schriften RBfi  f.,  Predigten 
567.  sprachgoschichtl.  Be- 
deutung öM  f. 

Lydien  ilü  tf. 

Kunciana,  lex  OHü  tf. 
Marcellus,   Do  medicamentis 
415 

Marius  Victor  All 
Marktanlagcn,  griech.  bll 
medizinische  Lohrdichtung, 

spätrömischc  its  f. 
Megaron,  mykon.  älS  ff  655  ff. 
Menander,  Rhetor  lÜK  ff. 
Mephistopheles  Uli  ff. 
Messana  L34.  f, 
Metoi>en  ühSi  ff. 
Metrik  des  Bakchylides  24S 
Mimuernios  ül2  f. 


Minervatorso  in  Rom  •t'M  f 
Moritz  von  Sachsen  595  ff 
Mosaik  von  Torre  Annunziata 

327.  1  SM  ff. ,  von  Sarsina 

'dM  ff. 

Moscherosch.  Paticntia  SU 

Müllenhoff,  C  (Li 

Münz«'n,  Zeugnisse  für  röm. 

Namf-n  4^1  ff. 
.Mykenao,  Hauten  ff. 

>'amen.  ungenaue  Dberlief, 
römischer  41  ff.,  Bedeut.  für 
Sprachvrissensch.  u.  Uesch, 
M2  Mfi  4H'.>  f  494  f 

Xast,  Scliillers  Lehrer  122 
A2A 

Naturalismus,  moderner  tiA6M 
Nereidenmouument  3QA 
Nibelungenlied  fii  f.  68  ff.  434  f. 

All  f 
Niederlande  544 
Nike  ai2  tf. 

Nordischer  Krieg,  erster  hlüi  ff. 
Odinn  II  ff. 

Oliva,  Friedenskongref«  zu 
563  f. 

Olvmpia,  Bauten  älö  bll  filfi 
«  ^Ifi  ff- 

Osterreichische  Quellen  und 
Forschungen  221  ff.,  Litt*- 
raturgescii.  413  ff,.  Volks- 
charalcter  445 ,  Nutiunali- 
tÄten  iM 

Oflthoff,  Herrn,  £1 

Ostjieeproviuzen,  russische  34H. 

Otto  d.  Gr.  311 

Ovid,  Verwandlungen  in  Stan- 
zen übersetzt  22Ü  f. 

Paionios  222  tf. 
Papyrusfunde  225  ff. 
Parzival  ISä  f. 

Passionsspiele,  altdeutsche  in 
Tirol  221  ff. 

Paulinus  v.  Nola  AM 

Pclasger  121 

TfilTj)  bei  Xenojjhon  480 

Persönlichkeit  in  d.  ant.  Ge- 
schichtschreibung Sita  f. 

ipaivöfitvos  sichtbar,  nicht 
scheinbar  366  tf. 

Phcrenikoß,  Rennpferd  233  f. 

Philipp  v.  Hessen,  Landgraf 
Ü2ü  ff. 

Philo  filA  ff. 

Philologie,  Verh.  z.  Spracb- 
wiascnsch.  485.  Goethes  Verb, 
zur  Si3ff.,  deutsche  Mff.  fi2f. 

Philosophie,  soziale  L  G  riechon- 
land  aa  tf..  Philo«  bll  ff. 

Philotimus  Uli  ff. 

Phokylides  Iil3 

Pindar  222  ff. 

Plate,  Akademie  33Ü  f.  AüA 
47* 


7<4 


Sachregister. 


Plato,  Sozialphilosophie  ff., 
Timäufi  ül  ff.,  Kritias  5il  ff., 
Darntell.  des  Sokrates  ÜÜi  ff., 
auf  Mosaiken  ^}iä  (. 

Plutarch  bei  Schiller  m  ff. 

Poesie  u.  Rhetorik  im  klans. 
Altert.  021  ff. 

Politik,  Vorlesungen  über 
459  ff.,  Geibel  u.  «1.  P.  filü  ff. 

Polybiu»  QM  f. 

pomjM  circetxsü  1Ü2 

Pompeji  141  'A'll 

tMmderibus,  (Carmen  de  400 
^jpuluriHierung   durch  spilt- 

röni.  Lehrgi'dicht«  lüfi  ff. 
ProzeiHgedichte  des  Cod.  Sal- 
mas«. 113  f. 
Prosper,  Carmen  de  ingrutis 
4(>'J 

ProHoiM)grapliia   luipcrii  Ko- 

mani  'Sa  ff. 
Prudcntiu«  ilW  ff. 
P>  thiaden  m  f. 

Rechtswesen  im  Altert.  Iß  ff. 
ll«fonuation  in  Sachsen  üitl  ff. 
Heim,  Trsprung  des  lüsi  f. 
Religion  467.  Verhilltnis  zum 

Uecht  Iß 
Renaissance  liül  ff. 
(irjrov  *a\  Öiüvoiee  lü  ff. 
Revolution  von  184H  ttnl  f. 
rheinisch  -  westfül.  Litt«ratur- 

gesch.  "fix 
Rhetorenschulen.  Fabel  in  den 

ailfi  212  ff.,  Lehrgedichte  für 

ilA 

Rhetorik  JJi  ff.,  u.  Poesie  im 
klasK.  Altert.  £ull  ff. 

Rhythmus  in  d.  ant.  Kunst- 
prosa Üäil  ff. 

Riehl,  W.  IL  UM  ff 

Romantik  fia       f.,  filü  f. 

Rousseau  über  Plutarch  2i22  f- 

Rundling  aiii  f .  Mü  f . 

Rutilius  NamatianuB  iM.  f. 
414  f. 

Saalburg  iHü  ff 

Sachsen,  Besiedelung  MI  ff., 

Reformation  äiil  ff. 
salischo  Kaiser  ff. 
Ps.-Salomo,  Huch  d.  Weish. 

ü2a  ff. 
Samos  MLl  ff. 

Saraothruke,  Kabirenheiligtum 
3'Jt>.  Nikestatue  aillJ  ff. 

San  Jago  di  Compostella, 
Wallfahrtsort  Iii  ff. 

Scherer.  Wilh.  ÜÜ  f. 

Schiller.  Plutanhstudicn  351  ff., 
Rüuber  äüä  ff.,  Hcklors  Ab- 
schied .^56,  Milnnerwürdc 
f.,  Fiesko  Aliii  ff.,  Don 
Carlos  418  ff.,  als  Historiker 
420.   als   Philosoph  i21  f., 


Gedichte  42Aff.,  Wallenßtein 
f.,  Themistoklesfragm. 

laii  f. 

Schirach  G.  H.,  Plutarchüber- 

sctzung  SM  f. 
.Schlegel,  A.  W.  und  F.  all  f. 
Schle8wig-hol8t«in.  Fragefiiaf. 
Schmalkaldischer  Bund  liliH  ff. 
schwäbische  Litteraturgesch. 

446  f. 

V.  Schwarzenberg,  Adam  äiä  ff. 

Schwimmhaltung  von  Flügel - 
gestalt«>n  2ä3i  f. 

Segesta  lüä  IMi  f . 

Selinus,  Tempel  laa  f .  Jiül  ff. 
tUUi  ff. 

Semonides  üOl  ff. 

Sentenzen  liei  Sophokles  255  f. 

Sereuus  Saumionicus  lUü  f. 

Shakespeare,  Ironie  bei  ill  f. 

Sibylle,  cumlliscbe  Hilf.,  jüdi- 
sche m  ff. 

Siegesg«?silngp,  des  Bakchy- 
lides  i21  ff.,  des  Piudar 
222  ff. 

Siegesgöttin,  griechische  all  ff. 

Siegfried  QJi  ff.  iül 

Sileu  m.  d.  Dionysosknuben 
m  f , 

SilvanuB  Hüi  f. 

Sisebut,  Gotenkünig  iQl 

Sizilien,  älteste  Kultur  Ißüff. 
3*24  ff.,  griechische  Nieder- 
lassungen Li2^ff.,  semit.  140f. 

Sklaven  im  Altert.  Ii  f. 

Slawen,  im  Mittelalter  unter- 
worfen aiü  ff. 

Sokrates  bei  Plato  bhh  ff. 

Sondergötter  aiü  f.  illil 

Sophokles,    Antigone    2iS  ff. 

HL  ff.  m  ff. 

soziale  Dichtung  d.  Griechen 

2il  ff.  hü  ff.  lüli  ff. 
Sozial iM)litik  455  ff. 
Sprachstämme  L  Europa  490  ff., 

griechische  üü2  f. 
Sprachverein,  deutlicher  fili 
Sprachwissenschaft,  vergleich. 

M  ff.  laü  ff.,  gricch.  Ml  ff. 
Staat  4fi2  ff. 

Staatsidce  im  Altert.  U  ff. 
Staatsromane,  griechische  ÜHS. 

lÄü  ff.,  moderne  5il  ff.  lill  ff. 
Städtebau,  |^ech.  57 .H 
Stoiker,  Sozialphilosophie  f. 
Strufsen  u.  Wege,  griech.  512 
Studienreisen,  badische  122  ff. 
Stylobatc  qM  f. 
Syrakus  IM 

Tacitus  ßa&  f. 

Tarent  135  f.  329 

Tempel,  Geschichte  des  griech. 

öfili  öia  ff.  fiüfi  ff. 
Tempel  des  kapitol.  Juppiter 

33f> 


Temi)elbezirke,  griech.  &lü 

Terentia  III  ff. 

Terrakotten,  sizilische  330.  von 

Civitä  Alba  A3A.  ff. 
Theater,  griechische  &11 
Theognis  im  ff. 
Theokrit,  Verh.  z.  Virgil  4M  ff. 
Theopomp,  vom  meropischeu 

Lande  ÜÄ  ff. 
Theseussage  bei  Bakchylides 

211  ff. 

Thidrikssaga,  norwegische  TOfT. 

Topographie,  von  Griecheul 
älül  ff. ,  von  Lydien  Hü  ff., 
von  Nordafrika  III  ff.,  von 
Italien  u.  Sizilien  lüD  ff. 
Süa  ff.,  des  obergenn.  Limes 
2fia  ff. 

Tragische,  das  Süfi  ff. 

Trajan  li2Ö  ff. 

Trebellius  PoUio  Iii  ff. 

Treit«chke,  iL  v.  IM  ff. 

Triglyi>hen  653  C5K  ff. 

Triiunphator,  römischer  ifil  f. 

Troja,  Baugeschichte  öH  ff. 

Tullia,  CiceroH  Tochter  IZä  ff. 

Tyjius  in  der  Geschichte  45<>  ff. 

TyrtaeuB  üüä  f. 

Urgeschichte  Kuropas  421  f. 
Vejovis  lüö  f. 

Venedig,  Abfahrt«ort  der  Jeru- 
salempilger lüü  f. 
Venus  Pompeiana  llü  f. 
Victoria  1112 

Villa  Magna  Variaui,  afrika- 
nisches Latifundium  {I2ä  ff. 

Villa,  römische  in  Boscoreale 
327.  bei  d.  Saalburg  211  ff 

Virgil,  L  Ekloge  llillff.,  1,  Ekl. 
lilü  ff.,  Verh.  zu  Theokrit 
4M  ff. 

virginitatis,  De  laude,  Lehr- 
gedichte 410 

Volksbücher,  griechische  .'{05  ff. 

Volkstum,  deutsch,  ül  ff.  HU  ff. 

Vortrag  antiker  Reden  6ii  f. 

Vorspiel  zu  Goethes  Faust 
fifiil  ff. 

Waberlohe  H  ff. 

Walküren  14  ff. 

Wallfahrten  des  Mittelalt«» 

14a  ff. 
Waltharius  442 
Walthcr  v.  d.  Vogelweide  44& 
Wasserbaukunst,  griech.  üI2 
Weihgeschenke  äM 
Westßlischer  Friede  i4lt 
Wümanns,  W.  fi4 
Wissenschaft  im  .Mtert.  lü  ff. 
Wissenschaft  und  Unterricht 

m  f. 

Wohnhaus,  gricch.  57 1  575  f. 
Wulfram  v.  Escheubach  4M 


d  by  GoOgl 


NEUE  JAHRBÜCHER 

DAS  KLASSlöOflE  ALTERTUM 
GESCHICHTE  I  ND  DEUTSCHE  LITTERATUR 

UKD  PÜB 

PÄDAGOGIK 

FfFR  \rFnFOFBFN  VON 

Db.  JOHAITNES  ILBERG  Db.  RICHARD  RICHTER 

BESTER  JAHRGANG  1898 
I.  UND  IL  BA  5.  HEFT 

Auigegebes  am  S.  Jtmi  1898 


LEIPZIG 

DRÜCK  ÜND  VEELAO  VON  B.  0.  TEÜBNKU 

1 


NEUE  JAHRBÜCHER  FÜR  DAS  KLASSISCHE  ALTERTUM 
GESCHICHTE  UND  DEUTSCHE  LITTERATÜR  UND  FÜR  PÄDAGOGIK. 

J&hrUch  10  Hefte  ni  je  etwa  8  Drackbogen;  der  PreiB  für  des  Jahrganr 
betiillgt  28  Mark.   Alle  BuohbandlacgeD  und  PostiuiBtalteD  nehmen  Bestellnagec  ai. 

Die  jfNeuen  Jahrbflcher"  bestehen  ans  zwei  selbttftndig  geleiteten,  jedoch  nor 
ungetiennt  aasgegebenen  and  eixuceln  nicht  verkKof liehen  ' '     '  ingen.   Die  für  die 
erst«  Abteilang  bestinunten  Beiträge,  Bftcher  u.  s.  w.  sind  an  L' i  j  ou.  Llbergj  L i  ^   i  - . 
Rosenthalgasse  S,  II,  die  Sendungen  für  die  zweite  Abteilang  an  Rektor  I  . 
Bich.  Richter,  Leipzig,  Parihenstrasse  1,  II,  zn  riehten. 


r^TTTAT  T  DES  V.  TTFFTfFfJ 


I.  ABTEILÜITG  (L  BANS). 

Das  Pr,  ■•'lu-intn  Fabtl     ^'      I'rofeMor         ^  lauarjiiu  lu 

'i-.-rjii,.    ....   3nri  — 

■he  Fumüterichie.    Von  Dr.  Hans  Oraeren  in  Born 
JJu  iio  fufcnf.   Von  Dr.  Robert  Wuttke  in  Dresdeo  . 

,  j  '      V.,!i  Ii.-   V-.-'  V-:...  :„ 

■  I  und  M 

Zur  Geschichte  der  Astronomie  (Prof.  Dr.  Aibin  Uftbler  m  Leipzig  f\  — 
1)  J.  Jost  I  '  . 

Stauf f  h  ,     .  j 

'w»  htc  im  .V 

alter  (Dr.  Krnst  Derrient  in  Jena).  —  y  n  zur  neueren  Litteratur- 

tjesdiichte,  herauig.  von  Fr,  3Iund'  bert  W 

1  Klrtte,  Die  SelbstäHäigkeU  dt.  uer,  Beru,   ....  .   u.  ..y.u... 

kar  Dr.  Qeorg  Herrmanii  'gsberg  i.  Pr.).  —  Zu  Goefhfs 

n  und  V        ■'  (Prof.  Dr.  Georg  Wiikowski  in  Lei; 
(.  -L/<(i/J  und  LnUmcht. 


IL  ABTEILUNG  (2.  BAND). 

Die  kl<U!fii'^r};f  TViniihoyir  nl<  Srhuhr{-.yit'.''Jinf1     V.in  T'-   Ci'r..  T-.iin:- 

^'«'i  -'41— S61 

Wie  tinä  äte  1  ung  der  6  Arrr  an  dm  J\; 

sdiulcn  tu  ^:o;<ii.t/i.  '   i  fünften  ucuUciaen  Historil: 

Nürnbei^g.  Von  Geh.  Ii.  ,   r  Dr.  Oskar  Jlger  in  Kf.' 

Äu$  der  Litteraiur  tum  daOsthm  Unterricht.   Von  Prof  Dr.  Paul  v 

Schi 


V«'rlnir  vou  Gustar  Fischor  in  Jena. 


Leitfaden 

der 

physiologischen  Psychologie 

in  15  Vorlesungen. 

Von 

ProL  Dr.  Tb.  Xitli» 

in  Ten.». 

.Mi:  n  im  Text. 

9^  Vierte  te;!  -  Ai:nage.  'IPB 

Treis:  i. .  .  ..  ,  . 


ZUR  DEUTSCR  GESCHICHTE,  LITTERATUR 
UND  VOLKSKUNDE  AUS  DEM  VERLAGE  VON 
B.  G.  TEUBNER  IN  LEIPZIG. 

GESCHICHTE  DER  DEUTSCHEN  HANSE  •  • 

IN  DER  ZWEITEN  HÄLFTE  DES  14.  JAHRHUNDERTS 
VON  E.  R.  DAENELL.   geh.  n.  Ji  8.— 

MORITZ  VON  SACHSEN  

VON  E.BRANDENBURG.  ERSTER  B  AN  P  P!S  ZT'R  WTTTEN- 
BERGER  KAPITULATION  (1547).    geh.  n.  j{ 

pfalzgrAfin  genovefa  

IN  DER  DEUTSCHEN  DICHTUNG  VON  B.  OOLZ.  geh.  o.  JC 

NATURGESCHICHTLICHE  VOLKSMÄRCHEN 

AUS  NAH  UND  FERN.    OESAMMELT  VON  O.  DÄHM  HARDT 
MIT  TITELZEICHNUNQ  VON  O.  SCHWINDRAZHEIN? 
GeschtnackvoU  geb. 

VOLKSTÜMLICHES  A.  D.  KGR.  SACHSEN  • 

AUF  DER  THOMASSCHULE  OESAMMELTVON  O.DÄHNHARDT. 
ERSTES  HEFT.    OeschinackvoU  kaitonien  n. 


ZUK  i  lixi-U^UPHIE  AUS  ui:.M  VERLAGE  VON 
B.  G.  TEUBNER  IN  LEIPZIG. 

PSYCHOLOGIE  ALS  ERFAHRUNSWISSENSCHAFT 
VON  H.CORNELIUS,  geh 

DER  BEGRIFF  DES  ABSOLUT  V^RTVOLLEN  ALS 
GRUNDBEGRIFF  DER  MORALPHILOSOPHIE 

VON  P.  KRUEGER.   geb.  n.  .if.  3.80. 


1^       ^       ^  A  1^  A       A  A 


— *» — £t — «>■      — ifk    A    ft   A   A    A    A    A  A 


Preisherabsetzung. 

Onitip  bis  1.  Oktober  1898 

KraitMe,  iVoL  ür.  J.  H.,  Angelologie.   Di«  Gef&sse  <  :  . 

besondere  der  n-;.  .-i  •   'uid  Römer,  aus  dsn  Sdi-^*'  wcrkc-n  des 

Allertbumfl  in  \  or,  archseologischer  u:.  ,  Beziehoixg 

iargestellt  and  durch  164  Figuren  erläutert.  Mit  6  litfa.  T&feln.  gr.  8. 
1S51    früher  geh,  7  w4J  60  • 

—  PyrgotelBS  oder  die  edlen  Steine  dor  A  ind 

.l.  r  bildenden  Knr  ^'  -l' Vj^ichtiguri^;     i                                   '  . 

'*ftonderv  d«  .t^mer  dArgeatell 

In.    gr  froher  geh.  6  JC,  jetzt  Ji  2.60. 

üie  Byzantiner  des  Mittelalters  in  ihr«m  BtMti-,  Hof-  und  PnT«t- 

'isbesont]  '      n  bis  g^gen  Ende  des  riencehnten 
.ii  .  .  .:.iiert8  na.  1            ,  A^.ii^.v i.  '■■■■.■Vfr<.  dargestellt    gr  rocn 
rfüier  geh.  6  J( ,  jetzt  JC  3. — 

  Die  Eroberungen  von  Constantinopel  im  dreizehnten  nnd  fünfzehnten 

'abrhundert  durch  die  Kreuzfahrer,  doruh  die  nic&iscben  Griechen  und 
•  ■  '  '  '  Türken,  n*ch  bjx&Dtinischen,  frankischen,  türki  '  '  Uen 
...u  1      i.ujn  dÄTgwtellt  gr.  8.  1870.  friihor  geh.  3  Ulf  60     j'  -  Jl  — 

Die  Musen,  Grazien,  Hören  iiml  Nymphen  mit  Betrachtung  der  Fiuss- 

'.>it>>r  in   philologischer,   m}  "licriöser  und  kun8tarohaeolo^5ch»>r 

lg  aus  den  Schrift-  und  :ken  des  Altorthums  dar^' 

fraher  geh.  3  Uf,  jtUi.  JC  1.50. 

Za  beziehen  durch  jede  Buchhandlung,  aotrie  gegen  Kinieadang  dea  Bet2«ge<i  rom 

Halle  a.  S.  G.  Schwetschke'schen  Verlag. 


Erschienen:  der 


J.  B.  Metzlcr'scher  Verlag  in  Stuttgart. 

Erste  Ms  Tierte  Halbband 

—  Aal  bis  Barbarei  — 
Ton 


Pauly's  Real-Encyclopädie 

classischen  Altertumswissenschaft 

in  neuer  BearLf-itutig  unter  Iledaction  toq 

Georg  WiBsowa. 

Ueber  100  Mitarbeiter.  tten  auf  dr 

Geschichte  un«! 
Archäologie 


90  1j' 


iiionomentH 

>   höchst  Trt'i  M  >iir.i  lkL-->UMa9lUCk 


jede,  ^i.uutuy. sehen  Bibliothek.